„In Belarus, meinem Heimatland“, sagt Alexandra Soldatova, „lieben es die Menschen, wenn alles ordentlich, sauber und schön aussieht.“ Die Fotografin und Künstlerin beschloss, sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieser Tatsache zu machen. Sie begann, durch die belarussische Provinz zu reisen. Zwei Jahre hat diese Reise schließlich gedauert. Dabei stieß sie auf Bushaltestellen und Findlinge, die offenbar von lokalen Bewohnern mit Blumen, Tieren oder mit Frühlingsszenen bemalt worden waren. So entstand das Fotoprojekt It must be beautiful.
Wir haben Alexandra Soldatova zu diesem Projekt befragt. Zudem zeigen wir eine Auswahl an Bildern.
dekoder: Worum geht es in dem Projekt It must be beautiful?
Alexandra Soldatova: Die Straßen in der Peripherie des Landes sind typische Un-Orte, einerseits interessieren sie niemanden, andererseits gehören sie formal jemandem, der dort für Ordnung, Instandhaltung, Pflege sorgen muss. Kurz gesagt, in diesem Projekt geht es darum, wie die allgemeinen Gewohnheiten und die Mentalität der Belarussen Ausdruck finden in kollektiver naiver Kunst. Diese Kunst entsteht an Orten, die für mich eine Metapher für Belarus als Land auf der Karte des modernen Europa darstellen, – eine Kreuzung, ein Begegnungsort für Fremde aus verschiedenen Kulturen und Traditionen.
Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?
2012 fuhr ich in die Oblast Witebsk und fotografierte beim staatlichen Erntefestival Doshinki. Diese große Feier ist sehr beliebt bei den offiziellen Landesvertretern. Zunächst wusste ich nicht so recht, was ich dort konkret tun und fotografieren würde. Und wie zu erwarten, war es eine sehr seltsame Kombination aus Mähdrescherfahrern in strengen, schwarzen Anzügen, einer aus Würsten gelegten Karte des Landes, tanzenden Kindern und einer großen Zahl Menschen, die Essen und Getränke zu ergattern versuchten. Solche Feste findet man tatsächlich in vielen Ländern, mit gewisser Variation im nationalen Kolorit.
Wirklich fasziniert haben mich damals die frischgestrichenen, rosafarbenen Hausfassaden an der Hauptstraße. Auch die Straße, die in die Kleinstadt führte, war „frisch zurechtgemacht“, die Haltestellen waren geputzt, die Abfalleimer sorgfältig gestrichen, und an einigen Stellen waren Skulpturen aus Stroh aufgestellt worden. Damals begann ich, Haltstellen zu fotografieren, und wenn mich Leute fragten, warum ich sie fotografiere, antwortete ich: „Weil es schön ist.“
Findet man diese bemalten Bushaltestellen im ganzen Land?
Wie ich später herausfand, stammten einige Malereien noch aus den 1980er Jahren, sie blieben an den alten Haltestellen erhalten – die waren aus Beton. Im Umland von Minsk und anderen großen Städten sind diese Haltestellen schon vor langer Zeit gegen moderne Varianten aus Metall oder Kunststoff ausgetauscht worden. Die Blumen- und Tiermotive, die mich interessieren, findet man eher in der Peripherie von Belarus, sodass ich einige Zeit im Auto verbringen musste – aber das hat mir Spaß gemacht.
Zuerst fuhr ich ein paar Landstraßen ab, die zu den Orten führen, an denen schon einmal Doshinki stattgefunden haben. Später gab es einige Zufallsfunde während touristischer Ausflüge mit der Familie. Und bis heute bekomme ich noch Tipps von Freunden, wo etwas zu finden ist.
Was erzählen uns diese Objekte vom Leben in der belarussischen Provinz und den ästhetischen Vorlieben, die Umgebung zu schmücken?
Einerseits neigen die Belarussen dazu, auch die kleinste Sehenswürdigkeit herauszustellen, da unser Land auf dem Gebiet an einer historischen Wegkreuzung liegt und viele Male zerstört worden ist. Heute müssen wir tatsächlich um alles kämpfen, was Aufmerksamkeit weckt.
Andererseits gibt es in der Provinz nicht gerade viele Museen, Kulturveranstaltungen und Ausdrucksmöglichkeiten, den Menschen ist es aber wichtig, wie andere sie sehen. Wenn Sie in ein belarussisches Dorf kommen, wird man mit aller Kraft versuchen, Ihnen „irgendetwas Schönes“ zu zeigen. So entstehen rosafarbene Gartenzäune, Palmen aus Bierflaschen und Schwäne aus Reifen.
Die Malereien an den Haltestellen und auf Findlingen sind vermutlich auf ähnliche Weise entstanden. Jemand in der Institution, die für die Straße zuständig war, wollte wohl, dass es in seinem Abschnitt schön aussieht. Dann setzte es der angestellte Dorfkünstler oder ein Mitarbeiter, der malen konnte, so um, wie er es selbst für schön hielt. Und das geschah häufig, in ganz verschiedenen Gebieten des Landes. Die in gewisser Art naiven Malereien haben keinen gemeinsamen Autor oder eine Gruppe, die das konzipiert hat, und doch ähneln sie sich im Stil. In gewisser Weise sind diese Malereien ein Produkt des Kulturraumes. Und aus diesem Grund fotografiere ich sie.
Haben Sie jemals einen der Menschen getroffen, die eine Haltestelle bemalt haben?
Ich hatte keine Gelegenheit, die Künstler oder wenigstens die Restauratoren der Bilder zu treffen. Die wenigen lokalen Bewohner, die ich beim Warten auf den Bus antreffe, gehen in der Regel zur Seite, nicken verständnisvoll und sagen: „Richtig, fotografieren Sie nur, hier ist es schön“. Das ist sehr ungewöhnlich für Belarus, denn wenn ich eine Straße oder ein Feld fotografiere, höre ich meistens die Frage: „Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“ Aber hier haben sich die Leute vorwiegend gefreut, dass ich gerade diesen Ort ausgewählt hatte.
Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?
Aus fotografischer Sicht war It must be beautiful ein unkompliziertes Projekt. Die Aufnahmen sind maximal ruhig, klassische Landschaft mit einem Objekt darin. Ich verwende ein mittleres Format, eine große Kamera, mit der man nicht schnell fotografieren kann und die dazu einlädt, das Bild aufmerksam zu betrachten. In den meisten Fällen fügen sich die Malereien an den Haltestellen oder Findlingen scheinbar fließend in die umgebende Landschaft ein, werden ein Teil von ihr, heben sich aber gleichzeitig auch von ihr ab. Natürlich suche ich solche Wechselbeziehungen, doch wichtiger für mich ist das Phänomen festzuhalten, da in der heutigen Zeit solche Dinge sehr schnell und unbemerkt verschwinden können.
Wie reagieren Ausstellungsbesucher auf Ihr Projekt?
Dieses Projekt wurde in vielen Ländern gezeigt, aber ich hatte keine einzige Offline-Ausstellung in Belarus, daher kann ich nicht sicher sagen, wie die normalen Leute reagieren würden. Ich kann nur vermuten, dass sich das wohl nicht so sehr von der Reaktion der Leute in Deutschland, England oder Russland unterscheiden würde, wo wir das Projekt gezeigt haben. Der eine findet es ungewöhnlich, irgendetwas überraschend treffend, jemand hält die Verschönerung der Landschaft für überflüssig, und ich freue mich jedes Mal, wenn jemand über meine Fotografien sagt: „Das ist schön“.
Zehn Jahre ist der belarussische Fotograf Siarhej Leskiec durch seine Heimat gereist, hat recherchiert und fotografiert. So ist ein besonderes Projekt entstanden, das sich mit dem archaischen Heilritus des Flüsterns beschäftigt. Das Projekt und das daraus entstandene Buch haben in Belarus und in der belarussischen Exil-Gemeinschaft sehr viel Aufmerksamkeit erfahren. So ist sogar ein Theaterstück auf Grundlage von Leskiec’ Recherchen entstanden, das von den Kupalaucy auf die Bühne gebracht wurde, dem Ensemble, das von den ehemaligen Angestellten des Janka Kupala-Theaters nach ihrer Entlassung infolge der Proteste 2020 gegründet worden war. Das Stück feierte in Stuttgart im November 2022 Premiere.
Wir haben Siarhej Leskiec zu seiner Arbeit und zur Tradition des Flüsterns befragt und zeigen dazu eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.
Siarhej Leskiec: Dieses Projekt beschäftigt sich mit der sehr alten und verschlossenen Tradition der Heilkunde. Es geht um die Menschen, die dieses Wissen pflegen. Dem Glauben nach besitzen sie alle die höhere göttliche Gabe, Menschen mit Worten und Handlungen zu heilen. Als wäre es nichts Übernatürliches, spricht der Heiler im Flüsterton geheimnisvolle Worte und heilt damit Menschen und auch Haustiere, zum Beispiel Kühe und Pferde. Die Gabe wird immer an die übernächste Generation weitergegeben, von der Großmutter auf die Enkelin, vom Großvater auf den Enkel. Diese Tradition ist fast ohne Unterbrechung aus der Tiefe der Jahrhunderte und Jahrtausende bis zu uns heute durchgedrungen. Diese Tradition ist nie abgebrochen, trotz des jahrtausendelangen Drucks seitens der christlichen Kirche, der Inquisition, des sowjetischen Atheismus und der Repressionen. Das hat mich inspiriert, denn viele bei uns haben schon von dieser Tradition gehört oder sind ihr begegnet, aber noch niemand hat je diese Menschen fotografiert.
Der Fotoapparat war für mich eine Art Eintrittskarte in diese Welt des Geheimnisvollen und Mystischen. Dank der Kamera bekam ich Zugang zu dieser verschwindenden Welt meiner Ahnen. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wovon ich vorher nur in anthropologischen und ethnografischen Büchern gelesen hatte.
Wie sind Sie auf diese Art des Heilens aufmerksam geworden?
Auf die eine oder andere Weise stammen wir Belarussen alle aus dem Dorf und sind dort tief verwurzelt, das ist wie ein genetisches Gedächtnis. Selbst in der Bezeichnung liegt eine tiefere Bedeutung. Babka nennen wir unsere eigene Großmutter, aber auch die Heilerin. Jeder kann eine Geschichte davon erzählen. Wenn zum Beispiel ein kleines Kind schlecht schläft, nachts schreit und die ganze Zeit weint, dann gibt man ihm ein bisschen von dem Wasser zu trinken, das der Heiler mit seinen Worten beflüstert hat. Häufiger behandeln sie Ausrenkungen, Zerrungen, Infektionskrankheiten (Ausschlag, Wundrose), oder sie versuchen, bei Unfruchtbarkeit zu helfen.
Ich selbst hatte schon als Kind davon gehört und gewusst, aber es nie mit eigenen Augen gesehen. Als ich dann zum ersten Mal eine solche Frau besuchte, war ich so aufgeregt, dass ich gar nicht fotografieren konnte. Ich brauchte einige Jahre für die Vorbereitung und das Eintauchen in dieses Thema. Ich habe unheimlich viel gelesen, bin herumgefahren und habe gesucht, wieder und wieder. Und eines Tages gelang es mir dann schließlich, mit dieser ersten Heilerin zu sprechen und ein Porträt von ihr zu machen. Ich wollte eigentlich schon nach Hause fahren, als zu dieser Heilerin Patienten zur Behandlung kamen und mir erlaubten, dabei zu sein. Stellen Sie sich vor, zwei Jahre sitzt du nur da und liest Bücher, und dann kommt der Moment, in dem man dir erlaubt, das zu sehen, was für andere tabu ist. Das war auf eine Art, so seltsam das klingen mag, meine Initiation. Danach war alles einfacher, ich traf öfter die richtigen Leute, und alle waren bereit zu Gesprächen. Denn ich war nicht mehr nur ein neugieriger Mensch, sondern trug schon etwas von ihrem Wissen in mir.
Was passiert beim Flüstern genau?
Wie sie heilen, kann man jemandem, der in der rationalen Welt lebt, nur schwer erklären. Es folgt keiner Logik und auch nicht dem Verständnis der modernen Medizin und Wissenschaft. Die Heiler leben bis heute in einer mystisch-poetischen Welt, einer Welt der Märchen und Legenden, wie unsere Vorfahren sie kannten. Für sie basiert jedes Verständnis der Umwelt auf Empfindungen und Gefühlen.
Früher wurde die Tradition stets an die übernächste Generation weitergegeben, vom Großvater zum Enkel. Der Nachfolger musste der Älteste oder der Jüngste sein, nie der Mittlere. Er musste ein gutes Gedächtnis und einen anständigen Charakter haben, Mitgefühl und den Wunsch, anderen zu helfen. Der zukünftige Heiler wurde von früher Jugend an ausgebildet, ab dem Alter von sieben bis zwölf Jahren. In diesem Alter hat der Mensch ein kristallklares Gedächtnis, was er hört, merkt er sich sein Leben lang. Erst kurz vor dem Tod übergab der alte Heiler dann seine Gabe, ohne die das gesamte Wissen nutzlos wäre. Es gab auch eine andere Kategorie von Heilern, die ihre Gabe nicht durch Erbfolge bekamen, sondern von der Natur. Sie waren mächtiger. Diese Menschen erhielten ihre heilenden Kräfte und Worte im Schlaf, von höheren Mächten.
Wie heilen sie also? Meistens spricht der Heiler flüsternd seine Gebete über Wasser, das er aus dem Brunnen geholt hat. Danach muss der Kranke dieses Wasser trinken oder sein Gesicht damit waschen. Einige Heiler sprechen die Worte auch direkt über dem Patienten.
Es gibt zahlreiche und sehr vielfältige Methoden. Hautausschlag zum Beispiel wird mit Kondenswasser von der Fensterscheibe eingerieben. Dabei werden natürlich die notwendigen Worte geflüstert. Wundrose, eine Infektionskrankheit, wird in der Regel so behandelt: Man legt ein rotes Tuch auf die betroffene Hautstelle und rollt aus Leinenfasern kleine Kügelchen, die man beim Sprechen der Gebete über diesem roten Tuch verbrennt. Bei einigen Krankheiten werden zur Behandlung auch Kräuter eingesetzt. Sie werden entweder als Tee getrunken, in Form einer Tinktur verabreicht oder angezündet, sodass der Qualm die Kranken umhüllt.
Ist diese Tradition in ganz Belarus verbreitet?
Die Tradition verschwindet so schnell wie das Dorf. Schon heute sind diese Bräuche nicht mehr überall gleich stark verbreitet. Im Westen von Belarus zum Beispiel, wo die katholische Bevölkerung überwiegt, gibt es sehr wenige Träger dieser Tradition. Der Katholizismus hat dort gut „gewirkt“. Stärker ist die Heilkunde in den Grenzregionen erhalten, zum Beispiel auf dem Gebiet Palessiens. Dort trifft man noch Heiler an. Früher gab es fast in jedem größeren Dorf eine solche Person.
In den Städten gibt es heute wie überall auf der Welt Vertreter des modernen Neoschamanismus und Heilpraktiker, doch das hat mit unserer Tradition überhaupt nichts gemein.
Wo liegen die Wurzeln dieser Heilpraxis, und wie konnte sie die Zeit der Sowjetunion überdauern?
Man kann heute kaum mehr sagen, in welcher Zeit der Ursprung liegt. Wissenschaftler verorten ihn in der ursprünglichen Magie des Wortes, sehen in dieser Heilmethode eine der ersten Formen der Folklore. Der Ursprung liegt also in der Zeit, in der das Wort selbst entstand und seine sozusagen magischen Kräfte erlangte. Als der Mensch begann, seine Umgebung zu benennen und zu bezeichnen.
In dieser oder anderer Form gab es in allen Völkern in einem bestimmten Entwicklungsstadium Heiler, also Menschen, die dabei halfen, mentale, geistige und körperliche Gesundheit zu erlangen. Während zum Beispiel in Europa die Inquisition diese Menschen weitgehend umgebracht hat, war in unserer Region die Kirche milder eingestellt. Dadurch konnte die Tradition über die tausendjährige Herrschaft des Christentums hinweg bewahrt werden. Als die sowjetische Ideologie an die Macht kam, setzte sich der Druck fort. Die Heiler waren denselben Repressionen wie die Priester ausgesetzt, wurden nach Sibirien deportiert.
Das führte aber nicht zum Abbruch der Tradition, sie fand einfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wurde geheim gehalten. Die Behandlungen wurden nachts vorgenommen, damit niemand davon erfuhr. Mir ist zu Ohren gekommen, dass beispielsweise ein Kommunist heimlich zu einer Heilerin ging, um einen giftigen Schlangenbiss behandeln zu lassen, da es nicht möglich war, da kein Krankenhaus in Reichweite war. Das war für beide Seiten gefährlich. Die Heilerin konnte verhaftet werden, der Kommunist konnte seinen Status und seine Arbeit verlieren.
Viele Nachkommen weigerten sich, die göttliche Gabe zu übernehmen. Denn natürlich war die damalige Jugend gegenüber solchen Kenntnissen eher skeptisch. Auch das hat zum langsamen Verschwinden der Tradition beigetragen.
Alles in allem hat die Sowjetmacht ein System errichtet, das zum katastrophalen Verschwinden des belarussischen Dorfes führte. Während 1970 noch 75 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Dörfern lebte, sind es heute nur noch 25 Prozent, und auch diese Zahl sinkt weiterhin.
Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?
Das mag vielleicht unglaublich klingen, aber die visuelle Sprache hat sich während der Arbeit am Projekt von selbst entwickelt. Ich wollte im Mittelformat arbeiten und habe zu Beginn noch Buntfilm verwendet. Die Digitalkamera hielt ich hier für überflüssig. Doch nach einigen Expeditionen waren die Filme einfach leer geblieben, ohne ein einziges Bild. Magie also …
Beim nächsten Mal verwendete ich Schwarzweißfilm und entwickelte die Negative selbst, mit allen chemischen Prozessen. Das kam mir wie eine besondere Alchimie vor, ein Spiel mit den Sinnen. Meine fotografische Magie hält die Magie der Heilerinnen fest. Das Licht in den Dorfhäusern ist zudem oft sehr schwach, sodass die Arbeit mit Schwarzweißfilm einfacher war. Es gab auch einen lustigen Vorfall: Verwandte hatten mich gebeten, etwas besprochenes Wasser mitzubringen. Auf dem Heimweg verwechselte ich vor Müdigkeit die Flaschen, füllte meinen Verwandten meine Chemikalien zum Film-Entwickeln ein und verwendete das Heilwasser dann zum Entwickeln der Negative. So liegen die geheimnisvollen Gebete nun als unsichtbare Schicht über den Porträtfotos.
Wie reagieren die Ausstellungsbesucher in Belarus auf das Projekt?
Die Reaktion der Belarussen hat mich schlichtweg schockiert. Ein solches Maß an Aufmerksamkeit bin ich nicht gewohnt. Die Buchveröffentlichung war für mich ein Abenteuer. Ich bin ja kein Schriftsteller, sondern habe einfach meine Eindrücke des Gehörten und Gesehenen auf Papier festgehalten. Zehn Jahre Reisen, Recherchen, Entdeckungen. Die gesamte Auflage des Buchs war innerhalb von sechs Monaten ausverkauft.
Auch die Ausstellung sorgte für viele erfreuliche Momente. Wir mussten fünf Lesungen machen, weil immer wieder Leute in der Galerie anriefen und nachfragten. Wir mussten sogar Voranmeldungen aufnehmen, weil nicht genug Platz für alle Interessierten war. Die Ausstellung wurde drei Mal verlängert, sie war letztlich drei Monate lang zu sehen. Doch auch nach Ende der Ausstellung rufen die Leute noch in der Galerie an und wünschen sich weitere Lesungen.
Das ist aber alles gar nicht so sehr mein Verdienst, sondern vielmehr das meiner Heldinnen, ihres Schicksals, ihrer Bestimmung. Manche Leute lasen das Buch und kamen dann in die Ausstellung, um die Porträts zu betrachten, bei anderen war es umgekehrt, sie kauften das Buch nach der Ausstellung. Hier kommt wieder das genetische Gedächtnis ins Spiel, viele hatten von den Heilerinnen gehört, manche hatten welche in der Verwandtschaft, aber niemand kannte die Geheimnisse der Tradition. Mein Buch und die Ausstellung haben Einblick in die vergessene und verschwindende mystische Welt der belarussischen Heiltradition eröffnet. Wahrscheinlich war das der Grund für den Erfolg.
Siarhej Kalenda, geboren 1985, ist ein belarussischer Schriftsteller und Kulturwissenschaftler, er ist zudem Herausgeber der Zeitschrift Makulatura, deren Ziel nach eigener Aussage die Entwicklung der belarussischen Kultur unter Überwindung sprachlicher Grenzen ist. Kalenda gründete die Zeitschrift im Jahr 2012. Seit 2018 heißt sie Minkult. Wie tausende Belarussen hat Kalenda seine Heimat im Zuge der Repressionen nach 2020 und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verlassen. Aktuell lebt er im litauischen Vilnius, wo er als Friseur sein Geld verdient. Für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung spürt Kalenda in seinem Essay den Ereignissen nach, die Belarus nach 2020 durchgeschüttelt und in eine tiefe Krise gestürzt haben: dem Aufschrei in den Protesten, der Gewalt durch Polizei und Staat, den Repressionen, schließlich dem Krieg im Nachbarland. Wie lässt sich aus all dem und aus der historischen Erfahrung, die die Belarussen geprägt hat, ein Gedankengang in die Zukunft entwickeln?
Belarussische Realität, Politik und Weltanschauung, das heißt: angegriffen, angeklagt, bedroht, beschimpft werden als Terrorist, als Faschist, als Fünfte Kolonne und Nationalist. Die Begriffe sind in diesem Land so verzerrt, alles ist so auf den Kopf gestellt, dass aus Frauen mit Blumen in einer Solidaritätskette Terroristinnen werden, die sich dem Westen anbiedern und der blühenden Republik Belarus den Tod wünschen. Die Institution, die eigentlich Verbrecher fassen und Straftaten, Diebstähle und häusliche Gewalt aufklären soll, schlägt jetzt Fensterscheiben von Kaffeehäusern ein, in denen sich Jugendliche mit weißen und roten Ballons verstecken, und stürmt nachts die Wohnungen einfacher Bürger, um sie aus den Betten zu reißen. Es ist ein Land der Rache und des Bösen, und das nehmen auch meine Kinder wahr, die sich umschauen und mich fragen: Warum schlägt die Polizei die Menschen, sind sie etwa schlecht?
Bedarus – das ist kein Tippfehler, beda heißt Not – hat in diesem Zustand und bei der gegenwärtigen Entwicklung der Ereignisse keine Zukunft. Der Diktator hat sich innerhalb von dreißig Jahren in einen furchtbaren, blutrünstigen Clown verwandelt, einen boshaften alten Mann, der so verlogen, so korrupt und so zynisch ist, dass er der Ukraine nonchalant zum Unabhängigkeitstag gratuliert, während die Raschisten (so nennen wir sie jetzt) täglich von belarussischem Territorium aus Raketen auf die Ukraine abfeuern.
Vor längerer Zeit habe ich begonnen, Geschichten von gewöhnlichen Belarussen zu sammeln, von Beamten und Werksleitern, und ich habe begriffen, dass das Land in diese allumfassende Krise geraten ist durch Menschen, die nach folgenden Prinzipien leben: sich bloß nicht hinauslehnen, tun, was einem gesagt wird, mein Name ist Hase, besser Befehle ausführen als selbst denken, keine Initiative zeigen, was werden sonst die Nachbarn sagen? Mit all diesen Volksweisheiten wuchs auch ich auf, meine Großmütter lehrten mich das, aber schon meine Mutter stellte all diese Thesen in Frage, und durch solche wie sie entstand eine neue Generation, die mutig und frei ist. Diese neue Jugend entwickelte sich parallel zu einem anderen Teil der Gesellschaft, der den sowjetischen Lebensstil mitsamt seinen sklavischen Prinzipien fortführte. „Bloß keinen Krieg“ – das war für alle das zentrale Mantra, es flößte Furcht ein, wollte Unterordnung und hielt einen davor zurück, sich zu weit hinauszulehnen. Das Buch mit den Geschichten über gewöhnliche Belarussen habe ich nie geschrieben, nur einen Titel hätte ich schon: „Wie wir alles in die Sch*ße geritten haben“.
Eine neue, vernünftige Generation ist herangewachsen. Die Hälfte von ihnen hat das Land verlassen – Menschen, die dieses furchtbare und schwere Schicksal, in einem unterjochten Land zu leben, ändern wollten. Die andere Hälfte ist verstummt, doch hoffentlich nicht für immer. Man darf nicht vergessen, dass diese neue Generation parallel zu einer anderen neuen Generation entstanden ist, die alle diktatorischen Tendenzen und Sichtweisen unterstützt. Wir haben also zwei Belarus: eines von Zichanouskaja und eines von Lukaschenka, und eigentlich sollte unserem Land eine schöne Zukunft blühen, denn es gibt eine Entwicklung, die wieder einmal gezeigt hat, dass die belarussische Kultur genauso wenig auszulöschen ist wie unser „Ihr haltet uns nicht auf! Ihr unterdrückt uns nicht!“
Doch ich möchte ganz am Anfang beginnen, mit dem, was ich aus meiner Kindheit mitgenommen habe, als mein Vater dem Streikkomitee beitrat und sich am Aufbau einer unabhängigen Gewerkschaft im MAZ-Werk beteiligte, als er mit Massen von Arbeitern demonstrierte, bewaffnet mit Brechstangen und Schraubenschlüsseln, und sich unterwegs weitere Gruppen ihren Reihen anschlossen: vom MTS-Werk, aus der Kugellagerfabrik … Die Arbeiter drängten ins Zentrum, zur Roten Kirche. Plötzlich war es möglich, sich frei zu äußern, die Sowjetunion war vorbei, es gab nur noch uns, lebendige Menschen, die glücklich sein wollten anstatt dahinzuvegetieren. Doch auf die Straßen zu gehen, war nicht genug, denn die Menschen, die die Entscheidungen trafen, waren nicht da, sondern saßen in ihren Amtsstuben …
Ergebnis dieser ersten Kundgebungen der 1990er Jahre war: Clinton kam zu Besuch, schüttelte demonstrierenden Hauptstadtbewohnern die Hand und reiste wieder ab. Dann kam Lukaschenka, ließ schon damals die Luft erzittern mit seinen Ankündigungen, er werde allen zeigen, wer den Staat bestiehlt, wer Schuld ist, dass die Löhne so niedrig sind, und wedelte sogar mit irgendwelchen Akten, als hätte er Beweise. Alle hörten ihm zu, sahen im Hintergrund die weiß-rot-weiße Flagge und beruhigten sich. Dieser junge, schnurrbärtige Kerl im zu großen Anzug versprach den Belarussen damals noch das Blaue vom Himmel. Und die Belarussen schliefen getrost ein, um schließlich in der BSSR-2 zu erwachen, einer Version aus Kommunismus, verrührt mit Kolchosgewäsch und Schizophrenie.
Ich hatte in meiner Kindheit und auch in der Schule mit lauter freien jungen Menschen zu tun, die von den besten Lehrern unterrichtet wurden. Wir durften streiten und Gedanken äußern, die allgemein anerkannten Ansichten zuwider liefen. Meine Mutter sagte zuhause immer, dass man eine eigene Meinung und eine eigene Sicht auf alles in der Welt haben soll und besser allem mit Skepsis begegnet, besonders, wenn es von einer Bühne, einem Lehrerpult oder einer Tribüne herab verkündet wird, und dass man den eigenen Kopf zum Denken hat.
Die Generation meiner Eltern wuchs mit einem kaputten Ego auf, denn in der UdSSR gab es nicht nur keinen Sex, sondern auch kein Ich. Vielleicht erzogen sie uns deshalb zu freiheitsliebenden Menschen, die als Erwachsene nicht in einer Sklavenwelt leben wollen und das Böse bekämpfen. Belarus ist das Land der Partisanen, freier Menschen, die bereit sind, sich im Wald zu verstecken, bis ihre Zeit gekommen ist, in der sie sich rächen und die einfachsten Dinge für sich beanspruchen: ein besseres Schicksal, Brot und ihr eigenes Land. Daher übernahmen wir ab der Oberstufe den Protest unserer Eltern, schlossen uns den Menschenketten auf dem Bahuschewitsch-Platz an, als es schwierig wurde, den Bullen über die Anhöhen zu entkommen – so kriegten sie uns, Sechzehnjährige, dennoch nicht. Während des Studiums demonstrierten wir auf dem Platz, schlugen Zelte auf, um zu zeigen, dass das unser Hier und Jetzt ist, dass die Stadt und das ganze Land uns gehören – und wir wurden alle verhaftet, geschlagen, eingebuchtet. Wir wurden von der Uni exmatrikuliert, aber nicht so öffentlich und grausam, wie es seit 2020 geschieht. Man muss auch sagen, dass damals die Dozenten und Professoren die Studenten noch beschützten, indem sie uns Alibi-Bestätigungen ausstellten, laut denen wir zur Zeit der Proteste Prüfungen absolviert oder an Konferenzen teilgenommen haben …
Ich durfte selbst eine Zeit erleben, in der Europa sich für Belarus zu interessieren begann, in der Touristen nach Minsk kamen, in der die Infrastruktur entwickelt und verbessert wurde. Im Stadion begrüßten wir die englische, die schottische und die deutsche Fußballmannschaft. Unsere Mannschaft BATE spielte in der Europa League. Britische Franchise Stores wurden aufgemacht: Mothercare, Fashion Bar, Toni&Guy. Deutsche Investoren und Bauunternehmen kamen zu uns. Belarus war nicht mehr nur für Russland und eine Handvoll arabischer Staaten interessant. Es gab einen unausgesprochenen Konsens mit den Machthabern, dass kulturelle Entwicklung sein darf, nicht nur populäre Unterhaltungsinfrastruktur, sondern auch Ausstellungen, Konzerte und Literatur. Unglaublich schnell, innerhalb weniger Tage und Monate, entstand bei uns ein richtiges, vollwertiges Leben – im eigenen Land. Aber … aber nur bis zu den nächsten Demonstrationen, bis zu neuerlichen Protesten, und schon wurden wir wieder in die Vergangenheit gedrängt und wunderten uns, wie kann das sein?! Wie kann man im 21. Jahrhundert Menschen so foltern und töten, wie kann man Sprache und Bücher verbieten? Ganz einfach: Gebt einem Menschen das Machtmonopol über die Industrie, über das ganze Land, gebt ihm Zeit, sein Umfeld aufzubauen mit kastrierten Beamten und dummen Militärs, und ihr werdet niemals frei sein, sondern immer nur abhängig vom furchtbaren, blutrünstigen russischen Nachbarn, in Geiselhaft eines einzelnen kranken alten Mannes.
Jedes einzelne Jahr trägt für die Belarussen eine Markierung. Sie durchleben scheinbar mehrere Jahre in einem, denn es gelingt ihnen sich aufzurappeln, Mut zu fassen, Leben und Arbeit aufzunehmen, nur um dann wieder aus der Bahn geworfen zu werden und alles von vorn zu beginnen – und hier liegt die zentrale Erkenntnis: Belarus hat eine Zukunft, eine starke, mutige und vor allem erfahrungsreiche Zukunft: Beim nächsten Präsidenten wird sich das Land nicht so leicht hinters Licht führen lassen. Das Wichtigste ist, dass das Volk selbst über sein Leben und seine Regierung bestimmen kann. Die Belarussen schwingen auf ihrer eigenen geografischen und geopolitischen Schaukel, und bislang hat es noch niemand geschafft, uns herunterzustoßen. Ja, wir pendeln zwischen Terror und Wiedergeburt hin und her, doch irgendwann wird die Schaukel sanfter schwingen und nicht so weit ausschlagen, dann werden wir um die Wahlen ringen, ruhig und mit Bedacht, und Straßenmusiker werden singen und Schaulustige auf dem Pflaster versammeln, das endlich unter dem festgefahrenen Asphalt hervorgeholt wurde, den allzu oft Paradepanzer zerfurchten.
Während des Großfürstentums Litauen, der Polnischen Adelsrepublik, des Russischen Imperiums und der Sowjetunion blieben Belarus und die Belarussen stets mit ihrer Sprache und ihrer Tracht bestehen, sie überlebten inmitten von anderen Sprachen und Kulturen. Dank ihrer Einzigartigkeit überstanden die Belarussen das alles, ihr nationaler Code bahnte sich seinen Weg durch andere Wurzeln, und jedes Mal, wenn wieder ein Tyrann alles ringsum niedergebrannt hatte, keimten die Sprossen mit der Zeit wieder von Neuem.
Im Moment sieht alles wieder nach Terror aus, nach Unterdrückung alles Belarussischen, Nationalen, Kulturellen. Viele, die auf Lukaschenkas Seite stehen, betrachten Kultur als nachrangig – andere Dinge seien wichtiger – und verhängen munter weiter Gefängnisstrafen wegen „Präsidentenbeleidigung“ gegen Künstler, Musiker, Bergarbeiter, Journalisten und Schriftsteller. Ohne Kinos und Museen kann man leben, Galerien brauchen wir auch nicht, Hauptsache, alle haben ihre fünfhundert Dollar Mindesteinkommen und was zu essen. Eine düstere, furchtbare und hoffnungslose Zeit ist angebrochen, doch alles, was war – Kundgebungen, Märsche, Hofinitiativen, unser Kampf mit Blumen und Umarmungen gegen das Böse –, zeugt von einer neuen Generation, die dieses Chaos und diese Banditen ablösen wird, die hier alles auf den Kopf gestellt und verbogen haben: Wir retten hier zusammen mit dem illegitim gewählten Präsidenten das Land vor euch Faschisten und Terroristen! „Sprich normal mit mir, Missgeburt!“
Um die aktuelle Situation einzuschätzen, reicht die Feststellung, dass im Land ein furchtbarer Genozid passiert – eine Verfolgung von Sprache und Kultur, Gedankenfreiheit und Lebensweisen … Doch andererseits gibt es in allen Ländern der Welt eine belarussische Diaspora, es gibt finanzielle Unterstützung für Kulturprojekte im Ausland, Hilfe für alle Menschen. Für den Preis der Kundgebungen und des Staatsterrors haben wir unseren Zusammenhalt und unsere Würde, und die werden uns und unserer Kultur für immer erhalten bleiben.
Wir Belarussen tragen eine schwere Last, wir mussten oft in anderen Kulturen, Zivilisationen und Imperien überleben, doch wir haben uns selbst, unsere Sprache und unsere Wurzeln nie vergessen. Und wenn wir von Identität sprechen, so leben überall auf der Welt Menschen, die sich liebevoll an ihr Leben in Belarus erinnern, an den Himmel, die Wälder, Felder und Flüsse, und die jederzeit gern bereit sind zurückzukehren und ihr Land neu zu bauen, ohne Tränen und verkrampfte Finger.
Wladimir Makei, belarussischer Außenminister, verstarb unerwartet am vergangenen Samstag. Eine bestätigte Todesursache gibt es noch nicht; verschiedene Quellen aus seinem Umfeld vermuten, der hochrangige Diplomat könnte einem Herzinfarkt erlegen sein.
Makei war vor allem für westliche Staaten das langjährige außenpolitische Gesicht des Systems von Alexander Lukaschenko, dem er bis zuletzt loyal diente. Bis zu den historischen Protesten im Jahr 2020, über die sich Makei vielfach abfällig äußerte, galt er in Teilen der Bevölkerung, die sich für ein unabhängiges und demokratisches Belarus einsetzte, als „progressiv“. Makei sprach fließend Belarussisch und betonte immer wieder die kulturhistorische Unabhängigkeit von Belarus, was ihm Argwohn von russischer Seite einbrachte. Allerdings hatte er in seiner früheren Funktion als Leiter der Präsidialverwaltung auch mitgetragen, dass die Proteste infolge der Präsidentschaftswahlen 2010 niedergeschlagen wurden. Zudem hatte er so die darauf folgende Welle der Repressionen mitverantwortet.
In einem Beitrag für Posirk, dem Nachfolgemedium von Naviny, analysiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski das diplomatische Vermächtnis einer widersprüchlichen Figur im autokratischen Machtapparat Lukaschenkos.
Als das Lukaschenko-Regime noch einen auf „sanfte Belarusifizierung“ machte, posierte Außenminister Makei vor den Kameras gerne im Folklorehemd [Wyschywanka]. Unter anderen historischen Bedingungen hätte er vermutlich eine wichtige Rolle bei der Stärkung der belarussischen Unabhängigkeit und der europäischen Integration des Landes spielen können.
Doch in diesem von Lukaschenko geschaffenen System waren Makeis Möglichkeiten begrenzt. Er diente anstandslos einer Diktatur, die zum heutigen Tag eine europäische Ausrichtung des Landes blockiert, es zu einer katastrophalen Abhängigkeit vom Kreml verurteilt und zum Mittäter einer imperialen Aggression gemacht hat.
Meisterhaftes Spiel auf einem Feld mit vielen Vektoren
Als Makei 2012 zum Leiter der belarussischen Diplomatie ernannt wurde, hatte er bereits Arbeitserfahrung als Gehilfe Lukaschenkos, dessen Präsidialverwaltungsleiter er war. Der Führer des Regimes musste damals die Beziehungen zum Westen auftauen, nachdem im Jahr 2010 die Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und einige Dutzend politische Gegner inhaftiert worden waren (heute wirken diese Zahlen vor dem Hintergrund von fast 1500 politischen Gefangenen blass).
Und Makei gelang das nahezu Unmögliche. Natürlich wurden die grundlegenden Entscheidungen vom Machthaber getroffen, doch anzunehmen ist, dass auch die Rolle des Chefs des Außenministeriums nicht unbedeutend war.
Minsk konnte sich von der russischen Annexion der Krim distanzieren. Das Treffen des Normandie-Quartetts in Minsk im Februar 2015 wurde zu Lukaschenkos Sternstunde: „auf ein Käffchen“ (nachher prahlte er, man habe „mehrere Kübel Kaffee getrunken“) kamen die Regierungschefs der wichtigsten EU-Staaten zu ihm, Angela Merkel und François Hollande.
Danach wurden die EU-Sanktionen aufgehoben und der Staatschef gefiel sich im Gewand des Friedensstifters, versprach Belarus eine Perspektive als „Schweiz des Ostens“. Das Außenministerium machte sich daran, Belarus als Garanten regionaler Stabilität zu vermarkten und trieb die Idee eines neuen Helsinki-Prozesses in Minsk voran. Für ein Land am Rande eines geopolitischen Bebens war dies geradezu ein außenpolitischer Triumph.
Minsker Außenpolitik: Triumph und Tragödie
Den multivektoralen Ansatz beförderte die – gelinde gesagt – komplizierte Beziehung zum Kreml. Bei all der falschen Rhetorik über die Jahrhundertbruderschaft, uneigennützige Freundschaft und leuchtende Perspektiven der Unionspartnerschaft spürte die belarussische Regierungselite stets die Moskauer Schlinge am Hals und sondierte Möglichkeiten, diese zu lockern.
Makei war ein wichtiger Spieler auf dem Feld der Multivektoralität. In Moskau mochten ihn viele nicht, hielten ihn für einen Agenten unter westlichem Einfluss. Die Personalpolitik Makeis war zumindest nicht anrüchig. 2020 verließ, erschüttert von den Repressionen, eine Reihe von Mitarbeitern zum Zeichen des Protests das Außenministerium, – sie traten auf die Seite des Volkes, wie oppositionelle Medien damals pathetisch schrieben. Diese Leute erwiesen sich als nationalbewusst und schlicht als Bürger mit Gewissen.
In den Jahren der Entspannung leistete das Außenministerium viel. Heute schwer zu glauben, aber am 1. Februar 2020 empfing Lukaschenko in Minsk den US-amerikanischen Außenminister Mike Pompeo und man einigte sich auf Lieferungen amerikanischen Erdöls (Moskau hatte gerade wieder einmal den Hahn zugedreht).
Am 4. Februar desselben Jahres konnte der Autor dieses Textes mit eigenen Augen beobachten, wie offen sich Makei mit den Botschaftern Polens und der USA sowie dem Außenminister Litauens unterhielt, bei einem Festempfang in Minsk anlässlich des 274. Geburtstags Tadeusz Kościuszkos – dem Anführer des Aufstandes gegen den russischen Zarismus. Der antiimperialistische Subtext der Veranstaltung war offensichtlich. Makei hielt eine Rede über die Notwendigkeit der Vertiefung der Partnerschaft mit Polen, Litauen und den USA.
Heute dämonisiert die belarussische Führung all diese Staaten, den gesamten „kollektiven Westen“, beschuldigt sie des Nazismus und aggressiver Pläne. Ein Wunder ist nicht geschehen. Als Millionen Belarussen Freiheit forderten, wählte die Führungselite den Weg des Selbstschutzes und unterdrückte diesen Ausbruch. Dies führte zur Isolation des Landes aus der demokratischen Staatengemeinschaft und zu neuen Sanktionen. Die Moskauer Schlinge zog sich noch fester zu.
Letztlich zeigte das Regime sein wahres Gesicht, opferte nationale Interessen dem Machterhalt. Makei blieb dabei stets ein treuer Diener des Systems. Es war seine Stimme, die im Frühjahr 2021 das Urteil über die Strukturen aussprach, in denen sich freidenkende Bürger des Landes organisierten: „Jegliche weitere Verschärfung der Sanktionen wird dazu führen, dass die Zivilgesellschaft aufhört zu existieren.“
Im Zeichen der Niederlage
Die Ereignisse des Jahres 2020 brachen der belarussischen Außenpolitik das Rückgrat – sie begann praktisch zu Makeis Lebzeiten zu sterben.
Es ist bezeichnend, dass ihn sein letzter Amtsbesuch im ferneren Ausland in den Iran führte. Minsk bleibt nicht viel übrig, als Brücken zu anderen international Geächteten zu bauen.
Vor Kurzem musste Makei zum OVKS-Gipfel nach Jerewan mit einer militärischen Transportmaschine fliegen. In der Boeing von Lukaschenko hatte sich kein Platz gefunden. Auch das hat Symbolcharakter.
Auch verschwörungstheoretische Ansätze zu Makeis Todesursache machen bereits die Runde. Stellt man die klassische Frage „Cui bono?“, neigen sich die Köpfe in östliche Richtung.
In jedem Fall ist es wahrscheinlich, dass an der Spitze des Außenministeriums eine weniger talentierte und stärker prorussisch orientierte Person auftauchen wird. Bedauerlicher ist jedoch: Wen auch immer Lukaschenko zum Nachfolger bestimmt, und sei es der erfahrenste, begabteste Diplomat – es ist so viel Porzellan zu Bruch gegangen, dass an eine multivektorale Politik nicht mehr zu denken ist. Für ein Spiel mit dem Westen gibt es praktisch keine Ressourcen.
Theoretisch gibt es sie natürlich noch. Tatsächlich hatte Makei im September am Rande der UNO-Versammlung in New York bei Treffen mit Vertretern des Westens die Grundlagen für eine Wiederbelebung des Dialogs sondiert. Doch Wurzeln geschlagen haben die offensichtlich nicht. Für den Führer des Regimes ist die Schwelle für den Eintritt in einen Dialog mit dem Westen im Moment unrealistisch hoch. Die politischen Gefangenen zu entlassen macht ihm Angst, dem Kreml gegenüber den Rückzug der russischen Truppen von belarussischem Territorium anzusprechen – noch viel mehr. Die Anbindung des Regimes an den imperialen Streitwagen wirkt zunehmend fatal.
Die Epoche Makei in der belarussischen Diplomatie endet unter dem Vorzeichen einer kapitalen Niederlage. Makei selbst war ein außergewöhnlicher Mensch und hätte in anderem Kontext in die belarussische Geschichte eingehen können. Doch er erwies sich als treuer Diener eines bösartigen Systems.
In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 ermordete die sowjetische Geheimpolizei im belarussischen Minsk 132 Menschen, darunter viele Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle. Seit ein paar Jahren hat sich in Belarus rund um dieses einschneidende Ereignis, an dem sich auch Fragen der belarussischen Identität, Kultur und der Repressionen unter Alexander Lukaschenko entzünden, eine neue Erinnerungskultur entwickelt, nicht als staatliche Initiative, sondern als Bewegung von unten.
Wie gestaltet sich diese Erinnerungskultur? Wie ist sie entstanden? Was geschah in der späten Oktobernacht von 1937? Warum hatte es der sowjetische Staat explizit auf die nationale Elite von Belarus abgesehen? Die Historikerin Iryna Kashtalian gibt in einem Bystro Antworten auf diese und andere Fragen.
1. Was versteht man unter der Nacht der erschossenen Dichter?
In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 wurden in Minsk, im Keller des NKWD-Gefängnisses und in der Pischtschalauski-Burg, 132 Menschen erschossen und die Leichen anschließend in Kurapaty vergraben. Es waren keine einfachen Sowjetbürger, die erschossen wurden, sondern viele bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft, darunter auch 22 Dichter und Schriftsteller. Eine solch gleichzeitige Massenhinrichtung der belarussischen nationalen Elite hatte es zuvor noch nicht gegeben. Daher erhielt dieses tragische Datum im Großen Terror der 1930er Jahre später die Bezeichnung Nacht der erschossenen Dichter.
Anfang 1937 hatte der NKWD der BSSR die Existenz eines „Vereinigten antisowjetischen Untergrunds“ erdacht. Im September wurde dann auf höchster Regierungsebene der UdSSR eine Liste mit 103 Personen unterzeichnet, die unter diesem Vorwand zur Todesstrafe verurteilt wurden. Lokale NKWD-Beamte ergänzten die Liste noch. Zudem wurden auch Familienmitglieder der meisten in dieser Nacht zum Tode Verurteilten mit Repressionen belegt. Schon Anfang August waren mehrere Zehntausend konfiszierte Manuskripte belarussischer Literaten, die als „Volksfeinde“ eingestuft waren, vernichtet worden. Auch in Belarus ist der Verlust eines Großteils der nationalen Elite der 1920er und 1930er Jahre sowie ihres literarischen Vermächtnisses in der historisch multinationalen belarussischen Kultur bis heute spürbar.
2. Warum hatte es die Sowjetmacht vor allem auf die kulturelle Elite abgesehen?
In den 1920er Jahren hatte die Sowjetmacht den Literaturschaffenden gewisse künstlerische Freiheiten zugestanden, damit sie im Rahmen der Korenisazija-Politik die proletarische Kultur entwickelten. Mit der Abkehr von dieser Politik zu Beginn der 1930er Jahre wurden populäre Vertreter der denkenden Elite zur Gefahr für den Staat, der die Gesellschaft vollständig zu kontrollieren bestrebt war. So entledigte man sich ihrer auch in dieser furchtbaren Nacht, in der bekannte Dichter und Prosaautoren, Übersetzer und Kritiker umgebracht wurden.
Unter ihnen war der Dichter Izi Charyk, ein aktives Mitglied der Bewegung Poale Zion, Redakteur der jüdischen Zeitschrift Shtern, Autor von 13 jiddischsprachigen Büchern, verurteilt als „Mitglied einer trotzkistisch-sinowjewistischen Organisation“. Ebenfalls ermordet wurde Platon Halawatsch, führendes Mitglied der Literaturvereinigung Maladnjak und der Belarussischen Assoziation proletarischer Schriftsteller. Nach seiner Festnahme im August 1937 gestand er unter Folter seine „Schuld“ und wurde als „Organisator einer terroristischen Gruppe“ und für „Durchführung deutsch-faschistischer Aktivitäten“ verurteilt. Die Ehefrauen der beiden erhielten jeweils acht Jahre Lagerhaft als „Familienmitglied eines Vaterlandsverräters“ und wurden ins Lager des NKWD nach Karaganda gebracht.
3. Wann erfuhr die belarussische Gesellschaft von den Morden an der Intelligenz? Welche Reaktionen gab es?
Nicht nur die Gesellschaft, auch die Angehörigen der Erschossenen erfuhren die Wahrheit erst Jahrzehnte später. In der Sowjetzeit wurde in den Familien nur mit Vorsicht über ein solches Verschwinden von Angehörigen gesprochen. Viele Jahre lang hatten die überlebenden Zeugen der sowjetischen Verbrechen Angst von ihren Erfahrungen zu erzählen, aus Furcht, alles könnte sich mit ihren Verwandten wiederholen. Selbst nach dem XX. Parteitag der KPdSU, auf dem der Stalinkult verurteilt und die Rehabilitierung der Unschuldigen beschlossen wurde, schwieg man offiziell über die Erschießung als Todesursache. Nika Wetschar, Ehefrau des Schriftstellers Platon Halawatsch, erhielt 1956 eine Bescheinigung, ihr Mann sei 1944 im Lager an Herzstillstand gestorben. Zugang zu den Archiven des KGB erhielten die Angehörigen erst in den 1990er Jahren.
Anstoß für die Auseinandersetzung mit den Ereignissen dieser schwarzen Nacht lieferte 1988 die Erschließung des Ortes Kurapaty bei Minsk als Ort der Massenerschießungen während der stalinschen Repressionen von 1937 bis 1941. Leanid Marakou, Neffe des erschossenen Dichters und Übersetzers Walery Marakou, widmete sich, beeindruckt von der Geschichte seines Onkels, jahrelang der Aufarbeitung der Geschichte der Repressionsopfer und schrieb sogar das Buch, Nur eine Nacht [Tolki adna notsch, Minsk, 2006], das Ausschnitte aus dem Werk der Ermordeten und Zeitzeugenberichte über ihre letzten Lebenstage versammelt.
4. Wie ist das Gedenken zur Nacht der erschossenen Dichter entstanden?
Seit dem 29. Oktober 2017 organisieren die Bewahrer des Gedenkortes Kurapaty die Aktion Nacht der erschossenen Dichter. Heute ist dieses Datum von den Belarussen als der Tag anerkannt, an dem repressierter Kulturschaffender gedacht wird. Jährlich finden dann Veranstaltungen statt: Gedenkaktionen, literarisch-musikalische Abende, bei denen die Namen und Werke der Ermordeten gelesen und biografische Vorträge gehalten werden. Ebenso wurde eine Reihe kreativer Projekte zum Thema initiiert, so etwa das Musikalbum(Ne)rasstraljanyja [Die (Un)Erschossenen] des Portals TuzinFM.by, das auf Gedichten von zwölf erschossenen Dichtern basiert.
Die Ereignisse des August 2020 weckten in Belarus das Interesse am Thema der stalinschen Repressionen in einer breiteren Bevölkerungsschicht, die mit dem Lukaschenko-Regime unzufrieden war. Viele früher eher inaktive Bürger:innen interessierten sich plötzlich für die Geschichte der Repressionen und besuchten zum Beispiel die Vorträge in den Hinterhöfen von Minsk. Das Publikum wollte mehr über die inoffizielle Geschichte des Landes erfahren, in erster Linie über historische Parallelen bei der staatlichen Gewaltanwendung, aber auch über die belarussische Kultur des 20. Jahrhunderts als Quelle für Stolz und Leid. Viele aktive Menschen emigrierten nach 2020 aus Belarus, für sie ist der Tag heute ein Schlüsseldatum, um ihre Solidarität zu zeigen und der eigenen Identität Ausdruck zu verleihen.
5. Wie geht der belarussische Staat mit den Verbrechen um?
In der kurzen Periode von 1991 bis zum Machtantritt Lukaschenkos gab es ein großes Interesse an der Fixierung kommunistischer Verbrechen, Erinnerungstafeln für die Opfer der Repressionen wurden aufgestellt, die Spezialarchive öffneten zumindest teilweise. Nach 1994 kam es zu einem Rückfall bezüglich der sowjetischen Vergangenheit. Die jetzige offizielle Geschichtspolitik zielt nicht ab auf kritische Aufarbeitung und es gibt eine deutliche Verzerrung zwischen der Erinnerung an die Opfer des Stalinismus im Vergleich zu denen des Zweiten Weltkrieges.
In der offiziellen Bildung findet das Thema wenig Erwähnung. Die Namen der erschossenen Dichter sind im Literaturlehrbuch der zehnten Klasse erwähnt, das Schaffen des Schriftstellers Michas Sarezki wird bearbeitet, doch es liegt kein Akzent auf dem Datum 29. Oktober. Im Geschichtslehrbuch der neunten Klasse wird Kurapaty erwähnt, doch die Opferzahlen sind bedeutend niedriger angegeben und andere Orte von Massenhinrichtungen werden nicht genannt.
Schon vor 2020 versuchte die Regierung, der Gesellschaft die Kontrolle über Kurapaty zu entziehen, jedoch nicht zum Zweck der Vermittlung, sondern um die politische Aktivität der Bürger zu ersticken und totzuschweigen. Heute kümmert sich der Staat selbst nicht um diesen Ort, doch die Bewahrer der Gedenkstätte werden gezielt unterdrückt, auch für den Versuch, vor Ort an die Nacht der erschossenen Dichter zu erinnern. Insgesamt bleibt die Verantwortung für die Erinnerung an dieses Thema also Sache der Zivilgesellschaft.
6. Welche Gedenkveranstaltungen und -aktionen gibt es 2022?
Im vergangenen Jahr gab es mehr als 40 Veranstaltungen im Kontext der Nacht der erschossenen Dichter, in 38 Städten weltweit. In diesem Jahr finden die Aktionen vor dem Hintergrund eines Krieges und nicht endender Repressionen in Belarus statt. Dennoch gibt es sie wieder, in zahlreichen Ländern der Welt, auf verschiedenen Kontinenten, in denen die belarussische Diaspora lebt. Auf der Webseite nochpaetau.com kann man sich darüber informieren. Dort stehen auch viele Materialien über die repressierten Poeten zur Verfügung – Musik, Vorträge und mehr. Die Organisatoren offerieren allen Interessierten Beteiligungsmöglichkeiten: von der individuellen Beschäftigung mit Quellen zum Thema bis hin zur Durchführung eigener Gedenkveranstaltungen in verschiedenen Formaten.
Eine große Veranstaltung der belarussischen Diaspora-Organisation in Deutschland Razam findet in der Stadtbibliothek Bremen statt. Dort kann man sich an Diskussionen belarussischer und deutscher Experten zu den politischen Repressionen in Belarus im 20. und 21. Jahrhundert beteiligen, über den Widerstand der belarussischen Literatur gegen Krieg und Repression sprechen und bei einem Konzert belarussische Lieder hören. In Białystok und Warschau finden Präsentationen des neuen Buches (Ne)rasstraljanyja [Die (Un)Erschossenen] statt, das den ermordeten Schriftstellern der 1930er Jahre gewidmet ist.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
In der Sowjetunion wurde über den Terror der Stalin-Zeit so gut wie nicht gesprochen, selbst in Familien wurden die schrecklichen Geschichten über ermordete und verschwundene Angehörige wie ein Tabu behandelt. Die Autorin unseres neuen Essays in unserem Projekt Spurensuche in der Zukunft, die unter dem Pseudonym Wolha Waloschkina schreibt, beschäftigt sich in ihrem aufrüttelnden Text mit der Frage, was die verdrängte Gewalterfahrung auch mit der Gesellschaft in ihrer Heimat, in Belarus, gemacht hat und macht. Denn auch die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko nutzen Gewalt und Repression, um Andersdenkende zu bekämpfen und letztlich ihre eigene Macht zu bewahren. Vor allem seit den Protesten des Jahres 2020 hat sich diese Staatsgewalt und damit ihre Unterdrückungsmethoden nochmals radikalisiert. Dazu kommt der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine auch von belarussischem Territorium aus führt. Wolha Waloschkina beschreibt, wie es ist, mit dieser Gewalterfahrung zu leben, und sie fragt sich, wie diese Gewalt und damit die postsowjetischen Diktaturen überwunden werden können, um eine andere Zukunft zu ermöglichen.
Dieser Text gehört für mich zu den schwierigsten, die ich je geschrieben habe. Ich habe damit mehrere Monate verbracht, im Sommer 2022. Einige Bilder erschienen mir im Traum, ich schrieb und löschte ganze Absätze, öffnete und schloss die Datei, las bereits Geschriebenes wieder und wieder, ich tauchte in politischen Nachrichten ab, eine Stunde am Tag lag ich nur auf dem Sofa und starrte an die weiße Zimmerdecke.
Ich trug den Essay über das Leben in Belarus stückchenweise zusammen. Wie auch mich selbst.
Warum sträubte sich alles in mir gegen diese Aufgabe? Es ist schwer, aus der Diktatur heraus mit der eigenen Stimme zu sprechen. Zudem wehrte sich meine Psyche hartnäckig gegen die Erfahrung existenziellen Horrors: In einer zerrissenen Welt kann man nicht leben, die zweigeteilte Realität ist unerträglich, die Ungewissheit der Zukunft zermürbt. Als pulsierte in mir ein schwarzer, sehniger Knoten, in dem all das Entsetzen und die Wut komprimiert und meine persönlichen Traumata für immer mit den (geo)politischen verwoben sind. Doch auf paradoxe Weise kristallisieren sich dort auch meine Werte heraus und konzentriert sich meine schöpferische Energie. In den vergangenen zwei Jahren habe ich viel geschrieben, auf Russisch und auf Belarussisch, und ganz anders als vorher. Und ich konnte in mich gehen und stundenlang zeichnen.
1.
„Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr im Kommunismus leben!“ – erklärt die betagte Lehrerin den Erstklässlern in der ersten Unterrichtsstunde feierlich. Ich bin sechseinhalb Jahre alt und sitze in Paradeuniform in der Schulbank. Große Augen, Zöpfe mit blauen Schleifen, adrette weiße Schürze und braunes Wollkleid (das heftig kratzt). Für jede Bestnote klebt die strenge und gerechte Lehrerin einen roten Sowjetstern auf den Deckel des Schulheftes. Ich war eine Einserschülerin, und meine Hefte sahen aus wie Breshnews Brust, voller Orden.
Dabei war zu Beginn der 1980er das Versprechen des Kommunismus bereits ein naiver Anachronismus, kaum einer glaubte an seinen Aufbau. Vor den Fenstern der Schule zog Breshnews real existierender Sozialismus vorbei. So hieß es offiziell, und das bedeutete: Die Partei macht sich die Hände nicht schmutzig, den Kommunismus sollen die nachfolgenden Generalsekretäre aufbauen, und Breshnew ist ewig. Bald würde ohnehin alles zusammenbrechen, doch das wusste damals noch niemand.
Die Schule war so neu wie das ganze Viertel am Minsker Stadtrand mit seiner komplexen Geometrie neun- und zwölfstöckiger Wohnblöcke. Im Mai war alles ringsum mit grünem Gras und gelbem Löwenzahn bedeckt.
Das Viertel war am Stadtrand anstelle einiger Dörfer errichtet worden, deren Einwohner in den neuen Häusern ebenfalls Wohnungen bekamen. Aus dem alten Wald rund um diese Dörfer wurde ein Park für Spaziergänge. Im Frühling war er voller weißer Schneeglöckchen. Und an den Maifeiertagen saßen ganze Familien in diesem Wald auf Decken, grillten am Lagerfeuer Fleisch und tranken.
Jenseits der Ringautobahn ging dieser Kiefernwald weiter – da war der Ort, an dem Ende der 1930er Jahre Massenerschießungen stattfanden. Heute kennt man ihn als Kuropaty. Auf Befehl des NKWD wurden nachts Gruben ausgehoben, die Tschekisten brachten in Transportern die Verurteilten herbei, stellten oder legten sie reihenweise auf und schossen ihnen in den Hinterkopf. Und in der nächsten Nacht die nächste Fuhre … Noch heute liegen dort zehntausende namenlose Körper unter der Erde. Viele Jahre blühten auf ihnen im März die weißen Schneeglöckchen, die auf Belarussisch praleski heißen, hier aber kurapaty genannt werden.
Vor der Perestroika wurde über Kuropaty nicht laut gesprochen und schon gar nicht geschrieben. Und doch hatten die ehemaligen Dorfbewohner eine Ahnung, vielleicht hatten es die Alten ihnen zugeflüstert.
Nach dem Unterricht wurden die Grundschüler auf die Waldlichtung geführt, wo wir alles machen durften, außer nach Hause laufen. Wir begannen, uns Gruselgeschichten auszudenken, setzten uns in einen Kreis und erzählten: An diesem Klettergerüst darf man nicht baumeln – da hat sich vor Kurzem einer erhängt. In dem schmutzigen Rohr unter der Autobahn liegt ein menschliches Herz (ich habe es mit eigenen Augen gesehen). Im Wald gab es viele Wege und Pfade, Gräben und Erdhügel, und wir munkelten, das sei ein Friedhof ohne Kreuze. Und die Schaschlik-Griller saßen auf Gräbern, direkt über den Schädeln.
Das Schaurige zeigte sich uns Kindern der späten „Stagnation“ in der Luft, in Gerüchten und Geflüster, es war immer und überall. Sowjetische Kinder liebten Schauermärchen. Von der Frikadelle in der Schulkantine, in der jemand einen Fingernagel gefunden habe, weil im Keller ein riesiger Fleischwolf stehe, der aus Menschen Hackfleisch mache, vom Pionierhalstuch, mit dem ein Mädchen erwürgt worden sei, vom Sarg auf Rädern (Gefangenentransporter?), der in der dunklen Nacht durch die Stadt fahre und sich langsam deinem Haus nähere … In einem Keller in meinem Viertel lebten Skelette, die Passanten bei lebendigem Leibe die Haut abzogen und sie in ebensolche Kellerbewohner verwandelten. Jemand habe unmenschliche Schreie gehört. Und hüte dich davor, dich nachts diesem Keller zu nähern – dort häuten sie dich!
2.
Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, meine Kindheit ist 40 Jahre her. Wir dachten, die Zeit sei vorangeschritten, hin zu Biotechnologie, Robotern, virtuellen Welten und neuen Problemen. Doch plötzlich erhob der Archipel GULAG seinen Rücken, überwuchs mit klebriger Haut und stieg aus den Tiefen, um alles umher zu vernichten und zu vergiften. All diese Jahre hatte das Monster, vom stalinschen Totalitarismus genährt, seine Zeit abgewartet. Nun zermalmt es wieder Menschen.
Tatsächlich kam seine Wiederkehr gar nicht so unerwartet. Weder in Belarus noch in Russland hatte man das Monster je offiziell verabschiedet. Statt eines historischen Gedenkens an die Traumata der sowjetischen Vergangenheit nur Risse, Schweigen und schizophrenes Stückwerk.
Ein Beispiel: In der Nähe von Minsk entstand im 21. Jahrhundert die Stalin-Linie, offiziell ein staatliches Museum für sowjetische Militärtechnik, ein sogenannter „historisch-kultureller Komplex“, aber auch eine touristische Attraktion. Hier kann man Selfies mit sowjetischen Panzern machen und in einen Panzerzug klettern. Es gibt auch eine steinerne Stalin-Büste, vor der Patrioten (so steht es auf der Webseite) Kränze und Blumen niederlegen.
Am anderen Ende der Stadt liegt die Gedenkstätte Kuropaty. Nach Ausgrabungen, Publikationen, öffentlichen Aktionen und der dritten staatlichen Kommission seit Beginn der 1990er führte an der Anerkennung Kuropatys als Gedenkort für die stalinschen Repressionen kein Weg mehr vorbei. Doch ständig passieren hier dubiose Geschichten. Zuerst wurde ganz in der Nähe ein Schnellrestaurant eröffnet (was in Belarus nie ohne behördliche Erlaubnis geschieht) – mit Blick auf eine Reihe hölzerner Gedenkkreuze am Waldrand. Dann wurde die Ausgestaltung des Geländes angeordnet, die mit der Entfernung der Kreuze begann, weil sie von den Aktivisten angeblich ohne Genehmigung aufgestellt worden waren. Das war 2019, eine symbolische Geste des Staates: Nur der Staat darf bestimmen, woran und wie sich die Belarussen erinnern.
Kommen wir zu einem schönen, in zarter Pastellfarbe gestrichenen Gebäude mit Säulen und einer riesigen Eisentür im Stadtzentrum: der belarussischen KGB-Zentrale. Wie ein ehemaliger Häftling in einem öffentlichen Interview erzählt hat, finden sich dort in allen Verhörräumen Spuren des Kults um Felix Dsershinski – Porträts, Büsten, Zitate. Und gleich um die Ecke ist der Dsershinski-Klub, wo man laut Webseite ein Bankett bestellen kann.
Im selben Stadtviertel steht der Pischtschalowski-Palast, ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das auf dem Stadtplan des Online-Portals Yandex als historische Sehenswürdigkeit markiert ist. Manchmal interessieren sich Touristen, die mit belarussischen Realia nicht vertraut sind, für eine Besichtigung.
„Wie kann ich eine Führung im Pischtschalowski-Palast buchen?“, fragte kürzlich jemand im Chat.
Die ehrliche Antwort von Belarussen:
„Stellen Sie sich mit einer weiß-rot-weißen Flagge davor, und Sie werden sofort hereingebeten.“
Dieses Gebäude wird seit mehr als 200 Jahren als Gefängnis genutzt, aktuell als Untersuchungshaftanstalt. Zudem werden dort, glaubt man Gerüchten, Todesurteile vollstreckt. Seit 2020 gehört die Mehrzahl der Gefangenen, die hier auf ihren Prozess warten, zu den „Politischen“. Also zu Menschen, denen eine Verurteilung wegen Andersdenken und Widerstand gegen das Regime droht. Wenn es einen Touristen an diesen historischen Ort verschlägt, sieht er einen hohen Zaun, Stacheldraht, Sicherheitskräfte und eine lange Schlange von Menschen, die Päckchen übergeben möchten. Fotografieren ist hier verboten.
3.
Wie lebt man hier zwei Jahre nach der Revolution von 2020? Die Realität ist zweigeteilt.
Einerseits die stickige Stadt, die Hitze, die sengende Sonne, die Sandalen bleiben am Asphalt kleben. Aus meinem Fenster sehe ich den Himmel, ein Konvoi aus Wohnblöcken und das Stadion. In dessen Mitte hat ein einsamer Belarusse sein Handtuch auf dem Gras ausgebreitet und liegt in Unterhose und Sonnenbrille da, holt sich seine Ration Bräune und Vitamin D, um das kommende Halbjahr mit grauem Himmel, Matsch und Nebel gesund zu überstehen. Es wirkt wie eine Geste belarussischer Dickköpfigkeit: kein Urlaub, kein Visum, zu heiß, um quer durch die ganze Stadt zum Strand zu fahren – also genießen wir den Sommer unter gegebenen Umständen und denken uns Meer, Wellen und Sand einfach dazu.
Das Leben sprudelt. Menschen erledigen Geschäfte und Einkäufe, in Unterführungen und an Metroausgängen breitet sich der urwüchsige Handel aus: Rentnerinnen, Kleingärtner und Kolchosbauern stehen reihenweise da und verkaufen den Städtern, was sie in ihren Gärten ernten.
Bei einer alten Frau kaufe ich einen Becher Blaubeeren, rühre sie in mein Eis und esse es genüsslich mit einem Teelöffel.
Andererseits werden jeden Tag Menschen festgenommen – für Likes in Sozialen Medien, für Stadtführungen, für das Abonnement von Telegram-Chats, dafür, dass sie 2020 schon einmal 15 Tage für die Teilnahme an Demos gesessen haben. Die Gerichte und andere Strafverfolgungsorgane übererfüllen den Plan. Einfach so nimmt man dir deine Lebenszeit und deine Gesundheit. Schrecklich, sich vorzustellen, wie stickig es damals in den vollgestopften Gefängniszellen war. Es gibt Strafkolonien, in denen die Wärter und ihre Führung sich bemühen, die „Politischen“ zu brechen, psychisch wie physisch. Briefe und Päckchen von Unterstützern werden nicht zugestellt. Für Renitenz gibt es Karzer. Oder man wird in Kolonien mit üblem Ruf und besonders strengem Regime überstellt.
Ein Mensch, der dort gesessen hat, berichtete, dass er mit seinem Löffel den Abort auskratzen musste.
4.
„Wir haben alles und keinen Krieg!“, sagt eine Frau mit einem Einkaufswagen voller Essen laut in der Warteschlange an der Kasse, vielleicht zu jemand anderem, vielleicht zu sich selbst.
Der Krieg herrscht in der Ukraine, und auch von unserem Gebiet aus fliegt der Tod dort hin. Die Bilder und Spuren durchdringen auch unsere Wirklichkeit, deshalb ist auch bei uns Krieg.
In der Nacht trete ich ans Fenster – gegenüber ein stiller, blockförmiger Ameisenhaufen, die Belarussen schlafen in ihren Mauselöchern. Da sehe ich plötzlich ein von Explosionen zerfetztes Gebäudeskelett, schwarze Betondecken, versengte Innereien von Wohnungen.
Krieg bedeutet schwarze tote Erde, verstümmelte Körper, tote Kinder, unwürdig verscharrte Leichen, die neunte Woge von Angst und Schrecken. Er ist eine Katastrophe der Entmenschlichung, stellt die Welt auf den Kopf.
Seit dem 24. Februar erhalte ich Nachrichten von ukrainischen und russischen Freunden. Eine ukrainische Kollegin fragte, warum ich in den sozialen Netzwerken nichts über den russischen Angriffskrieg schreibe, es sei die Hölle bei ihnen. Meine Kyjiwer Freundin antwortete auf meine besorgte Nachfrage, dass die erste Explosion bei Sonnenaufgang zu hören gewesen sei, der Flughafen in der Nähe ihres Viertels sei bombardiert worden, aber sie und ihr Sohn hätten noch eine Weile geschlafen. Seitdem schreibt sie nur noch in ukrainischer Sprache über ihren Alltag, mit einem erlesenen Sinn für schwarzen Humor. Auch eine russische Freundin schrieb mir damals. Sie fragte, wie es mir geht, und wir umarmten uns virtuell.
Ich war wie gelähmt – genau wie damals, am 13. und 14. August 2020, als uns eine Welle von Beweisen für Folter und Misshandlungen im Okrestina-Gefängnis überrollte. Daraufhin brach es aus den Belarussen heraus, sie gingen auf die Straße, um NEIN zu Gewalt zu sagen. Gegen den Krieg in der Ukraine demonstrierten sie auch – jedoch nicht so viele wie 2020. Die Menschen, die noch hier sind, sind von der Diktatur zermürbt. Bei der Antikriegsdemonstration in Minsk wurden 800 Menschen festgenommen.
Ein halbes Jahr später steht fest, dass dieser Krieg die ganze Welt verändert. Unter anderem lässt er diverse Mehrheiten in ein Schwarz-Weiß-Denken zurückfallen, dessen Kreise überall divergieren. Die Propaganda übertrumpft die Realität und ersetzt Werte durch militante Klischees. Jetzt sind alle entweder „Unsere“ oder „Fremde“, und dein Pass ist dein Schicksal.
„Alle Belarussen sind Mit-Aggressoren“, „alle Russen sind von faschistoider Propaganda verseucht“, schließen wir die Grenzen, auch für jene, die mit ihrem toxischen Staat nichts gemein haben wollen, canceln wir die Russen samt ihrer Literatur und ihrem Ballett. Alle russischen Klassiker sind von imperialem Gedankengut durchsetzt, unsere Kinder sollen weder Puschkin noch Dostojewski lesen.
Ich bin überzeugt, dass Widerstand gegen den Krieg auch bedeutet, sich der Vereinfachung der Welt und der schwarz-weißen Sicht auf die Realität zu widersetzen. Kultur umfasst immer Komplexität, Bedeutungsschichten, Interpretationsfreiheit. Mensch zu sein in einer neuen Welt heißt, Solidarität auf Grundlage gemeinsamer Werte und über Grenzen hinweg herzustellen.
Ich werde dafür stimmen, dass im Neuen Belarus die klassische russische Literatur Teil des Lehrplans bleibt, im Fach „Weltliteratur“. Es soll gelehrt werden, wie man in der russischen Lyrik und Prosa Kontexte (auch imperialistische) erkennt und Ideen, Metaphern und Symbole frei interpretiert. Lesen kann man die Texte im Original oder in belarussischer Übersetzung – jeder, wie er will.
5.
Mit Machtdiktaturen und Krieg ist die postsowjetische Periode vorbei, wir erleben ihren Niedergang. Vor zwei Jahren noch sah es aus, als wären wir in rasendem Tempo und unausweichlich unterwegs in die Zukunft. Neue Technologien, neue Generationen, neue Herausforderungen an die Menschheit. Doch heute sind wir mit der dunklen Seite der sterbenden Diktatur konfrontiert: In Belarus genauso wie in Russland hat sich die Macht endgültig in die gefährlichsten sowjetischen Phantasmen verstrickt: Paternalismus, antiwestliche Hetze, Kommandostil, Imperialismus, Militarismus, Expansionismus. Mit Gewalt und Propaganda flößt man das alles der Bevölkerung ein. „Die Liebste geben wir nicht her!“, sagte der ehemalige belarussische Präsident nach der verlorenen Wahl zu seinem Volk. Nein, wir vergewaltigen sie, nehmen ihr die Freiheit, ihre Rechte und Hoffnungen …
Die Zukunft ist unausweichlich, auch wenn heute niemand sagen kann, wie lange die Agonie noch dauern und wie viele Leben sie noch kosten wird.
Irgendwann wird der Krieg enden, die russische Besatzung wird von der Ukraine ablassen, die postsowjetischen Diktaturen zerfallen. Die Belarussen kommen aus den Gefängnissen frei.
Die nationale Idee, auf der das Neue Belarus aufbauen muss, gibt unsere Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts vor: Nie wieder Diktatur, Repression, Missachtung von Würde und Menschenrechten in unserem Land. NIE WIEDER.
Für diese Idee wird niemand in Reih und Glied unter der weiß-rot-weißen Flagge marschieren. Zur Gewährleistung einer Zukunft ohne Diktatur werden alle politischen und sozialen Institutionen ihren Beitrag leisten – vom Parlament bis zur Bildungseinrichtung, angefangen beim Kindergarten.
Im Pischtschalowski-Palast wird endlich ein Museum für die Repressionen und Haftanstalten der Vergangenheit eröffnet. Wir werden die Todesstrafe abschaffen und das Rechtssystem reformieren. Die Haftbedingungen in den Gefängnissen des Neuen Belarus sollen die Würde des Menschen respektieren. Und dann stellen wir jene vor Gericht, die heute den Belarussen das Leben unerträglich machen. Jene, die ich heute Vertreter einer kriminellen Macht, Folterknechte, Propagandisten und Denunzianten nennen würde, werden nicht in stickigen Zellen um Luft ringen, auf Betonböden schlafen und Folter ertragen. Sie können gern Bücher lesen und sich selbst quälen.
Die belarussische Lubjanka wird ihre Archive und geheimen Kellerräume öffnen. Wir werden eine kollektive Erinnerung an die belarussische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts wiederherstellen, mit all ihren Traumata und Opfern, mit verschiedenen Sichtweisen, was es heißt, Belarusse zu sein, mit verschiedenen Erfahrungen des Widerstands gegen den russozentristischen Imperialismus.
Das Neue Belarus wird wohl aus dem Chaos entstehen, es wird viele Diskussionen, Kränkungen und Machtkämpfe geben. Die Belarussen werden Parteien gründen und Politik erlernen. Doch das wird schon eine andere Geschichte sein, in der mein Weltbild, meine Werte und meine Professionalität in Forschung und Lehre einen Unterschied machen werden. Diese Zeiten möchte ich gern noch erleben.
6.
Nach dem Absatz über Belarus in der Zukunft bin ich eingeschlafen. Ich schlage die Augen wieder auf – und bin in meiner Wohnung, mit der allzeit gleichen Landschaft vor dem Fenster: langweilige Wohnblocks, Bäume, der Trampelpfad zum Laden. Ich koche mir Kaffee, setze mich wieder an den Computer und betrete Meta Universe Belarus 2.0. Dort lebe ich, ich habe einen digitalen Pass. Ich suche mir einen Avatar aus – heute bin ich unausgeschlafen, daher wähle ich die Belarussin mit Eulenkopf – und ab zum Arbeitsmeeting. Danach ins virtuelle College, an dem ich lehre (ich unterrichte schon so lange, dass ich sogar im Schlaf Vorlesungen halte). Dann noch zu einer digitalen Kundgebung vor dem virtuellen Parlament, ins Café mit Freunden und ins Kino in einen neuen Film. Dieses ganze erfüllte Leben verläuft vor dem realen Hintergrund des virtuellen Minsk, sogar die Wege sind vertraut.
Doch ich brauche etwas Richtiges zu essen, nichts Virtuelles. Ich ziehe die Daunenjacke über, gehe hinaus, schlendere zum Laden Obst.Gemüse, der noch genauso aussieht wie in meiner sowjetischen Kindheit, das Körpergedächtnis reproduziert sogar den Geruch. Am Eingang stehen grau gekleidete Leute Schlange. Die grimmige Verkäuferin öffnet den Hebel einer Eisenkiste, die aussieht wie ein Müllschlucker, und aus seinem Schlund fallen drei Kilogramm Nahrung. Schweigend halte ich ihr mein Einkaufsnetz hin, bezahle, drehe mich um und gehe wieder nach Hause.
Die virtuelle Welt kann dir nicht das Gefühl von Wärme und Unterstützung durch einen anderen geben. Deshalb gehen die digitalen Belarussen nachts in die Stadt hinaus und treffen sich an geheimen Orten – in Kellern, verlassenen Wohnungen, leerstehenden Fabrikhallen. Das sind natürlich extremistische Versammlungen – wie alle Menschenmengen, die weder Warteschlange noch Parade sind.
Auf uns werden Razzien angesetzt.
Doch wir treffen uns trotzdem, um einander schweigend zu umarmen. Und gehen genauso still wieder auseinander.
7.
Angeblich brennt im Zirkus während der Auftritte der Trapezkünstler immer ein rotes Lämpchen – irgendwo über den letzten Zuschauerreihen. Das Orchester spielt ohrenbetäubend, die Scheinwerfer blenden, du hängst mit dem Kopf nach unten, fliegst und überschlägst dich in schwindelnder Höhe ohne festen Halt unter den Füßen. Und behältst das rote Lämpchen im Blick, das dir Orientierung gibt: Hier ist oben, und dort, im Dunkeln, ist der Boden oder unten, bloß nicht verwechseln.
Was für eine passende und aktuelle Metapher für das Überleben in ungewissen Übergangszeiten.
Das rote Lämpchen – das sind unsere Werte, Hoffnungen und der unbedingte Wille, das Neue Belarus zu verwirklichen. Zudem steht es für unsere persönliche Entscheidung, was wir in diesen unendlichen trüben Zeiten tun möchten. Das Land verlassen und dort Belarusse bleiben oder uns selbst bewahren und hier etwas für die Zukunft tun. Mein rotes Lämpchen ist das Kind, das ich großziehe, das Buch, das ich schreibe und die Freunde und Gleichgesinnten, an denen ich Halt finde.
Manchmal überwältigt mich auf paradoxe Weise ein akutes Gefühl für die Fülle und gleichzeitige Zerbrechlichkeit des Lebens. Das Gefühl, leben zu müssen, jetzt, einfach leben. Weil der Mensch so verletzlich ist, weil man sich nicht allein an Automatismen durchs Leben hangeln darf, ohne wirklich zu sehen, wie schön unsere Welt und unsere Menschen sein können.
Die Belarussen und Belarussinnen, die 2020 im ganzen Land im vollkommen friedlichen Protest auf die Straße gegangen sind, waren unglaublich schön.
Die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen weiter gegen Dissidenten und normale Bürger vor, die an den Protesten 2020 teilgenommen haben. In den vergangenen Wochen kam es wieder zu zahlreichen Festnahmen, aber auch zu Urteilen mit langjährigen Haftstrafen.
In einem der aufsehenerregendsten Prozesse der letzten Jahre wurden der Jurist und Aktivist Juri Senkowitsch zu elf Jahren sowie der Vorsitzende der Partei BNF Grigori Kostussew und der bekannte Philologe und Intellektuelle Alexander Feduta zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt. Offiziell wurde ihnen vorgeworfen, ein Mordkomplott und einen Staatsstreich gegen Lukaschenko geplant zu haben. Der Fall klingt in seinen verwirrenden Details und Vorwürfen wie eine klassische Räuberpistole. Feduta ist eine prominente Persönlichkeit in Belarus, die zumindest anfänglich Teil des Systems Lukaschenko war. Er hatte 1994 den Wahlkampf geleitet und war daraufhin Lukaschenkos erster Pressesprecher geworden. Vom dann aufwallenden autoritären System sagte er sich los und trat immer wieder als scharfer Kritiker und Aktivist in Erscheinung. Er wurde im April 2021 durch den russischen Geheimdienst FSB in Moskau festgenommen, wohin er aus seinem polnischen Exil gereist war.
In seinem Schlusswort vor Gericht sagte Feduta: „Legitime Regierungen halten ihre Amtseinführungen nicht heimlich ab; ein rechtmäßig gewählter Präsident läuft nicht mit einer Waffe herum. Lukaschenko ist so verängstigt, dass er selbst in dem Jahr, das er selbst zum Jahr der nationalen Einheit erklärt hat, nur das Schwungrad der Repression antreibt.“
Noch höhere Strafen von bis zu 17 Jahren gab es in einem weiteren Urteil gegen eine Gruppe von jüngeren Leuten, die unmittelbar im Zuge der Proteste 2020 festgenommen worden waren, weil sie Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Staatsgewalt dokumentiert hatten. Dazu gehört auch Marfa Rabkowa, Koordinatorin der Menschenrechtsgruppe Wjasna96. Sie wurde zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt. Offiziell wurde die Gruppe wegen der „Organisation von Massenunruhen, der Teilnahme daran und der Schulung anderer zur Teilnahme daran“ beziehungsweise der „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ für schuldig befunden. Beide Prozesse und Urteile wurden von großer internationaler Kritik begleitet. Nach dem Urteil sagte Rabkowa: „Wir leben im Zeitalter der verdrehten Wahrheit – das Gute wird bestraft, das Böse gefeiert, die Freiheit ist nur im eigenen Kopf möglich, und selbst dort könnte sie über Artikel 13 des Strafgesetzbuchs, als ,Vorsatz´, angegriffen werden. Gedankenverbrechen gibt es nicht nur in der dystopischen Fiktion, sondern auch in der belarussischen Realität.“
Wie lebt man mit solch schlechten Nachrichten und furchtbaren Urteilen, die einen von Tag zu Tag begleiten und die in gewisser Weise zum Alltag für viele Belarussen werden? Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič sucht auf solche schwierigen Fragen in einem Facebook-Post eine Antwort und verschafft sich deutlich Luft.
Der Krieg der Unmenschen gegen die Menschen geht weiter. Ein Krieg auf Leben und Tod. Ein Krieg bis zum Letzten.
Ich denke an sie. An die Feinde. Schaut man die Bilder an, sind sie noch jung. Einer mehr, einer weniger – doch die Mehrheit ist in den besten Jahren. Die Zeit ist eine gerissene Sache: Indem sie gehorsam Unschuldige bestrafen, scheint ihnen, sie würden ihre eigenen Tage verlängern. Sie, die strengen „Richter“ und die harten „Staatsanwälte“, die „Gesetzeshüter“ und andere Unmenschen … Die Teilhabe an den Repressionen ermöglicht ihnen wohl ein besseres Lebensniveau, garantiert ihnen Sicherheit und schützt die Gesundheit. Doch hier kommt das Problem mit der Zeit ins Spiel. Ihr Alter erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Tag der Abrechnung noch erleben. Auch wir werden ihn erleben – und ihnen in die Augen schauen. Die Zeit ist eine furchtbare Sache. Denn wir vergeben und vergessen nichts.
Ich denke heute an Aljaxandr Fjaduta. Das letzte Mal habe ich ihm im Herbst 2020 die Hand gedrückt, auf dem Bahnhofsvorplatz in Minsk. Damals hatte ich mich schon längst aus literarischen Konflikten von Fjaduta distanziert. Das hinderte uns jedoch nicht daran, einander zu grüßen, uns zu unterhalten und uns respektvoll zu begegnen. Im vergangenen Jahr schrieb ich ihm einige Briefe [ins Gefängnis] – als sie noch ankamen. Wir schrieben einander ausschließlich über Literatur. Und doch drang sie durch die Zeilen – die Zeit. Durch seine Scherze. Durch seinen Schmerz.
Eine Verschwörung gegen den Staat? In der Zukunft wird sie in denselben Kapiteln beschrieben werden, in denen man heute über die Attentate auf Hitler lesen kann – unter der Rubrik „Widerstand“.
Ich denke an Maryna Schybko [Ehefrau von Aljaxander Fjaduta – dek.]. Wie sehr ich sie unterstützen möchte – aber die Worte nicht finden kann. Ich denke an Maryna Adamowitsch [Ehefrau des belarussischen Oppositionspolitikers Mikalaj Statkewitsch – dek.]. Wo finden sie die Kraft, das auszuhalten. Und wie kann man einen Weg finden, die Zeit zu beschleunigen.
Ich denke an alle, die in Gefangenschaft sind.
Ich denke an alle Anarchisten. Ich denke an Mao, Legende des belarussischen Punk, der heute von denen gepeinigt wird, die kraft ihrer beschränkten Vernunft entschieden haben, dass keine Zeit mehr ist. Dass es nur den Dienstherrn und das Auskommen gibt. Aber nein, die Zeit rennt. An das, was sie heute tun, werden wir uns morgen erinnern. Die dummen Diener meinen, dass Bücher nichts bedeuten. Nein. Bücher sind die Komplizen der Zeit. Bücher sind Zeit, die so festgeschrieben wurde, dass sie nicht mehr auszulöschen ist.
Journalisten zufolge war das letzte Konzert von Mao und seiner Band im Jahr 2000, gemeinsam mit meiner Band Prawakazyja. Ich erinnerte mich an den Saal im Wohnheim der Pädagogischen Uni. „Der Chef ist hysterisch“, sang ich damals. Oder schrie ich. Ich kann schließlich nicht singen. Aus der Hysterie ist Agonie geworden. Das Ende noch erleben. Die Abrechnung noch erleben.
Ich denke an Fedsja Shywaleuski. Keine Politik? Alles ist Politik. Die Lebenden gegen die Toten. Ein talentierter und lebensfroher Musiker ist die beste Zielscheibe.
Während ich an all das dachte, beendete ich mein Buch. Für alle, die in Gefangenschaft sind. Für alle, die sich nicht ergeben haben. Für alle, die, wie ich, das Land verließen, sobald klar war, dass die Gefahr allzu nah herangekommen war. Für alle, die geblieben sind. Für alle, die, wie ich, um sich selbst und die Nächsten fürchteten. Für alle, die die Angst überwanden, und sei es für eine Minute. Für alle, die hier sind. Für alle, die dort sind. Und für alle, die denken, dass die Zeit ihnen gnädig sein wird. „Richter“ und „Staatsanwälte“, die „Kulturarbeiter“ mit ihren Literaturspektakeln und -propagandisten. Für die „Pisshosenpublizisten“ und die „Staatspreisträger“.
Die Zeit ist Krieg. Sie ist Widerstand. Und ein Gerichtsprozess, der bereits im Gange ist. Wenn wir es nicht erleben, dann erleben es die, die nach uns kommen. Bücher sind keine Menschen, man kann sie nicht vergessen. Deshalb fürchtet ihr sie so sehr. Menschen sind keine Bücher, sie sind zerbrechlich. Deshalb wollt ihr sie so sehr vernichten. Die Zeit aber vergeht. Und wir alle stecken mittendrin, in ihrem Mechanismus, dessen Rädchen sich drehen.
Bei der Konferenz Neues Belarus, die kürzlich vom Büro Swetlana Tichanowskaja in Vilnius organisiert wurde, ging es zuweilen hoch her, was sicher auch Ausdruck einer vitalen demokratischen Kultur ist, die von der neuen belarussischen Diaspora gelebt wird. Seit geraumer Zeit steht die belarussische Oppositionsführerin in der Kritik, die aus den eigenen Reihen kommt. Auch um den Kritikern entgegenzukommen und verschiedene oppositionelle Initiativen und Gruppen besser zu repräsentieren, wurde ein fünfköpfiges Exilkabinett beschlossen, dem neben Pawel Latuschko vom Nationalen Anti-Krisenmanagement unter anderem auch Alexander Asarow, Chef der Initiative BYPOL angehören. Ob dieses Kabinett ein effektiveres Instrument ist, um Einfluss auf politische Entwicklungen in Belarus selbst zu nehmen, wird von Experten wie Alexander Klaskowski mitunter bezweifelt. Größere Einflussmöglichkeiten hat die Opposition indes in der Außenpolitik. „Faktisch ist Tichanowskajas Büro“, so urteilt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch, „zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.“
Die große Politik für Alexander Lukaschenko sei indes vorbei, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch. Dem belarussischen Machthaber bleiben vor allem Treffen mit Wladimir Putin, mit dem ihn eine fatale Abhängigkeit verbindet. Vor dem Hintergrund des Besuches von Denis Puschilin, dem Anführer der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR), in Belarus analysiert Lenkewitsch im belarussischen Online-Medium Reform.by, dass sich Lukaschenko außenpolitisch in eine ausweglose Position gebracht habe, die auch die Unabhängigkeit des Landes bedrohe.
Der Präsident der selbsternannten Donezker Voklksrepublik (DNR) Denis Puschilin war nach Brest gereist. Dort besuchte er gemeinsam mit dem Generalsekretär der Partei Einiges Russland, Andrej Turtschak, dem Botschafter der Russischen Föderation in Belarus, Boris Gryslow, und anderen Delegationsmitgliedern aus der Pseudorepublik die Gedenkstätte Brester Festung. Am Ewigen Feuer legte man Blumen nieder.
In seiner Erklärung nannte Puschilin Brest eine Stadt, die zum „Vorbild für Mut und Widerstand des russischen Soldaten“ geworden sei. Hier stellt sich die Frage: Warum nur „des russischen“? Die Brester Festung wurde schließlich von Soldaten verschiedener Nationalitäten der UdSSR verteidigt. Und an 1939 wagt man ja kaum zu erinnern. Dennoch setzte Puschilin den Akzent ausschließlich auf den „russischen Soldaten“. Zufall? Oder steht der „russische Soldat“ für das russländische Imperium? Hält Puschilin damit auch Brest, das Vorbild des russischen Heldenmutes, für russisch? Bedeutet das, dass Russlands ambitionierte Pläne territorial so weit reichen? Wie angemessen sind solche Äußerungen überhaupt in einem fremden Land?
Bis zu diesem Besuch hatte die belarussische Regierung von offiziellen Gesprächen mit Vertretern von DNR und LNR abgesehen, mit Ausnahme eines Austauschs in der Trilateralen Kontaktgruppe. Den Donbass hatte der Parlamentsabgeordnete Oleg Gaidukewitsch gemeinsam mit einer Delegation seiner Partei LDPB besucht. Der in Minsk nach der erzwungenen Landung des Ryanair-Fluges festgenommene Blogger Roman Protassewitsch gab an, in Minsk von Ermittlern aus der sogenannten LNR befragt worden zu sein. Dazu äußerte sich im August 2021 auch Lukaschenko. Das war alles. Sollte es weitere Kontakte gegeben haben, so wurde es vorgezogen, sie nicht an die große Öffentlichkeit zu tragen.
Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr
In einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte Lukaschenko, er sehe keine Notwendigkeit und keinen Sinn in der Anerkennung der besetzten ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten, ebenso verhalte es sich mit der von Russland besetzten Krim. „Sollten die Krim, Lugansk und Donezk Lebensmittel, Ziegel, Zement oder Unterstützung beim Wiederaufbau benötigen, werden wir sie unterstützen. Wenn es notwendig ist, werden wir sie anerkennen. Wenn das irgendeinen Sinn ergeben sollte. Doch welchen Sinn hat es heute, ob ich sie öffentlich anerkenne oder nicht?“, erläuterte Lukaschenko seine Position.
Hat sich die Situation seitdem geändert? Gibt es mittlerweile diesen Sinn? Eine Wahrscheinlichkeit besteht. Der Kreml könnte Druck auf Lukaschenko ausüben und die Erfüllung der Unionsverpflichtungen einfordern. Möglich ist auch, dass Moskau die ewigen Ausflüchte des offiziellen Minsk leid ist und nun entschieden hat, dass die Zeit für die Anerkennung gekommen ist. Aus praktischen Gesichtspunkten gibt es für Russland keinen besonderen Sinn, außer dass es Lukaschenko noch mehr die Hände binden würde. Die Anerkennung der Separatistenregionen auf ukrainischem Gebiet als eigenständige Staaten würde die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine sowie deren Verbündeten nur noch zusätzlich belasten. Minsk zu nötigen, Puschilin zu empfangen, ist außerdem eine gute Option für Moskau, den Verbündeten auf seinen Platz zu verweisen.
Letztlich ist auch eine andere Variante denkbar: Es wird keine offizielle Anerkennung von DNR und LNR geben, da der Kreml „Referenden“ vorbereitet, die über den Beitritt der Separatistengebiete zur Russischen Föderation befinden sollen. Eine Anerkennung wäre dann gar nicht nötig. Es wird einfach mitgeteilt, dass die Vertreter der DNR angereist sind, um im Kontext des Hilfsangebotes der belarussischen Seite ihren Bedarf an Zement und Lebensmitteln zu formulieren.
Damit würde jedoch das Problem nur aufgeschoben. Denn es ergibt sich unvermeidlich die Frage nach der Anerkennung der Moskauer „Referenden“. Hier wird der Kreml seinem Verbündeten in jedem Fall die Daumenschrauben anlegen. Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr. Es bleibt lediglich die Hoffnung auf Erfolge der ukrainischen Armee, die solche „Referenden“ verhindern würde.
Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei
Oder einfach abwinken und tun, was Moskau will? Den vom Kreml zugewiesenen Platz einnehmen? Denn die bloße Tatsache des Besuchs der DNR-Delegation stellt Belarus letztlich in eine Reihe mit dieser Pseudorepublik. Man kann sich ohne Ende hinter „de jure“ und „de facto“ verstecken und der Welt weismachen, dass man niemanden anerkannt hat, sondern nur den Bedürftigen hilft – das alles sind Argumente zugunsten der Armen. Die niemand glaubt. Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei. Kamen früher noch die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident oder der US-Außenminister nach Minsk, ist es heute nur Puschilin. Und gerade dieser Besuch definiert Belarus‘ aktuelle Position in der politischen Konstellation des Kreml.
So tummelt sich also die DNR in Brest, und Puschilin macht zweideutige Bemerkungen. Belarus ist gezwungen, einen Menschen zu empfangen, dem nicht nur die ukrainische, sondern auch die belarussische Unabhängigkeit keine Kopeke wert sind. Für den Brest höchstwahrscheinlich – wie auch Poltawa und Odessa – eine „russische Stadt“ ist. Den Moskau als Sturmbock für die Eroberung von Gebieten eines Nachbarstaates einsetzt, für die „Befreiung“ von Städten, „von russischen Menschen gegründet“. Die Glocke läutet, und dieses Läuten ist sehr besorgniserregend.