„Leser schreiben, dass sie meine Bücher aus Bibliotheken retten, damit sie nicht vernichtet werden. Sie bewahren sie bis zu besseren Zeiten auf. Wir schreiben das 21. Jahrhundert in Belarus: Bücher müssen aus Bibliotheken gerettet werden.“ Dies sagte Alhierd Bacharevič in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo. Gleich zwei Romane des belarussischen Schriftstellers wurden von den Behörden in Belarus für „extremistisch“ erklärt. So gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko seit den Protesten von 2020 nicht nur gegen Oppositionelle, Aktivisten, Journalisten, Medien oder NGOs vor, sondern eben auch gegen Literatur.
Das Online-Medium Mediazona Belarus stellt Bücher und ihre Autoren vor, die auf der Liste „extremistischer Materialien“ gelandet sind, auf der sich das Medium seit 2022 selbst befindet.
Die im Folgenden vorgestellten Bücher wurden vom belarussischen Regime als „extremistisch“ eingestuft. Wer sie besitzt oder verbreitet, kann in Belarus mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet werden.
Alhierd Bacharevič: Sabaki Europy (Die Hunde Europas)
Worum es geht:Die Hunde Europas – eine Antiutopie in sechs Einzelgeschichten. In einem der Handlungsstränge hat Belarus längst seine Souveränität verloren und gehört zu Russland.
„Mir gefällt die Idee, dass die Hunde Europas die Belarussen sind. Der Hund ist ein Wesen, das stets in der Nähe des Menschen lebt, er hat seine eigene Sprache, seine Weltsicht. Der Hund ist scheinbar immer in unserer Nähe. Er versucht uns etwas zu sagen, aber wir verstehen es nicht“, erzählt der Autor über sein Buch.
Der Autor: Der Schriftsteller Alhierd Bacharevič lebte in Deutschland, kehrte dann nach Belarus zurück und hat das Land nach den Protesten von 2020 erneut verlassen. Das Buch erschien erstmals 2017 im Verlag Lohvinau, 2021 wurde es im Verlag Januškievič neu aufgelegt. Die in Litauen gedruckte Auflage der Hunde wurde an der Grenze vom belarussischen Zoll beschlagnahmt, um eine Expertise „bezüglich Extremismus“ vorzunehmen. Am 17. Mai 2022 wurde der Roman per Gerichtsbeschluss in die Liste der extremistischen Materialien aufgenommen.
Der Verlag Januškievič musste seine Arbeit in Belarus nach einer Razzia in der gerade erst eröffneten Buchhandlung Knihauka einstellen. Zuerst waren Mitarbeiter der Propagandaabteilung dort aufgetaucht, später Silowiki. Die Bücher wurden mitgenommen, der Verlagsgründer und eine Mitarbeiterin wurden mehrfach wegen Ordnungswidrigkeiten bestraft. Heute führt der Verlag Januškievič seine Arbeit im Ausland fort.
Alhierd Bacharevič schrieb, die beschlagnahmte Auflage der Hunde sei „mit Traktoren in die Erde gemalmt“ worden.
Alhierd Bacharevič: Aposchnjaja kniha pana A (Das letzte Buch von Herrn A.)
Das Buch wurde 2020 von den Verlagen Januškievič und Vesna gemeinsam herausgegeben.
Worum es geht: Der Protagonist des Buches, Herr A., muss zur Begleichung einer Schuld Märchen erzählen – aus denen dieses Buch besteht. Währenddessen wird die Welt von einer Epidemie heimgesucht.
Bacharevič erläuterte, dass die Handlung erdacht wurde, „lange bevor das Wort Coronavirus auf der Welt auftauchte“. „Eine Gruppe von Intellektuellen versammelt sich in einem Minsker Haus, lauscht jeden Abend Märchen, während sich draußen etwas Unglaubliches abspielt, eine Epidemie, die Pest des 21. Jahrhunderts.“
Das Buch wurde am 6. März 2023 für extremistisch erklärt. Eine Überprüfung des Buches auf „Extremismus“ befand die Spezialkommission für „nicht zielführend, da die Formulierungen offensichtlich sind“. Der Extremismus sei offensichtlich!
Der Autor äußerte sich dazu in einem Interview mit Zerkalo: „In dunklen Zeiten ist Literatur immer auch Politik. Und so ist auch Das letzte Buch von Herrn A. keineswegs unpolitisch. Es erschien 2020. Auf der ersten Seite lesen wir: ,Es gibt kein Ziel außer dem, deine dir gegebenen Tage würdevoll und bewusst zu erleben, bis zum Ende, was auch immer die mächtigsten Mächtigen, die brutalen Spaßmacher und Blutsauger sich ausdenken‘ [hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Alhierd Bacharevič und Andreas Rostek, edition.fototapeta, 2023 – dek]. Herr A. erzählt im Buch verschiedene Geschichten, die meisten sind direkt mit der belarussischen Wirklichkeit verknüpft. In dem Märchen Raman Burak, der Mensch konstruieren Emigranten einen Robotermenschen. Er soll in das Land reisen, das sie verlassen haben, und den Führer der Nation töten. In dem Märchen In heitere Höhen (ein Zitat aus der Hymne der BSSR) tauscht ein Arbeiter die Staatsflagge am zentralen Fahnenmast des Landes aus und sieht, dass sie mit menschlichem Blut getränkt ist … Natürlich kann man all das als ,extremistisch‘ bezeichnen, wenn man die entstellte Sprache des Regimes verwenden möchte, die den Worten ihre ursprüngliche Bedeutung raubt.“
Igor Iljasch, Jekaterina Andrejewa: Belorusski Donbass (Der Belarussische Donbass)
Worum es geht: Das Buch ist der belarussischen Rolle im Krieg im Donbass gewidmet. Die Journalisten lassen Belarussen auf beiden Seiten der Front zu Wort kommen.
„Wir haben versucht, alle Berührungspunkte zu beleuchten: von der Beteiligung belarussischer Bürger an den Kampfhandlungen bis hin zur Rolle der Geheimdienste in diesem Prozess, vom illegalen Handel mit DNR und LNR bis hin zur Arbeit von Freiwilligen, von der politischen Konjunktur bis zur Informationsstrategie der Regierungen“, so die Autoren.
Die Autoren: Die Journalisten Igor Iljasch und Jekaterina Andrejewa (Bachwalowa).
Das Buch wurde am 26. März 2021 für extremistisch erklärt. Jekaterina Andrejewa befindet sich in Haft. Zunächst wurde sie für einen Livestream vom Platz des Wandels zu zwei Jahren Straflager verurteilt, kurz vor dem Ende ihrer Haftzeit fand ein zweiter Prozess statt, in dem sie wegen „Staatsverrats“ angeklagt und zu acht Jahren und drei Monaten Straflager verurteilt wurde.
Anatoli Hatoutschyz: Adysseja kapitana BNR (Die Odyssee des BNR-Hauptmanns)
„Das dramatische Schicksal eines seinem Heimatland ergebenen Belarussen unter dem Druck der bolschewistischen Kollektivierung, den Wirren der Kriegsjahre, erzwungener Emigration und schließlich der Rückkehr in die Heimat an Bord eines amerikanischen Flugzeugs, mit einem Fallschirm auf dem Rücken – zur Untermauerung der belarussischen Unabhängigkeit und Souveränität“, so heißt es im Klappentext des Buches über den Helden Zimoch Wostrykau.
Schon Wostrykaus Vater war Repressionen ausgesetzt und starb im Gulag. Zimoch Wostrykau selbst verbrachte 23 Jahre in Straflagern und starb 2007 in Homel.
Der Autor: Anatol Hatoutschyz ist Journalist in Homel und leitete die dortige Abteilung des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ).
Das Buch wurde am 16. März 2023 für extremistisch erklärt. Der Autor wurde mehrfach von Silowiki festgenommen, seine Wohnung wiederholt durchsucht.
Joseph Brodsky: Ballada pra malenki buksir (Die Ballade vom kleinen Schlepper), ein Kinderbuch, ins Belarussische übertragen von Alessja Aleinik
Worum es geht: Ein kleines Schleppboot schuftet und schuftet, ohne je den Heimathafen zu verlassen: es schleppt Schiffe hinein in den Hafen und wieder hinaus.
Der Autor: ist der russisch-amerikanische Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Joseph Brodsky, die Übersetzerin Alessja Aleinik.
Das Buch erschien im Verlag Januškievič. Es wurde am 18. Oktober 2022 durch einen Beschluss des Stadtbezirksgerichtes Zentralny in Minsk für extremistisch erklärt.
Der Herausgeber Andrei Januschkewitsch schrieb, dass er während der Razzia in seinem Buchladen Knihauka in Minsk die Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde GUBOPiK fragte, was ihnen an diesem Buch Brodskys missfalle. „Ein Kindergedicht, veröffentlicht 1962, der Text ohne jeglichen Bezug zu Belarus … Zur Antwort bekam ich, dass die Farbgebung des Schleppbootes in den Illustrationen verdächtig sei (?!).“
Sozialer und kultureller Widerstand in Belarus – auf diese Themen hat sich Yauhen Attsetski unter anderem in seiner fotografischen Arbeit fokussiert. So ist das preisgekrönte Fotoprojekt Messed up entstanden, in dem er das Leben der Musikerinnen der gleichnachnamigen Hardcore-Punkband in der west-belarussischen Stadt Hrodna dokumentiert. Einem größeren Publikum wurde er bekannt, als er die Entstehung des Platzes des Wandels in Minsk während der Proteste 2020 begleitete. Mittlerweile lebt Attsetski mit seiner Frau Julia in Lwiw. In der Ukraine, wo er gerade seine erste Ausstellung hatte, hält er die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das gesellschaftliche Leben fest. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und sein Leben in der Ukraine gesprochen, zudem zeigen wir eine Auswahl seiner Bilder.
dekoder: Sie wohnen heute in Lwiw. Wie kam es dazu?
Yauhen Attsetski: Im Sommer 2021 kam der KGB zu meiner Frau Julia, Hausdurchsuchung. Nach den Ereignissen im Land im Jahr 2020 hatten wir keinerlei Illusionen auf eine faire Rechtsprechung. Es war ein Signal. Also zogen wir mit unseren beiden Katzen nach Kyjiw. Ein halbes Jahr später begann der Krieg.
Ich gestehe, ich hatte kaum geglaubt, dass so etwas möglich ist. Wir überlegten zwei Tage lang, blieben zunächst noch in der Stadt. Doch nach einer Nacht, die wir in den Büroräumen von Julias Firma verbrachten und in der wir Salven von Maschinengewehren und wohl auch Panzerfeuer hörten, beschlossen wir weiterzuziehen. Wie durch ein Wunder fanden wir einen Bus und kamen nach Lwiw, wo wir von unserer Freundin Alina aufgenommen wurden. Für die ersten drei Monate war ihre Wohnung unser neues Zuhause. Über Alina kamen wir auch in Kontakt mit den anderen Belarussen in Lwiw. Das gemeinsame Leid einte uns, mit vielen von ihnen sind wir heute befreundet.
Viele Belarussen sind wegen der Repressionen in die Ukraine geflohen und dann vor dem Krieg in andere Länder. Warum sind Sie geblieben?
Zuerst wollten wir nach Polen ausreisen. Doch in den ersten Wochen war der Lwiwer Bahnhof ein einziges Chaos, in einen Zug zu kommen, war unrealistisch. Wir beschlossen, einige Zeit abzuwarten, und nach ein paar Wochen hatten wir uns schon an die Stadt gewöhnt. Uns interessierte das, was hier vor sich ging. Ich holte die Kamera hervor und begann zu fotografieren. Ich spürte, dass die Ukraine eine Chance hat standzuhalten. In diesem Moment wollte ich an der Seite der Ukrainer sein. Als Autor hielt ich die Geschehnisse fest, als Mensch half ich dem Land, so gut ich konnte. Für uns Belarussen ist es sehr wichtig zu sehen und zu erleben, dass Gerechtigkeit existiert, dass man Terror abwehren kann. Deshalb bin ich hiergeblieben, um diese Erfahrung aufzusaugen. Heute ist mein Glaube an ein gutes Ende so stark wie nie zuvor.
Was sind das für Projekte, an denen Sie gerade arbeiten?
Seit 2020 verlässt mich das Gefühl nicht, dass wir einen historischen Umbruch erleben, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind. Als Dokumentarfotograf ist es mir wichtig, diese Zeit einzufangen und festzuhalten.
In meinem Projekt verfolge ich gleichzeitig mehrere Stränge. Der erste sind die sozialen Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft. Für mich ist das eine neue Kultur, zudem auch noch in einem Moment großer Herausforderung, weshalb ich das Objektiv auf die sozialen Reaktionen richte. Parallel dazu halte ich unseren Alltag fest. Das ist Tagebuchfotografie mit einer kleinen Analogkamera. Das Leben im Krieg, das sind nicht nur Explosionen, Angst und Kampf. Die Menschen im Krieg finden zusammen, stehen enger beieinander. Der dritte Strang sind Schwarzweißporträts meiner Freunde. Hauptsächlich sind das Belarussen, die wie ich beschlossen haben, in Zeiten des Krieges in der Ukraine zu bleiben.
Belarus gilt der Ukraine als Co-Aggressor. Wie ist für Sie das Leben in der Ukraine?
In den ganzen 15 Monaten seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine war ich nur wenige Male mit Aggression gegenüber Belarussen aufgrund ihrer Nationalität konfrontiert. Ich denke, die Mehrheit der Menschen versteht, dass wir gute Gründe haben, noch hier zu sein. Wir alle helfen der Ukraine wie wir können – mit Taten, Informationen, Geld. Wir haben Kerzen für die Schützengräben gebastelt, Tarnnetze geflochten, manche haben auf dem Bahnhof geholfen. Als Autor habe ich meine Arbeiten bei wohltätigen Aktionen zugunsten der Unterstützung der Ukraine verkauft. Besonders möchte ich das Engagement unserer Freundin Tanya Hatsura-Yavorska hervorheben. Aktuell sammelt sie schon zum zweiten Mal Spenden für Vakuumpumpen für Unterdrucktherapie zur Behandlung von Kriegswunden. Zudem baut sie ein Rehazentrum für Soldaten, die gegen Russland kämpfen. Im November 2022 organisierte Tanja das belarussisch-ukrainische Filmfestival Na Mjashy (dt. An der Grenze), auf dem die ukrainischen Zuschauer mehr über Belarus erfuhren, und die belarussischen über die Ukraine.
Welche künstlerische Herangehensweise ist Ihnen bei Ihrer Arbeit wichtig?
Als ich die sozialen Reaktionen fotografierte, ging ich maximal auf Abstand. Ich fokussierte auf das Geschehen selbst, nicht auf den Menschen. Ich betrachtete die Prozesse, nicht das individuelle Heldentum. Wenn du vom Krieg weit entfernt bist, wird sein Bild oft von Bildern von der Front geprägt, von der Zone der aktiven Kampfhandlungen. Aber das Leben geht überall weiter, das ganze Land, in jedem Winkel, reagiert auf den russischen Angriff. Mir war es wichtig zu zeigen, dass das Leben im Krieg in erster Linie eben das Leben ist, in all seinen Ausprägungen, Leid, Freude, Kampf. Manchmal scheint es, dass gar nichts passiert, doch wenn du dann hinausgehst, kannst du nicht übersehen, in welchem Zustand sich das Land befindet: Plakatwände, Werbung, Radio, Fernsehen – überall Krieg; Menschen in Militäruniform, Panzerigel, mit Säcken verbarrikadierte Fenster – all das gehört gerade zum Bild einer jeden ukrainischen Stadt. All das hinterlässt ohne Frage Spuren bei den Menschen. Und bei alldem freuen wir uns, erholen wir uns, reisen wir. Dieses Gefühl wollte ich mit meinem Projekt vermitteln.
Was planen Sie für die Zukunft?
In Minsk hatte ich eine Schule für Fotografie, ФШ1 (FSch1). Neben der Ausbildung beschäftigten wir uns damit, ein Netzwerk aufzubauen, uns war es wichtig, junge Fotografen zu unterstützen. Wir organisierten Filmabende, gaben Fotografen eine Bühne, luden erfahrene Kollegen zu Artist Talks ein, organisierten Partys. Diese Arbeit würde ich gern wieder aufnehmen. Leider hat sich das Netzwerk seit 2020 auf verschiedene Länder verteilt. Ein Großteil der Leute war noch in Minsk und in Warschau. Ich würde die Kontakte gern wieder aufbauen. Es wäre großartig, wenn die Menschen sich wieder treffen und kreativ arbeiten könnten. Für diejenigen, die in der Heimat geblieben sind, will ich Online-Veranstaltungen organisieren, doch am wichtigsten sind persönliche Treffen. Wir haben ein solches Treffen bereits in Warschau durchgeführt, es war sehr herzlich und lebensbejahend.
Auf den Fotos von der Parade am Tag des Sieges in Moskau, an der Alexander Lukaschenko traditionell teilnimmt, konnte man sehen, dass es dem belarussischen Machthaber nicht gut ging. Tatsächlich fehlte er dann zum Festessen, zu dem Putin geladen hatte. In Minsk überließ er seinem Verteidigungsminister Viktor Chrenin das Reden bei den dortigen Feierlichkeiten, danach war von ihm ein paar Tage nichts mehr zu hören. Ungewöhnlich für den Diktator, der seit 1994 nahezu omnipräsent in den staatlichen Medien zu sein scheint. Schnell machten Spekulationen die Runde, Lukaschenko könnte ernsthaft erkrankt sein. Schließlich tauchte er wieder auf, noch sichtlich angeschlagen, aber lebendig.
Was aber würde passieren, wenn Lukaschenko tatsächlich plötzlich stirbt? Welche Dynamiken würden sich in Gang setzen – in der Machtelite, in der Opposition, auf der Seite von Russland? In seiner Video-Kolumne Shraibman antwortet für das belarussische Medium Zerkalo sucht der Politikanalyst Artyom Shraibman Antworten auf diese drängenden Fragen.
Alexander Lukaschenko ist nicht mehr der Jüngste, und wir sehen, dass seine Gesundheit nachlässt. Das schränkt bereits seine Arbeitsfähigkeit ein. Vor Kurzem war er für fünfeinhalb Tage von der Bildfläche verschwunden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sein Gesundheitszustand mit der Zeit wie der der Generalsekretäre der KPdSU zu Beginn der 1980er Jahre sein wird. Welche politischen Perspektiven eröffnen sich für die herrschende Regierung und die demokratischen Kräfte im Fall einer dauerhaften Einschränkung von Lukaschenkos Arbeitsfähigkeit?
Zunächst ein kleiner lyrischer, oder besser gesagt theoretischer Exkurs: Autoritäre Regime unterscheiden sich voneinander nicht nur im Ausmaß der Brutalität und Repressionen, sondern auch darin, ob sie sich auf eine Führerpersönlichkeit oder auf kollektive Institutionen stützen. Das belarussische Regime kann man mit Fug und Recht als eines der personalistischsten in ganz Eurasien bezeichnen. Lukaschenko hat während seiner gesamten politischen Karriere Institutionen abgelehnt, sie bekämpft und versucht, eine direkte Verbindung zwischen sich und dem Volk aufzubauen. Regime, die auf eine Person konzentriert sind, sind im Durchschnitt besser vor Komplotten oder Spaltungsversuchen der Eliten geschützt. Wenn diese Eliten unzufrieden mit dem Führer sind, haben sie nicht einmal einen Ort, an dem sie sich physisch treffen und diskutieren können, was zu tun ist. Selbst in Italien unter Mussolini gab es den Großen Faschistischen Rat, der ihn schließlich aus seinem Führeramt absetzen konnte. In der Sowjetunion gab es die Kommunistische Partei und Organe, in denen regelmäßig Umstürze heranreiften, wenn die Nomenklatura unzufrieden mit dem Generalsekretär war.
Im heutigen Belarus gibt es nichts dergleichen. Das ist in gewisser Weise der Faktor, der das Regime aufrechterhält. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lukaschenko selbst entscheidet abzutreten oder dies aus biologischen Gründen spontan tut. Und er hat bereits damit begonnen, Prototypen zukünftiger kollektiver Institutionen zu schaffen, zum Beispiel die Regierungspartei oder die Allbelarussische Volksversammlung. Allerdings sind das bislang nur Keime, oder überhaupt nur Pläne. Sollte diese Situation im Fall eines spontanen Abtritts Lukaschenkos noch dieselbe sein, dann wird aus der Stärke des Regimes mit einem Mal seine Achillesferse, denn sobald in einem personalistischen System die einzige Person geht, die die Machtspitze hält, also der autoritäre Führer, und er bis dahin nicht geschafft hat, einen Nachfolger zu ernennen, versinkt der Apparat der Staatsbeamten im Chaos. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. In Belarus sind diese Leute nicht gewohnt, politisch selbständig zu handeln, sie führen Anweisungen aus. Sie haben keine Erfahrung mit der Bildung von Allianzen und damit, untereinander Dinge auszuhandeln. Für sie ist es das Wichtigste, Einfluss auf Lukaschenko zu nehmen.
Ja, sie können Intrigen spinnen, um den Einfluss anderer Personen auf ihn zu schwächen, doch das ist eine Politik, die nur darauf ausgerichtet ist, die Hauptperson im System zu überzeugen, nicht darauf, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Kompromisse zu finden.
Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit
Dies also die lange Herleitung zur Antwort auf unsere Frage. Im Fall, dass Lukaschenko plötzlich stirbt oder durch eine ernste Erkrankung das Land nicht mehr führen kann, eröffnet sich vor allen Akteuren ein riesiges Fenster von Möglichkeiten. Einen belastbaren Plan für einen Machttransfer gibt es nicht. Selbst in Russland ist das anders – hier hat es in den vergangenen Jahrzehnten, ob real oder nur nominell, Präsidentenwechsel gegeben. Also wird es von entscheidender Bedeutung sein, wer zuerst die Initiative ergreift und Bedenken gegenüber seiner Macht wirksam ausräumt, denn in diesem Fall wird ein Großteil der Nomenklatura erleichtert aufatmen, weil an Lukaschenkos Stelle ein neuer, klarer Führer auftaucht, auf den man sich einfach wie gewohnt einstellen kann.
An dieser Stelle ist eine Weggabelung, wo mehrere Szenarien denkbar sind. Der Akteur, der Initiative zeigt, könnte Russland sein, wenn es zu diesem Zeitpunkt Kraft und Interesse hat, sich mit dem Machttransfer in Belarus zu befassen, und in Minsk selbst völlige Ratlosigkeit herrscht. Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit, den Einfluss auf den Nachfolger zu erhöhen, indem Moskau in der ersten Zeit wirtschaftliche und militärische Unterstützung leistet, bis er seine Macht konsolidiert hat. Dieser Einfluss kann später genutzt werden, um ihn zu Zugeständnissen zu bringen, auf die Lukaschenko sich zu Lebzeiten nie eingelassen hat.
Andererseits kann die Quelle für diese politische Initiative inländisch sein. Zum Beispiel könnten sich die belarussischen Silowiki untereinander erfolgreich auf einen Anführer aus ihren Reihen einigen, die zivile Bürokratie zerschlagen, den Kriegszustand ausrufen oder auf andere Weise vor einer möglichen inneren Destabilisierung warnen, und dann, schon aus einer Position relativer Stärke, Gespräche mit Moskau aufnehmen.
Eine dritte Option ist, dass sich die formelle Nachfolgerin Lukaschenkos – aktuell ist das der Verfassung nach Natalja Kotschanowa, die Vorsitzende des Rates der Republik – als machtliebender und cleverer erweist, als wir das von ihr erwarten, da wir sie nur als die rechte Hand betrachten, die Lukaschenko lobt und preist.
Theoretisch könnte sie schnell eine Koalition aus ihr loyalen Staatsbeamten zimmern, die mit ihrer Unterstützung unter Lukaschenko ernannt wurden. Dann kann Kotschanowa die gesamte Führung der Silowiki austauschen, denn der Verfassung nach wird sie die Befugnis dazu haben. Moskau kann sie zusichern, dass sie sich an alle roten Linien halten wird. Danach, wenn sich die Situation stabilisiert hat, wird sie nichts daran hindern, allein zur Wahl anzutreten oder die Wahl ganz abzusagen, wieder durch die Ausrufung irgendeines Kriegszustandes. Ähnlich ambitioniert können theoretisch auch andere hohe Staatsbeamte sein, zum Beispiel der Premierminister oder der Chef der Präsidialverwaltung Lukaschenkos. Doch die müssten irgendwie damit zurechtkommen, dass es laut Verfassung auf dem Weg zur Macht ein Hindernis für sie gibt – den Vorsitzenden des Rates der Republik. Heute ist das Natalja Kotschanowa. Um dieses Hindernis zu überwinden, braucht es Absprachen mit den Silowiki.
Anders gesagt, es gibt viele Möglichkeiten. Und über revolutionäre Szenarien und die Beteiligung der Opposition haben wir noch gar nicht gesprochen. Angesichts dieser Ungewissheit, können heute weder wir noch die potentiell Beteiligten voraussagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden. Und wenn wir ergänzen, dass wir nicht wissen, wie stark oder schwach Russland zu diesem Zeitpunkt sein wird, gibt es ohnehin kein unvorstellbares Szenario.
Haben die belarussischen demokratischen Kräfte irgendeinen Plan zur Machtübernahme im Land, falls sich die Situation in Belarus kardinal verändert, zum Beispiel durch den Tod Lukaschenkos? Haben sie eine Chance, diese Pläne erfolgreich umzusetzen?
Die Frage nach dem Plan sollte man besser direkt an die demokratischen Kräfte richten. Swetlana Tichanowskaja hat gesagt, dass an verschiedenen Handlungsszenarien gearbeitet wird für den Fall, dass Lukaschenko stirbt. Alexander Asarow, der Vorsitzende von BYPOL, hat häufig betont, dass es für diesen Fall den Plan Peramohagibt. Für unabhängige Beobachter wie mich sind das Katzen im Sack, weil wir nicht wissen, wie viele Menschen tatsächlich zur Verfügung stehen, die zum Zeitpunkt X mobilisiert werden können. Wir wissen auch nicht, wie weit dieser Plan bereits ausgearbeitet ist und was die Silowiki tun werden, um seine Umsetzung im Vorhinein zu verhindern. Für eine Erfolgschance der demokratischen Kräfte in einer solchen Situation müssten vier Bedingungen gleichzeitig eintreffen.
Erstens, sie müssen geeint sein und entschlossener handeln als 2020. Sie müssen von sich aus die Initiative ergreifen und nicht abwarten, wohin ein spontaner Ausbruch an politischer Energie in der Masse das Land treibt. Zweitens, die Machtvertikale, vor allem die Silowiki, müssen zerstreut oder paralysiert sein. Das kann durch eine Zerstörung der Unterordnung geschehen, durch eine Spaltung der Eliten oder einfach Passivität, wenn die Angst vorherrscht, Verantwortung zu übernehmen, wenn die andere Seite gewinnt. Drittens ist es notwendig, dass Russland sich in die Situation nicht einmischt, entweder aufgrund eigener Probleme oder, dass Russland es gar nicht schafft, wenn sich die Ereignisse in Belarus so rasant entwickeln, einzugreifen. Viertens wird es nicht ohne eine Mobilisierung der Massen gelingen. Wenn die Menschen nicht bereit sind, auf die Straße zu gehen, zu protestieren und zu streiken, endet jede Entschlossenheit der Opposition beim Sturm eines Grenzübergangs oder in sehr emotionalen YouTube-Filmchen.
Schauen wir also, was davon realistisch ist, falls Lukaschenko plötzlich sterben sollte. Einheit und Entschlossenheit der Opposition – die ist vorhanden. Historische Umbruchsituationen lassen alten Streit und Beleidigungen schnell in Vergessenheit geraten und diejenigen bedeutungslos werden, die weiterhin schimpfen, anstatt an der gemeinsamen Sache zu arbeiten. Irrungen und Wirrungen auf der Machtebene – sind nicht garantiert, aber durchaus möglich. Wir wissen nicht, wie die Elite auf einen solchen Schock reagiert, da es so etwas in der Geschichte von Belarus bislang nicht gegeben hat. Aber es ist nicht auszuschließen, dass das Land für eine gewisse Zeit die Regierbarkeit einbüßt. Problematisch ist es allerdings mit der Zurückhaltung Russlands.
Die demokratischen Kräfte stehen im besten Falle noch vor wenigstens zwei Barrieren auf dem Weg zum Erfolg
Wenn Lukaschenko verschwindet und den demokratischen Kräfte tatsächlich etwas gelingt, kann ich mir keinen Grund vorstellen, warum der Kreml sich zurückhalten und einfach zuschauen sollte, wie in seinem wichtigsten militärischen Brückenkopf moskaufeindliche Kräfte die Macht übernehmen. Beschwörungsformeln vom „weisen Putin“ oder „unser Verhältnis wird dann sogar noch besser sein als unter Lukaschenko“ zu wiederholen, werden dann nichts mehr bringen. Daran hat auch damals niemand so recht geglaubt. Durch den Krieg gegen die Ukraine hat Russland eventuell nicht genügend Landstreitkräfte verfügbar, doch Einheiten der Nationalgarde würden vermutlich ausreichen. Bis 2020 hatten viele, darunter auch ich, Zweifel, dass Putin Lukaschenko seinen OMON zu Hilfe schicken würde, wenn der nicht zurechtkommt. Doch heute würde daran wohl niemand mehr zweifeln.
Dieselbe Skepsis ruft bei mir die Option einer massenhaften Mobilisierung zu Protesten hervor, angesichts des Zustands der Gesellschaft. Es sei denn, eine neue Regierung verkündet aus irgendeinem Grund eine Amnestie und weist die Silowiki selbst in die Schranken. Aber warum sie das tun sollte, weiß ich nicht. Somit stehen die demokratischen Kräfte selbst im besten Falle – Chaos im Regime und innere Einheit – noch vor wenigstens zwei ernstzunehmenden Barrieren auf dem Weg zum Erfolg. Deshalb hängt die Antwort auf unsere Frage völlig davon ab, wann die plötzliche Veränderung eintritt, wie es Russland zu diesem Zeitpunkt geht und wie es um das Protestpotential der Belarussen bestellt sein wird.
Wenn Russland nach dem Tod Lukaschenkos versucht, Belarus schnell zu schlucken und den konfusen Kräften in Minsk ein entsprechendes Ultimatum stellt, könnte der Westen das dann verhindern? Und würde er das überhaupt wollen?
Die ehrliche Antwort lautet hier vermutlich: Nein. Der Westen verfügt schlicht nicht über die Ressourcen und Hebel, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Auch wenn im Westen der unmissverständliche Wunsch herrscht, ein unabhängiges Belarus zu erhalten. Doch das bedeutet nicht, dass der Westen eine Okkupation von Belarus oder den Machttransfer an einen Nachfolger Lukaschenkos stillschweigend schlucken wird. Dessen Legitimität wird nicht größer sein als jetzt. Und das bedeutet, dass alle tiefgreifenden Entscheidungen, die den Interessen der belarussischen Gesellschaft klar zuwiderlaufen, vom Westen wohl nicht als rechtserheblicher Tatbestand anerkannt werden.
Aus formeller Sicht würde eine solche Übernahme des Landes als Okkupation betrachtet und eine neue Regierung Russlands auf unserem Territorium würde zumindest im Westen – aber vielleicht auch von anderen Staaten auf der Welt – nicht anerkannt. Und hier hängt viel davon ab, wie sich die neue Regierung und die unter Druck stehende belarussische Gesellschaft verhalten. Natürlich wird es innerhalb des Landes nicht genügend Ressourcen geben, um sich allein als belarussische Gesellschaft Russland entgegenzustellen. Doch die pure Existenz von öffentlichen Rücktritten, Protesten, Partisanenaktionen, anderen Widerstandsformen kann Einfluss darauf haben, wie weit sich die Nichtanerkennung dieser Einverleibung ausdehnen kann.
Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten
Tichanowskajas Kabinett, die einzige halbwegs legitime Vertretung der Belarussen in der Welt, könnte in einer solchen Situation zur vollwertigen Exilregierung werden. Im Westen und selbst in der Ukraine würde die Anerkennung dieser Regierung keinerlei Aufwand bedeuten. Eher im Gegenteil, sie kann dem Kampf der Belarussen behilflich sein, ihnen Hoffnung geben, die Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Eine ähnliche Rolle spielten die Exilregierungen Polens und Frankreich während der Besatzung ihrer Länder durch die Nationalsozialisten. Sie gaben den Menschen Kraft im Kampf und ermöglichten eine effektive Koordinierung der Aktivitäten vom Ausland aus. Was die Hebel und Druckmittel angeht, so wurden gegenüber Russland bereits beispiellos harte Sanktionen verhängt. Im Falle eines „Anschlusses“ von Belarus würden diese natürlich noch einmal verstärkt. Doch das würde den Kreml kaum zum Umdenken bewegen. Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten, da der Wunsch, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, dort viel größer ist als die Sorge um die Souveränität eines Landes, das viele ohnehin seit Langem für einen Verbündeten Moskaus halten. Doch falls der Widerstand in Belarus umfassenden Charakter und vor allem bewaffnete Form annimmt, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er als Komplex mit dem Widerstand in der Ukraine wahrgenommen würde. Und dies kann Möglichkeiten für die Unterstützung mit Waffen eröffnen.
Die belarussischen Partisanen werden wohl kaum Panzer oder Flugzeuge bekommen, aber eine Lieferung leichter Waffen oder Sprengmaterials ist durchaus vorstellbar. Alles hängt vom Umfang des Widerstandes ab und der klaren, einheitlichen Koordinierung dieses Kampfes durch ein Zentrum als Ansprechpartner. Ein solches Koordinierungszentrum kann durchaus aus den heutigen demokratischen Kräften hervorgehen und sogar einem sich dazu gesellenden Teil der Nomenklatura, der die Okkupation nicht unterstützt.
Wahlen unter tatsächlich fairen und freien Bedingungen – mit diesem Ziel ging das Bündnis um Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 in den politischen Kampf gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Zehntausende Belarussen waren bereits in der Zeit des Wahlkampfs zu den Kundgebungen des Dreigestirns gekommen. Was folgte, waren Proteste, Gewalt, Festnahmen und Repressionen, die bis heute andauern. Tichanowskaja und Zepkalo mussten ins Exil. Wie ihre Mitstreiterinnen war Kolesnikowa eigentlich keine Politikerin, sondern Musikerin und Projektmanagerin. Dann wurde sie im Zuge der Repressionen verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Mittlerweile ist sie seit über 1000 Tagen in Haft.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo zeichnet sowohl ihren Lebensweg und ihren Sprung in die Politik detailliert und kenntnisreich nach, als auch die Bedingungen ihrer heutigen Haft.
Maria Kolesnikowa wurde 1982 in Minsk in eine Ingenieursfamilie geboren. Ihre Familie erzählt von ihrer glücklichen Kindheit: „In den 1980er Jahren gab es so viele Jolka-Feste mit den klassischen Figuren, mit Väterchen Frost und Schneeflöckchen, im Kindergarten, in der Schule, im Betrieb der Eltern, sodass die Festtagsstimmung und die Feierlaune ziemlich lange anhielten“, erinnert sich Marias Vater, Alexander Kolesnikow. „Ich weiß noch, wie Mascha einmal fragte: ‚Wie viele Väterchen Frost und Schneeflöckchen gibt es eigentlich auf der Welt?‘, weil sie bei jeder Feier anders aussahen. Sie war oft ganz aufgeputscht von den vielen bunten Eindrücken, der allgemeinen Euphorie und der Freude, Liebe und Herzlichkeit überall, und es war nicht einfach, sie zu beruhigen. In diesen Momenten war sie sehr aktiv, fröhlich und lustig. Mit einem Wort: glücklich. Wir alle waren glücklich!“
Maria war die ältere von zwei Schwestern. „Mascha ist von Natur aus ein sehr guter, empathischer und kommunikativer Mensch“, erzählt ihre Schwester Tatsiana Khomich. „Sie bemüht sich immer, mit Menschen aus verschiedenen Bereichen in Kontakt zu kommen, weil sie daraus etwas Neues schöpfen, etwas lernen kann. Sie hat einen starken Gerechtigkeitssinn. Sobald sie eine Ungerechtigkeit wahrnimmt, spricht sie sie an, geht auf die Menschen zu. Ich weiß noch, wie sie in der Kindheit immer als große Schwester für mich eintrat, wenn mich jemand beleidigte. Sie war immer eine Anführerin. Menschen sind gern mit ihr zusammen, weil sie die Gabe besitzt, andere zu inspirieren.“
Schon als Kind liebte die zukünftige Politikerin Musik. „Unsere Mutter vermittelte uns internationale Klassik, unser Vater die Klassiker der Rockmusik. Wir hörten Rachmaninows Konzerte genauso wie die Rock-Oper Jesus Christ Superstar. Von klein auf fügte sich das für uns wunderbar ineinander. Mit unserer Mutter reisten wir durch Europa und besuchten immer Opern, Konzerte, Museen und Ausstellungen“, erinnert sich Maria.
Nach dem Abschluss der 9. Klasse an der Schule Nr. 184 in Minsk begann Maria ihre Ausbildung am Minsker Glinka-Konservatorium, mit Spezialisierung auf Flöte. In einem Interview erzählte sie, dass sie in ihrem Jahrgang das einzige Mädchen neben 15 Jungs gewesen sei. „Ich hatte große Schwierigkeiten, mit den Jungs auszukommen, aber so habe ich gelernt, mit der Männerwelt zu kommunizieren. Damals war man der Ansicht, ein Mädchen müsse sich in diesem schwierigen Fach nicht allzu sehr anstrengen, da sie in drei Jahren ohnehin heiratet und Kinder bekommt. Eine professionelle Zukunft sah man nur für Männer. Das traf mich damals sehr schwer, ich war immer überzeugt, alles schlechter als ein Junge zu machen. […] Wir hatten das gleiche Recht auf Bildung, aber kein Recht auf gleiche Behandlung?“
Das Projekt über die Freiheit
Hartnäckig machte Kolesnikowa weiter. Nach dem Konservatorium begann sie ein Studium an der Musikhochschule und verdiente ihr Geld im Orchester der Oper, in einem Ensemble und im Orchester des Präsidenten. Nach dem Diplom durchlief sie zwei Jahre lang das Graduiertenprogramm der Musikakademie, um dann 2007, mit 25 Jahren, nach Deutschland zu gehen. An der Hochschule für Musik in Stuttgart begann sie ein Studium der Alten und Neuen Musik.
Die nächsten zwölf Jahre verbrachte sie im Westen und besuchte Belarus nur selten, entwickelte sich als Musikerin und Projektmanagerin weiter. „Ich stehe mit eigenen Projekten auf der Bühne, werde aber auch zu Auftritten mit anderen Projekten eingeladen“, erklärte sie vor den Wahlen 2020. „In Europa ist es üblich, dass du als Musikerin deine Ideen selbst verwirklichst. Von der Bühnenverkabelung bis zum Flyerdruck – ich kann alles, auch Stühle aufstellen, weil ich es oft genug selbst gemacht habe. Auch für finanzielle Fragen, wie die Förderung von Musikprojekten, konnte ich Lösungen finden. In Deutschland habe ich wirklich eine Schule in Management, Abrechnung und Organisation durchlaufen.“
Im Jahr 2019 änderte sich alles. Kolesnikowas Mutter starb während einer geplanten Herzoperation in einem Minsker Krankenhaus. Ihr Tod veranlasste Maria zur Rückkehr. „Mir war bewusst, wie allein mein Vater nun war, der 38 Jahre lang mit meiner Mutter zusammengelebt hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mehr Zeit als vorher mit meiner Familie zu verbringen. […] Wäre meine Mutter am Leben geblieben, hätte ich vielleicht nicht das gemacht, was ich heute tue, weil dann auch ihre Meinung eingeflossen wäre“, erklärte sie. Zufall oder nicht, noch im selben Jahr beteiligte sich Kolesnikowa an einem Projekt über Freiheit. „Ich spielte Bassflöte, auf einem Bildschirm liefen Filmaufnahmen vom Ploschtscha-2010. In den ersten Wochen im Wahlkampfteam musste ich oft an dieses Projekt denken“, erzählte Maria.
Bekanntschaft mit Babariko und Start im Wahlkampfteam
In Belarus organisierte Kolesnikowa die Vortragsreihe Musiklektionen für Erwachsene, die sehr gut ankam und jeweils bis zu 120 Besucher anlockte. 2019 nahm sie am Projekt Orchester der Roboter teil, in dem Schüler lernten, Robotermusiker zu programmieren. Doch ihr wichtigstes „Baby“ war das OK16. 2017 hatte der bekannte belarussische Mäzen und Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, für drei Millionen Dollar die ehemaligen Werkshallen der Minsker Werkzeugmaschinenfabrik MZOR gekauft, wo noch im selben Jahr ein neuer Kulturstandort namens OK16 öffnete. Zu dieser Zeit kontaktierte Maria Kolesnikowa Babariko zum ersten Mal auf Facebook, im Jahr darauf lernten sie sich persönlich kennen.
„2018 organisierte ich ein großes Projekt und kam mit fünf deutschen Künstlern nach Minsk. Wir veranstalteten gemeinsam Performances, Bildungsprojekte und Diskussionen im OK16. Es war ein durchweg ehrenamtliches Projekt, einfach internationaler Austausch. Und dort lernten wir uns kennen“, erinnerte sie sich in einem Interview mit Tut.by.
In der kurzen Zeit seines Bestehens wurde das OK16 zu einem zentralen Punkt auf der kulturellen Landkarte von Minsk. Kolesnikowa wurde künstlerische Leiterin und traf Babariko häufig bei Veranstaltungen. Sie besprachen auch gemeinsame Projekte, die im OK16 stattfanden: „Damals zeigte sich, dass unsere Wertvorstellungen sehr nah beieinander liegen. Als ich dann von seinem Vorhaben hörte, für das Präsidentenamt zu kandidieren, konnte ich das nur unterstützen.“
Am 12. Mai 2020 machte Babariko seine Kandidatur öffentlich. Acht Tage später wurde seine Initiativgruppe registriert. „Eduard (Babarikos Sohn, Anm. der Zerkalo-Redaktion) und ich waren vom ersten Tag an dabei, dann kamen immer mehr Leute dazu“, berichtete Maria dem Portal Tut.by.
Iwan Krawzow zufolge, der ebenfalls Mitglied des Wahlkampfteams war, übernahm Kolesnikowa praktisch sofort die Führung: nicht formal, sondern einfach, weil sie sowohl unter ihren Mitstreitern als auch inmitten gänzlich unbekannter Menschen Autorität ausstrahlte. „Es ist eine Illusion, dass man aus einer beliebigen Person jemanden machen kann, den die Menschen lieben sollen. Autorität und Leadership sind keine einfachen Dinge, sie hängen von Charaktereigenschaften ab, von Handlungen, vom Umgang mit Menschen und auch von der Gesamtsituation, dem politischen Prozess, an dem sich jemand beteiligt. Mascha ist eine gute Managerin, sie kann mit Menschen arbeiten. Das war von Beginn der Wahlkampagne an sichtbar. Sie versteht es, den besten Zugang zu unterschiedlichen Charakteren zu finden. Sie hat Erfahrung als Projektleiterin, die sie in den letzten Jahren im Kulturbereich sammelte“, erzählt Krawzow. Er erinnert sich, dass Kolesnikowa im Juni 2020, als das Team immer größer wurde, schnell das professionelle Niveau der Neuzugänge einschätzen konnte und problemlos zuordnete, in welchem Bereich sich die Person am besten einbringen konnte.
Zum Symbol der Kampagne wurde ein Herz, das Kolesnikowa immer und überall, wo sie auftrat, mit ihren Fingern formte. Selbst im Gerichtssaal, bereits hinter Gittern. Das Symbol sei nicht ihre Idee gewesen, erzählte Maria Tut.by: „Das war Teamwork, eine große Anzahl von Menschen hat gemeinsam die Entscheidung getroffen, was es wird. Aber wir denken, dass dieses Zeichen die Mission von Viktor und seinen Anhängern sehr gut wiedergibt, nämlich gegenseitigen Respekt, Liebe, Selbstachtung. Das alles steckt in diesem Herz.“
Parallel zu Kolesnikowas effektiver Arbeit erlebte die Gesellschaft einen ungekannten Aufbruch. Die Registrierung eines Präsidentschaftskandidaten erforderte 100.000 Unterschriften. Babarikos Stab reichte rund 365.000 Unterschriften ein, von denen die Verwaltung etwa 165.000 als gültig anerkannte. Das reichte für die Registrierung als Kandidat.
Doch Babarikos Kandidatur wurde noch im Keim erstickt. Am 18. Juni wurden er und sein Sohn in der Strafsache „Belgazprombank“ festgenommen. Es war abzusehen, dass auch die Mitglieder seines Teams Repressionen zu befürchten hatten, doch Maria gab nicht klein bei. „Meine Kunst wäre keinen Heller wert, wenn ich sagen würde: ‚Ach, was soll’s, ist mir zu chaotisch bei euch, ich fahre wieder nach Stuttgart, trinke Sekt auf dem Balkon und freue mich über die Rosen!‘ Es ist sinnlos, Kunst zu schaffen, mit der ich mein Leben lang über Freiheit und über die Hürden der Zensur spreche, wenn ich dann in einem Moment, in dem ich tatsächlich helfen und etwas verändern kann, einfach weggehe“, erklärte sie ihre Haltung im Juni 2020.
Wahlkampf für Tichanowskaja
Zu diesem Zeitpunkt war Maria das bekannteste Gesicht in Babarikos Wahlkampfteam. Sie hatte gemeinsam mit dem Team seine Dokumente bei der Zentralen Wahlkommission eingereicht. Doch am 14. Juli, da saß er bereits hinter Gittern, wurde seine Registrierung abgelehnt, ebenso die von Waleri Zepkalo. Allerdings ließ die Wahlkommission die damals praktisch unbekannte Swetlana Tichanowskaja als Kandidatin zu.
Am 16. Juli fand das schicksalsträchtige Treffen der drei Wahlkampfteams – Babariko, Zepkalo, Tichanowski – statt, bei dem beschlossen wurde, die Kräfte zu vereinen. „Damals kamen alle drei Teams zusammen, und es brach eine heiße Diskussion aus. Aber dann schlug Mascha vor: ‚Lasst uns doch zu dritt weitermachen‘. Und gemeinsam sind wir dann ziemlich weit gekommen“, sagte Veronika Zepkalo, die das Team ihres Mannes vertrat. Bei diesem Treffen einigten sich alle auf fünf Grundprinzipien: zu einer Stimmabgabe ausschließlich am 9. August aufzurufen; sich für die Befreiung der politischen und wirtschaftlichen Gefangenen einzusetzen; die Präsidentschaftswahl zu wiederholen; die Wähler über Möglichkeiten zum Schutz ihrer Stimmen zu informieren; sich an Initiativen für faire Wahlen zu beteiligen.
Das vereinte Wahlkampfteam führten Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa gemeinsam an, „die drei Grazien“, wie sie bald genannt wurden. Sie wurden zum Symbol einer friedlichen Bewegung für Wandel, aber auch für eine vereinte belarussische Opposition. Aufwärmzeit gab es keine. Bereits am 19. Juli fand die erste Kundgebung mit Swetlana Tichanowskaja in Dsershinsk statt. Wie Tut.by anmerkte, wurde die kaum publikumserfahrene Kandidatin auf der Bühne von Kolesnikowa und Zepkalo unterstützt, und der Ablauf der Veranstaltung wurde erweitert und verbessert, zum Standard für alle weiteren Kundgebungen. Zuerst sprach Tichanowskaja über ihren Mann, seinen Kampf und darüber, dass ihre Kandidatur nur die Reaktion auf seine Festnahme bei einer Kundgebung am 29. Mai in Grodno sei. Maria und Veronika sprachen dann über die Probleme im Land und über die fünf Prinzipien, auf die sich die drei Teams geeinigt hatten.
Kolesnikowa prägte während der Kampagne gleich mehrere markante Aussagen, die Tut.by zusammengetragen hat: „Belarussen, ihr seid unglaublich“, „Liebe ist stärker als Angst“, „Die scheppernde Rostlaube der Regierung zerfällt in voller Fahrt“, „Jeder von uns sollte sagen: Ich kann alles ändern“, „Wir haben uns verändert, und zwar für immer“ und „Ihr wisst, was wir machen werden: dieses System mit allen gesetzlichen Mitteln beackern“.
Ich habe Angst, dass es nie enden wird
„Ab dem Zusammenschluss verbrachten wir fast die ganze Zeit zusammen. An manchen Tagen hatten wir drei bis vier Kundgebungen, ständig Interviews, Pressekonferenzen, Auftritte, Fahrten. Es gab keine freien Tage, wir waren ständig irgendwo unterwegs. Auf den Autofahrten durch das ganze Land lernten wir das gesamte Imbissangebot der Tankstellen kennen. Kein Tag verlief nach Plan. Wir wussten nicht, ob wir am Abend nach Hause zurückkehren, ob wir es zurück ins Büro schaffen. […] Es gab auch unangenehme Situationen. In einer Stadt wurden wir vor der Kundgebung gewarnt, dass auf dem Dach eines naheliegenden Gebäudes Scharfschützen gesehen wurden. Später, als wir auf die Bühne traten, zeigten die Menschen in Richtung des Gebäudes und riefen, da seien Scharfschützen. Ich schlug vor, sie zu begrüßen. Wir wandten uns alle drei um und winkten den Scharfschützen einfach zu“, erinnert sich Veronika Zepkalo.
Am 30. Juli fand im Minsker Park der Völkerfreundschaft eine Kundgebung statt, die zu diesem Zeitpunkt die größte in der Geschichte des unabhängigen belarussischen Staates. Menschenrechtsaktivisten schätzten die Zahl der Teilnehmer auf 63.000.
Drei Tage zuvor sagte Kolesnikowa in einem Interview diese – im Nachhinein betrachtet – prophetischen Worte: „Ich habe keine Angst im klassischen Sinne. Ich habe Bühnenangst, aber ich gehe trotzdem auf die Bühne und mache meine Arbeit. Ich habe Angst, dass es nie enden wird, wenn wir jetzt nicht all unsere Kraft aufbringen. Wenn es aber jetzt nicht endet, dann machen sie uns alle platt. Dann bleibt hier nichts übrig von frei denkenden Menschen, von Menschen, die bereit sind, ihre Unzufriedenheit zu äußern, von Menschen, die ihr eigenes Unternehmen aufbauen wollen. Die IT-Leute denken vielleicht, es geht sie nichts an, weil sie für Externe arbeiten, aber auch sie sind betroffen. Wenn sich jetzt nichts ändert, dann ändert sich nie etwas. Und mit ,jetzt‘ meine ich den 9. August plus einige Zeit für den Prozess. Der Prozess ist im Gange, und es ist die einzige Chance auf Veränderung. Wenn wir das nicht hinkriegen, können wir alle unsere Koffer packen und das Land verlassen.“
[…]
Veränderung lag in der Luft, dennoch sollte es anders kommen. Ab dem 9. August 2020 kam es zu massiven Protesten. Hunderttausende gingen auf die Straßen, nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in vielen anderen Städten, und sogar in Dörfern. Der Staat reagierte mit brutaler Gewalt, alleine in der ersten Woche der Proteste wurden Tausende festgenommen. In den Gefängnissen wurden die Menschen geschlagen und gefoltert. Swetlana Tichanowskaja wird von den Machthabern gezwungen, das Land zu verlassen. Die Opposition ruft einen Koordinationsrat ins Leben, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten soll. Aber auch dessen Führungsmitglieder werden nach und nach inhaftiert oder fliehen außer Landes.
Karpenkows Drohungen und der zerrissene Pass
Am 7. September wurde Maria festgenommen. Eine Leserin von Tut.by erzählte, wie sie auf dem Prospekt der Unabhängigkeit hinter sich das Klappern von Absätzen hörte, sich umdrehte und Kolesnikowa erkannte. Es war etwa 10.05 Uhr am Vormittag.
„Ich hatte sie schon einmal live gesehen, deshalb erkannte ich sie. Ich wollte noch zu ihr hingehen, mit ihr reden und mich bedanken, dann überlegte ich es mir anders, dachte, sie muss bestimmt müde sein. Ich ging also weiter, spielte noch kurz mit dem Gedanken, mich umzudrehen und ihr mit den Händen ein Herz zu zeigen. Beim Nationalen Kunstmuseum sah ich einen dunklen Kleinbus mit der Aufschrift Swjas (dt. Netz) auf der Seite, an der Rückseite stand die Marke Sobol. Ich lief weiter, dann hörte ich, wie ein Handy auf dem Asphalt aufschlug, dann Fußgetrappel, ich drehte mich um und sah, wie maskierte Leute in Zivil Maria in diesen Kleinbus zogen. Ihr Telefon war heruntergefallen, einer der Männer hob es auf, sprang in den Kleinbus, und sie fuhren weg“, berichtete sie.
Wohin Maria gebracht wurde, blieb unklar. Tut.by bekam von Innenministerium, Untersuchungsausschuss und Wirtschaftsbehörden die einstimmige Auskunft, es lägen keine Informationen über eine Festnahme vor. Sie alle logen.
Später berichtete Maria in einem Brief, was mit ihr geschehen war: „Nach meiner Verschleppung wurde ich gewaltsam ins Büro von Nikolaj Karpenkow gebracht, dem Chef des GUBOPiK, der mich anschrie, beleidigte und einschüchterte. Das ,Gespräch‘ fand im Beisein zweier anderer Herren statt: Gennadi Kasakewitsch, erster Stellvertreter des Innenministers, und Andrej Pawljutschenko, Chef des OAZ [Operatives Analysezentrum]. Sie stellten mir ein Ultimatum: entweder, ich verlasse das Land und kann jenseits der Grenze machen, was ich will, oder sie bringen mich außer Landes – lebendig oder zerstückelt. Sie brechen mir die Finger, sie sperren mich für 25 Jahre ein, ich werde Hemden fürs Militär nähen … Das Gespräch dauerte mehrere Stunden, mit einer Pause zur ,Erholung‘ in einer Einzelzelle.“
Da die Politikerin nicht ausreisen wollte, beschloss man, sie gewaltsam außer Landes zu bringen. An diesem Tag wurden in Minsk zwei weitere Aktivisten aus Babarikos Wahlkampfteam festgenommen, Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow. Sie hatten nach Maria gesucht und wurden vor ihrem Haus aufgegriffen. Schon am Abend des 8. September gaben sie eine Pressekonferenz in Kyjiw.
Kolesnikowa zerriss ihren Pass
Rodnenkow und Krawzow berichteten, dass sie am frühen Morgen (des 8. September) in einen Kleinbus gesetzt und zum Grenzübergang Alexandrowka an der ukrainischen Grenze gebracht worden seien. Krawzow hätte Kolesnikowa in die Ukraine bringen sollen, um die Situation im Land zu „deeskalieren“. Maria trafen sie erst in der neutralen Zone, hinter der belarussischen Grenzlinie. Laut Plan sollten alle drei in einem Auto in die Ukraine fahren.
„Kaum hatten sie Mascha aus dem Kleinbus geholt, da begann sie schon im Befehlston ihre Freilassung zu fordern und die Vorgangsweise der Beamten strafrechtlich einzuordnen“, erzählte Krawzow. „Als sie dann im Auto saß und ihren Pass sah, schnappte sie ihn sich und zerriss ihn in viele kleine Stücke. Dann warf sie die zerknüllten Fetzen aus dem Fenster unbekannten jungen Leuten zu, die das Auto umringten. Schließlich kletterte sie durch das Fenster aus dem Auto und rannte zurück zur belarussischen Grenze.“
Dort wurde Maria von denselben Leuten verhaftet, die sie hergebracht hatten. Am 9. September, dem dritten Tag nach der Festnahme, wurde bekannt, dass Kolesnikowa sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 [Minsk, Waladarka] befand. Einige Tage später wurde sie nach Shodino überführt, wo sie bis zum Januar des Folgejahres blieb, als man sie wieder nach Minsk zurückbrachte. Kolesnikowa wurde angeklagt, zu Handlungen aufgerufen zu haben, die auf die Gefährdung der nationalen Sicherheit abzielen.
Gefängnisalltag
In einem Interview mit der BBC berichtete Kolesnikowa ausführlich über ihr Leben hinter Gittern: „Ich wache jeden Morgen um 6:00 Uhr frisch und munter auf. In meinem früheren Leben wäre das unvorstellbar gewesen. Um 6:30 Uhr beginnt das Frühstück im Gefängnis, es gibt Brei, Saft, Brot und Tee. Doch ich esse nie so früh und lasse es stehen. Dann ,dusche‘ ich, indem ich Wasser in der Schüssel erwärme. […] Um 8:00 Uhr kommt die Kontrolle, danach lerne ich zwei bis drei Stunden lang Fremdsprachen oder lese auf Deutsch oder Englisch. Das ist meine produktivste Zeit. Gegen 9:00 Uhr habe ich Ausgang. Der Gefängnishof ist drei mal drei Meter groß (in Shodino war er größer). Aber auch so schaffe ich es, 40 bis 50 Minuten zu laufen und mache anschließend noch 30 Minuten lang Übungen.
Nach dem Ausgang frühstücke ich: belegte Brote oder, selten, Brei mit Trockenfrüchten, unbedingt aber einen starken Kaffee. Ich räume meine Zelle auf, und auch darin liegt eine gewisse Freude: den Ort, an dem du dich befindest, sauberer, gemütlicher und besser zu machen. Wenn keine Treffen mit Anwälten oder Verhöre anstehen, lese ich im Anschluss zwei, drei Stunden lang. […]
Während der gesamten Zeit war ich in fünf verschiedenen Zellen, mit jeweils anderer Belegschaft. Meine jetzige Zelle ist sehr klein, 2,5 mal 3,5 Meter, es gibt zwei Pritschen für vier Personen, eine Toilette, Waschbecken, Fernseher, Wasserkocher, eine Kanne, Schüsseln, einen Tisch, eine Bank. Durch das Fenster und das Gitter ist der Himmel zu sehen.
In Belarus ist das Rauchen an öffentlichen Orten verboten, sogar an Haltestellen, doch im Gefängnis gilt das nicht. Hier rauchen fast alle und überall: in den Zellen, Gängen, Diensträumen. Das gefährdet nicht nur meine Gesundheit, sondern auch meinen Beruf als Flötistin.“
Wir ergänzen, dass Kolesnikowa im Gefängnis keine Flöte und auch nicht immer Noten haben darf.
[…]
Krankheit und Operation
Ende 2022 verschlechterte sich Kolesnikowas Gesundheitszustand rapide.
Ihr Anwalt hatte sie zuletzt am 17. November in der Strafkolonie besucht. Später wurde bekannt, dass Maria in die Isolationshaft verlegt worden sei. „In der Arrestzelle war es sehr kalt, Maria schlief praktisch nicht. Um sich aufzuwärmen, bewegte sie sich die ganze Zeit und legte an einem Tag rekordverdächtige 15.000 Schritte in der kleinen Zelle zurück. In den Tagen vor der Krankenhauseinweisung verlor Maria immer wieder das Bewusstsein, sie litt unter erhöhtem Blutdruck und Übelkeit. Einmal wurde sie in der Dusche ohnmächtig und zog sich beim Sturz Schrammen an den Beinen zu. Der Gefängnisarzt meinte nur, sie hätte jeden Morgen im Strafraum die Möglichkeit gehabt, ihre Probleme zu melden, hätte dies aber unterlassen. Dabei hat sie Tabletten gegen den Bluthochdruck bekommen, die man ihr ohne eine Anzeige gesundheitlicher Beschwerden wohl kaum gegeben hätte“, erzählten ihre Mitstreiter.
Am 28. November wurde sie für weitere zehn Tage in die Isolationszelle gebracht. Ihr Anwalt wurde mit der Begründung, sie habe keinen Antrag auf ein Treffen mit ihm gestellt, nicht zu ihr durchgelassen. Er unternahm zwei weitere Versuche, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Am nächsten Tag hieß es, Kolesnikowa sei im Krankenhaus. Zu Bluthochdruck, Übelkeit und Ohnmacht waren am Nachmittag noch starke Bauchschmerzen hinzugekommen, sie war buchstäblich umgefallen. Maria wurde in die chirurgische Abteilung [des Gefängniskrankenhauses] gebracht, jedoch schon am Abend in die Unfallklinik in Gomel verlegt, weil sie operiert werden musste. Sie hatte einen Magendurchbruch.
Kolesnikowas Diagnose war die Folge eines Magengeschwürs. Ein Durchbruch tritt auf, wenn das Geschwür die Magenwand „durchschlägt“ und der Mageninhalt (mitsamt der Salzsäure, die die Nahrung zersetzt) in den Bauchraum fließt. Zu einer solchen Perforation kommt es in 10 bis 15 Prozent der Fälle eines Magengeschwürs, in der Regel begleitet von starken, stechenden Schmerzen. Trotz hochentwickelter Medizin bleibt die Behandlung von Magendurchbrüchen eine komplizierte Aufgabe für Chirurgen: Die Sterblichkeit bei entsprechenden Operationen liegt, je nach Quelle, bei 5 bis 18 Prozent (teilweise sogar 25 Prozent).
Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen
Noch am selben Tag, dem 28. November, wurde Kolesnikowa mittels Laparoskopie (Bauchspiegelung, minimalinvasiver Eingriff) erfolgreich operiert. Sie wachte aus der Narkose auf, ihr Zustand blieb aber weiterhin kritisch. Ihr Vater fuhr in die Klinik, doch sein Gespräch mit den Ärzten fand im Beisein von Mitarbeitern des Innenministeriums statt. Die Ärzte weigerten sich, dem Vater die Diagnose mitzuteilen: Dafür sei angeblich Marias schriftliche Zustimmung nötig.
Am 1. Dezember erfuhr Zerkalo von einem Insider, dass nach wie vor weder Familienangehörige noch Anwalt Maria besuchen durften. Sie erfuhren auch nichts über ihren Zustand. „Man sagt ihnen ganz trocken, alles sei in Ordnung, und es werde alles Nötige getan“, sagte er. Ärzte und Pflegepersonal mussten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen, im Falle einer Zuwiderhandlung drohten sechs Jahre Gefängnis. Erst am 5. Dezember wurde Kolesnikowa zurück ins Gefängniskrankenhaus verlegt und konnte dort ihren Vater treffen. Das zehnminütige Treffen fand unter Aufsicht des Arztes und mehrerer Gefängnisbediensteter statt.
„Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen, etwa eine Stunde am Tag, ich steigere langsam Tempo und Schrittzahl, heute 5000. Das ist ein echter Rekord für mich, nachdem ich mich vom 29. November bis letzte Woche fast gar nicht bewegt habe. Es ist noch nicht alles wieder gut, aber ich bin positiv und optimistisch und will unbedingt gesund werden! Also, mach dich bereit: deine Draniki und Schaschliks stehen bald ganz oben auf meiner Speisekarte“, schrieb Kolesnikowa ihrem Vater am 27. Dezember 2022. Doch das war eher ein Aufmunterungsversuch, denn tatsächlich ging es Maria eher schlecht. „Kolesnikowa liegt auf der Krankenstation, ihr Zustand ist nicht sehr gut, sie ist völlig abgemagert“, erzählten Mitinsassinnen zu Beginn des Jahres 2023.
Zur selben Zeit entzog das Justizministerium Wladimir Pyltschenko, Kolesnikowas und Eduard Babarikos Anwalt, die Lizenz. Aufgrund mangelhafter Qualifikation könne er seinen Beruf nicht ausüben. Am 16. Januar wurde Kolesnikowa wieder in den regulären Strafvollzug verlegt. Sie geht wieder zur Arbeit, sei aber „nach der Schicht sehr müde“. Ihren Mitstreitern zufolge gehe es ihr gut, sie lege langsam Gewicht zu.
„Ich weiß ganz genau, dass jede Schwierigkeit vorübergeht“, schrieb sie in einem ihrer Briefe in die Freiheit. „Warum also traurig sein und sich sorgen, wenn doch auf jeden Fall der Moment kommt, an dem sie vorbei geht? Wozu Lebenszeit auf etwas verschwenden, das sinnlos ist und mir sogar schadet? Ich lebe so, als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da.“
Die Repressionsmaschinerien des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko und die seines russischen Kollegen Wladimir Putin werden schon lange miteinander verglichen. In Belarus rollt seit der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 eine ungeheure Repressionswelle gegen jeglichen vermuteten Widerstand, die russische Führung hat auf ihrer Seite die Maßnahmen gegen Medien, Zivilgesellschaft und Andersdenkende vor allem seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine verschärft. Für Meduza erklärt der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman detailreich die Eigenheiten und Formen der Repressionen in Belarus – die möglicherweise als Blaupause für die Ausweitung der Unterdrückung in Russland dienen könnten.
Die Nachricht, dass der Politiker Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Straflager verurteilt wurde und Alexej Nawalny vermutlich ein vergleichbares Verdikt erwartet, ruft bei vielen Russen Angst und Befremden hervor. Für die Belarussen bestätigt sich wieder einmal der schon zum Klassiker gewordene, traurige Witz über die beiden Regime und die Fernsehserie.
In einem Interview mit Juri Dud erklärte der belarussische Comedian Slawa Komissarenko den Unterschied zwischen dem belarussischen und dem russischen Regime so:
Wir schauen beide dieselbe Serie, aber ihr seid bei der dritten Staffel und wir schon bei der fünften. Und manchmal schauen wir zu euch rüber und sagen: „Oh, bei euch wird es bald auch ziemlich interessant!“
Das ist nicht nur ein Witz. Betrachtet man das Ausmaß und die Brutalität der Repressionen, hat Belarus tatsächlich fast auf allen Etappen von Lukaschenkos Regierungszeit Wladimir Putins Regime übertroffen. Eine Ausnahme stellte lediglich der kurze Zeitraum von 2015 bis 2019 dar, als Minsk versuchte, sich korrekter zu benehmen, um das Verhältnis zum Westen aufzubessern. Doch danach wurde die „Balance“ wiederhergestellt. Die gescheiterte Revolution 2020 rief Repressionen einer Intensität hervor, die in der poststalinistischen Geschichte sowohl in Russland wie auch in Belarus ihresgleichen sucht.
Obwohl, eine Ausnahme gibt es noch, nämlich geplante Morde an Journalisten und Politikern. Für Belarus war und bleibt das eine eher untypische Maßnahme, die Minsk nur ein einziges Mal ergriff – in den Jahren 1999-2000, als das Regime zwei belarussische Politiker, Viktor Gontschar und Juri Sacharenko, sowie den Journalisten Dimitri Sawadski und den Geschäftsmann Anatoli Krassowski verschwinden ließ und vermutlich auch ermordete. Damals zeigten selbst die offiziellen Ermittlungen, dass die Lukaschenko nahestehenden Silowiki Viktor Scheiman und Dimitri Pawlitschenko in die Sache verwickelt waren. In Putins Russland dagegen standen Morde an Politikern, Journalisten und Überläufern durch den Geheimdienst – oder gescheiterte Versuche, sie zu verüben – immer schon auf der Tagesordnung.
Bei allen anderen repressiven Praktiken sind die belarussischen Silowiki grausamer und weniger selektiv – und haben damit vor den russischen Kollegen gewissermaßen einen Vorsprung. Man kann nicht behaupten, dass sie ihre Erfahrungen austauschen. Um neue Formen der Gewaltanwendung und der Menschenrechtseinschränkung zu finden, müssen sich die russischen Silowiki ihre nächsten Schritte nicht unbedingt von den Belarussen abschauen, es gibt da keine Patente und kein Knowhow. Jedes Regime verfolgt da seinen eigenen Plan. Doch da die belarussischen Silowiki diesen Weg schon früher eingeschlagen haben, ist die Beobachtung ihrer Methoden sinnvoll für Russen, die verstehen möchten, wie ihr eigenes Regime möglicherweise weiter degradieren wird.
Folter – für die Silowiki Routine
Zunächst kam es in Belarus zu einer Normalisierung von physischer Gewalt bei Festnahmen, in den Polizeidezernaten und Untersuchungshaftanstalten. Folter und Prügel sind auch für russische Silowiki nichts Neues, doch in Belarus ist Gewaltanwendung bei Festnahmen aus politischen Gründen seit 2020 Routine. Es passiert nicht mit jedem, aber mit zu vielen, um es bloß als Exzesse einzelner Beamter abzutun.
Während der Proteste 2020 war das Verprügeln der Festgenommenen eine zusätzliche präventive Maßnahme. Die 15 Tage Haft sollten nicht wie eine zu schwache Bestrafung wirken, die den Protestierenden keine Lektion erteilt. Heute wird häufig geschlagen und gefoltert, wenn sich jemand weigert, sein Mobiltelefon zu entsperren. Ein weiterer Grund kann schlichte Bosheit oder Rache der Silowiki für angebliche Beleidigungen sein, zum Beispiel, wenn sie jemanden verdächtigen, persönliche Daten von Mitarbeitern des Innenministeriums geleakt zu haben.
Neben der Gewalt ist auch die demonstrative Erniedrigung der Verhafteten auf Video zur gängigen Praxis geworden. Im Juni 2022 wurde ein Häftling vor laufender Kamera gezwungen, mit Nadeln und Tinte eine Tätowierung mit einem Hakenkreuz zu entfernen. Anderen Aktivisten malte man zur Aufnahme von „Reue-Videos“ etwas ins Gesicht oder klebte ihnen Protestutensilien an.
Die Gefangenen werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr
Zur physischen Gewalt kann man auch die Haftbedingungen der politischen Gefangenen rechnen, die Arreststrafen verbüßen. Die Menschen verbringen die langen Wochen ihres Freiheitsentzugs – teilweise mehrere 15-tägige Fristen nacheinander – in überfüllten Zellen, ohne Bettzeug und Matratzen, ohne Dusche, Ausgang und Pakete von Angehörigen (manchmal werden Medikamente durchgelassen), ohne Recht auf Korrespondenz und Treffen mit einem Anwalt. Sie werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr. Viele beklagen die Folter durch Kälte, wenn sie ohne warme Kleidung in unbeheizte Zellen gesperrt werden. Auch die Strafgefangenen unterliegen vielen Einschränkungen, doch das Haftregime der „Arresthäftlinge“ ist bislang deutlich strenger.
Alle sind jetzt „Extremisten“
Anfang Mai 2023 zählen belarussische Menschenrechtler fast 1500 politische Gefangene im Land (bei einer Bevölkerung von etwas mehr als neun Millionen). Dabei räumen selbst die Menschenrechtler ein, dass diese Zahl zu niedrig angesetzt ist, da viele Angehörige die Festnahmen lieber nicht öffentlich machen, um die Haftbedingungen nicht zu verschlimmern.
Die Mehrheit der politischen Gefangenen wurde aufgrund zweier Tatbestände verurteilt – wegen Teilnahme an den Protesten 2020 und nach den sogenannten Diffamierungsparagrafen, also dem Vorwurf der „unangemessenen Meinungsäußerung“. Das sind die Paragrafen zur „Beleidigung des Präsidenten“ und einzelner Amtsträger sowie zum „Schüren von Hass“ gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen (gemeint sind wohl die Silowiki) und – in letzter Zeit immer öfter angewandt – der Paragraf zur „Diskreditierung der Republik Belarus“.
Das Schüren von Hass wird dabei so breit wie nur möglich ausgelegt. Es kann ein zu grobes Wort in Bezug auf die Sicherheitskräfte in den sozialen Netzwerken oder in einem Nachbarschafts-Chat sein. Hunderte Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie in den sozialen Netzwerken Freude über den Tod eines Angehörigen der KGB-Spezialeinheit geäußert haben, der bei der Stürmung der Wohnung des Minsker Informatikers Andrej Selzer im Herbst 2021 erschossen wurde, oder weil ihnen Selzer leid tat, der erschossen wurde, als die Spezialkräfte das Feuer erwiderten.
Es genügt an einem der Sonntagsmärsche teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten
Die Teilnahme an den Protesten wird in Belarus zum Verbrechen, sobald man während der Aktionen eine Straßenspur betreten hat. Dann greift nämlich Artikel 342 der Strafprozessordnung, „Organisation, Vorbereitung oder aktive Teilnahme an Handlungen, die die gesellschaftliche Ordnung stören“. Dieser Artikel wird inzwischen aufgrund der großen Zahl von Menschen, die nach ihm verurteilt werden, „Volksartikel“ genannt. Es genügt, in Minsk oder einer anderen Stadt, an einem der großen Sonntagsmärsche 2020 teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten. Bis heute werden nach diesem Paragrafen Verhaftungen vorgenommen: Die Silowiki finden immer neue Fotos von diesen Märschen und identifizieren die Menschen, die teilweise schon vergessen haben, dass sie überhaupt auf der Straße waren.
Ähnlich wie in Russland, doch in weit größerem Ausmaß, nutzen die belarussischen Machthaber die Extremismusgesetze zur Repression. Fast alle nichtstaatlichen Medienunternehmen sind bereits als „extremistisch“ eingestuft (zum Beispiel Zerkalo.io, Nasha Niva, Radio Svaboda, Belsat), ebenso populäre Telegramkanäle (Nexta, Belarus golownogo mosga), Blogs (zum Beispiel die der Oppositionspolitiker Swetlana Tichanowskaja und Waleri Zepkalo) und selbst einzelne Chatgruppen, darunter Nachbarschafts-Chats in Wohngebieten, wenn darin irgendwann Protestaktivitäten besprochen wurden.
Ein Ehepaar saß mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet haben
Das Abonnement einer „extremistischen“ Quelle auf Telegram ist ein Straftatbestand. Um das nachzuweisen, fordern die Silowiki bei der Festnahme meist die Entsperrung des Mobiltelefons, überprüfen die Abonnements in den Messenger-Apps und versuchen, gelöschte Daten wiederherzustellen. 2021 saß ein Ehepaar insgesamt mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet hatten.
Noch schlimmer ist dran, wer Gemeinschaften oder Organisationen angehörte, die als „extremistisch“ gelten, oder mit ihnen zusammenarbeitete. Das betrifft auch Personen, die unabhängigen Medien Kommentare oder Informationen lieferten, selbst wenn es nur ein Foto von einer Schlange vor einem Geschäft ist. Ein führender Militärexperte, Jegor Lebedok, sitzt eine fünfjährige Haftstrafe ab, weil er dem „extremistischen“ Euroradio einige Interviews gab. Die Ehefrau des (zu 15 Jahren verurteilten) Bloggers Igor Lossik, Darija Lossik, wurde zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil sie dem Fernsehsender Belsat über ihren Mann berichtete. Die vierjährige Tochter der beiden blieb dadurch ohne Eltern zurück und lebt nun bei den Großeltern.
Für „extremistisch“ hält die belarussische Regierung auch Solidaritätsfonds wie BySOL und ByHelp, die Spenden zur Unterstützung der Repressionsopfer von 2020 sammeln. Damit wird jede Spende auch im Nachhinein zum Verbrechen, auch wenn der „Extremismus“ dieser Fonds erst 2021 festgestellt wurde, nachdem ein Großteil der Spenden schon eingegangen war. Doch da Zehntausende gespendet haben und viele von ihnen aus der IT-Branche kommen, also im Falle einer Verhaftungswelle das Land schnell verlassen würden, verzichten die Machthaber auf Strafverfahren und ziehen ihnen lieber Geld aus den Taschen. Personen, deren Bankdaten bei Spendenüberweisungen genutzt werden, erhalten systematisch Besuch vom KGB und werden aufgefordert, für die staatliche Wohltätigkeit zu „spenden”. Dabei werden weit höhere Summen verlangt, als die Repressionsopfer empfingen. Wer ein Geständnis unterschreibt, entkommt einem Strafverfahren, aber das Geständnis eines begangenen „Verbrechens“ bleibt für die Silowiki ein praktisches Druckmittel für die Zukunft.
Sie liquidieren Vereine von Umweltschützern, Menschen mit Behinderungen, Vogelkundlern und Fahrradfahrern
Ein weiterer Hebel zur Vernichtung des Dritten Sektors ist, neben den Extremismusparagrafen, die banale Zerstörung der nichtstaatlichen Strukturen. Die belarussischen Machthaber gehen diese Frage nicht gezielt an und spielen auch nicht mit hybriden Formen der Repression, wie etwa der Erklärung von Personen zu „ausländischen Agenten“. Vielmehr liquidieren die Silowiki seit Juni 2021, als die EU ein weiteres Sanktionspaket verabschiedete, hunderte NGOs, selbst solche, die weit abseits aller „politischen“ Strukturen agieren. Zum Beispiel Vereine von Umweltschützern und Historikern, Kulturorganisationen und wohltätige Stiftungen, Vereine von Menschen mit Behinderungen, Vereinigungen von Polen und Litauern in Belarus, Vereinigungen von Stadtforschern, Vogelkundlern und Fahrradfahrern. Die Tätigkeit im Namen einer nichtregistrierten Organisation ist ebenfalls eine Straftat.
Das Regime der Stille
Alle genannten repressiven Praktiken sind auch in Russland bekannt – wenngleich nicht im selben Ausmaß. Doch das belarussische Regime ergreift oft eine Reihe weiterer Maßnahmen, die in Russland bislang nicht regelmäßig angewandt werden.
Viele aufsehenerregende Gerichtsprozesse werden in den letzten Jahren in Belarus unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt – nicht einmal die Verwandten der Angeklagten sind zugelassen. Dadurch ist es unmöglich, Näheres über die Anklage zu erfahren, selbst die Namen politischer Häftlinge bleiben manchmal unbekannt. In öffentlichen Gerichtsverhandlungen ist es Polizisten, die oft typisierte Zeugenaussagen vorlesen (der Angeklagte sei „die Straße entlanggelaufen, habe geflucht und sich der Festnahme widersetzt“), häufig erlaubt, ihre Aussage unter Pseudonym und mit Maske zu machen, damit sie nicht identifiziert werden.
In einem „Regime der Stille“ versucht man auch bekannte politische Gefangene, Oppositionsführer, zu versenken. Häufig wird ihren Anwälten die Lizenz entzogen oder sie werden selbst festgenommen. Regelmäßige Twitter-Nachrichten, wie bei Alexej Nawalny, sind in Belarus undenkbar: Für den Versuch, eine politische Botschaft aus dem Straflager zu schmuggeln, kann ein Anwalt seine Zulassung verlieren oder selbst hinter Gitter kommen.
Eine weitere belarussische Eigenheit ist die Todesstrafe, die in Russland aktuell mit einem Moratorium belegt ist. Im Frühling 2022 wurde in Minsk entschieden, ihren Anwendungsbereich auszuweiten. Jetzt kann die Höchststrafe nicht nur für brutale Morde, sondern auch für den „Versuch eines Terroranschlags“ verhängt werden, seit März 2023 zusätzlich auch für „Staatsverrat“. Bislang gibt es aber keine Fälle, in denen diese Strafe verhängt wurde.
Anfang 2023 nahm Minsk die sowjetische Praxis wieder auf, politischen Emigranten die belarussische Staatsbürgerschaft zu entziehen, die sie von Geburt an hatten. Das Gesetz tritt im Juli 2023 in Kraft. Voraussichtlich wird es auf führende Oppositionspolitiker im Exil angewandt, die zur Einleitung dieser Prozedur bereits in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.
Angeblich politisch Illoyale werden systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen
Bei einigen weniger brutalen Formen der Repression zeichnen sich die belarussischen Silowiki durch Akribie und eine totalitäre Herangehensweise aus. Beispielsweise haben sie ein Register von hunderttausenden Belarussen angelegt, die irgendwann einmal wegen angeblicher politischer Illoyalität auf den Radar gekommen sind, ob sie nun an den Protesten teilgenommen und dafür eine Nacht gesessen oder einfach vor den Wahlen 2020 für einen alternativen Präsidentschaftskandidaten unterzeichnet haben. Seit 2021 werden diese Menschen, je nach Schwere ihrer „Sünde“, systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen, aus Banken, Staatsunternehmen, medizinischen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, inklusive dem Verbot, je wieder im staatlichen Sektor Anstellung zu bekommen.
Auch ethnische Gruppen werden vermehrt ins Visier genommen. Ukrainer, die in staatlichen Organisationen arbeiten oder einfach schon länger in Belarus leben, berichteten von Befragungen beim KGB, zum Teil unter Einsatz von Lügendetektoren – damit sollen potentielle Informanten der ukrainischen Geheimdienste aufgespürt werden. Angestellte staatlicher Institutionen mit polnischen Wurzeln, die über eine Karta Polaka verfügen (ein Dokument, das Vereinfachungen bei der Einreise nach Polen gewährt), berichten, dass sie auf diese Karte verzichten müssen, um ihre Arbeit zu behalten.
Der Abgrund ist endlos
Ob Putins Regime exakt den Weg des belarussischen Systems einschlagen wird, ist unvorhersehbar. In Belarus gab es einen nachvollziehbaren Auslöser für den Ausbruch der Repressionen – den Revolutionsversuch von 2020. In Russland wurden die Repressionen im Kontext des Kriegs verschärft. Doch es besteht ein reales Risiko, dass den Russen eine viel breitere Eskalation der inneren Repressionen erwartet, sobald der Kreml sein Potential auf dem ukrainischen Schlachtfeld als erschöpft betrachtet und die Frustration über diesen Misserfolg irgendwohin kanalisiert werden muss. Zum Beispiel auf die verstärkte Säuberung des Landes von „Verrätern“ und „inneren Feinden“, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Sieg der Armee im Wege stehen.
Die wichtigste belarussische Lektion ist, dass der Abgrund bodenlos ist. Die „roten Linien“ von gestern haben heute keinen Bestand mehr, einzelne Exzesse der Exekutive werden zur Norm. Die Gesellschaft passt sich an die Brutalität des Regimes an, und unter der Last der täglichen Nachrichten ertappen sich die Menschen bei einer erschreckenden Erleichterung, wenn jemand statt zehn Jahren Haft nur zwei bekommen hat.
Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel
Das Regime weiß vielleicht selber nicht immer, wie weit es die Schrauben anziehen kann, aber es wird die Grenzen des Erlaubten nach und nach verschieben. Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für eine Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel, bis die herrschenden Eliten oder die Gesellschaft Widerstand leisten.
Und das geschieht nicht immer, weil ein konkreter Verbrecher beschlossen hat, den Terror auf die Spitze zu treiben. Repressionen sind ein sich selbst erzeugender Mechanismus. Sie bringen die Klasse ihrer Profiteure hervor – der karriereversessenen Silowiki, für die der Kampf gegen die „Feinde“ zum Karrierebooster und zum Stachanow-Wettbewerb untereinander wird. Wenn solche Stimuli erst im System wirken, braucht es keine Kommandos von oben mehr, um neue Formen der Gewalt zu entwickeln.
Die menschliche Psyche hält sich an den üblichen, wenn auch informellen Normen der Koexistenz mit dem Staat fest. Doch die belarussische Erfahrung lehrt, dass diese Normen äußerst labil sind, wenn die Machthaber in den Abgrund der Reaktionen rollen, die Gesellschaft aber zu atomisiert und zu verängstigt ist, um Widerstand zu leisten. Die Unfähigkeit, rechtzeitig zu begreifen, dass frühere Tabus nicht mehr aktuell sind, hat viele Belarussen die Freiheit gekostet. Sie konnten nicht rechtzeitig vor der Bedrohung fliehen, weil sie es einfach nicht für möglich hielten, dass es so etwas geben kann.
„Die meisten der heute verschwundenen belarussischen Dörfer liegen wunderschön in der Nähe von Wäldern und Flüssen, und ihre über 200 Jahre alten Namen sind von den Wörtern für Fluss, Sumpf oder Wald abgeleitet.“ So heißt es in einem Text für eine Ausstellung zu dem Fotoprojekt Zwischen Wald und Fluss, das die belarussische Fotografin Svetlana Yerkovich entwickelt und umgesetzt hat.
Das Werk sei ein symbolisches Denkmal für ein figuratives Dorf mit seiner einzigartigen räumlichen Ausstrahlung, sagt Yerkovich, die heute in Schweden lebt. „Es ist ein Versuch, die für immer verlorene innere Landschaft meiner Kindheit wiederzugeben.“ Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.
dekoder: Wie ist das Fotoprojekt Between Forest and River entstanden?
Svetlana Yerkovich: Einen großen und wichtigen Teil meiner Kindheit habe ich selbst sozusagen „zwischen Wald und Fluss“ verbracht, in einem kleinen Dorf im Nordosten von Belarus. Dieses Dorf lag mit seiner einzigen Straße tatsächlich zwischen einem Wald und einem Fluss. Aus dem Kosmos dieses Dorfes und der umliegenden Landschaft sind meine Wurzeln erwachsen. Dort habe ich als Kind Leben und Tod kennengelernt, den Kreislauf allen Lebens, die Schönheit der Natur und die Unergründlichkeit eines tiefhängenden Sternenhimmels.
Während ich aufwuchs, starben die Menschen oder zogen in die Stadt, am Ende war im Dorf fast niemand mehr übrig. Die Gemüsegärten überwucherten Unkraut und Bärenklau, die Apfelbäume alterten und Moos legte sich auf sie, die Häuser blickten mit leeren, zahnlosen Fenstern. 2010 machte ich einige Porträtaufnahmen von Menschen in diesem Dorf, dann zog ich nach Moskau. Und als ich 2012 beschloss, in ein anderes Land zu ziehen und dort wohl dauerhaft zu bleiben, wollte ich noch dieses Erinnerungsstück anfertigen, noch einmal diese Bilder sehen und festhalten, die eine derartige Bedeutung für mich haben. Daraus ist schließlich das Projekt entstanden.
Wie lässt sich die kulturelle Bedeutung des Dorfes für Belarus erklären?
Die Besonderheit der belarussischen Dörfer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern liegt in der Abwesenheit von Infrastruktur, in der stehengebliebenen Zeit, in der spürbaren Isolation von den Städten. Aus diesem Grund verlässt die Jugend diese wunderschönen Orte, zieht auf der Suche nach einem besseren Leben in die düsteren Städte, und es bleiben nur die Alten zurück, und jene, die es in der Stadt nicht geschafft haben. Oft kehren die Kinder in die verlassenen Elternhäuser zurück, wenn sie in der Stadt kein Glück hatten. Doch auch das ändert sich heute. Teilweise entstehen Wochenendhäuser mit hohen Zäunen, für diese neue Generation der Konsumenten und Anleger. Schaut man hinter einen solchen Zaun, sieht man gerade, rechtwinklig gepflasterte Wege, wie in der Stadt, Dekorationen aus Plastikflaschen, symmetrisch angeordnete Sträucher und Blumen.
Auf der anderen Seite findet man in der Nachbarschaft langsam verfallende Häuser, einsame alte Menschen, Plumpsklos, und zwei bis drei Mal in der Woche das begrenzte Angebot im Lebensmittelgeschäft auf Rädern. Und es gibt auch die Jugend, die das Dorf als Ort der Freiheit wählt, um größtmöglichen Abstand vom System zu finden.
Mir persönlich sind die zugewucherten, fast menschenleeren Fleckchen am nächsten, an denen die Menschen noch in enger Verbindung zur Natur leben. Manchmal trifft man noch auf heidnisch-christliche Bräuche, Volksmärchen und Lieder. Sie können völlig seltsam und einzigartig wirken, wie aus einer anderen Dimension.
Wie lange haben Sie für das Projekt recherchiert?
Im September 2012 unternahm ich die erste zielgerichtete Reise durch die Dörfer meiner Kindheit. Es wurde schnell klar, dass es in ganz Belarus eine Menge dieser Dörfer gibt – aussterbend, ohne einen einzigen Bewohner. Und dass diese in Dickicht und Gestrüpp versunkenen Dörfer tatsächlich die schönsten Orte des Landes sind. Also machte ich weiter, setzte meine Reisen fort, bis 2016. Ich war in allen sechs Gebieten des Landes unterwegs, orientierte mich zumeist an der Karte und wählte die kleinsten Straßen, die in Wäldern und Feldern endeten. Die genaue Anzahl der Dörfer, die ich besucht habe, kann ich nicht benennen, aber es waren sicher mehr als 50. Doch das spielt keine Rolle; viele sagen ohnehin, dass die Fotografien wie aus ein und demselben Dorf wirken, eine Art Collage.
Wie haben die Dorfbewohner auf Ihre Arbeit reagiert?
Die Leute fragten natürlich, warum ich fotografiere. Und ich antwortete stets ehrlich und ernsthaft, erzählte von meinen Gefühlen und dass ich davon träume, ein Buch zu machen, um es meinen Großeltern zu widmen, und allen, die im Buch abgebildet sind. Mit einigen Leuten sprach ich viel, mit anderen nur wenig. Und einem alten Mann, der gerade Schnee von der Straße schaufelte, sagte ich nur, dass ich ihn sehr gern in dem tiefen Schnee mit der Schippe fotografieren würde, woraufhin er zustimmend nickte, sich bereitwillig und ernst in Pose stellte, ohne nur ein Wort zu erwidern.
Manche leben ganz allein in ihrem Dorf und freuen sich einfach, dass sie mit jemandem sprechen können. Mir war es wichtig, nicht als „Mädchen aus der Stadt“ wahrgenommen zu werden, das eine Safari oder ethnografische Exkursion unternimmt. Ich kannte mich ja im dörflichen Umfeld bis ins kleinste Detail aus. Wir sprachen über Dinge, die uns gleichsam nah waren. Gleichzeitig teilte ich auch ehrlich meine Wahrnehmung von Schönheit und erzählte, warum mir gerade diese alte, zerrissene Strickjacke oder jenes Brennesseldickicht interessant, bedeutsam und schön vorkamen. So entstand auf Seiten der Fotografierten nicht nur Nähe, sondern auch Neugier. Das Gespräch gewann dadurch ein gutes Gleichgewicht zwischen Vertrauen und Geheimnis. Und das ist unabdingbar für ernsthaftes, konzentriertes Arbeiten, für meine Fotografien.
Wie sind Sie künstlerisch an das Projekt herangegangen?
Am Anfang konnte ich nur schwerlich beschreiben, was ich eigentlich genau suche. Doch ich war überzeugt davon, dass alles in mir vibrieren würde, wenn ich das gesuchte Motiv schließlich erblicke, dass es mir nicht entgehen würde. Auf einigen Reisen begleitete mich mein jetziger Ehemann als Fahrer und Assistent, er ist ebenfalls Fotograf, aber unsere Arbeitsstile unterscheiden sich stark. Er stellte mir immer wieder dieselben Fragen: Warum fotografierst du diesen Menschen, den anderen aber nicht? Warum biegen wir hier ab, dort aber nicht? Genau erklären konnte ich das nicht, es war immer eine Reaktion auf bestimmte Merkmale des Menschen oder der Landschaft, die ich wahrnahm, es war Intuition. Nur auf diese Weise, intensiv meditierend, konnte ich dieses Bild, das ich schon so lange vor meinem inneren Auge hatte, erkennen und einfangen. Es ist nicht wirklich eine dokumentarische Geschichte, eher ein Kunstbild, das auf sorgfältig ausgewählten realen Begebenheiten beruht.
Man könnte sagen, „Zwischen Wald und Fluss“ ist ein Zustand zwischen Himmel und Erde, in dem der Mensch in enger Beziehung mit der Natur lebt, die für viele der Porträtierten zudem die einzige Bezugsperson in ihrem Umfeld ist. Und in dieser Beziehung liegen Tiefe und Schönheit, Mystik, Freiheit und Kraft. Die abgebildete Zeit wiederum ist als Kategorie nicht so wichtig, deshalb habe ich mich dafür entschieden, mit einer Kombination aus Schwarzweiß und Farbe zu spielen. Außerdem hatte ich immer einen dünnen, weißen Vorhang dabei, den ich bei manchen Aufnahmen eingesetzt habe, was der Betrachter für sich nach Belieben interpretieren kann.
Mit den Fotos können sich sicher auch Menschen außerhalb von Belarus identifizieren?
„Zwischen Wald und Fluss“ kann man sowohl in Belarus, als auch überall anders finden. Es ist ein Ort an einem Fluss, umgeben von schönem Dickicht, an dem ein Mensch ganz allein in seiner Stille mit den ewig existenziellen Fragen lebt, haust, hadert. So eine Gegend ist vielen Betrachtern in allen möglichen Ländern vertraut und nah, wie irgendeine verlassene Gegend an einem gegenüberliegenden Ufer, zu dem keine Brücke oder Fähre führt, und von dem alle Fragen als Echo zurückschallen.
Oblast Witebsk, März 2014: „Viktor lebt allein in seinem Haus in einem verschwindenden Dorf in der Oblast Witebsk. Er passt gut auf sein Haus auf, und er hat Hühner und einen Hahn. Im Frühling 2014 posiert er außerhalb seines Hauses neben dem Auto, von dem er noch hofft, es verkaufen zu können. Viktor ist überzeugt, dass die Bank, bei der er seit der Sowjetzeit seine Ersparnisse hat, ihn beklaut hat. Er schreibt erfolglos Beschwerden an unterschiedliche Behörden und Ministerien. Seine Nachbarn sagen, er erfinde Geschichten.“
Wie kam Putin zu der Entscheidung, die Ukraine zu überfallen? Welche Schlüsselmomente gab es, und wer hat ihn dabei beeinflusst? Ilja Sheguljow hat darüber mit aktiven und ehemaligen Beamten und Funktionären aus dem Staatsapparat in Russland und der Ukraine gesprochen. In einer aufwändigen und vielbeachteten Recherche auf Verstka rekonstruiert der Journalist, „wie sich das Denken des russischen Staatsoberhauptes entwickelt und in die Tragödie geführt hat“.
Nach den Gouverneurswahlen in der Oblast Moskau im September 2013 sagte einer der Kuratoren des riesigen Stabs von Polittechnologen händereibend: „Gut gemacht, Leute, und jetzt fahrt ihr zum Training in die Westukraine“, erinnert sich ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Polittechnologe im Gespräch mit Verstka. Ihm zufolge habe vor zehn Jahren noch niemand über „schlechte Chochly [Ukrainer]“ gesprochen: Die russischen Polittechnologen arbeiteten problemlos sowohl mit Viktor Janukowytschs Team als auch mit seinen eher proeuropäisch orientierten Opponenten zusammen. Sie erhielten lukrative Aufträge von allen Seiten und verdienten Geld. „Und was es an Austausch gab zwischen den russischen und ukrainischen Fußballfans, da war echte Freundschaft. Auch die Nationalisten waren untereinander befreundet“, sagt der Gesprächspartner von Verstka.
Es scheint, als hätte der Kreml seine Einstellung zur Ukraine im Februar 2014 innerhalb weniger Tage geändert, kurz bevor Putin eigenmächtig entschied, die Krim zu annektieren. Doch ganz so war es nicht: Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass sich diese Haltung zum Nachbarland schon sehr viel früher im Kopf des russischen Präsidenten formierte.
1. Der erste Versuch, die Ukraine zu spalten: „Unser Hurensohn“
Als Leonid Kutschma [2004 – dek] nach zwei Legislaturperioden aus dem Präsidentenamt schied, bat er Moskau, seinen Nachfolger Viktor Janukowytsch zu unterstützen, was der Kreml mit Eifer tat.
Putin reiste eigens nach Kyjiw und trat im Pendant zum russischen Direkten Draht auf, mit dem einzigen Unterschied, dass ihm nun Ukrainer Fragen stellten (es gingen über 80.000 Fragen ein). Dort äußerte Putin sogar, dass Russland von der Ukraine lernen könne, da das ukrainische Wirtschaftswachstum unter Premierminister Janukowytsch das russische überholt habe.
Auf Moskauer Seite kuratierte die Wahlen Dimitri Medwedew, damals Vorsitzender der Präsidialverwaltung, und auf Kyjiwer Seite der Chef der ukrainischen Präsidialverwaltung Viktor Medwedtschuk. Im selben Jahr wurde Putin Taufpate für dessen Tochter Darja. Damals arbeitete die ukrainische Präsidialverwaltung eng mit Russland zusammen, wobei der russische Polittechnologe Gleb Pawlowski eine Schlüsselrolle in der Vermittlung zwischen den beiden Administrationen einnahm, wie er später zugab. Einer der ersten Schachzüge Moskaus im Vorwahlkampf war eine Karte über „die drei Sorten der Ukraine“, in die Viktor Juschtschenko das Land angeblich aufgeteilt hatte. An dritter und letzter Stelle standen der Süden und Osten der Ukraine.
Doch all das half nichts: Nach den Massenprotesten der Orangen Revolution und der anschließenden Wiederholungswahl wurde 2004 Viktor Juschtschenko Präsident der Ukraine.
Moskau setzte jedoch weiterhin auf die Entzweiung und schließlich Abspaltung der Regionen. Noch auf dem Höhepunkt der Orangen Revolution wurde der Versuch unternommen, den Süden und Osten vom Rest des Landes abzuspalten: In Sewerodonezk fand ein prorussischer Kongress von Deputierten aller Ebenen statt, an der auch Juri Lushkow teilnahm, der Moskauer Bürgermeister war und ein zur damaligen Zeit einflussreicher Politiker. Der damalige Vorsitzende des Donezker Regionalparlaments Borys Kolesnikow forderte ohne Umschweife die Abspaltung von der Ukraine: „Wir schlagen vor, allen hochrangigen Organen der Staatsmacht, die gegen das Gesetz verstoßen haben, unser Misstrauen auszusprechen und einen neuen südostukrainischen Staat in Form einer Föderalrepublik zu gründen. Hauptstadt dieser neuen Republik – und damit die erste wiederhergestellte Hauptstadt der unabhängigen Ukraine – soll Charkiw werden“, sagte Kolesnikow. Doch dazu kam es nicht: Russland entschied sich gegen eine militärische Einmischung in die Angelegenheiten eines souveränen Staates, und ohne Unterstützung wagte es niemand, die Abspaltung voranzutreiben. Auf eine Interview-Anfrage von Verstka antwortete Kolesnikow: „Danke, kein Interesse.“ (Kolesnikows Stiftung unterstützt aktiv die Ukrainische Armee, sein Facebook-Profil ziert eine große ukrainische Flagge).
Anfang 2010 hatte der prowestliche Präsident Juschtschenko einen großen Teil seiner Unterstützer verloren und Janukowytsch die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Diesmal stellten die Wähler das Wahlergebnis nicht massenhaft in Frage.
Gleich nach seinem Amtsantritt unternahm Janukowytsch Schritte, von denen Moskau selbst zu Zeiten des gemäßigten Politikers Kutschma nicht hätte träumen können: Er sprach sich gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine aus, initiierte ein Gesetz zum Status der russischen Sprache als Regionalsprache und äußerte den Standpunkt, der Holodomor sei kein Genozid am ukrainischen Volk gewesen, sondern ein allgemeines Problem der sowjetischen Geschichte.
Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete
„Unsere Nachrichtendienste saßen in der ukrainischen Regierung, lenkten das Land und einzelne Unternehmen. Wieso eingreifen, wenn ohnehin alles uns gehörte?“, berichtet ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Informant. Ihm zufolge war der Plan einfach: Annäherung mit der Ukraine nach dem Vorbild der Annäherung mit Belarus. „Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete“, erklärt der Informant. „So, wie die USA damals auf Kuba Präsident Fulgencio Batista hatten, hatten wir in der Ukraine Janukowytsch. Die Beziehungen waren die gleichen. Selbstverständlich haben wir ihm zugespielt und geholfen. Er war unser Hurensohn.“
Gleichzeitig arbeitete Russland an der diplomatischen Front daran, Europa von einem Anbändeln mit der Ukraine abzubringen. „Russische Diplomaten reisten nach Paris und erklärten, dass wir gegen ein Assoziierungsabkommen [der Ukraine] mit der EU sind, dass es dazu nicht kommen wird und sie damit aufhören sollen“, erzählt ein Informant aus dem engeren Umfeld von Wladislaw Surkow, der von 2013 bis 2019 unter anderem für die Ukraine-Angelegenheiten des Kreml zuständig war. „Sie erklärten, es wäre ein Schlag gegen die ukrainisch-russischen Beziehungen. Das war der Anfang, noch bevor überhaupt die Rede von einer Russki Mir war.“
Janukowytsch lehnte das Assoziierungsabkommen mit der EU ab und gab der Verführung des Kreml nach, einer Zollunion mit Russland beizutreten, was ihm den zweiten Maidan seines Lebens bescherte.
2. Wie Putin sich von Amerika gekränkt fühlte: „Er wurde ausfällig“
Putins Verhältnis zur Ukraine verschlechterte sich parallel zu seinem Verhältnis zum Westen. Schnell wurde der postsowjetische Raum – allen voran Georgien und die Ukraine – für den Kremlchef zum Raum des Machtkampfs.
Der erste Schlag für Putin war die Rosenrevolution in Georgien [2003], als nach Massenprotesten der prowestliche und für Putin unverständliche Kandidat Michail Saakaschwili der neue georgische Präsident wurde. Der zweite und schwerwiegendere Schlag war die Orange Revolution in der Ukraine. „Es ging nicht um das Verhältnis zur Ukraine. Es war ja nicht nur der Maidan, es war ein Bruch mit allen Spielregeln“, erklärt ein Informant, der Putin nahesteht, dessen Logik der Kränkung. Der Kreml nahm das Recht der Bürger, die Regierung ihres Landes durch Kundgebungen und Wahlen zu ändern, nicht ernst und sah solche Aktionen ausschließlich als Resultat einer äußeren Einflussnahme durch den Westen.
Aktionen wie die Orange Revolution sah der Kreml ausschließlich als Resultat westlicher Einflussnahme
Diese Ereignisse mündeten in Putins Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die vom Westen kritisch aufgenommen wurde. „Er wurde ausfällig, sein Auftritt war politisch inkorrekt“, sagt ein kremlnaher Informant heute. „Der Westen sagte dazu, ja, wie unfreundlich von ihm, er flucht, soll zum Teufel gehen, grober, ungehobelter Mistkerl. Das war in etwa das Ergebnis dieser Rede.“
3. Welche Philosophen den russischen Präsidenten lehrten, gegen die Ukraine zu sein: Die neue Philosophie
Neben dem veränderten Verhältnis zum Westen wurde Putin auch von innenpolitischen Ereignissen beeinflusst. Mit den Protesten von 2012 fing Putin an, sich verstärkt mit der Literatur einer bestimmten Geisteshaltung zu beschäftigen. In kremlnahen Kreisen wurde gemunkelt, Putin würde immer mehr Zeit in Archiven verbringen. Etwa zur selben Zeit wurde eigens eine Arbeitsgruppe in der Präsidialverwaltung gebildet, die Bücher und ausgewählte Texte zu von Putin vorgegebenen Themen zusammenstellte, erzählt ein ehemaliger Polittechnologe des Kreml.
Noch vor den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz hatte sich Putin für den weißgardistischen Philosophen Iwan Iljin interessiert. Nach den missglückten Protesten vertiefte sich der russische Präsident noch mehr in Texte von Autoren, die Iljins Ansichten teilten. Unter anderem fand er Gefallen an für Wassili Rosanow, einem Religionsphilosophen des frühen 20. Jahrhunderts.
Iljin hatte keinerlei Respekt vor der Ukraine als eigenständigem Staat. „Die Ukraine ist jener Teil Russlands, der am stärksten von Abspaltung und Eroberung bedroht ist“, schrieb der Philosoph 1938 in der Resolution eines Kongresses der Weißen Emigration. „Der ukrainische Separatismus ist eine künstliche Erscheinung, die realer Grundlagen entbehrt. Er entstand aus der Geltungssucht von Rädelsführern und einer internationalen Eroberungsintrige.“
Dort ist alles ganz simpel aufgebaut: Die Ukrainer werden mit List und Manipulation vom Westen herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen
Zitate aus Reden von Iljin, Rosanow und anderen imperial ausgerichteten – auch zeitgenössischen – Autoren, tauchten schließlich auch in Putins öffentlichen Reden auf. „In diesem Pantheon der Götter ist alles ganz simpel aufgebaut“, erläutert ein ehemaliger Technologe aus dem Kremlumfeld das Prinzip: „Die Ukrainer werden mit List, Täuschung, Manipulation und Technologie von den westlichen Staaten herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen. Für Russlands Feinde sind sie die idealen Russen. Der ukrainische Staat wurde innerhalb der UdSSR geschaffen, um der russischen Bevölkerung zu schaden.“
4. Wie Putin entschied, die Krim zu ergreifen: Gepfiffen auf die Folgen
Noch im Januar 2014 hatte Putin nicht vor, die Krim zu annektieren. Das berichten drei Quellen – eine in der Präsidialverwaltung, eine aus dem Umfeld der kremlnahen Polittechnologen und eine aus Putins engerem Kreis. Die Entscheidung fiel spontan im Februar, als der Kreml erkannte, dass die Protestierenden im Zentrum Kyjiws die Regierung Janukowytsch bezwingen würden. Moskau setzte zunächst wieder auf einen Kongress von Deputierten, der zu einer Abspaltung von Teilen der Ukraine führen könnte. Laut einer Quelle aus dem Umkreis von Wladislaw Surkow waren Polittechnologen aus Russland an der Vorbereitung beteiligt. Den Vorsitz des Kongresses der Abgeordneten aus der Südostukraine sollte Janukowytsch persönlich übernehmen. Er war per Hubschrauber überstürzt aus Kyjiw abgezogen und nach Charkiw geflogen.
Im letzten Moment weigerten sich jedoch die Regierenden der Stadt und der Oblast Charkiw, Hennadi Kernes und Mychailo Dobkin, dieses Spiel mitzuspielen. „Als ihnen klar wurde, dass Russland den Zerfall der Ukraine anstrebte, ergriffen sie vehement eine proukrainische Position und verweigerten Janukowytsch ihre Unterstützung“, berichtet ein Mitorganisator des Kongresses. Obwohl Janukowytsch am 22. Februar bereits in Charkiw war, ließ er sich auf der Versammlung nicht blicken – er hatte erkannt, dass der Plan gescheitert war. So waren dort keine Abspaltungsforderungen zu vernehmen; stattdessen riefen Kernes und Dobkin zu Frieden auf und versprachen, die Einheit der Ukraine zu wahren. Die russische Operation war gescheitert. Am selben Tag wurde Janukowytsch von der Werchowna Rada entmachtet.
Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, ich übernehme die Verantwortung‘
In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar, nachdem Janukowytsch nun auch aus Charkiw geflohen war, fiel Putins Entscheidung, die Krim zu annektieren. Das geht aus seinen eigenen Schilderungen hervor und wird von Quellen aus seinem Umfeld bestätigt. In Sotschi, wo gerade die Olympischen Winterspiele zu Ende gingen, besprach er sich bis sieben Uhr morgens mit seinen vier engsten Vertrauten aus den Sicherheitsorganen. Wie ein naher Bekannter von Putin berichtet, sollen sie zunächst versucht haben, ihn von seinem Plan abzubringen. „Aber Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, eine weitere wird es nicht geben, ich übernehme die Verantwortung.‘“
Später äußerte ein anderer Vertrauter Putins im Gespräch mit ihm, die Krim-Annexion sei eine Katastrophe und werde schlimme Folgen nach sich ziehen. Putin soll erwidert haben, er pfeife darauf: „Russland hat einen großen Teil seines historischen Territoriums wiederbekommen, und das praktisch ohne Blutvergießen. So etwas hat es seit 1000 Jahren nicht gegeben. Was auch immer geschieht, die Krim wird russisch bleiben.“ Dass die Krim-Annexion in Russland auf solch breite Unterstützung stoßen würde, hatte Putin zunächst nicht erwartet.
Anfang März begannen russische Beamte, inkognito die Krim und die an Russland grenzenden Donbass-Regionen zu besuchen. „Fast aus jedem Ministerium wurde ein Stellvertreter entsandt, um das Terrain zu erkunden“, erinnert sich ein ehemaliger Angehöriger des Regierungsapparats. Die Beamten sollten in Putins Geheimauftrag die künftige „Eingliederung der ukrainischen Regionen in Russland“ vorbereiten. Nach Angaben des Ex-Mitarbeiters ging es in den Regierungsdokumenten nicht nur um die Krim; auch die Kosten eines „Beitritts der Oblaste Donezk, Luhansk und Charkiw“ seien analysiert worden. Doch diese Vorstellungen ließen sich damals nicht realisieren.
Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können, wie auf der Krim
Einen stringenten Plan zur Eroberung dieser Gebiete gab es nicht. Versuche, Rebellengruppen zu versammeln, gab es unter anderem auch in Odessa und Dnipro. Aber nur in Donezk und Luhansk ging der Plan halbwegs auf. „Das mit dem Donbass war ein Fehler. Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können wie auf der Krim“, berichtet ein Insider. „Aber der Versuch, das Volk aufzuwiegeln, war nicht besonders erfolgreich.“
Die Abspaltung des Donbass ging nicht auf Putins persönliche Initiative zurück. „Das war eine Aktion von FSB-Leuten, die die Situation ausnutzen wollten und die ganze Sache losgetreten haben“, berichtet ein anderer Informant aus Putins engerem Umfeld. Eine weitere Quelle aus der Präsidialverwaltung bestätigt das: „Die Krim war eine Spezialoperation, der Donbass nicht – es gab Akteure, die zu Putin sagten: Wir sollten eingreifen, eine Gegenkampagne starten. In der Ukraine gibt es prorussische Kräfte, wir dürfen die Leute nicht allein lassen.“ Dazu gehörten der FSB-nahe russisch-orthodoxe Unternehmer Konstantin Malofejew, [Putins Berater] Sergej Glasjew, der bereits seit über einem Jahr ein Netzwerk prorussischer Kräfte in der Ukraine aufbaute, sowie der Geschäftsmann Sergej Kurtschenko aus dem Umfeld von Viktor Janukowytsch. „Jeder spielte sein eigenes Spiel, es gab praktisch niemanden, der diese Aktivitäten koordiniert hätte“, so ein kremlnaher Informant.
Jeder spielte sein eigenes Spiel
Nachdem sich in Donezk und Luhansk separatistische Gruppierungen gebildet hatten, stellte Putin weitere Leute ab, die auf den Prozess einwirken sollten. So beispielsweise Wladislaw Surkow, der sich mit dem Aufbau eines Regierungssystems in den aufständischen Regionen um die politische Seite kümmerte.
Trotz der inoffiziellen Beteiligung russischer Truppen im August 2014 gab es damals weder Pläne noch die Bereitschaft zu einem groß angelegten Krieg. Der Kreml wollte die ukrainische Regierung überlisten. Das Minsker Abkommen kam Moskau dabei entgegen, wie ein ehemaliges Mitglied der Verhandlungsdelegation berichtet: „Putin war persönlich an der Abfassung des Textes beteiligt. Einige Punkte, die den Status und die politische Regulierung betreffen, hat er selbst formuliert.“
Wenn das Minsker Abkommen umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen
Im Weiteren brauchte er dann nur noch zur Umsetzung des Abkommens aufzurufen. „Worin bestand diese Umsetzung? Die Ukraine sollte ein Gesetz zum Sonderstatus der DNR und der LNR erlassen und eine Verfassungsreform durchführen. Die Republiken sollten formell wieder der Ukraine unterstellt werden, samt den beiden Armeekorps und den unter russischer Herrschaft gewählten politischen Organen“, so die Quelle, die auf Seiten Russlands direkt an der Ausarbeitung beteiligt war. „Das alles sollte legalisiert werden. Damit würde es in der Ukraine zwei Fremdkörper geben, die sich Kiew nicht unterordnen. So war es im Minsker Abkommen vorgesehen. Wenn es umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen. Das war der Plan.“
Aus Putins Sicht – so eine weitere Quelle aus seinem Umfeld – hatte er den damaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko schlicht übertölpelt: „Erst Wahlen, dann die Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, nicht umgekehrt. Damit war klar, wer bei diesen Wahlen gewinnen würde. Poroschenko kam es in diesem Chaos darauf an, den Krieg zu beenden, die Einzelheiten hat er nicht durchschaut.“ Der Kreml fror den Konflikt ein. Ende 2014 wurden die aggressivsten und militantesten Kräfte in den beiden separatistischen Donbass-Republiken ausgeschaltet oder ins Abseits gedrängt. Die Präsidialverwaltung stellte die Kriegsrhetorik für lange Zeit ein.
Bei Besprechungen sei oft der Satz gefallen: ,Putin will die ganze Ukraine.‘ Doch das habe niemand ernst genommen
„Niemand, der mit dem Kreml zusammenarbeitete, nahm das Wort ‚Krieg‘ in den Mund. Man hatte das Gefühl, der Krieg sei vorbei, die Regierung hatte ja auch den eigenen Bürgern erklärt, Russland wolle keinen Krieg“, erinnert sich ein Politologe, der damals für den Kreml tätig war. Zugleich, sagt er, sei bei Besprechungen oft der Satz gefallen: „Putin will die ganze Ukraine.“ Doch habe das niemand ernst genommen: „Wollen kann einer ja vieles.“ Einer anderen Quelle zufolge war der Konflikt um die selbsternannten Volksrepubliken im Donbass gerade deshalb von Nutzen, weil er auf niedriger Flamme köchelte: „Er schwelte vor sich hin und konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven.“
Der Konflikt im Donbass konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven
Dass Putin selbst keinesfalls vorhatte, das Thema Ukraine auf sich beruhen zu lassen, konnte man in den folgenden Jahren an den Politsendungen im russischen Staatsfernsehen ablesen: „Es gab einen Haufen Probleme, es war viel los in der Welt. Aber diese Idioten haben ständig über die Ukraine geredet“, erzählt eine Quelle aus Putins Umgebung. „Nicht über Syrien oder das missliebige Amerika, sondern über die Ukraine. Sie stand nicht auf der Tagesordnung, aber es war dauernd die Rede von ihr.“ Der Quelle zufolge könne das nicht eine fixe Idee des Fernsehkurators der Präsidialverwaltung gewesen sein, sondern war definitiv eine Anweisung von ganz oben.
Putin suchte weiter hartnäckig nach Verbindungen zwischen der Ukraine und den USA. „Er war überzeugt, dass die Ukraine faktisch durch die NATO und die USA kontrolliert wird“, sagt ein Informant aus seinem damaligen Umkreis.
5. Warum Putin sich von Selensky gekränkt fühlte: Der Friedensstifter des Krieges
2019 gewann überraschend Wolodymyr Selensky die Präsidentschaftswahl. Er hatte so vielfältige Beziehungen zu Russland wie wohl keiner seiner Vorgänger. Als einziger ukrainischer Präsident hatte er sogar eine Zeit lang in Moskau gelebt, als er in der russischen TV-Show KWN mitwirkte. Zum Jahreswechsel 2013/2014 hatte er gemeinsam mit dem russischen Komiker Maxim Galkin die Neujahrsshow des TV-Senders Rossija 1 moderiert.
Mit seiner Wahlkampfrhetorik, man müsse mit Putin eben eine Lösung finden, und dem Versprechen von Frieden in der Ukraine, erregte er höchstes Misstrauen bei entschiedenen Gegnern einer Annäherung an Russland und vorsichtigen Optimismus in Moskau. Beim ersten Telefonat mit Selensky gab sich Putin respektvoll. „Man merkte, dass er Berührungspunkte finden wollte“, erzählt der ehemalige Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Bohdan.
Selensky schlug in dem Gespräch vor, seinen Assistenten Andrij Jermak zum neuen Unterhändler bei den Donbass-Verhandlungen zu machen. Diese Funktion hatte bisher Putins persönlicher Freund Viktor Medwedtschuk innegehabt. Einer Quelle aus dem Umkreis der russischen Präsidialverwaltung zufolge meinte Selensky, dass Medwedtschuk „einfach Geld scheffelt, seine Beziehungen nutzt, um Kohle zu machen.“
Putin ging davon aus, er könne den politischen Neuling Selensky leicht austricksen
Der Kreml gab damals nach und ließ Medwedtschuk ersetzen. „Er [Selensky] war offensichtlich begabt und lernfähig. Und er ging mit der recht naiven Vorstellung an die Sache heran, er werde jetzt mit Putin vernünftig über alles reden“, erzählt eine Quelle aus dem Umfeld der russischen Regierung. „Natürlich war er nicht proamerikanisch, er war proukrainisch. Und er wollte aufrichtig etwas Gutes bewirken.“ Wie drei Quellen übereinstimmend berichten, wollte Selensky die Beziehungen mit Moskau tatsächlich erneuern. Sein Team wandte sich an verschiedene Personen, um Rat einzuholen, wie das am besten anzugehen sei. So rief etwa Jermak Alexander Woloschin an, den ehemaligen Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Auch Putin erwartete eine mögliche Einigung mit Selensky. Er ging davon aus, den politischen Neuling leicht austricksen und endlich die Umsetzung des Minsker Abkommens erreichen zu können, was für Russland einem großen Sieg gleichgekommen wäre.
Als Putin im Dezember 2019 nach Paris reiste, war er sicher, dass nun endlich Bewegung in die seit Jahren festgefahrene Angelegenheit kommen würde. Doch mit Selensky gestalteten sich die Verhandlungen noch schwieriger als mit seinem Vorgänger. Er verweigerte die Durchführung von Wahlen im Donbass vor der Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, und Mitglieder seiner Delegation versuchten sogar, den entscheidenden Absatz des Minsker Abkommens dahingehend zu revidieren, dass der Donbass-Region kein dauerhafter, sondern nur ein vorübergehender Sonderstatus zuerkannt werden sollte. Surkow, der an den Friedensverhandlungen teilnahm, drohte damit, sie ganz abzubrechen. Nach Angaben eines ukrainischen Ministers war er kurz davor, mit den Fäusten auf Andrij Jermak loszugehen, brüllte und stampfte mit den Füßen.
Putin war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder
Putin hatte mit einem warmen Empfang gerechnet und eine kalte Dusche bekommen. „Er war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder“, so die Einschätzung Olexander Charebins, der in Selenskys Wahlkampfteam an der Erarbeitung der außenpolitischen Strategie mitgewirkt hatte. „Selensky und seine Delegation waren besser vorbereitet als erwartet. Der große Zar der gesamten Rus stand auf einmal fast als Witzfigur da.“ Selensky trug seinen Teil dazu bei. Als Putin auf der Pressekonferenz sagte, es sei ein Dokument zur strikten Einhaltung des Minsker Abkommens angenommen worden, wiegte Selensky lächelnd den Kopf, und bei der Erwähnung des Sonderstatus zeigte er sich unverhohlen erheitert und hielt sogar die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. „Das kam für alle überraschend und zum ersten Mal so offenkundig“, so der ukrainische Berater Charebin. „Es war praktisch eine öffentliche Ohrfeige für Putin. Und diese Erfahrung war womöglich traumatisch für ihn.“ Am Gesichtsausdruck des russischen Präsidenten ließ sich ablesen, dass er die gemeinsame Pressekonferenz nur mit Mühe ertrug. Er würdigte Selensky keines Blickes und blätterte immer wieder in seinen Unterlagen. Selensky und Putin sind seither nie mehr zusammengetroffen, und Surkow wurde zwei Monate später als Beauftragter für die Ukraine und die Donbass-Region entlassen. Nach dem Pariser Desaster setzte der Kreml nun auf Soft Power – und sein wichtigster Gewährsmann wurde Viktor Medwedtschuk.
6.Wann die Kriegsentscheidung fiel: Das Fass läuft über
Mit Medwedtschuk, dem ehemaligen Leiter der Präsidialverwaltung unter Kutschma, war Putin auch nach dessen Abgang aus der Politik in Verbindung geblieben. 2012 kam Putin zu einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Janukowytsch vier Stunden zu spät und stattete Medwedtschuk danach demonstrativ einen Besuch zu Hause ab. Dieser führte ihm beim Abendessen seine Aqua-Disco vor – bunte Springbrunnen, deren farbige Beleuchtung im Rhythmus der Musik wechselte. „Dort wurden professionelle Aufnahmen gemacht, nicht von einem Paparazzo, sondern ganz offen von einem persönlichen Kameramann“, erinnert sich der Fernsehmoderator Jewgeni Kisseljow im Gespräch mit dem Autor. Die Bilder von Putin und Medwedtschuk wurden im ukrainischen Fernsehen gezeigt.
Nach 2014 war Medwedtschuk aufgrund seiner großen Nähe zu Moskau für die Organisation der Verhandlungen der Trilateralen Kontaktgruppe und für den Gefangenenaustausch zuständig gewesen. Gegen Ende von Poroschenkos Amtszeit erwarb Taras Kosak, ein Mitstreiter Medwedtschuks, drei TV-Nachrichtensender. Sie sollten später zum Anlass für einen Konflikt zwischen Medwedtschuk, der in der Ukraine als wahrer Eigentümer der Sender galt, und Selensky werden.
Die Sender verbreiteten die prorussischen Ansichten ihrer Eigentümer. Laut Medienexperte Otar Dowshenko behauptete die dort ausgestrahlte Propaganda, „es habe keinen Angriff auf die Ukraine gegeben, es herrsche ein Bürgerkrieg, an dem die Ukraine selbst schuld sei, sie müsse sich nur zur Freundschaft mit Russland entschließen, die Krim habe sich selbst abgespalten, weil sie nicht wertgeschätzt worden sei, auf dem Maidan habe ein bewaffneter Putsch stattgefunden“. Zugleich wurde auf diesen Sendern immer wieder Selenskys Politik kritisiert. Steigende Wohnkosten und soziale Probleme waren ein ständiges Thema. Selenskys Umfragewerte gingen zurück, dafür stieg die Beliebtheit von Medwedtschuks Partei Oppositionsplattform – Für das Leben. Im Oktober 2020 belegte sie bei den Regionalwahlen in sechs Regionen den ersten Platz und überholte Selenskys Partei Diener des Volkes. Selbst nach Beginn des umfassenden Krieges sollte Selensky auf diese Ereignisse zurückkommen. In seinem ersten Interview mit russischen Journalisten, das Ende März 2022 während der Kämpfe um Mariupol stattfand, sprach er lange darüber, wie Medwedtschuk in den Regionen gesiegt hatte.
Im Februar 2021 wurde eine Sonderoperation zur Ausschaltung Medwedtschuks unternommen. Sie richtete sich gegen die Sender 112 Ukraine, NewsOne und ZIK und ihren Eigentümer, Taras Kosak. Selensky erklärte, die Sender verbreiteten antiukrainische Propaganda und behinderten die Integration der Ukraine in die EU. Sie wurden mit einem Sendeverbot belegt, das auf einer kurzfristig anberaumten Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates beschlossen wurde. Das Präsidialamt erklärte damals, die drei Sender würden als „Instrumente fremder, ausländischer Propaganda in der Ukraine“ eingesetzt. Mychailo Podoljak, der den Leiter des Präsidialamts berät, ergänzte, sie würden für die „Besatzer“ arbeiten. Zugleich hieß es, es gebe „Fragen“ zur Finanzierung der Sender. Selensky hatte bereits anderthalb Jahre zuvor erklärt, er wisse, aus welchem Land sie finanziert würden, und Iwan Bakanow, Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, hatte von einer „antiukrainischen Informationskampagne des Angriffsstaates“ gesprochen.
Auch gegen Medwedtschuk persönlich wurden Sanktionen verhängt. Der SBU setzte ihn und seine Frau auf seine Rechercheliste zur Finanzierung von Terrorismus. Am 11. März 2021 führten der SBU und die ukrainische Steuerbehörde einen Sondereinsatz in Objekten des Tankstellennetzes Glusco durch, das ebenfalls mit der Familie Medwedtschuks in Verbindung gebracht wird.
Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen, hat das Putin richtig in Rage versetzt
Die Zerschlagung von Medwedtschuks Medien und die „Schikanen“ gegen ihn gaben den endgültigen Ausschlag für Putins Entscheidung zu einer Militäroperation, wie drei Quellen aus seinem Umkreis bestätigen. Der Kreml setzte nun nicht mehr auf Soft Power.
„Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen und seiner Partei die Luft abdrückten, hat das Putin richtig in Rage versetzt“, so ein langjähriger Bekannter des russischen Präsidenten. „Er fühlte sich persönlich angegriffen. Medwedtschuk und seine Sender waren eine Art Brückenkopf, sie standen für die Hoffnung auf eine politische Lösung der Situation. Und da fängt die Ukraine an zu eskalieren. Ach, ihr wollt auf die Pauke hauen? Ihr wisst wohl nicht, mit wem ihr euch da anlegt!“
Medwedtschuk hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und Putin blindlings in die Irre geführt
Zu Putins Entschluss trug auch bei, dass Medwedtschuk ihm immer wieder erzählt hatte, wie stark die Unterstützung für seine Person und die prorussische Stimmung in der Ukraine sei. „Er hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und nicht gedacht, dass das jemals auf den Prüfstand gestellt werden würde“, erinnert sich eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung. „Er hat erzählt, wie loyal die Territorien seien, und Putin blindlings in die Irre geführt.“
Im Kreml zweifelte man nicht an Medwedtschuks Darstellung. „Anstatt das nachzuprüfen und zu erkennen, dass sie hier ganz offensichtlich nicht erwünscht sind, haben sie sich von Kränkung und Zorn verblenden lassen“, sagt der ukrainische Politikberater Charebin. Allerdings, so eine Quelle aus Medwetschuks Bekanntenkreis, habe dieser nicht ahnen können, dass Putin aufgrund seiner Angaben beschließen würde, mit einer kleinen Spezialoperation schnell mal die Regierung in Kyjiw auszutauschen. Putin habe ernsthaft damit gerechnet, in der gesamten Ukraine Unterstützung zu finden, ganz wie sein Vertrauter es ihm erzählt hatte. „Für Medwedtschuk war Putins Entscheidung zum Krieg die denkbar katastrophalste Entwicklung“, sagt jemand aus dem Umfeld des russischen Präsidenten.
Putin hatte sich vor seiner Entscheidung nicht mit Medwedtschuk beraten – und auch mit niemandem sonst. Der einzige, mit dem er ständig Kontakt hielt , war sein Freund Juri Kowaltschuk. Wie zwei Quellen bestätigen, hatte Kowaltschuk einen bedeutenden Anteil an Putins Entschluss zur Spezialoperation. Während der Pandemie hielt er sich als Einziger ununterbrochen in der Residenz des Präsidenten auf, um nicht in Quarantäne zu müssen. Kowaltschuk hat nie ein Hehl aus seiner antiwestlichen Einstellung gemacht. Möglicherweise hat er Putin die Schriftsteller nähergebracht, die dieser ab den 2010er Jahren zu studieren begann. Laut einem Bericht der Zeitung The Wall Street Journal führten die beiden Männer ab März 2020 stundenlange Gespräche über den Konflikt mit dem Westen und Russlands Geschichte. Auch die von Verstka befragten Quellen bestätigen das: „Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen. Er vermied nach Möglichkeit jede Begegnung, und wenn es doch dazu kam, waren die Leute nach der zweiwöchigen Quarantäne so abgestumpft, dass kein normales Gespräch möglich war. Außerdem lässt sich aus fünfzehn Metern Abstand keine vertrauliche Unterredung führen.“
Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen
Laut einer kremlnahen Quelle war es Kowaltschuk, der Putin davon überzeugte, Europa sei von Widersprüchen zerrissen und der Zeitpunkt sei ideal für eine schnelle Operation.
Der Entschluss zur Vorbereitung der Operation fiel ein Jahr vor Beginn des Krieges, Ende Februar/Anfang März 2021. Schon im April fanden an den Grenzen der Ukraine die ersten Drohmanöver statt.
Die Vorbereitung unterlag strengster Geheimhaltung. Trotzdem war die Möglichkeit eines Krieges schon ab Sommer ein gängiges Thema im näheren Umkreis des Kreml. Am 12. Juni 2021 wurde auf der Kreml-Website Putins ArtikelÜber die historische Einheit der Russen und Ukrainer veröffentlicht. Nach den Informationen, die Verstka vorliegen, war der Artikel viele Male geändert worden. Eine Version enthielt eine offene Drohung mit einer möglichen Militärintervention, die jedoch nicht in die Endfassung einging.
Laut einem Bericht des britischen Forschungsinstituts RUSI (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies) vom 29. März 2023 begann der FSB ab Juli 2021 mit den Vorbereitungen zur Besetzung der Ukraine. Zu diesem Zweck wandelte man das 9. Referat des Ressorts für operative Information in eine vollwertige Abteilung um und erweiterte den Stab von zwei Dutzend Beschäftigten auf über zweihundert. Sie wurden in Sektionen aufgeteilt, die sich um die einzelnen Regionen der Ukraine kümmern sollten. Eine thematische Sektion befasste sich mit dem Parlament der Ukraine, eine weitere mit ihrer kritischen Infrastruktur.
Drei Monate vor dem Krieg wurde bereits besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei
Eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung berichtet, auf der Tagung des Waldai-Klubs im Oktober 2021 habe ein dort anwesender Repräsentant der staatlichen Machtorgane in privaten Gesprächen bestätigt, dass die westlichen Befürchtungen, Russland plane einen Krieg, nicht unbegründet seien: „Es stimmt, wir wollen in der Ukraine einen Regimewechsel herbeiführen.“ Dabei sei explizit von militärischen Mitteln zur Erreichung dieses politischen Ziels die Rede gewesen. Einer weiteren Quelle zufolge wurde bereits drei Monate vor dem Krieg, im Dezember 2021, besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei. In jeder Region der Ukraine sollte jeweils ein russisches Staatsunternehmen oder ein kremlnahes Privatunternehmen für die Entwicklung zuständig sein. Eine Woche vor Beginn der Invasion tagte der nichtöffentliche Expertenrat für Außen- und Verteidigungspolitik, ein einflussreiches Gremium, das dem Außenministerium nahesteht. Ein kremlnaher Politologe erklärte dort offen, im Laufe der kommenden Woche werde eine Spezialoperation starten, um einen Regimewechsel in Kyjiw herbeizuführen; sie werde nicht lange dauern.
Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde. Kowaltschuk hatte ihn von der Schwäche des Westens überzeugt, und Medwedtschuk hatte ihm eingeredet, die Ukraine sei schwach und werde sich loyal verhalten.
Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde
Eine einfache Rechnung genügt, um zu erkennen, dass kein langer Krieg vorbereitet wurde: „Man kann ein Land mit 44 Millionen Einwohnern doch nicht mit 160.000 Soldaten erobern“, staunt eine Quelle, die dem politischen Flügel der Präsidialverwaltung nahesteht. „Wer eine solche Operation mit so wenigen Streitkräften beginnt, zählt darauf, dass in der Ukraine massenhaft russlandtreue Kräfte kollaborieren. Und unter dieser Annahme wurde die Aktion in Angriff genommen, geplant und ausgearbeitet.“
Die Quellen berichten, dass viele Vertreter der Sicherheitsorgane – wie schon bei der Krim-Annexion – gegen die Invasion gewesen seien. Davon zeugen sowohl der Brief des Generalobersten und Vorsitzenden der Allrussischen Offiziersversammlung, Leonid Iwaschow, als auch Publikationen aus dem Umfeld des Verteidigungsministeriums.
Verteidigungsminister Schoigu hatte allerdings nichts gegen Putins Entscheidung einzuwenden und zeigte sich sogar erfreut. „Ihm war nicht klar, in welchem Zustand die Armee war, und er fand die Sache interessant. Er glaubte, Putin wisse mehr als er selbst, und dachte tatsächlich, es würde nicht viel schlimmer kommen als bei der Annexion der Krim“, berichtet ein alter Freund Putins. Die restlichen Eliten wurden am Tag des Einmarschs vor vollendete Tatsachen gestellt.
„Das ist ein merkwürdiger Krieg, praktisch die gesamte Elite ist dagegen. Ich spreche mit hochrangigen Leuten in Russland, in den obersten Machtetagen gibt es niemanden, der dafür wäre. Aber sie begreifen, dass sie im Team arbeiten müssen“, sagt ein ehemaliger Beamter des Kreml unter Berufung auf private Gespräche mit russischen Regierungsvertretern.
Denen, die das nicht begreifen wollen, wird klargemacht, dass sie es müssen. Nach Angaben einer Quelle suchte ein „hoher Beamter“ der Staatsduma im Frühling 2022 den Kreml-Beauftragten für die Innenpolitik, Sergej Kirijenko, auf und sagte, er könne nicht mehr und wolle aufhören. „Am nächsten Tag bekam seine Frau Besuch vom FSB, und bei seinem Sohn, der ein Unternehmen hat, tauchten Uniformierte auf. Nach einer Woche ging der Beamte wieder zu Kirijenko und sagte, er habe es sich anders überlegt.“ „Gut so“, habe Kirijenko lächelnd erwidert, um dann zur Besprechung des Tagesgeschäfts überzugehen.
Ausgerechnet am 25. März verkündete Wladimir Putin, noch in diesem Jahr Atomwaffen in Belarus stationieren zu wollen. An diesem Tag begeht die belarussische Opposition traditionell den Dsen Woli, um an die Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 und damit an die Unabhängigkeit des Landes zu erinnern. Diese sehen viele durch den Kreml bedroht, seitdem Alexander Lukaschenko sich nach den Protesten von 2020 in eine unheilvolle Abhängigkeit von Russland manövriert hat. So ließ er in einer höchst umstrittenen Reform den Passus aus der 1994 stammenden Verfassung streichen, der Belarus als „Nuklearwaffen-freie” Zone deklarierte. Zudem hatte Lukaschenko in jüngerer Zeit dem Westen häufiger damit gedroht, Belarus als Standort für russische Atomwaffen zur Verfügung stellen zu wollen.
Ganz unerwartet kommt Putins Ankündigung also nicht. Bedeutet dieser Schritt im russischen Krieg gegen die Ukraine eine weitere Eskalation mit dem Westen und der NATO? Welche Folgen hätte die Stationierung für Belarus und Lukaschenko, der jetzt schon auf verschiedenen Ebenen in den Krieg verstrickt ist? Für das belarussische Medium Zerkalo beantwortet der Politikanalyst Artyom Shraibman diese und weitere Fragen.
Wladimir Putins Entscheidung, taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren, kam nicht völlig unerwartet, schon deshalb, weil Alexander Lukaschenko im vergangenen Jahr mehr als einmal davon gesprochen hatte.
Es ist nicht das erste Mal, dass er Putin präventiv zur Eskalation einlädt, indem er aus „Der Kreml hat entschieden“ ein „Wir haben vereinbart“ macht. Genauso war es im Februar vergangenen Jahres mit den Truppenübungen, aus denen ein Krieg wurde, und im Herbst mit der Einladung russischer Truppen [nach Belarus – dek] zur Formierung einer gemeinsamen Einheit. Diese Truppe wurde schließlich zum Deckmantel für die Ausbildung russischer Mobilisierter auf belarussischen Übungsplätzen.
Interessanterweise formulierte Lukaschenko im September Bedingungen für die Stationierung von Atomwaffen im Land, die aber nicht erfüllt wurden. Damals sagte er, im Falle eines Angriffs auf Belarus oder einer Stationierung von Atomwaffen in Polen durch die USA, sollte es auch in Belarus welche geben. Als Begründung für Putins Entscheidung werden nun tatsächlich Lieferungen von Munition mit abgereichertem Uran an die Ukraine angeführt – dabei handelt es sich allerdings um Geschosse, die mit Nuklearwaffen nichts gemein haben.
Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen
Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass nicht Lukaschenko festlegt, wann und warum zum ersten Mal seit den 90er Jahren Atomsprengköpfe nach Belarus zurückkehren, seien es auch nur taktische, also von der Kraft her geringere als strategische Raketen, die zu Beginn von Lukaschenkos Regierungszeit abgezogen wurden.
Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen. Ein Vergleich des militärisch-industriellen Potenzials Russlands und seiner Verbündeten auf der einen und der Koalition der Verbündeten der Ukraine auf der anderen Seite ist unmöglich. Eine Niederlage in diesem Krieg kann Putin nur durch die Müdigkeit oder den Unwillen des Westens abwenden, die ukrainischen Streitkräfte mit Waffen zu beliefern. Besondere Bedeutung hätte eine Unterbrechung der Lieferungen vor der nächsten ukrainischen Offensive.
Alle Optionen für eine nichtatomare Eskalation hat Putin ausgeschöpft. Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch auf dem Schlachtfeld geführt, im Rahmen der russischen Winteroffensive wurden einige wenige zerstörte Kleinstädte und Dörfer bei Awdijiwka und Bachmut eingenommen. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet. Eine zweite Mobilisierungswelle kann nicht so schnell und einfach verlaufen wie die erste. Alle, die kämpfen wollten oder auf das schnelle Geld hofften, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits an der Front. Immer mehr russische Einheiten beklagen einen Mangel an Waffen. Allem Anschein nach gibt es nicht mehr genug Raketen und Drohnen, wie noch im Oktober und November, als massiv und regelmäßig geschossen wurde. Und ihre Effektivität wird von der mit westlichen Systemen gepäppelten ukrainischen Flugabwehr zunichte gemacht.
Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch geführt. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet
Bleibt also die atomare Drohung. Putin hat nicht zufällig eine klare Deadline formuliert: Die Basis für die taktischen Nuklearsprengköpfe in Belarus wird bis zum 1. Juli fertig sein. Iskander-Marschflugkörper stehen bereit, Piloten bilden wir aus, und dann werden die Nuklearwaffen in 200 bis 300 Kilometer Entfernung von Kyjiw stehen. Voilà, NATO, drei Monate Zeit, denkt euch was aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen mit der Wimper zuckt, ist minimal. Im Laufe der letzten Monate ist seine Entschlossenheit, die Ukraine mit Waffen und Gerät zu beliefern, nur gewachsen. Und das bedeutet, dass wir zur Jahresmitte hin tatsächlich die demonstrative Stationierung von russischen Nuklearwaffen in Belarus erleben werden.
Für uns wird das Folgen auf mehreren Ebenen haben: militärisch, außen- und innenpolitisch.
Die Belarussen lehnen jegliche Eskalation ab
Stellt man sich einen Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges auf der Ebene einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland vor, dann gibt es aus militärischer Sicht keinen Zweifel, dass Depots, Abschussvorrichtungen und Militärflugplätze auf belarussischem Gebiet zum Ziel (mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem der ersten Ziele) von NATO-Raketenschlägen werden. Die Stationierung von Nuklearwaffen beseitigt die Ungewissheit in dieser Frage: Niemand wird eine solche Bedrohung in der Nähe von Warschau, Vilnius, Kyjiw und Riga zulassen.
Innenpolitisch bedeutet die Stationierung russischer Atomwaffen für Minsk einen Schritt neuer Qualität in Richtung der intensiveren Beteiligung am russischen Krieg. Fast ein halbes Jahr lang hat Lukaschenko sich damit zurückgehalten. Im Oktober waren tausende russische neumobilisierte Soldaten ins Land gekommen, dafür hatte es seitdem keinen bestätigten Beschuss der Ukraine von belarussischem Territorium und Luftraum aus gegeben.
Dadurch, dass das Maß der Kriegsbeteiligung nicht weiter eskalierte, konnte Minsk im westlichen Lager Zweifel säen, ob die Sanktionen gegen Russland und Belarus nicht entsprechend angeglichen werden sollten. Polen und die baltischen Staaten bestehen darauf, doch die Ukraine, viele europäische Staaten und sogar die USA halten eine Differenzierung zwischen Putin und Lukaschenko für sinnvoll. Einige EU-Mitglieder setzen sich gar dafür ein, belarussisches Kali von Sanktionen auszunehmen.
Die Stationierung von Atomwaffen in Belarus wird die Position der prorussischen Hardliner ganz offensichtlich stärken. Denn es ist ein klares Signal an den Westen, dass es nichts gebracht hat, auf neue Sanktionen gegen Belarus zu verzichten – Lukaschenko hat es nicht davon abgehalten, sich Russland militärisch weiter anzunähern. Es ist gut möglich, dass sowohl die EU als auch die USA die drei Monate, die Putin ihnen als Bedenkzeit zugesteht, nutzen werden, um Lukaschenko ebenfalls Bedenkzeit zu geben, ob er weitere Ergänzungen in seinem Paket von Sanktionspaketen haben will. Doch da Minsk in diesen Fragen ganz klar nicht das Entscheidungszentrum darstellt, ist schon jetzt klar, worauf die gegenseitigen Reaktionen abzielen werden..
Genauso vorhersehbar wird die Bewertung dieses Schritts in der belarussischen Bevölkerung sein. Meinungsforscher sind zwar uneinig, inwieweit Umfragen in einer Diktatur zu Kriegszeiten belastbar sind, doch in einigen Fragen zweifelt niemand die Existenz eines nationalen Konsenses (oder etwas, was dem sehr nahekommt) an. Ein Beispiel ist, dass eine erdrückende Mehrheit der Belarussen eine Beteiligung der eigenen Armee am Krieg in der Ukraine ablehnt. Zu diesem Ergebnis kommen absolut alle Umfragen, sowohl telefonisch als auch online, die seit Anfang 2022 durchgeführt wurden, und es bleibt von Monat zu Monat stabil. Es besteht kein Spielraum für Ergebnisverzerrungen.
Bei der Frage der Stationierung von Atomwaffen in Belarus sieht es ähnlich aus. In Umfragen, die Chatham House im Zeitraum von März bis August 2022 durchführte, war nur jeder Fünfte bereit, eine solche Entscheidung zu unterstützen, 80 Prozent sprachen sich dagegen aus. Aktuellere Daten gibt es nicht, doch berücksichtigt man die stabilen Ergebnisse des ersten Kriegshalbjahres, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich danach eine grundsätzliche Veränderung ergeben haben könnte.
Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen
Die Ursachen für diese Einstellung liegen auf der Hand. Selbst viele prorussische Belarussen, die Putins „Spezialoperation“ befürworten (ihr Anteil liegt in diesen Umfragen bei 35 bis 40 Prozent), verstehen, wie riskant es ist, Brückenkopf für Nuklearwaffen zu sein. Diejenigen, die neutraler oder proukrainisch eingestellt sind, begreifen das ohnehin. Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen. Selbst wenn man eine maximal effektive Wirkung des Fernsehens annimmt, wird höchstens ein Viertel oder ein Drittel der belarussischen Bevölkerung diese Maßnahme befürworten, was Lukaschenko mit einer Minderheit zurücklässt.
Langsam erodieren wird hingegen die Unterstützung, die die Regierung einigen Umfragen zufolge dank des gestiegenen Interesses der Belarussen an Frieden und Nichtbeteiligung am Krieg gewonnen hatte.
„Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“
Lukaschenko hat bereits eine in der Bevölkerung unpopuläre Entscheidung getroffen, als er das Aufmarschgelände für den Angriff und Beschuss der Ukraine bot (laut Daten von Chatham House unterstützten das nur 10 bis 15 Prozent). Damals entschied die Regierung klugerweise, diese Raketenangriffe zu verschweigen, und die Propaganda fokussierte sich darauf, dass Belarus Vorschläge für Friedensinitiativen einbringt, keine Soldaten an die Front schickt und ukrainische Flüchtlinge aufnimmt.
Über das tatsächliche Maß der belarussischen Beteiligung am Krieg erhielten so nur diejenigen regelmäßig Informationen, die im Süden von Belarus lebten, von wo die Raketenangriffe geführt wurden, und die immer geringer werdende Zahl von Rezipienten unabhängiger Medien. Doch wie soll man vor dem loyalen, politisch uninteressierten Fernsehzuschauer eine solche Nachrichtenbombe wie die Stationierung von Nuklearwaffen im Land verbergen? Vor allem, wenn Putin offen davon spricht und Lukaschenko das Thema schon seit einem Jahr antreibt. Daher wird die Regierung eher versuchen, „aus Gebrechen Großtaten zu machen“, wie es der Oberst im Kultfilm DMB formuliert, und ihren Befürwortern etwas erzählen wie: „Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“, und „denen machen wir die Hölle heiß.“
Lukaschenko schafft selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen
Doch Militarismus kann keine Bevölkerung beruhigen, die sich auf die Forderung nach Frieden und Ruhe geeinigt hat. Angst und Sorge sind scheußlich, selbst wenn der Schützengraben, in dem du sitzt, dir moralisch nahesteht – wenn deine Hauptforderung ist, überhaupt nicht in Schützengräben zu sitzen. Je mehr Lukaschenko mit einem Anstieg der Kriegsgefahr für Belarus assoziiert wird, desto größer werden auch die potenziellen Chancen für Politiker – heute oder in der Zukunft – die Vorschläge machen, wie die Gefahren und die dadurch ausgelösten Ängste abnehmen können.
Indem er in einem fremden Krieg den Verbündeten spielt, schafft Lukaschenko selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen. Und zwar nicht, weil die Wirtschaft nicht läuft oder die Sicherheitskräfte über die Stränge schlagen, sondern aus demselben Grund, aus dem sie ihn damals gewählt haben. Damit im Land Frieden und Stabilität herrschen.
Das kürzlich veröffentlichte „offizielle Strategiepapier“, in dem die schrittweise Einverleibung von Belarus bis 2030 durch Russland skizziert wird, scheint weiteres Unheil für Alexander Lukaschenko zu bedeuten. Auch wenn viele der darin enthaltenen Pläne alles andere als neu sind. Die Integration von Belarus in den Unionsstaat wird vor allem seit 2021 auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene mit Nachdruck umgesetzt. Entsprechend zurückhaltend äußerte sich der belarussischen Machthaber zu dem bekannt gewordenen Papier: „Russland hat seine eigene Strategie, so auch in Bezug auf Belarus – um mit seinen Brüdern in Frieden und Freundschaft zu leben.“ Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor einem Jahr, der gerade am Anfang auch vom belarussischen Territorium aus geführt wurde, sehen nicht wenige Analysten die Souveränität von Belarus ohnehin als höchst gefährdet an. Lukaschenko hat sein Land seit den historischen Protesten von 2020 in eine Situation manövriert, in der es aus dem Zugriff von Russland kaum noch ein Entrinnen zu geben scheint.
Was bedeutet diese Situation und insgesamt der Krieg, in den sich Lukaschenko heillos verstrickt hat, für Belarus und die Zukunft des Landes? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski zieht ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion für das Online-Medium Pozirk umfassend Bilanz.
Vor einem Jahr hat Russland versucht, von belarussischem Territorium aus Kiew einzunehmen. Der am Morgen des 24. Februar begonnene „Blitzkrieg“ wuchs sich zu einem langwierigen Krieg aus, der zur Gefahr für Russland wurde und in dem Lukaschenkos Regime sich als Unterstützer des Aggressors wiederfand. Trotz allem gelingt es dem belarussischen Präsidenten aber bislang, einer Entsendung eigener Truppen in den Kampf gegen die Ukrainer auszuweichen.
Darüber hinaus hat die belarussische Regierung sogar einigen finanziellen Gewinn aus dem Status des einzigen Verbündeten der Russischen Föderation gezogen. Der Preis dafür ist im Gegenzug jedoch die immer stärkere wirtschaftliche und politische Bindung an den Kreml.
Die Wirtschaft hält stand, doch der Preis ist die immer größere Abhängigkeit von Moskau
Der westliche politische Mainstream neigt zu der Einschätzung, dass Lukaschenko die Eigenständigkeit praktisch verspielt hat und vollständig zur Marionette Moskaus geworden ist. Dem Anführer des belarussischen Regimes selbst ist das unangenehm, er versucht, sich als potentieller Friedensstifter darzustellen.
Heute zeichnet sich ab, dass Belarus dank russischer Unterstützung die Auswirkungen der westlichen Sanktionen für die Kriegsbeteiligung abmildern konnte. Die apokalyptischen Prognosen einer Reihe von Experten sind nicht eingetreten: Das BIP fiel im vergangenen Jahr nur um 4,7 Prozent. Das ist unangenehm, aber längst keine Katastrophe für das Regime, ein wirtschaftlicher Spielraum bleibt erhalten. Staatsbeamte prahlen mit einem „historisch hohen“ Außenhandelsüberschuss von etwa 4,5 Milliarden Dollar.
Minsk erhält von 2023 bis 2025 günstiges Gas (128,52 USD pro 1000 Kubikmeter) – früher mussten in der Weihnachtszeit stets aufs Neue Preiskämpfe geführt werden. Außerdem wurden Steuererleichterungen für die Erdölraffinerien (deren Rentabilität sich dadurch erhöht) sowie ein Aufschub der Schuldenrückzahlungen erwirkt.
Lukaschenko klammerte sich euphorisch an die Idee der Importsubstitution. Belarus erhielt in diesem Kontext einen Kredit in Höhe von 105 Milliarden Russischer Rubel (1,3 Milliarden Euro). Dafür bietet Minsk beispielsweise seine Mikroelektronikprodukte an und ist gar bereit, Kampfflugzeuge vom Typ Su-25 zu produzieren.
Belarussische Mikrochips, das gibt Lukaschenko zu, sind im weltweiten Produktvergleich ziemlich klobig. Doch Moskau ist durch die Sanktionen und den Weggang westlicher Firmen im Moment nicht in der Position, die Nase zu rümpfen. Deshalb nehmen die russischen Nachbarn viele belarussische Waren – sowohl für den militärischen, als auch für den zivilen Bedarf – mit Kusshand.
Dank Moskau konnte Belarus einen Teil seines Exports retten, nachdem ein ordentliches Stück des Handels mit Europa und der gesamte Handel mit der Ukraine weggefallen waren. Kalium geht zum Beispiel nun nach China, auf dem Landweg und per Schiff über Russland. Minsk wurde sogar großzügig ein Liegeplatz im Hafen Bronka bei Sankt Petersburg zugesprochen.
Doch all das geschieht zum Preis einer stärkeren Abhängigkeit von Russland, mit dem bereits mehr als 60 Prozent des Außenhandels laufen. Auch die Abhängigkeit im Transitbereich erhöht sich fatal. Minsk muss 28 Unionsprojekte umsetzen, die auf eine stärkere, auch institutionelle, Anbindung der belarussischen Wirtschaft an die russische abzielen.
Der Krieg hat dem Prozess der „Unionsintegration“ die Sporen gegeben, an dessen Ende die Einverleibung droht. Auch für eine neue belarussische Regierung würde es höchst kompliziert, diese Schlinge zu lösen.
In Belarus walten russische Generäle
Besonders traurig steht es um die militärische Souveränität und die Außenpolitik (von der vielgepriesenen Multivektoralität ist kaum noch etwas geblieben). Lukaschenko bleibt zwar Oberbefehlshaber der Streitkräfte, faktisch walten auf belarussischem Territorium jedoch russische Generäle. Unter dem Vorwand des Aufbaus einer gemeinsamen regionalen Armee-Einheit holen diese russischen Generäle jetzt ihre „Mobilisierten“ nach Belarus, um morgen (vielleicht nicht direkt morgen, die Formation einer Angriffstruppe braucht Zeit) wieder einen Angriff auf die Ukraine von Norden her zu starten.
Unabhängige Analytiker sind sich einig, dass der belarussische Präsident, sollte Wladimir Putin ihm die entscheidende Frage stellen, die eigene Armee in den Krieg schicken würde, ob er will oder nicht. Damit kann man gleichzeitig die gängige These anzweifeln, der Kreml würde Belarus in dieser Frage ohnehin schon in den Schwitzkasten nehmen wollen. Wenn er das wirklich wollte, hätte er es schon längst getan. Putin demonstriert seinen Standpunkt offen: Im Dezember flog er nach Minsk, machte viele teure Geschenke finanzieller und wirtschaftlicher Natur. Das erweckt nicht gerade den Anschein eines weiteren Konflikts zwischen den Erbverbündeten. Zu Konfliktzeiten hat Moskau den Geldhahn zugedreht.
Vermutlich konnte Lukaschenko seinem Moskauer Gegenüber bislang überzeugend vermitteln, dass Belarus besser als Aufmarschgebiet, Truppenübungsplatz und Lieferant dringend nötiger Produkte dienen kann, anstatt die belarussischen Spezialeinsatzkräfte (andere kampfbereite Einheiten gibt es kaum) an der ukrainischen Front in Hackfleisch zu verwandeln. Und außerdem, lieber Wolodja, schützen wir deine Spezialoperation davor, dass das niederträchtige NATO-Messer im Rücken landet! Ein Kriegseintritt, ganz ehrlich, könnte auch die innenpolitische Situation auf unserer kleinen Insel der Stabilität kippen lassen.
Natürlich kann Putin, dessen Rationalismuslevel viele Analytiker bis zum 24. Februar 2022 stark überschätzten, diese Argumente jederzeit vom Tisch wischen und seinem Verbündeten sagen: Nein, Bruder, genug der Umschweife und genug im Hinterland herumgedrückt! Wir gehen gemeinsam in die entscheidende Schlacht! Und Lukaschenko hat immer weniger Ressourcen, sich dem imperialen Draufgänger zu widersetzen.
Der Opposition fehlen starke Hebel, dem Regime die Manövrierfähigkeit
Auch die politische Opposition, die seit den Ereignissen 2020 ihre Geschäfte im Ausland führt, hat kaum Möglichkeiten, einen belarussischen Kriegseintritt abzuwenden. Von den Möglichkeiten, einen Regimewechsel zu bewirken, ganz zu schweigen.
Unter den Bedingungen der irrsinnigen Repressionen, in einer von unmäßiger Angst gezeichneten Gesellschaft, ist es unrealistisch, einen Partisanenkampf zu führen oder den Plan Peramoha [dt. Sieg] umzusetzen. Das gibt auch das Übergangskabinett von Swetlana Tichanowskaja zu. Das belarussische Freiwilligenkorps Kastus Kalinouski, das auf Kiews Seite kämpft, verspricht, später auch das eigene Land von der Diktatur zu befreien. Doch aus heutiger Sicht ist das eine poröse und nebulöse Perspektive.
Dabei ist offensichtlich, dass das Kalinouski-Korps nicht nur die belarussische Ehre auf dem Schlachtfeld gegen das Imperium rettet, sondern bereits zum politischen Phänomen geworden ist. Das Gerangel um die Sympathie des Korps (der politische Veteran Senon Posnjak will im Verbund mit dem Korps ein neues Zentrum der Opposition, den „Sicherheitsrat“, gründen) droht die Spannungen in der politischen Emigration nur zu vergrößern. Kiew seinerseits spielt mit dem Korps und ignoriert Tichanowskaja faktisch. Lukaschenko wiederum versucht diese Realpolitik der ukrainischen Regierung auszunutzen, um sein eigenes Spiel mit ihr zu spielen (vor Kurzem ließ er versehentlich einen geheimen Nichtangriffspakt durchblicken). Doch auch der Kreml überwacht dieses Spiel und ließ dem gerissenen belarussischen Partner aus dem Mund des Außenministers Sergej Lawrow eine verdeckte Notiz zukommen.
Die Knute des Kreml, das Etikett des Ko-Aggressors, aber auch der politische Terror im eigenen Land (den der Führer nicht beenden mag), begrenzen die Manövrierfähigkeit des Minsker Regimes in Richtung Westen. Wenngleich einige in Europa (erwähnt sei hier der kürzliche Besuch des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó in Minsk) eine Sondierung des Feldes nicht ablehnen. Doch die Zeiten, in denen Lukaschenko die geopolitische Schaukel flott anschob, sind vorbei. Die Schwelle zum Westen liegt für den toxischen belarussischen Regenten momentan außerordentlich hoch.
Der Kriegsausgang kann ein Fenster für Veränderungen öffnen
Wenngleich dieser Krieg für viele unerwartet hereingebrochen ist, nähert sich Lukaschenkos langjähriges Spiel mit dem Imperium einem vorhersehbaren Finale. Er hat sich im imperialen Casino glattweg verzockt. Der Krieg wurde dabei zu einem mächtigen Katalysator für den zerstörerischen Prozess der schleichenden Einverleibung, vergrößerte die Kluft zwischen dem belarussischen Zarenregime und der demokratischen Welt.
Darüber hinaus hat die Reputation der Belarussen, deren Image durch die starken Proteste 2020 aufgewertet worden war, stark gelitten, das Verhältnis der Ukrainer zu ihnen hat sich verschlechtert, im Ausland ist Diskriminierung zu beobachten. Dank verdienen Tichanowskajas Team und andere demokratische Kräfte, die zeigen, dass Lukaschenkos Regime nicht mit dem belarussischen Volk gleichzusetzen ist.
Der Herrscher aber, auch wenn ihn wohl das Gespenst von Den Haag plagt, beweist auch in der aktuellen Situation der höheren Gewalt virtuosen Einfallsreichtum. Sollte Putins Regime durch eine Niederlage in der Ukraine ins Wanken geraten, wird sein Verbündeter wohl versuchen, sich so weit wie möglich von der leckgeschlagenen russischen Titanic zu entfernen. Ein Sieg der Ukraine würde auch ein Fenster für einen Regimewechsel in Belarus eröffnen. Denn das Regime stützt sich nur auf zwei Dinge – die schrecklichen Repressionen und Moskau. Wird Moskau schwächer, leiden auch die Ressourcen der belarussischen Diktatur.
Doch der Ausgang dieses Krieges ist bislang schwer vorhersehbar. Das erste blutige Jahr hat geendet, das zweite verspricht bislang, nicht weniger blutig zu werden.
Aliaxey Talstou, 1984 in der belarussischen Hauptstadt Minsk geboren, hat sich in seiner Heimat als Künstler, Kurator von Ausstellungen und als Autor einen Namen gemacht. In seinen künstlerischen Arbeiten beschäftigt er sich mit sozialen und politischen Themen sowie mit den Herausforderungen, die sich durch die Digitalisierung der Kommunikation ergeben. Seit 2009 hat Talstou, der mittlerweile in Deutschland lebt, zudem vier Romane geschrieben sowie Texte und Essays in belarussischen Literaturzeitschriften veröffentlicht.
In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung rauscht Talstou durch verschiedene Etappen der belarussischen Geschichte, um herauszufinden, warum es zu den Protesten des Jahres 2020 kommen musste und warum sie letztlich doch nicht die alte Ordnung beseitigen konnten. Und er fragt sich: Wie kann es nach so viel Gewalt, Leid und vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine weitergehen für Belarus? Welches politische System wäre denkbar? Welche Zukunft ist überhaupt möglich? Lässt sich dies in einer Zeit der Zerrüttung überhaupt beantworten?
Ich habe kaum mehr ein Gefühl für Belarus, es ist sehr weit weg. Als stünde ich morgens auf einer Wiese und versuche, im Nebel etwas zu erkennen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, und im feuchten Morgengrauen erahne ich nur seine Umrisse, bilde Erinnerungen daran nach. Das ist nicht leicht, und manchmal scheint mir, ich hätte all das nur in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen. Ohne neue Nachrichten, ohne Aktualisierung der gespeicherten Informationen verbirgt sich die Erinnerung im Nebel.
Als nächstes frage ich mich, was ich dort überhaupt zu entdecken versuche. Worum geht es eigentlich? Um ein abstraktes Land aus Dokumenten und Normen, um eine Ansammlung von kulturellem Erbe, um ein Territorium, das nie ein Selbstbestimmungsrecht haben wird, oder um eine Nation, die irgendetwas zwischen einem Umschlagplatz von Werten ist und dem verzweifelten Versuch, die Einsamkeit des individuellen menschlichen Lebens zu überwinden? Ich versuche, meine Vergangenheit zu erkennen, meine Verbindung zu anderen Menschen, zu Orten, in diesem Nebel mein früheres Selbst.
Und doch steckt etwas Vulgäres in dem Versuch, seine persönliche Biografie mit der Geschichte zu vermischen. Vielleicht ist es auch spannend, in der Kunst gibt es durchaus brillante Beispiele, in denen der Krieg von nur einem kleinen Menschen erlebt wird. Aber der Mensch ist stets mehr als Geschichte oder Geografie, mehr als Ideologie … Schaut man genau hin, wird man im selben Nebel statt der Geister der Vergangenheit die Geister der Zukunft finden. Doch inwieweit sich meine Zukunft mit der Zukunft irgendeines konkreten Landes deckt – da bin ich mir nicht sicher. Der Nebel der Zeit ist unsere gemeinsame Vorsehung, unabhängig vom Pass.
Es ist rührend und tragisch, wie die Menschen mit ihrer Nationalität umgehen – was soll das Ganze. Rührend, weil man selten so eine Ehrlichkeit, so eine Besessenheit sieht, wie wenn jemand sich bemüht, uneingeweihte Gesprächspartner in Sachen Belarus weiterzubilden: wo es sich befindet, wie schlimm es dort ist, dass es die Revolution gab, die aber verloren wurde, und über die Menschenrechte und die politischen Gefangenen. Ich versuche mich zusammenzunehmen und nicht aufzugeben. Sonst wird daraus ein Free Theatre mit nur einem Darsteller. Darin steckt eine Tragik, denn für die Mehrheit der normalen Weltbewohner bleibt das Weiße Russland ein kaum bekanntes und nicht allzu interessantes Abstraktum.
Der segensreiche und schreckliche August 2020 war voller Zukunft. Die alte Ordnung schien vor unseren Augen zu zerfallen
Ein noch größeres Abstraktum ist allerdings Russland selbst. Einem populären Scherz Putins zufolge hat das Land keine Grenzen, und das entspricht seltsamerweise den recht allgemeinen Vorstellungen des Durchschnittseuropäers oder überhaupt Erdbewohners, denn kaum einer interessiert sich für Details. Belarus oder ein ähnliches Gebilde wird erst dann Gestalt annehmen, wenn das Imperium zu bröckeln beginnt. Wenn das Zentrum seine Anziehungskraft, seine Macht und seine Fähigkeit verliert, die Abstraktion aufrechtzuerhalten. Wenn die Geopolitik und die großen Narrative ins Schlingern geraten, tauchen neue Akteure auf, schwarze Schwäne. So war es 1918, als während des Ersten Weltkrieges unter deutscher Okkupation die BNR [Belarussische Volksrepublik] proklamiert wurde, so war es 1991, als die Sowjetunion zerbrach. Der heutige Krieg kann ebenfalls in diese Kategorie fallen.
Doch momentan scheint die Zeit stillzustehen, und der Planungshorizont ist auf Wochen verkürzt. Zwei Jahre Überlebenskampf, die letzten neun Monate rabenschwarze Finsternis. In solchen Zeiten zu versuchen, etwas im Nebel zu erkennen, ist ein mutiges Unterfangen. Vor einem Jahr konnte man Diskussionen über das Belarus der Zukunft noch mit vollem Ernst und ohne Konjunktiv führen. Heute sind die Stimmen verhaltener, weil klar ist, dass nicht alle in die Zukunft mitgenommen werden. „Ins Pionierlager der Schule fahren im Sommer nur diejenigen, die es verdient haben. Die anderen bleiben hier“, so schreibt der Künstler Ilya Kabakov in seinem bekannten Text über den sowjetischen Schuldirektor und die Vorgesetzten, die entscheiden, wer eine Zukunft verdient hat und wer nicht. Wer entscheidet das heute?
Der segensreiche und schreckliche August 2020 war voller Zukunft. Die alte Ordnung schien vor unseren Augen zu zerfallen, niemand schien mehr so recht an sie zu glauben und wir dachten, in wenigen Tagen wäre alles zu Ende. Etwas wie Freiheit lag in der Luft. Im Affekt hofften einige hunderttausend Menschen nicht nur auf Veränderung, sondern sie wussten, dass er da ist, der Point of no return, dass sie selbst diese Veränderung waren. Damals und kurz danach wurden viele Texte über den Sieg geschrieben, wurde über vieles gesprochen. Aber dann begann der Krieg, und das Wort „Sieg“ erhielt eine andere Bedeutung.
Welche Alternativen gab es damals? Die Wahl zwischen einer unendlichen Sowjetzeit und einer national-liberalen Ungewissheit. Für das allgemeine Volk war es eher die Wahl zwischen Altem und Neuem, zwischen Autoritarismus und Demokratie, diesen einfachen, bewährten Dingen. Mir war es dennoch nicht gelungen, mein Herz und meine Stimme rückhaltlos einer der angebotenen Alternativen zu geben. So gern ich auch flammend geglaubt hätte, war es doch nur …, aber es wurde nur ein Kompromiss mit mir selbst, denn die Forderung nach Veränderungen kollidierte sofort mit der Option der regionalen Geopolitik: Russisches Imperium oder Empire nach Hardt und Negri, noch dazu mit einer Vorliebe für Realia aus den postsowjetischen Neunzigern.
Schade, dass diese ganze Geschichte den traditionellen Werten des zwanzigsten Jahrhunderts verhaftet bleibt und die Gegenwart eher unwillig annimmt. Letztlich ist das aber heute auf der ganzen Welt so. In Belarus überdauert das 20. Jahrhundert in den sowjetischen Elementen des Offiziösen. Diese Tradition spricht also die ältere Generation an, die in den 1990ern drastische Veränderungen fürchtete und in angelernter Angst aufwuchs, indem sie vor dem Fernseher saß und alles für bare Münze nahm. Mir hat schon immer gefallen, wie beiläufig die Staatsideologie die Nachfolge der BSSR antritt, eines kolonialen Gebildes der Bolschewiki als Antwort auf Volksrepubliken wie die BNR und auf das Erstarken der osteuropäischen Nationen während des Ersten Weltkriegs. Diese Selbstkolonisierung fast direkt nach dem Zerfall der Sowjetunion, dieses Spiel mit der künstlich zurückgedrehten Zeit, mit der Restauration verdient eindeutig den ersten Preis in der Kategorie Erinnerungspolitik. Man könnte es fast als Kunstströmung betrachten, als tragisches Museumsdorf, oder einen Vergnügungspark wie in der Serie Westworld. Allerdings ist das Leben in der Fiktion unbequem, und noch viel unbequemer ist es, in ihrem Remake zu leben, in einer Fiktion zweiter Klasse.
Als Viktar Babaryka im Wahlkampf 2020 vorschlug, die Verfassung in der Version von 1994 wieder einzuführen, war das auch schön. Einen neuen Start wagen, die postsowjetische Periode noch einmal von vorn beginnen, und nun die Sache wirklich zu Ende bringen. Formal war das gar keine so schlechte Idee, aber die Symbolik darin wirkte recht performativ, was wohl auch Absicht war. Für viele war 2020 eine Offenbarung, etwas Neues. Die Menschen hielten sich physisch im öffentlichen Raum auf, gemeinsam, sie sahen einander, und das war eine Überraschung. Andererseits folgte 2020 einer Tradition, die in der belarussischen Gesellschaft nicht minder verankert ist als das Narrativ der staatlichen Fernsehsender. Das ist die Tradierung einer (Art) Volksrepublik, die dem klassischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts entsprang und über viele Jahrzehnte im Untergrund oder Halbuntergrund existierte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hätte sie sich schnell wieder erheben und zum vollwertigen Nationalstaat werden müssen, aber etwas ging schief, und die Form blieb unvollendet. Die letzten zwanzig Jahre erfuhr diese Idee eine Evolution, erlebte Abenteuer, zeigte sich in Straßenprotesten, aber hauptsächlich sammelte sie ihre Kräfte in alternativen Kulturräumen, sozialen Initiativen, Medien und Trends. Dennoch ist sie ihrem Wesen nach eher diesem klaren und bekannten national-liberalen Modell verhaftet geblieben, das aus der Jugendzeit der oppositionellen Leitfiguren, die in der Mitte und zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Straßen rockten.
Auf der Suche nach der Zukunft irre ich im Nebel herum und kann schwer sagen, ob sie vor oder hinter mir liegt
Als Teenager durfte ich die letzte Phase dieser Welt noch miterleben, 2000–2001 in Minsk. Für die subkulturelle Jugend war das eine Verquickung aus belarussischer Rockmusik, Partys und Straßenprotesten, eine Zeit der kulturellen Revolte gegen das alte System, die sowjetischen Überreste, die absolut idiotisch und sinnlos erschienen. Es war eine gute Zeit, um erwachsen zu werden und die erste politische Skepsis zu entwickeln. 2020 war diese Generation zwischen 35 und 45 Jahre alt, und mir scheint, dass in ihrem Protest auch ein nostalgisches Element steckt, eine leichte Trauer um die Hoffnungen, die doch nie wahr geworden sind. Die Zukunft, nach der sie sich damals sehnten, die sie auch tatsächlich lebten, die mit der Unabhängigkeit gekommen war – sie erhielt dreißig Jahre später eine zweite Chance.
Im vergangenen Jahr weckte ein Kommentar der Philosophin Tatiana Shchyttsova zu einer öffentlichen Diskussion zum Thema „Wirtschaftliche Reformen im neuen Belarus“ mein Interesse. Eine Frage, die sie sich nach dem Gespräch stellte – Welchen Typ des Kapitalismus wollen wir aufbauen? – klingt auch heute überaus aktuell. In ihrem Beitrag macht Shchyttsova auf die heftige Reaktion der anderen Podiumsteilnehmer auf das von ihr verwendete Wort „Kapitalismus“ aufmerksam. An der Verbindung der Wirtschaft mit Marktreformen und Privatisierung wird man nicht vorbeikommen. Viele der ersten Mitglieder des Koordinierungsrates repräsentierten die alte Wirtschaft, die paradoxerweise Arbeiter zum politischen Streik aufriefen. Das Problem ist nicht so sehr die Irrationalität solcher Aufrufe – in Momenten der Krise sind Analytik und Scharfsicht ein Luxus. Die zentrale Frage ist, ob der Protest 2020 im ideologischen Sinn radikale Transformationen angeboten hat oder doch nur die Rückkehr in eine alternative Vergangenheit, eine Änderung des Drehbuchs und eine Normalisierung der Geschichte?
In diesem Gegensatz zwischen „Gut und Böse“, den ich immer noch im Nebel zu erkennen versuche, sehe ich trotzdem Kabakovs Schule mit ihren archetypischen Charakteren. Mit dem dauerstörenden Fünferkandidaten und dem fleißigen Lieblingsschüler. Wer wird mitgenommen in die Zukunft? Keiner. Erstens – sie haben es nicht verdient. Zweitens ist das Sommerpionierlager hier Teil einer pädagogischen Methode, wie die Möhre für den Esel. Und drittens, weil alle beide an die Existenz der Schule und des Direktors glauben, mitsamt ihren Regeln, die man befolgen oder auch brechen kann. Von der Schule hat uns vor fünfzig Jahren auch Foucault sehr detailliert erzählt. Interessanterweise kamen vor fünfzig Jahren auch die wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten der Chicagoer Schule in Mode und riefen das neoliberale Modell ins Leben. In den Neunzigern „endete“ die Geschichte genau in dieser Tonlage, doch gerade die postsowjetische Privatisierung und Schocktherapie funktionierten in Belarus nicht im selben Maße wie in der Ukraine oder Russland, weil die lokale Zeit zurückgedreht wurde. Natürlich nicht ganz zurückgedreht, denn statt multinationale Konzerne anzusiedeln, wurde das Land selbst zum Konzern.
Auf der Suche nach der Zukunft irre ich im Nebel herum und kann schwer sagen, ob sie vor oder hinter mir liegt. Das Russische Imperium zerfällt weiterhin, daher verschieben sich die Grenzen der Einflusssphären. Hier wiederholt sich der Zerfall früherer Imperien, doch das Imperium als Schuldirektor, als globales gesellschaftspolitisches Beziehungsmodell, in dem die Staatsmacht alles bis ins Letzte durchdringt, wird nicht abgeschafft. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass Belarus oder Osteuropa 2020 beziehungsweise auch jetzt keine Wahl hatten oder haben. Die freiwillige Unterordnung unter einen Aggressor und Ethnozid kann wohl kaum ernsthaft in Betracht gezogen werden. Diese Option ist nur in einer von der Wirklichkeit abgekoppelten, rituellen Kritik der westlichen Linken denkbar, die sich in völliger Ignoranz der eigenen Privilegien gegen die Erweiterung der NATO und die Unterstützung der Ukraine mit Waffen aussprechen. Als hätte die Ukraine oder jemand hier [in Belarus – dek] gerade eine andere Wahl.
Deshalb ist noch lange nicht garantiert, dass die Einserschüler mit ins Sommerlager fahren dürfen. Das Tempo der Waffenlieferungen in die Ukraine, das Hinauszögern von Terminen, die Unwilligkeit des Westens, auf einen schnellen Sieg zu setzen, erinnern mich ein wenig an Naomi Kleins Katastrophen-Kapitalismus. Eine maximal kontrollierte Schwächung von Russland und Belarus einerseits und die vorhersehbare Schwächung der Ukraine infolge des Krieges andererseits machen sie zukünftig alle abhängig von Investitionen von außen, binden ihnen die Hände und führen in gewissem Sinne zu einem Reload der Neunziger.
Man darf nie das Potenzial der Vision unterschätzen, denn was erdacht werden kann, kann auch sehr schnell eintreten
Eine der wahrscheinlich am wenigsten verstandenen Lehren des Jahres 2020 ist die netzwerkartige Struktur der zivilgesellschaftlichen Bewegung und ihr Streben nach Selbstkoordination. Die Menge an Selbstorganisation, Telegram-Chats und vielfältigen Unterstützungsinitiativen deckte wirklich ein sehr breites Spektrum ab, von eher zentralisierten Plattformen wie Golos bis hin zu den Innenhofchatgruppen von eher spontaner Natur. Die Wahlkampfteams der Kandidaten und die traditionelle Opposition waren darauf nicht vorbereitet und handelten daher halb nach Plan, halb aufs Geratewohl, ließen sich eher von der Erfahrung als vom Augenblick leiten. Denn auch wenn es um einen neuen Präsidenten und den Sturz des Regimes ging, sprach der August 2020 die Sprache der Dezentralisierung, der Nichtnotwendigkeit einer Autorität oder repräsentativen Figur. Wenn bei den Präsidentschaftswahlen eine absolut zufällige Person gewinnen kann, dann steht die Institution des Präsidentenamtes an sich in Frage. Wenn sich die Schüler ihr Pionierlager selbst organisieren können, wozu dann der Direktor? Und im Umkehrschluss: Solange der Schuldirektor existiert, existiert auch die infantile Masse, die unfähig ist, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.
Die Selbstorganisation des Jahres 2020 war die Reaktion auf eine Krise, speiste sich aber auch aus der Vision der Veränderungen, die die Wahlkampfteams und die Initiativen um sie herum vermittelten. Man darf nie das Potenzial der Vision unterschätzen, denn was erdacht werden kann, kann auch sehr schnell eintreten. Im Jahr 2020 war niemand bereit zu etwas Größerem, zu wirklich bedeutenden Veränderungen, weil es eben keine Visionäre gab: Die belarussische Opposition ist überwiegend im neoliberalen Modell ausgebildet und entstammt überwiegend dem neoliberalen Modell …, sie ist mit westlichen Stiftungen und Strukturen verbunden, die ihre Grundlage darstellen. Zwei Jahre später lässt der Krieg in der Ukraine der Region keine Wahl mehr. Eine wichtige Rolle spielt auch der Faktor der Ermüdung von der Krise, vom Terror, von Diktatur und Krieg. Im Schockzustand ist jede Normalisierung und Stabilität besser als unbekannte Luftschlösser. Nichtsdestotrotz ist eine reale Zukunft nur durch utopisches Denken und politische Vision möglich, nur durch den ewigen Traum von der idealen Welt.
Kann man aus der Diktatur direkt zu einer anarchistischen Konföderation wechseln? Es gibt solche Fälle, doch dem Direktor gefällt so etwas nicht. Die Utopie kann man als Methode einsetzen, um neuen Formen der sozialen Organisation Impulse zu geben. Es gibt recht detailliert ausgearbeitete Prinzipien für die Arbeit von Generalversammlungen, Konsenssystemen, zahlreiche Beispiele für Selbstverwaltung. Kombiniert mit den Möglichkeiten digitaler Technologien, dezentraler Netze und Automatisierung können sie durchaus für den Aufbau einer alternativen Zukunft genutzt werden, die von konkreten Autoritäten und Vorgesetzten unabhängig ist. Oder wenigstens in geringerem Maße abhängig. Jegliches System der personifizierten Macht oder der bürokratisch-oligarchischen Führung ist ein Erbe der Vergangenheit, die noch immer nicht enden will, ein Produkt dieses Schlafes der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, dieser erlernten Hilflosigkeit, die in der Familie beginnt und auf dem Friedhof endet. Aber die Zukunft liegt jenseits dieser disziplinierten Ordnung. Sie liegt in der Fantasie, in der Vision, in einem gewissen Mut, alles Alte kritisch zu betrachten, Prioritäten umzuformulieren und einander wahrhaftig zu treffen, einander endlich kennenzulernen, übereinander zu staunen, wie es im August 2020 geschah. Die Zukunft beginnt vermutlich dann, wenn sich der Nebel lichtet.