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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Im Gestern einer neuen Zeit

    Im Gestern einer neuen Zeit

    Uladsimir Njakljajeu, 1946 in der westbelarussischen Stadt Smarhon geboren, ist einer der bekanntesten belarussischen Dichter und Schriftsteller. In jungen Jahren verbrachte er mehrere Jahre im Fernen Osten Russlands, bevor er Anfang der 1970er Jahre am Moskauer Literatur Institut studierte. Danach arbeitete er in unterschiedlichen Positionen bei journalistischen und literarischen Publikationen. 1976 debütierte er mit dem Gedichtband Adkryzzjo (dt. Entdeckung). Seitdem hat er zahlreiche weitere lyrische Arbeiten und Romane veröffentlicht. 2010 gründete er die gesellschaftspolitische Initiative Sag die Wahrheit! (belaruss. Hawary praudu!), als deren Kandidat er im selben Jahr bei den Präsidentschaftswahlen antrat. Am Wahlabend wurde er von maskierten Männern verprügelt und im Krankenhaus schließlich verhaftet. Nach den Protesten von 2020 und infolge der Repressionen ging er ins Exil. 

    In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht Njakljajeu der Frage nach, ob die Belarussen in ihrer Geschichte genug getan haben, um die Unabhängigkeit ihres Staates zu sichern. Ein Schlüsselfaktor für das weitere Bestehen von Belarus ist für ihn der Ausgang des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt. „Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine“, schreibt er, „das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation.“

     

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Mein Feld ist die Literatur, deren Objekt der Mensch ist, und so betrachte ich für gewöhnlich die Geschichte weniger als Geschichte der Ereignisse, sondern als Geschichte der Menschen, die die Ereignisse schaffen. Das Jahr 2020 war für Belarus ein Ereignis mit hunderttausenden, ja Millionen Menschen. Das Jahr der Augustrevolution, die in Freiheit und Demokratie münden sollte, aber in Unfreiheit und Tyrannei endete. Warum ist es so gekommen, und nicht anders? Wie konnten wir in den 33 Jahren unserer (wenn auch größtenteils formalen) Unabhängigkeit an den Abgrund des Verlusts unseres Vaterlandes gelangen?

    Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, fing ich an, einen Roman zu schreiben, über die Ereignisse, deren Zeuge ich war, über die Menschen, die diese Ereignisse initiiert hatten. Ich begann 2021 – und schob es dann auf. Alles war zu nah und zu schmerzhaft, mein Herz krampfte, Tränen flossen. Unter Tränen kann man nicht schreiben. Keinen Roman, und noch viel weniger die Geschichte einer mitleidlosen Zeit.

    Nach den Ereignissen von 2020 konnte ich schon deshalb nicht mehr mit ansehen, was in Belarus geschieht, weil mein Herz es nicht verkraftete. Mit anzusehen, wie Sprache, Kultur und Geschichte vernichtet werden, wie das Volk sich über die Welt verteilt, um den Repressionen zu entgehen, das ist keine Emigration mehr, das ist ein Exodus. Wie der historische Auszug der Israeliten, die durch die Wüste und die Herausforderungen des Schicksals gingen und doch zu sich selbst zurückkehrten. Denn sie hatten etwas und jemanden, zu dem sie zurückkehren konnten. 

    Haben wir das auch? Und wenn ja, wird es noch bestehen, wenn wir uns auf dem Rückweg befinden? Dass der Weg lang sein wird, ist schon jetzt absehbar. Aber werden wir als Belarussen zurückkehren? Nicht nur diejenigen, die im Ausland sind, sondern auch die, die zu Hause geblieben sind – auch dort findet ein Exodus statt. Denn alles, womit wir, wie Wasser und Brot, das Gott mit den Ausgestoßenen teilt, überleben könnten, um unseren Weg durch die Wüste zu gehen, wird vernichtet und ausgemerzt.

    Das Schrecklichste daran war, nicht die geringste Möglichkeit zu haben, der Vernichtung entgegenzutreten. Der Schmerz war so groß, dass ich sogar meine älteren Freunde zu beneiden begann, die in die andere Welt gehen durften, ohne sehen zu müssen, wie alles ruiniert wird, wofür sie schrieben – und lebten. Als mir also in Polen angeboten wurde, ein Buch herauszugeben, das in Belarus nicht gedruckt werden konnte, nutzte ich die Gelegenheit. Ich ging nach Polen und setzte mich wieder an den in Minsk begonnenen Roman.

    Bis zum Krieg in der Ukraine war etwa die Hälfte des Textes fertig. Mit Kriegsbeginn wurde klar, dass ohne die Ergründung seiner Ursachen keine Antwort auf die Frage möglich war, warum es bei uns so ist, wie es ist. In meinem Text sah ich dieselben konzeptuellen Fehler, die auch in der Politik gemacht worden waren, und musste ihn wieder verwerfen. Ich begann neu, direkt beim Krieg.

    Das Schicksal Belarus‘ wurde von jeher durch Kriege bestimmt. So war es im 18. Jahrhundert nach dem Siebenjährigen Krieg und den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik, im 19. Jahrhundert nach den Napoleonischen Kriegen und im 20. Jahrhundert nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auch das 21. Jahrhundert ist keine Ausnahme, über das belarussische Schicksal entscheidet der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ein Krieg, in dem Menschen einander töten, die sich bis vor Kurzem Brüder nannten – eine antike Tragödie. Man muss nicht nur ihre Regisseure, Akteure und Dekorateure verstehen, sondern, und das ist das Schwierigste, den antiken Chor, der in den klassischen Tragödien des Euripides, Aischylos und Sophokles das Volk verkörpert, dessen Rolle es ist, die Handlung zu erklären und die Helden vom Standpunkt der Moral her zu beurteilen. Wenn also der antike Chor in Russland dem brüdermordenden Krieg ein Loblied singt, und das Volk in Belarus zuhört und scheinbar zustimmend schweigt (geht mich nichts an), was ist das dann für ein Volk? Maxim Bahdanowitschs Worte „Belarussisches Volk, du bist wie ein Maulwurf, blind und trist“ sind ein emotionaler Seufzer, der nichts zu bedeuten hat. Das Volk ist weder trist noch blind. Es ist einfach historisch so gekommen, dass es noch nicht zum Volk geworden ist. Es hat sich noch nicht lieb genug gewonnen, um ein Volk werden zu wollen.

    Wir leiden an Oikophobie. An Unliebe zu uns selbst. Unsere Sprache, Kultur, Geschichte … Fast alles, was nicht Unseres ist, ist in unserer Vorstellung viel besser. Tatsächlich ist das eine Krankheit, an der verschiedene Völker zu verschiedenen Zeiten litten, bei den Belarussen aber ist sie chronisch. Und solange wir uns nicht von dieser Krankheit befreien, uns und alles, was unseres ist, nicht lieben, solange kann uns nichts und niemand dabei helfen, ein Volk, eine vollwertige Nation zu werden. 

    Letztlich betrifft das nicht nur uns, sondern auch unsere östlichen Nachbarn. Und vielleicht sogar in größerem Maße. In jedem Fall hat niemand je über Belarus geschrieben, wie es die Russen über Russland tun: „Russlands Bestimmung liegt lediglich darin, der ganzen Welt zu zeigen, wie man nicht leben und was man nicht tun sollte.“ (Pjotr Tschaadajew)

    Natürlich ist es nicht sehr wissenschaftlich, über die Rolle der Liebe im historischen Prozess der Nationsbildung zu sprechen. Aber ich bin Schriftsteller, kein Wissenschaftler. Und als Schriftsteller weiß ich, dass die beste Literatur diejenige ist, die von der Familie handelt – nehmen wir die Forsyte Saga von Galsworthy oder Krieg und Frieden von Tolstoi. Und nicht nur in diesen Romanen, in allen, die ich las, ob nun von Briten oder Chinesen verfasst, ist die Familie dann Familie, wenn sie auch Liebe ist. Und das Volk ist eine Familie, die Welt ist eine Familie der Völker, alles gründet auf der Liebe – und plötzlich wurde diese Grundlage vom brudermordenden Krieg zerrüttet.

    Gott sei Dank sind wir nicht direkt in diesen Krieg eingetreten. Aber die seit Stalins Zeiten ungekannten Repressionen, die nach den Augustereignissen von 2020 begonnen haben – sie sind ein direkter Krieg des Staates gegen sein Volk. Ein Krieg gegen sich selbst. Entweder wir halten ihn auf, oder er wird uns in den nationalen Selbstmord führen. Wie es auch unser Krieg gegen die Ukraine getan hätte. 

    Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine, das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation. „Freiwillige Angliederung“ an Russland, „entweder als sechs Gouvernements oder als Belarus im Ganzen“, wie es Putin schon im Jahr 2000 vorschlug, kurz nachdem er Präsident geworden war. Natürlich kann man auch angegliedert existieren (immerhin hatten wir fast zweieinhalb Jahrhunderte irgendwie Bestand, erst im Russischen Imperium, dann in der UdSSR), doch stellt sich in diesem Fall die Frage, ob die Belarussen zur vollwertigen Nationswerdung fähig sind. 

    In meinem Roman Gej Ben Ginnom, den ich noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine (den damals alle Wissenschaftler, Politiker und Politologen als unmöglich betrachtet hatten) schrieb, gibt es einen Dialog zwischen Stalin und Janka Kupala, unserem Nationalgenie. Stalin sagt: „Das russische Volk ist ein großes Volk, Genosse Kupala. Hätten die Belarussen die Deutschen besiegen können? Oder auch nur die Georgier? Nein. Aber die Russen haben gesiegt. Sie könnten sogar die Ukraine besiegen, wenn sie wollen.“ Kupala fragt: „Warum sollten sie die Ukraine erobern?“, woraufhin Stalin antwortet: „Was heißt hier warum? Weil sie Russen sind.“

    Das ist natürlich weder Politik noch Politologie, sondern Literatur. Für die Handlung des Romans ist dieser Dialog gar nicht so bedeutsam, er könnte genauso gut nicht dastehen. Und doch – Kunstwissenschaftler nennen es kreative Intuition – wurde er geschrieben, am Vorabend des Krieges. 

    Was hat zu diesem Krieg geführt? Es geht bei diesem Krieg gar nicht so sehr um Territorium, nicht um die Krim und den Donbas. Die Ursache liegt viel tiefer: Sie ist zivilisatorisch. Wie schrieb mir ein ukrainischer Dichterfreund in seinem Brief: „Wir sind für sie existenzielle Feinde, und sie auch für uns. Dieser Krieg ist – jenseits seiner tiefen Wurzeln und seiner Tragik – von biblischem Charakter … Entweder wir sie oder sie uns. Nicht mehr und nicht weniger.“

    „Westen ist Westen, und Osten ist Osten – sie kommen nie zusammen“, formulierte der russische Dichter Alexander Blok in Anlehnung an den Engländer Rudyard Kipling. Und wenngleich sich diese Formel auf der Welt langsam verwäscht (wie beispielsweise in Südkorea, wo Ost und West augenscheinlich zusammengehen), so geschieht das in Russland nicht. Von Beginn seiner Staatlichkeit an hat Russland den Osten und sein Postulat „Alle Macht in einer Faust“ gewählt. In der „russischen Welt“ heißt das heute „russische Macht“, ein Konzept, das in der Mitte der 1990er Jahre entwickelt wurde und auf eine Person zugeschnitten ist, die über dem Gesetz steht. Ebenso war es bei den Zaren, bei den Generalsekretären und so blieb es bei den Präsidenten, deren letzter verlauten ließ, die Goldene Horde sei Russland näher gewesen als die „westlichen Eroberer“. Die Ukraine versuchte entschlossen, vorbereitet durch ihre Geschichte, in die Spur der westlichen Zivilisation mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu treten. Das mag nicht der erste Grund sein, aber sicher auch nicht der letzte, der zum Kampf der Zivilisationen führte. Russland hat seinen Weg gewählt, die Ukraine ihren. Belarus hat sich nicht entschieden. Es steht noch immer zwischen den Wegen. 

    Das führte direkt dazu, dass die Republik Belarus die errungene Unabhängigkeit in keiner Weise nutzte. Ganz am Anfang gab die Unabhängigkeit die Möglichkeit, eigenständige Entscheidungen zu treffen (unabhängig vom stark geschwächten Russland). So konnten die baltischen Staaten Entscheidungen treffen, die sie auf den Weg in die EU führten und dadurch retteten. In Belarus wurden solche Vorschläge weder vom konservativen (kommunistisch-prosowjetischen) Teil der Bevölkerung akzeptiert noch vom demokratischen Teil noch von der Belarussischen Volksfront (damals die stärkste oppositionelle Kraft). Deren Anführer trat für ein völlig unabhängiges Belarus ein, das sich weder der Russischen Föderation noch der Europäischen Union anschließt. In jener Zeit veröffentlichte ich den Artikel Zwischen den Polen, in dem ich fragte: wie kann ein metallisches Körnchen zwischen zwei Magneten im Gleichgewicht schweben? Es ist unmöglich. Ich bekam zur Antwort, das sei in der Physik unmöglich, in der Politik könne das vorkommen. 

    Das war der erste politische Fehler, den man historisch nennen kann, denn er wurde tatsächlich zum ersten Schritt auf dem Weg zum Verlust der eben erst gewonnenen Unabhängigkeit. Und wie viel Zeit musste vergehen, bis der ukrainische Präsident Selensky, der Belarus der Zusammenarbeit mit dem Aggressor beschuldigte, endlich erklärte: „Europa – das ist der Balkan, das ist Moldau, und es wird auch der Tag Europas kommen für Georgien und der Tag Europas für Belarus.“ Natürlich hätte man Belarus 1991 nicht sofort in die EU aufgenommen. Wie in den baltischen Staaten wäre Zeit nötig gewesen, um die notwendigen Bedingungen zu erfüllen. Aber das wäre für unsere Geschichte keine verlorene Zeit gewesen, so wie es jetzt der Fall ist. Es wäre der gewählte Weg.

    Hier kann man nun fragen: Und was ist mit dem Unionsstaat? Ist das nicht der Weg nach Osten? Ist das keine Wahl? Ja, es ist eine Wahl. Aber kein Weg. Denn es ist keine zivilisatorische Entscheidung, sondern eine politische. Und die Politik ist ebenso wechselhaft, wie das Wetter. Den zweiten Fehler machte die Staatsführung des unabhängigen Belarus bei der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens. Ich kannte den damaligen Staatssekretär der Russischen Föderation, Gennadi Burbulis, recht gut; wir hatten uns Anfang der 1980er Jahre in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) kennengelernt, wo ich den Studenten der Polytechnischen Hochschule Gedichte vortrug, er Vorlesungen über marxistisch-leninistische Philosophie. Ich fragte ihn also, ob während der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens (an der er direkt beteiligt war) in irgendeiner Weise die Folgen dieses Dokumentes umrissen wurden? Politisch, wirtschaftlich, sozial? Er antwortete, nichts davon sei besprochen worden, es sei ein „freies Gedankenspiel“ gewesen. Genauso sagte er es, ich werde es meinen Lebtag nicht vergessen: „Es war ein freies Gedankenspiel.“ Und in diesem Spiel entstand die Formulierung: „Die UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität beendet ihre Existenz.“ 

    Nun gut, sie beendet ihre Existenz. Und danach? Die Vereinbarungen wurden ohne jegliche weitere Absprachen unterzeichnet, ohne Ergänzungen, ohne irgendwelche Garantien seitens der Initiatoren dieses Dokumentes (der russischen Staatsführung). Allem voran Garantien für die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes der Ukraine und Belarus‘. Vielleicht haben Jelzin und Burbulis nicht daran gedacht, sie wollten ausschließlich die Machtfrage klären: Sie konnten den Führer der UdSSR, Gorbatschow, nicht absetzen, also nahmen sie ihm das Land, das er führte. Die Unterzeichnenden von belarussischer und ukrainischer Seite, Schuschkewitsch und Kebitsch sowie Krawtschuk und Fokin, hätten aber daran denken müssen. Sie kannten die Geschichte, sie kannten Russland, dessen Außenpolitik zu jeder Zeit entweder Eroberung oder Rückführung „angestammter russischer Gebiete“ gewesen war. Vielleicht stand ihnen zu Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Krise nicht der Sinn danach. Aber dennoch hätte man die Frage stellen müssen: Was kommt danach? Welche Garantien gibt es, dass Russland nicht wieder zur imperialen Idee der „Sammlung russischer Erde“ zurückkehrt?

    Jetzt ist es dahin zurückgekehrt, Russland „sammelt Erde“. 

    Man könnte nun sagen: Russland würde ohnehin jegliche Garantie brechen, so wie es auch das Budapester Memorandum missachtet hat. Vielleicht. Aber ich spreche nicht über die Verantwortung Russlands, sondern über die Verantwortung der Menschen, denen die Völker der Ukraine und Belarus‘ ihr Schicksal anvertraut hatten.

    Jelzin wollte Gorbatschow, mit dem er noch persönliche Rechnungen offenhatte, so sehr loswerden, dass er jede Garantie unterzeichnet hätte. Aber weder die Staatsführung von Belarus noch die der Ukraine machten Vorschläge. Und hinterher erzählten sie, was für kluge Politiker sie seien, wenn es die von ihnen unterzeichneten Vereinbarungen nicht gäbe, hätte es Krieg gegeben. Dabei haben sie 1991 im Wald von Belawescha den Krieg in der Ukraine 2022 unterzeichnet.

    Der dritte historische Fehler wurde bei der Durchführung der ersten Präsidentschaftswahlen gemacht. Anstatt sich auf einen einzigen Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Kräfte zu einigen, führte die Opposition einen zwischenparteilichen Kampf, infolgedessen der Abgeordnete des Obersten Sowjets Henads Karpenka (russ. Gennadi Karpenko) seine Kandidatur zurückzog. Genau der Politiker, der Charisma und zudem als Werksdirektor und Kommunalpolitiker die notwendige Autorität einer Führungsperson hatte, um die Wahl zu gewinnen. Dann hätte Belarus gewonnen.

    Viele Stimmen behaupten (so zum Beispiel Sjarhej Nawumtschyk in seinen Erinnerungen an das Jahr 1994), Belarus hätte siegen können, wenn bei der ersten Wahl Sjanon Pasnjak gewonnen hätte, bei der zweiten dann Henads Karpenka. Aber das ist politische Fantasy. Wie hätte in einem sowjetisierten Staat ohne Nationalbewusstsein sofort ein Nationalist gewinnen können? Keinesfalls. Es hätte nur umgekehrt kommen können: zuerst der tolerante Karpenka, danach der radikale Pasnjak. Aber keine von beiden Varianten ist eingetroffen, denn alle anderen Beteiligten dieser Ereignisse dachten nicht an Belarus, sondern an sich selbst. Und überlegten, wie sie Karpenka nicht zur Wahl zulassen könnten, noch dazu auf eine, gelinde gesagt, nicht ganz schickliche Weise.

    Aleh Trussau, Vorsitzender der Initiativgruppe von Stanislau Schuschkewitsch, agitierte 14 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Hramada, ihre Unterstützungsunterschriften für Karpenkas Aufstellung als Präsidentschaftskandidat zurückzuziehen. Dem Wahlrecht nach war eine solche „Initiative“ unzulässig. Von den Gesetzen der Moral ganz abgesehen. Gemeinsam mit Aljaxej Dudarau, dem Vorsitzenden von Karpenkas Wahlkampfstab, überredeten wir Karpenka, seine Rechte zu verteidigen, vor der Wahlkommission und vor Gericht, das damals noch ein Gericht war. Aber er lehnte es kategorisch ab (obwohl er sonst kein kategorischer Typ war), vor Gericht zu gehen oder überhaupt mit jemandem über Trussaus „Initiative“ zu sprechen. Er sagte: „Was mit Niedertracht beginnt, endet auch mit Niedertracht. Damit will ich nichts zu tun haben.“

    Warum halte ich mich an dieser fast privaten Episode aus unserer jüngeren Geschichte auf? Weil aus ihr, wie aus einer Krebsgeschwulst, die Metastasen der Unmoral gestreut haben. Die Situation mit dem Widerruf der Unterschriften wiederholte sich im dramatischen Jahr 1996, als wieder ein Umbruch möglich gewesen wäre. 73 Abgeordnete unterschrieben einen Antrag an das Verfassungsgericht für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wegen Verletzung der Verfassung. Aber zwölf von ihnen widerriefen ihre Unterschriften. Dem Gesetz nach hatte ein solcher Widerruf, wie auch im Fall Karpenka, keine juristische Wirkung, was das Verfassungsgericht auch feststellte. Aber während die Richter mit der Entscheidungsfindung befasst waren, führte Lukaschenka sein Referendum bereits durch, und seine Macht war von nichts und niemandem mehr beschränkt, weder Gericht noch Gesetz galten mehr für ihn. Keiner von denen, die damals erst unterschrieben und dann widerrufen hatten, hat seine Schuld je eingestanden.

    Es ist bezeichnend, dass von den 14 Personen, die Karpenka zunächst unterstützten und ihn später verrieten, nur eine Person um Entschuldigung bat, der Dichter Anatol Wjarzinski. Von allen anderen perlte es einfach ab. Bei allen folgenden Wahlen manipulierten und fälschten nicht nur die Machthaber, sondern auch die Opposition. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 sammelte nur einer von neun Oppositionskandidaten die notwendigen 100.000 Unterschriften. Vielleicht auch zwei. Aber auf Grundlage von gefälschten Listen wurden auch alle anderen registriert. So war es auch 2015, als alle Oppositionskandidaten gefälschte Listen einreichten, und 2020, als nur für Swjatlana Zichanouskaja echte Unterschriften gesammelt wurden. Dadurch beteiligte sich die Opposition an der totalen, das Land beherrschenden Täuschung. 

    „Mit der Lüge kommst du durch die ganze Welt, aber nicht mehr zurück“, sagt der Volksmund. Und genau die Täuschung des Volkes bei den Präsidentschaftswahlen 2020 war es, die die Proteste in eine Revolution verwandelte. Die Revolution mag das politische System und die Regierung nicht geändert haben, aber sie veränderte das Bewusstsein der Bevölkerung, die nicht mehr mit der Lüge leben wollte. Warum hat die Revolution nicht gesiegt? Es gibt mehrere Gründe für die Niederlage – einer davon ist, dass es bei den früheren Massenprotesten (z. B. beim Ploschtscha 2010) zahlreiche politische Führungspersonen anwesend waren, aber zu wenig Kraft des Volkes, um zu siegen. 2020 war es umgekehrt: Es war ausreichend Kraft der Masse, aber es fehlte an Führungspersonen. Diejenigen, die auftauchten, waren unvorbereitet, nicht gewappnet, die Last der Führungsrolle auf sich zu nehmen. Und es fällt schwer, ihnen daran die Schuld zu geben (aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist), aber …

    Die „neue“ belarussische Opposition grenzte sich von der „alten“ Opposition ab, indem sie Polittechnologien einsetzte, wie sie bei der Konfrontation zwischen Macht und Opposition in Armenien erfolgreich gewesen waren, zum Beispiel die Dezentralisierung der Proteste. Keinem der früheren Oppositionspolitiker, die Erfahrung mit der Organisation von Massenprotesten hatten, wurde eine Mitarbeit im Koordiniernationsrat angeboten, obwohl dort niemand solche Erfahrungen mitbrachte. Alle Vorschläge, die auf dieser Erfahrung beruhten, wurden als Bestrebungen betrachtet, die Strategien des Ploschtscha 2010 aufzuzwingen, wovon niemand der neuen Politiker mehr etwas hören wollte: „Wir kommen auf friedlichem Wege an die Macht, ohne Gewalt“. Aber die Mechanismen der Selbstorganisation funktionierten nicht ohne einen Anführer (den es in Armenien damals gab und der nach dem Sieg der Revolution zum Staatschef wurde). 

    Ploschtscha – das bedeutet nicht unbedingt Gewalt, Barrikaden und Schießerei. Der ukrainische Maidan, zwang den damaligen Staatschef Janukowitsch, der Opposition den Posten des Premierministers anzubieten und neue Parlamentswahlen anzusetzen, noch bevor Barrikaden errichtet wurden. Die Opposition lehnte dieses Angebot ab, was ein Fehler war, der zur Verschärfung des Konfliktes führte – und am Ende zu Schießereien. Das hätte vermieden werden können, hätte man die Angebote der Staatsmacht akzeptiert und den Maidan als Druckmittel verwendet, damit das Versprochene auch umgesetzt wird. Ähnlich hätte man im August 2020 in Belarus vorgehen können (oder es wenigstens versuchen). Aber jetzt ist offenbar, dass darin ein enormes Risiko gelegen hätte.

    Russland plante damals wohl bereits den Einmarsch in die Ukraine (was wir nicht wussten), und Belarus war notwendig als Aufmarschgebiet. Daher hätte ein Ploschtscha-Aufstand zu einem Angriff führen können. Bei Smolensk standen russische Panzer in Warteposition, der Krieg hätte bei uns statt in der Ukraine beginnen können. Aber wer weiß schon, was hätte passieren können. Es ist, wie es ist. In der jetzigen Situation ist die Gefahr, Belarus zu verlieren, nicht geringer als in einem Krieg.

    Vielleicht hat uns der Versuch der Opposition, auf friedlichem Weg an die Macht zu kommen, vor Blutvergießen bewahrt. Höchstwahrscheinlich ist es so. Aber wo und wann wurde der Weg zur Freiheit je ohne Opfer beschritten? Wann gab es je einen Fall, in dem die Freiheit wie gewonnen so auch gleich wieder zerrann? Weil sie nicht geschätzt wurde, denn sie hatte keinen Preis gehabt?

    In meinem Roman sagt eine Person: „Wie wenig wir die Unabhängigkeit schätzten, die uns einfach von Gottes Hand gegeben worden war. Die Mehrheit bemerkte nicht einmal, dass sie da war. Da dachte Gott: ‚Wenn ich ihnen nur aus Liebe die Freiheit schenke, werden sie mit ihr dann so umgehen, wie sie mit der Unabhängigkeit umgegangen sind?‘ Und er sandte uns auf den Opferweg. Gefängnisse, Folter, Exil … Und wer kann sagen, ob dieser Weg leichter oder schwerer ist als der, der nicht gewählt wurde?“

    Im Leben geschieht nichts einfach so. Nichts geschieht grundlos. Alles – groß wie klein – hat eine Bedeutung. Die Revolution hat das Bewusstsein verändert, und Gott hat uns auf die Probe gestellt: Den Weg zur Freiheit zu gehen. Auf diesem Weg stehen wir vor einer Vielzahl von Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Diese erste ist: Wann wird es sich ändern? … Wann wird sich ein neues Fenster der Möglichkeiten für uns öffnen?

    Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben, wie auch mein Roman. Als ich begann ihn zu schreiben und die Handlungsfäden, die Charaktere und Ereignisse festlegte, anhand derer sich die Gründe für unsere heutige Situation erschließen lassen sollten, kamen etwa ein Dutzend zusammen. Folgenderweise würde ich sie umreißen:

    MOTIVATION (sie war bei denen, die an der Macht waren und dortbleiben wollten, um ein Vielfaches höher als die Motivation derer, die an die Macht kommen wollten);

    NATION (die noch nicht reif genug ist, um das Nationale als das Eigene zu verteidigen);

    UMSONSTKULTUR (Vieles wurde nicht aus eigener Kraft, sondern „kostenlos“, mit russischen Finanzspritzen, erreicht, die letztlich – wie zu erwarten – doch nicht kostenlos waren) und so weiter. 

    Aber von all diesen Gründe wiegt einer am schwersten, einer, den schon vor langer Zeit Alexander Herzen als prägend für das Schicksal Russlands benannt hat (heute zu lesen als: und für das Schicksal von Belarus, wo das Konzept der russischen Macht, einer über dem Gesetz stehenden Person, in die Verfassung geschrieben wurde): „Der Staat hat sich in Russland wie eine Okkupationsmacht eingenistet. Wir sehen den Staat nicht als Teil von uns, als Teil der Gesellschaft. Der Staat und die Gesellschaft führen einen Krieg. Der Staat – mit Bestrafung, die Gesellschaft – mit Partisanentum.“

    Geschrieben vor langer Zeit, aber doch tagesaktuell.

    Wissend, dass Herzen den Nagel des zentralen Problems Russlands auf den Kopf getroffen hat, versuchen sich die russischen Propagandisten darin zu übertreffen, das als Fake herauszustellen: Herzen habe das niemals gesagt oder geschrieben. Erstens, selbst wenn Herzen es nicht geschrieben hätte, bliebe es dennoch eine Tatsache. Zweitens kann man es schwarz auf weiß im Sammelband der Zeitung Kolokol lesen, die Herzen im Exil herausgab. Es ist so viel Zeit vergangen, das Russische Imperium hat zwei Mal seinen Namen geändert, aber das, was hinter dem Namen steckt, ist unverändert geblieben. Und genau diese Unverändertheit, wie paradox es auch sein mag, wird zu grundlegenden Veränderungen führen, denn dieses Staatsmodell steht ganz offensichtlich im Widerspruch zur Zeit – und muss aus der Zeit verschwinden. 

    Verschwinden wird die Russische Macht aus Russland durch zivilgesellschaftliche Aufstände – die unausweichlich sind nach dem ungerechten, brudermordenden Krieg, den nicht das Volk führt, sondern der Staat: eine in Russland installierte Besatzertruppe. Wenn sie verschwindet, öffnet sich auch für uns ein neues Fenster der Möglichkeiten, das wir nutzen müssen, ohne die Fehler zu machen, die am Anfang der Geschichte der unabhängigen Republik Belarus gemacht worden sind.

    Warum haben wir diese Fehler nicht vermieden? Die Gründe sind mannigfaltig, einige sind offensichtlich, andere bis heute nicht bewusst. Zu den offensichtlichen Ursachen gehört, dass es bei uns keine Menschen gab, keine Politiker, die für entscheidende historische Ereignisse vorbereitet gewesen wären. Der Staatschef des unabhängigen Belarus war Physiker, zudem gingen Archäologen, Historiker und Literaten in die Politik. Zum allergrößten Teil waren es Menschen mit den besten menschlichen Qualitäten, aber ohne politische Schulung. Nicht nur in der Opposition, sondern auch in der Staatsführung und im Ministerkabinett gab es keine Erfahrungswerte für eine eigenständige Politik, die nicht nach Ost oder West blickt.

    Ohne Frage ist das ein wesentlicher Grund, er beeinflusste die Qualität der politischen Entscheidungen, war jedoch nicht der wichtigste. Der bestand darin, dass wir in einer neuen Zeit lebten, aber im Gestern stehengeblieben waren. Das Volk versuchte mehrfach, aus der Vergangenheit herauszutreten, aber der Staat, der bis heute im Gestern existiert, weil er in seiner Form nicht in der neuen Zeit überleben würde, schlug alle Versuche nieder. Die Zukunft von Belarus hing damals und hängt auch heute davon ab, wie schnell das Volk die Vergangenheit hinter sich lässt und dabei den Staat hinter sich herzieht.

    „Wie lange dauert es noch? Wann wird das sein?“ – diese Fragen bestimmen unser Schicksal. Nicht morgen. Und ich zitiere noch einmal Herzen: „Man kann das Volk nicht mehr befreien, als es im Inneren frei ist.“ Dieser einzige Weg zur Freiheit ist an keinem Ort und zu keiner Zeit je kurz gewesen. 

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  • „Es ist ein Wunder, dass die Belarussen als Nation überlebt haben”

    „Es ist ein Wunder, dass die Belarussen als Nation überlebt haben”

     

    War die Friedlichkeit der Proteste von 2020, die im Sommer vor vier Jahren begannen, ein Fehler? Wie unterscheiden sich die kulturhistorischen Prägungen in Belarus, Russland und in der Ukraine? Was sind die tragischsten Ereignisse in der belarussischen Geschichte? Warum konnte sich die belarussische Nation trotz aller Unkenrufe doch formieren?  

    In einem Gespräch mit dem Online-Medium Gazeta.by nimmt der belarussische Journalist Alexander Klaskowski den Leser mit auf eine fulminante Tour durch die wechselhafte Historie seines Landes.

    Bahdana Paulouskaja: Viele Wissenschaftler, mit denen wir im Kontext unseres Projektes sprechen konnten, merkten an, dass wohl keine Nation in ihrer Entwicklung so viele Hürden überwinden musste wie die belarussische. Und dennoch gibt es die Belarussen. Wie haben wir überlebt? 

    Alexander Klaskowski: In gewisser Weise ist das einfach ein Wunder und ein Glücksfall, denn viele Völker sind verschwunden, ohne Nationen zu werden. Ich denke, dass den Belarussen ein bestimmter Charakterzug nützlich war, nämlich ihre Anpassungsfähigkeit. Die rauen Lebensbedingungen und viele feindliche Angriffe ließen die Fähigkeit entstehen, jedem Widerstand zum Trotz zu überleben.  

    Zudem würde ich die Besonderheiten der belarussischen Natur anführen: Wälder und Sümpfe. Der Wald bot Rettung, er ernährte und schützte, wenn die Fremden kamen und die Siedlungen niederbrannten. Und wenn es keinen Wald in der Nähe gab, galt das Prinzip „versteck dich in den Kartoffeln“. Doch das bedeutet nicht, dass die Belarussen Angsthasen sind. Ich bestreite dieses Stereotyp, das einige verbreiten. Wir haben viele Helden in unserer Geschichte. Bei uns gab es das Rittertum, unser Adel hatte ruhmreiche Kampftradition, und selbst in der Sowjetarmee schätzte man die Belarussen als gute Soldaten.  

    Wir überlebten auch, weil es in unserer Geschichte immer wieder Menschen gab, die den Belarussen halfen, sich als Nation zu verstehen. Diese Menschen wurden vernichtet, doch unser Land brachte immer neue, strahlende Persönlichkeiten hervor, Intellektuelle und Aktivisten. Dazu gehörten Kastus Kalinouski, Winzent Dunin-Marzinkewitsch, die Luzkewitsch-Brüder, Branislau Taraschkewitsch, Janka Kupala und Jakub Kolas, ebenso die Gründer der BNR und die Begründer der BNF. Auch Sjanon Pasnjak ist zu erwähnen. Heute stehen einige seiner Äußerungen in der Kritik, und viele meinen, seine politische Zeit sei längst vorbei, doch er bleibt in jedem Fall eine einzigartige Persönlichkeit. 

    Am Ende von Gorbatschows Perestroika war die BNF sehr aktiv. Denken wir nur an die berühmte Sitzung der Unabhängigkeit im August 1991, in der sich die kleine, aber gut organisierte und politisch erfahrene Oppositionsfraktion der BNF durchsetzte, dass die Unabhängigkeitserklärung den Status eines Verfassungsgesetzes erhielt. Etwas später wurden die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen zu Staatssymbolen. 

    Einer der großen Protestmärsche im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Dimitri Bruschko
    Einer der großen Protestmärsche im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Dimitri Bruschko

    Welche negativen Charakterzüge haben wir Belarussen? Was steht uns im Weg? 

    Ich begegne der Frage nach einem nationalen Charakter grundsätzlich mit einer gewissen Skepsis. Da gibt es viele Vorurteile und Stereotype. Ich habe auch schon temperamentvolle Esten und phlegmatische Ukrainer getroffen. Schon zu Sowjetzeiten und auch heute noch heißt es, die Belarussen zeichne ihre Gastfreundlichkeit aus. Aber sind die Georgier etwa nicht gastfreundlich? Auch den Tschuktschen sagt man Gastlichkeit nach. Das ist also alles durchaus fragwürdig. Oder es wird dieses negative Stereotyp kultiviert, dass die Belarussen mehr als andere untereinander streiten. Als wären Menschen aus anderen Ländern auf Social Media höflicher. Überhaupt haben einige Belarussen diese Angewohnheit, irgendwelche negativen Eigenschaften des Nationalcharakters zu finden oder sich auszudenken und dann sich darüber zu beschweren. Das lehne ich ab. Ich sehe wenig Sinn darin, sich als Nation schlechtzumachen. Wir müssen unsere Vorzüge und Stärken hervorheben, um uns so zu motivieren und Menschen, die heute in einer sehr schwierigen Situation sind, optimistisch zu stimmen – ob in Belarus oder im Ausland, im erzwungenen Exil

    Der Journalist Alexander Klaskowski / Foto © privat
    Der Journalist Alexander Klaskowski / Foto © privat

    Dann beschreiben Sie doch bitte unsere positiven Eigenschaften.

    Als positiv betrachte ich die Besonnenheit, die vernünftige Vorsicht und die Gesetzestreue, die man uns Belarussen nachsagt. Wobei aus Werten oft auch Schwächen werden können. Besonnenheit kann zu Trägheit und Unentschlossenheit werden, daher rührt diese belarussische Redensart „Vielleicht gehört das ja so?”. Und Gesetzestreue wird von den heutigen Machthabern oft ausgenutzt, denen es, wie wir wissen, selbst „manchmal nicht nach Gesetz zumute ist“ (Lukaschenka). 

    Hätten die Demonstrierenden 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben

    Oder nehmen wir dieses Bild aus dem Jahr 2020, das im Netz und in den Medien viral ging, als protestierende Belarussen ihre Schuhe auszogen, bevor sie auf eine Parkbank stiegen. Es gab viel Kritik daran, besonders von Ukrainern, die meinten, wir sollten die OMON lieber mit Molotow-Cocktails angreifen. Aus meiner Sicht ist es nicht korrekt, den Belarussen vorzuwerfen, sie hätten im Jahr 2020 nicht entschlossen genug gehandelt. Während der Maidan-Aufstände in der Ukraine herrschten völlig andere Bedingungen als während der Proteste in Belarus. Die Ukrainer hatten es nicht mit einer so brutalen Diktatur zu tun, es gab finanzielle Mittel, um die Straßenaktionen über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, denn einige Oligarchen setzten sich dafür ein, es gab starke unabhängige Medien, eine Opposition im Parlament, eine Spaltung der Eliten und vieles mehr. 

    Hätten die Teilnehmenden dieses spontanen, friedlichen Aufstandes in Belarus 2020 Steine genommen und die OMON mit Steinen beworfen, hätten sie das Regime auch nicht überwältigt, sondern nur noch härtere Reaktionen erlebt. Auch so haben sehr viele stark gelitten. Hätten die Demonstrierenden im August 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben. Dort standen Schützenpanzer mit großkalibrigen Maschinengewehren bereit. Lukaschenka sagte später selbst, dass er nicht gezögert hätte, „die Armee zu aktivieren“, also die Protestierenden zu erschießen. Diese Proteste hatten also praktisch gar keine Chance.

    Wie lässt es sich erklären, dass wir uns so von unseren Nachbarn unterscheiden, mit denen wir doch eigentlich eine gemeinsame Geschichte teilen, vom Großfürstentum Litauen über die Rzeczpospolita hin zum Russischen Reich und der UdSSR? 

    Bei den Russen gab es die Periode des mongolisch-tatarischen Jochs, das auch in der Mentalität seine Spuren hinterlassen hat. Die belarussischen Gebiete wurden davon kaum tangiert, auch wurden sie vom Westen kaum von den Deutschen Ordensrittern heimgesucht, auch dank des Widerstands und einiger herausragender Siege. Während im Großfürstentum Moskau der Despotismus herrschte, galten bei uns die für die damalige Zeit fortschrittlichen Gesetze des Großfürstentums Litauen, unsere Städte erhielten das Magdeburger Stadtrecht. Mit anderen Worten, bei uns wurde damals schon die Achtung der Person, des Eigentums und des Rechts kultiviert. Heute macht dies den Unterschied zwischen Russen und Belarussen aus.  

    Die Ukrainer hingegen sind eher ein südländisches Volk. Manchmal hört man, die Ukrainer seien die Italiener Osteuropas, die Belarussen wiederum die Deutschen Osteuropas. Das ist in meinen Augen ein treffender Vergleich. Die Ukrainer sind durchaus temperamentvoller, sie haben die Traditionen der freien Kosaken und der Rebellion, und das bedingt auch Besonderheiten in ihrer Geschichte und Gegenwart – wie sie beispielsweise im Jahr 2022, als ihnen eine Niederlage innerhalb von drei Tagen prophezeit wurde, den russischen Invasoren absolut unerwartet einen Schlag ins Gesicht versetzten. Wir dagegen haben mit den Litauern recht viel gemeinsam, auch wenn uns unsere slawische Herkunft von ihnen trennt. 

    Gibt es ein besonders tragisches Ereignis in unserer Geschichte, das sich Ihrer Ansicht nach stärker als andere in der belarussischen Mentalität niedergeschlagen hat und dessen Nachwirkungen wir bis heute spüren? 

    Die belarussische Geschichte ist insgesamt tragisch. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Genpool der Nation dezimiert, weshalb ich immer wieder sage: Es ist ein Wunder, dass die Belarussen überlebt haben, dass sie bestehen und weiterhin wunderbare, große Persönlichkeiten hervorbringen. Hier kann man auf die Kriege mit den Moskowitern eingehen, als die Hälfte der Bevölkerung umkam. Das war eine riesige Tragödie. Aber diese Ereignisse liegen sehr lange zurück, die heutigen Belarussen wissen nur aus Büchern davon. 

    Natürlich muss auch der Zweite Weltkrieg genannt werden. Das war ein kollektives Trauma, das bis heute spürbar ist. In meiner Kindheit und Jugend waren Gespräche über die Invasion der Hitlertruppen, über den Hunger und die Angst der Menschen vor Erschießung sehr häufige Themen unserer Eltern und Großeltern. Die Veteranen sprachen übrigens nicht so gern über den Krieg, und wenn sie doch etwas erzählten, zum Beispiel bei einem Gläschen nach der Banja, dann war da keine Romantik, kein Pathos, sondern einzig, dass es eine furchtbare, blutige Angelegenheit gewesen sei. Womit man heute in Russland und auch in Belarus hausieren geht, dieser verlogene Patriotismus mit „wir können es wiederholen“, das hat überhaupt nichts mit der wahren Erinnerung an den Krieg zu tun. Tatsächlich sind die Belarussen Pazifisten. Selbst soziologische Studien zeigen das, wenn es um die Einstellung zum Krieg in der Ukraine geht. Ich denke, das ist einer der Faktoren, der Lukaschenka und Putin davon abgehalten hat, das belarussische Militär in den Krieg hineinzuziehen.   

    Heute stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel 

    Andererseits nutzt das jetzige Regime die belarussische Hauptsache-kein-Krieg-Einstellung auch für sich aus. Lukaschenka ist bemüht, sich als weisen und allmächtigen Friedensschützer in Belarus darzustellen, obwohl sein Regime in Wahrheit als Co-Aggressor dem Kreml in seinem ungerechten Krieg gegen die Ukraine hilft. Jedoch hält das Lukaschenka nicht davon ab, mit seinem Spitz irgendwo an die litauische Grenze zu fahren und zu erzählen, wie er das blauäugige Belarus vor den NATO-Horden und den Flüchtlingen bewahrt. Bei einem Teil der Bevölkerung hat er damit Erfolg. Auch Tschernobyl gehört zu den tragischen Ereignissen.

    Und nicht zuletzt das frischeste kollektive Trauma – das Jahr 2020. Auf der einen Seite dieser Aufschwung von Nationalgefühl, Politisierung, das Moment des gesellschaftlichen Erwachsenwerdens, als sich zeigte, als wir als politische Nation mit einer starken Zivilgesellschaft auftraten. Auf der anderen Seite aber die schwere Niederlage des friedlichen Aufstandes, die bei Hunderttausenden, vielleicht sogar Millionen von Belarussen zu physischen und psychischen Traumata führte. Und heute, wo unser irres Regime den Grad der Repressionen und der Angst hochdreht, parallel dazu aber die Souveränität stückchenweise an Moskau abgibt, ist schon allein Lukaschenkas eine nationale Tragödie. Denn offensichtlich stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel.

    Was war das wichtigste Initialereignis für die Nationsbildung? 

    Vielleicht mutet diese Antwort für einen Menschen mit demokratischer Grundhaltung paradox an, aber ich würde sagen: die Gründung der BSSR. Natürlich strengten die Bolschewiki dieses Projekt vor allem deshalb an, weil es vorher die BNR gegeben hatte. Aber, Hand aufs Herz, die BNR hatte keinen Erfolg, sie vermochte es nicht (und konnte es unter diesen Bedingungen wohl auch nicht schaffen), ein richtiger Staat zu werden. Sie war ein vornehmlich virtuelles Gebilde, auch wenn die historische Bedeutung dieses Momentums zweifellos enorm ist.  

    Die Körnchen, die Ende der 1980er Jahre gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht 

    Die BSSR war natürlich nicht unabhängig. Zwar war die Souveränität der Unionsrepubliken in der sowjetischen Verfassung festgeschrieben, es gab sogar das Recht auf Austritt aus der UdSSR, aber wer glaubte damals daran, dass Moskau so etwas zulassen würde? Zu Stalins und Breschnews Zeiten war das selbstverständlich undenkbar, aber infolge der Perestroika Gorbatschows begann die Sowjetunion zu zerfallen, und Belarus erlangte seine Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu beispielsweise Tatarstan und Baschkirien, die nur Autonome Sowjetrepubliken waren. In diesem Sinne erfüllte dieser sowjetische Status also doch einen Zweck.  

    Zweitens würde ich noch die Perestroika, den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahre der Unabhängigkeit gesondert herausstellen. Eben diese Phase der Wiedergeburt am Ende der 1980er und in der ersten Hälfte der 1990er war eine fantastische, einmalige Zeit. Dank der Belarussischen Volksfront (BNF), ihren engagierten Persönlichkeiten, den Anführern der nationalen Wiedergeburt, begannen Hunderttausende unserer Landsleute, sich vollkommen als Belarussen zu fühlen. Auch ich, wenn ich das so pathetisch sagen darf, bin in diesen Jahren zum bewussten Belarussen geworden. Diese politische Aktivität brach plötzlich wie ein Bach unter dem Eis hervor, es fanden Kundgebungen statt, die weiß-rot-weiße Flagge wehte über den Plätzen. Es war eine kurze, aber sehr intensive Periode.  

    Und im Jahr 2020 funktionierte es auf fantastische Weise erneut. Die klassische, „alte“ Opposition, wie man sie nennt, hat zwar anscheinend ihren Einfluss verloren und tat sich bei den Straßenaktionen nicht sonderlich hervor. Aber diese Körnchen, die damals gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht, und wir sahen über den Protestzügen ein Meer aus weiß-rot-weißen Fahnen.  

    Der zweite Teil des Gesprächs mit Alexander Klaskowski erscheint am 6. August 2024 bei dekoder.  

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  • „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    In Belarus wurden die neu gewonnenen Freiheiten im Zuge der Unabhängigkeit im Jahr 1991 auch von vielen Musikern, Literaten, Künstlern oder anderen Kulturschaffenden begrüßt. Es entstand eine Bohème, die den neu gewonnenen Raum zu nutzen wusste, beispielsweise mit experimentellen Musikprojekten. Andere wiederum erlebten den Beginn der 1990er Jahre als eine Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krisen, woraus schließlich die Abkehr vom eingeschlagenen demokratischen Weg und die Wahl Alexander Lukaschenkos resultierte. 

    Lavon Volski, eine Legende der belarussischen Alternativ- und Rockmusik, beschreibt diese wilde Zeit des Aufbruchs und des autoritären Rückfalls in seiner Kolumne für das Online-Portal Budzma

    Für manche Leute waren die 1990er Jahre eine Katastrophe, ein Kollaps, ein schmerzhafter, manchmal unerträglicher Bruch mit den bisherigen Lebensgewohnheiten. Da ich keine über viele sowjetische Jahre antrainierten Gewohnheiten hatte, nahm ich diese Zeit auch anders wahr – als Beginn von etwas vollkommen Neuem. Eine neue Welt, ein neuer Himmel, ein neues Leben. Ein neues, normales, nicht von der sowjetischen Hydra umfangenes Land, in dem neue Möglichkeiten und neue Perspektiven wachsen.  

    Lavon Volski (mittig) mit der Band Novae Neba nach einem Konzert Mitte der 1990er Jahre / Foto © Archiv Lavon Volski
    Lavon Volski (mittig) mit der Band Novae Neba nach einem Konzert Mitte der 1990er Jahre / Foto © Archiv Lavon Volski

    Neues Leben, neue kreative Projekte 

    Mit Begeisterung stürzte ich mich in viele kreative Projekte – den neuen Radiosender Belarus Maladsjoshnaja (dt. Jugendliches Belarus) beim staatlichen Rundfunk (der eigentlich nur eine Adaption des alten Senders an die neue Zeit war), mit scharfer Analytik, Interviews, provokativen Rubriken und Hitparaden. Jede Woche produzierte ich ein einstündiges Hörspiel, für das ich Krimis, Fantasy-Geschichten und andere Werke aus dem, wie man damals sagte, Bereich Action adaptierte, sogar Thriller und Horrorgeschichten. Ich war für das gesamte Tondesign von Belarus Maladsjoshnaja zuständig, nahm Pausenzeichen, Jingles und Titelmelodien auf. Darüber hinaus kreierte und moderierte ich die Mystery-Sendung Kvadrakola und nahm parallel Reklamesongs für alle möglichen Werbekunden auf. Es gab unzählige – vom klassischen Jeansmodehersteller bis hin zu großen Firmen, die Gas- und Elektroherde produzierten.  

    Im großen Studio des staatlichen Rundfunks nahmen wir auch das, wie es uns damals schien, epochale Album der Band Novae Neba (dt. Neuer Himmel) auf: Son u tramwai (dt. Traum in der Tram). Das Album war vielschichtig (intellektueller Rock!), mit elektronischen und akustischen Instrumenten, wechselnden Tempi und Dynamiken. Ich spielte Keyboard und um die notwendigen Effekte zu erzeugen, mussten wir uns immer neue Synthesizer für die Aufnahmen ausleihen. Manchmal nahm ich ein Taxi, lud das benötigte Keyboard ein (die waren ziemlich schwer!), brachte sie zum Sender, wo ich sie in die oberste Etage zum großen Konzertaufnahmestudio schleppte.  

    Die heisere Stimme als Alarmsignal 

    In den 1990er Jahren wurden im Radio (und wenn ich mich nicht irre, auch im Fernsehen) die Sitzungen des belarussischen Parlaments übertragen. Uns interessierte kaum, was bei diesen Abgeordneten in ihrem Sowjet (der nicht mal in Rada umbenannt worden war!) vor sich ging. Einzig eine grelle, heisere Stimme zog die Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie in höherer Tonlage etwas verdeutlichte, jemanden beschuldigte oder angriff. Wir gingen andauernd durch die Einlasskontrolle im alten Stalingebäude des Senders, rein und raus, und dort lief immer grad die Live-Übertragung der Sitzungen, und jedes Mal gellte diese hohe Stimme in den Ohren. Wie ein Alarmsignal, ehrlich. Oder gar Fliegeralarm? 

    „Wer schreit da so?“, fragte ich meine Journalistenkollegen. 

    „Achte gar nicht drauf“, antworteten sie, „nur so ein Populist. Macht einen auf Kämpfer gegen die Korruption.“ 

    „Man hört ihn ziemlich oft.“ 

    „Ach, weil er sich ständig ans Mikro drängelt, ist nicht davon wegzukriegen. Zu jedem Thema hat er seine ganz persönliche Meinung.“ 

    Bohème-Leben jenseits der Politik 

    Falls es bis hierhin nicht ohnehin schon klargeworden ist, sage ich es jetzt: Wir lebten damals jenseits der Politik. Ja, Sie haben sich nicht verhört! Wir dachten, wir hätten fertig gekämpft, geschossen und gewonnen, dass wir unser zwar mittelmäßiges, aber unabhängiges Land mit dem Pahonja-Wappen und der weiß-rot-weißen Flagge haben und sich nun die Politiker mit Politik beschäftigen sollen – und wir mit dem, wofür wir geschaffen waren – mit Kreativem und Kunst. Zudem schienen die Sterne günstig dafür zu stehen – überall eröffneten Galerien, Ausstellungsräume, unabhängige Theater, Clubs, Festivals, Literaturvereinigungen – die bekanntesten von ihnen waren die Vereinigung der freien Schriftsteller und Bum-Bam-Lit (ich war Mitglied in beiden), – also eine Unzahl von Möglichkeiten, sich anzuschließen und sich völlig zu öffnen! Es war eine Zeit des großen kreativen Auftriebs, verschiedenster Unternehmungen und spannender, ernstzunehmender Ideen.  

    Und gleichzeitig war es eine Zeit des Bohème-Lebens. Fast täglich gab es Bankette mit kaltem Büffet, feierliche Eröffnungen, Präsentationen und Partys.  

    Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein

    Ich erinnerte mich, wie ich pro forma vor den Wahlen die Auftritte der Kandidaten anschaute. Darunter war auch der stimmstarke Korruptionsbekämpfer. Nachdem ich seinen Auftritt gesehen hatte, war ich absolut davon überzeugt, dass eine solch archaische Person in unserer neuen demokratischen Gesellschaft keinerlei Chancen hat. Und beschäftigte mich weiter mit meinem Kram. Dann ging es weiter wie in einem schlechten Film, in dem die Protagonisten gerade noch tanzen, trinken und lachen, aber plötzlich – Szenenwechsel! – alles ins Gegenteil verkehrt ist – Stille, Halbdunkel, Trübsinn und Trauer. Genauso ist es uns passiert – wir fahren gerade mit dem Taxi zum Sender, um das nächste Keyboard aufzunehmen (das Instrument liegt quer auf unseren Knien, weil es nicht in den Kofferraum passte), lachen und scherzen, weil wir gestern mal wieder auf einer Party waren und die aufgedreht-idiotische Stimmung anhält. Im Taxi läuft das Radio, wir schreiben das Jahr 1994 … Plötzlich hören wir die geschliffenen Worte des Sprechers: „Den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl der Republik Belarus gewann mit großem Abstand …“ 

    „Das kann nicht sein“, sagte ich. 

    „Kann es!“, drehte sich der Taxifahrer um. „Jetzt wird der Sascha es diesen bourgeoisen Unternehmern aber geben! Ganz schnell bringt er die auf Linie!“ 

    Stumme Szene. „Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein“

    In diesem Augenblick begriff ich mit Schrecken, dass eine neue Zeit anbricht – trist, behäbig, schädlich für Leben und Kunst. Außerdem begriff ich, dass wir diese Zeit nicht hatten kommen sehen, weil wir so mit uns selbst beschäftigt waren. Dass wir zu Opfern des klassischen Schemas geworden waren: Wenn du jenseits der Politik stehst, kommt die Politik von ganz allein zu dir. Da war sie nun.  

    Die Redaktion des populären Jugendradiosenders 101.2 protestiert gegen die Schließung des Programms im Jahr 1996 / Foto © Archiv Lavon Volski
    Die Redaktion des populären Jugendradiosenders 101.2 protestiert gegen die Schließung des Programms im Jahr 1996 / Foto © Archiv Lavon Volski

    Was sich in 30 Jahren vor allem verändert hat 

    Seitdem sind schon dreißig Jahre vergangen! Alles gab es in dieser Zeit: Verbote, Tauwetter, Repressionen, demokratisch-liberale Gespenster, Einfrieren und Auftauen, Staatsterror … Und ich begreife, dass ich zu alldem schon bereit gewesen war, nachdem ich einmal den Auftritt unseres Volksherren gehört und ihm in die Augen geschaut hatte … 

    Zu einem solchen Jubiläum beglückwünschen wir einander also, liebe Landsleute! Zu einem traurigen und unerfreulichen Jubiläum. In dreißig Jahren verändert sich in jeder Gesellschaft etwas. Aber das Wichtigste ist, dass sich seitdem – und sogar radikal – die Einstellung der Mehrheit zum (scheinbar) unveränderlichen Führer verändert hat. Aus diesem frohen Anlass (und um euch ein wenig Hoffnung zu geben) gebe ich zu bedenken, dass mit jedem Jubiläum, wie schon der Held in dem satirischen sowjetischen Roman Die zwölf Stühle sagte. „Die Chancen steigen“. Und mit jedem Tag nähern wir uns den neuen Zeiten. 

    Den Sekt haben wir alle innerlich längst kaltgestellt. 

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    Sound des belarussischen Protests

    Hier kommt Belarus!

    KRACH 1991

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    Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    Russki Rock

    Die Wilden 1990er

  • Lukaschenko: Die Frage seiner Gesundheit

    Lukaschenko: Die Frage seiner Gesundheit

    Seitdem Alexander Lukaschenko im Mai 2023 vorzeitig von der Parade zum Tag des Sieges in Moskau abreisen musste, gibt es regelmäßig Spekulationen um den Zustand seiner Gesundheit. Nun nährte der Diktator die Gerüchteküche selbst, als er bei einem Auftritt in seiner ostbelarussischen Heimat durchblicken ließ, dass er Ruhe und Erholung brauche. 

    Spekulationen um das körperliche Wohlbefinden sind der fehlenden Informationstransparenz autokratischer Systeme geschuldet. Schließlich könnte die Nachricht von einer Krankheit des scheinbar unerschütterlichen Anführers dem System einen Schwächefall bescheren, den oppositionelle Gruppierungen und andere herbeisehnen. Falls der Autokrat tatsächlich krank sein sollte, ist das System gemeinhin bemüht, dies vor der Öffentlichkeit zu verbergen, um eine politische Erosion zu verhindern. 

    Für das belarussische Online-Medium Pozirk versucht der Journalist Alexander Klaskowski, Licht ins Dunkel zu Lukaschenkos Zustand zu bringen. Gleichzeitig geht er der Frage nach, wie eine Nachfolge in dem auf Lukaschenko zugeschnittenen Machtapparat organisiert werden könnte.

    Bei einem Auftritt in [der Kleinstadt] Alexandrija äußerte Lukaschenko, dass der Juli für ihn ein schwieriger Monat sei: viele Massenveranstaltungen (besonders die Parade am 3. Juli), die Erntekampagne, und dann musste er auch noch nach Astana zum Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) fliegen. Kurzum, „wirklich schwere Tage“. Daher, so sagte er, beschloss er auf dem Rückweg im Osten von Belarus zu landen: „In der nächsten Zeit werde ich von hier arbeiten und beobachten, wie wir uns auf das Einbringen der Ernte vorbereiten“.

    Eiserner Macho geht nicht mehr

    Die Ernte zu kontrollieren, ist tatsächlich eine der Leidenschaften Lukaschenkos. Früher rückte er mit dem Hubschrauber von Minsk aus an, eilte von Region zu Region und versetzte die lokalen Verwaltungschefs in Angst und Schrecken. Nun hat er beschlossen, in seiner alten Heimat Zuflucht zu suchen, da man dort „buchstäblich innerhalb eines Tages gesund wird, und so stark wie zu früheren Zeiten, als man über diese Erde lief. Man regeneriert sich sehr schnell.“ Der letzte Satz drückt den Wunsch aus, das eigene Wohlbefinden zu verbessern. 

    Zudem war aus dem Mund des Herrschers praktisch eine Beschwerde zu hören, dass Menschenansammlungen negativ auf ihn wirken, da manche ihn im Inneren verfluchen würden. Auch ein ausdrucksstarkes Bekenntnis. Und eine Art Echo des Jahres 2020. All diese Offenbarungen sind Lukaschenko vermutlich nicht leichtgefallen. Viele Jahre hat er das Bild des in jeder Hinsicht mächtigen Herrschers mit eiserner Gesundheit kultiviert, eines echten Machos. Er fuhr Ski, spielte Eishockey, führte vor laufender Kamera schwere Landarbeit aus – mal mit der Sense, mal mit der Axt.

    Jetzt ist ihm also nicht zum Posieren, nicht zur Protzerei zumute. Um sich zu regenerieren, beschloss er an einem beschaulichen Plätzchen abzutauchen. Wenngleich nicht ausgeschlossen ist, dass wir in den nächsten Tagen irgendein Video vom Heumachen oder anderen waghalsigen Aktivitäten zu sehen bekommen. Um uns wissen zu lassen, mit dem Herrscher ist alles in Ordnung, „da könnt ihr noch lange warten“.

     
    Lukaschenko beim Mähen mit der Sense. Der Autokrat inszeniert sich gerne als Mann vom Land / Foto © president.gov.by

    Eine Reaktion auf die Doshd-Berichte?

    Das Gerede über Lukaschenkos Gesundheit hatte sich im Mai vergangenen Jahres verstärkt, als er zunächst bei einer Preisverleihung in Minsk schlecht ausgesehen hatte, danach auch bei der Siegesparade in Moskau, wo er einen Verband am Arm trug. Zur Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten wurde Lukaschenko in einem Elektromobil gefahren. Danach verschwand er für fast eine Woche vollkommen aus der Öffentlichkeit. Als er dann am 15. Mai bei der Kommandozentrale der Armee und der Luftstreitkräfte erschien, verglichen ihn böse Zungen mit einem Exponat aus dem Wachsfigurenkabinett.

    Seitdem bemerkten die Zuschauer immer öfter, dass Lukaschenko hinkte, mit heiserer Stimme sprach, schwer atmete. Einmal zitterte auch sein Kopf. Im Januar dieses Jahres verpasste er ein Hockeyspiel seiner Mannschaft gegen die Rivalen aus dem Gebiet Mahiljou. Erklärt wurde das so: „Er hat Holz gehackt, dabei ist ihm ein 80 Kilogramm schwerer Klotz auf den Fuß gefallen.“ Bei der diesjährigen Parade am 9. Mai blieb Lukaschenko beim Gang zum Grab des Unbekannten Soldaten völlig hinter den anderen Staatsführern zurück. Er rechtfertigte das damit, dass er ins Gespräch mit Sergej Schoigu vertieft war. Und kürzlich berichtete der Fernsehsender Doshd, Lukaschenko sei beim SOZ-Gipfel in Kasachstan schlecht geworden. Vielleicht ist Alexandrija nun der Versuch, die Wirkung dieser Nachricht abzumildern. 

    Hindernislauf bei der Machtübergabe

    In Diktaturen ist der Gesundheitszustand des Führers ein Geheimnis mit sieben Siegeln. Wir können nicht einschätzen, wie ernst Lukaschenkos Beschwerden sind. Aber auch ohne Fachleute ist klar, dass er weder jünger noch gesünder wird, gegen die Biologie ist kein Kraut gewachsen. Und das weiß er auch. Immer häufiger kommt er auf das Thema zu sprechen, dass ein Generationswechsel auf Staatsebene unausweichlich ist. Mehr noch, er hat die Verfassung auf einen Machtwechsel zugeschnitten. Die Allbelarussische Volksversammlung ist mit ihren weitreichenden Befugnissen als jenes Organ konzipiert, das den nachfolgenden Präsidenten kontrollieren soll. 

    Nur den Schritt zum Machtwechsel selbst geht dieser Mensch nicht, der seit 30 Jahren an der Spitze des Staates steht. Zur Absicherung hat er sich erst einmal noch einen zweiten Thron gesichert – den Vorsitz der Volksversammlung. Und er teilte mit, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2025 antreten wird. Einiges deutet darauf hin, dass er sich bereits auf den Wahlkampf vorbereitet. Einerseits werden die Repressionen fortgesetzt, um den illoyalen Teil der Bevölkerung in Schach zu halten. Anderseits hat er gerade eine Handvoll politische Gefangene freigelassen, um sein Image aufzubessern und dem Westen ein Signal zu senden. 
     

    Alexander Lukaschenko im Mai 2023 auf dem Eurasischen Wirtschaftsforum / Foto © Maxim Grigoyev/Imago/Itar-Tass

    Mit dem Gedanken der Machtübergabe steht Lukaschenko offensichtlich auf Kriegsfuß. Wahrscheinlich treibt ihn die tragische Erfahrung Nursultan Nasarbajews um. Zudem scheint er nicht überzeugt, dass eine andere Person mit seinem Amt zurechtkommen könnte. Diese Zweifel hat er sogar schon laut geäußert. Und die Frage ist berechtigt. Der autokratische Herrscher hat eine Umgebung loyaler ausführender Kräfte geschaffen. Das sind alles Funktionäre. Aber andere Politiker, außer dem Führer selbst, gibt es im Land im Grunde nicht. 

    Viele sind Meister der Gottespreisung – aber können sie gleichzeitig rücksichtslos gegenüber Feinden und äußerst geschmeidig im Verhältnis zum „Erzverbündeten“ sein? Können sie listig sein, zwischen Regentropfen hindurchschlüpfen, Intrigen an der Wurzel ausreißen und zu guter Letzt auch im kritischen Moment die Macht fest in der eisernen Umklammerung halten? Eine solche Palette an Talenten und Fähigkeiten in Zusammenspiel mit thermonuklearem Willen ist tatsächlich selten. Das Ruder aus der Hand zu geben ist wahrscheinlich auch deshalb erschreckend, weil er sich um das eigene Schicksal und das der Familie im weiteren Sinne sorgt. Den Thron also vererben? Der Jüngste, Nikolaj, ist noch zu jung, der mittlere, Dimitri, hat offensichtlich kein Händchen für die Politik, und über das Verhältnis zum Ältesten, Viktor, hört man Verschiedenes. Jedenfalls gibt es keine Anzeichen dafür, dass er in die Spur geschickt wird. 

    Tichanowskaja wird nicht sofort triumphierend im Land einziehen

    Bis zuletzt hat Lukaschenko in Bezug auf seine Machtübergabe also prokrastiniert. Böse Zungen sagen voraus, dass das Finale letztlich so aussehen könnte wie bei Stalin. Auf welche Gedanken der Regent bei seiner aktuellen Reha in der alten Heimat kommt, wissen wir noch nicht. Aber die Menschen in seinem engeren Umfeld und viele in der Machtvertikale haben vermutlich schon alle möglichen Gedanken zu dem Thema im Kopf: Was kommt danach?

    Das ist übrigens ein weiterer Grund für einen Autokraten, keinen Nachfolger zu benennen. Es macht einen sofort zur lahmen Ente, alle Amtsträger würden sich zunehmend auf den zukünftigen Chef ausrichten. Gleichzeitig schaut ein Teil der Machtvertikale vermutlich sorgenvoll auf die Zukunft ohne Lukaschenko. Wenn nun plötzlich das System ohne harte Hand direkt den Bach runtergeht und sich die „fünfte Kolonne“ mithilfe des Westens rächt und die Diener des alten Regimes an den Straßenlaternen aufhängt?

    Die Regimegegner indes erwarten das Ende der Epoche Lukaschenko natürlich voller Hoffnung (nicht umsonst erwähnte er in Alexandrija jene, die ihn verfluchen). Manch einer behauptet: An diesem Tag wird der Sekt ausverkauft sein. Ja, aber hoffentlich gibt es am Morgen danach kein böses Erwachen. Das Problem ist ja nicht nur der grausame, charismatische Herrscher. Man muss auch sehen, dass dieses System zahlreiche Befürworter hat. Das sind die Silowiki, ein bedeutender Teil der Staatsverwaltung (obwohl dort vermutlich viele heimlich von einem Regime mit menschlicherem Antlitz träumen), das höfische Business, die Mitbürger, die Angst vor Krieg haben, eine große Zahl von Rentnern, Arbeiter in unrentablen Staatsbetrieben, und einfach lupenreine Lukaschisten. Daher darf man nicht denken, dass Swetlana Tichanowskaja sofort im weißen Jeep in Minsk einfahren wird. 

    Moskau wacht gierig

    Manche Politikexperten sagen, dass der nächste Präsident, wer es auch sein mag, gezwungen sein wird, die Daumenschrauben zu lockern. Aber was, wenn es ein blutbefleckter Silowik wird? Am Ende ist da noch Moskau, das die belarussische Frage hartnäckig verfolgt. Und natürlich bemüht ist, im Falle einer „Danach“-Situation Belarus noch zuverlässiger in die Mangel zu nehmen. 

    Lässt der Kreml einem hypothetischen Reformator aus der belarussischen Nomenklatura freie Bahn? Oder beschließt er angesichts dieser Freiheiten, das Land als extrem wichtigen strategischen Aufmarschplatz zu annektieren? Menschen mit prorussischem Gedankengut gibt es in der hiesigen Vertikale, besonders unter den Silowiki, ja mehr als genug. Kurz, das Ende von Lukaschenkos Herrschaft wird zu einem kritischen Moment für das Schicksal von Belarus. 

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  • Belarus: Bleiben oder gehen?

    Belarus: Bleiben oder gehen?

    Die Journalistin Olga Loiko, einst Chefredakteurin für die Bereiche Politik und Wirtschaft beim einflussreichen Online-Medium Tut.by, das 2021 von den belarussischen Machthabern liquidiert wurde, wusste, dass sie Belarus schnell verlassen muss. Nachdem sie fast ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde sie im März 2022 auf freien Fuß gesetzt, ohne dass die Anklage gegen sie fallengelassen wurde. Sie entschied sich umgehend zur Flucht. Im Oktober 2022 setzte der KGB sie schließlich auf die Fahndungsliste für Personen, die sich „an Aktivitäten von terroristischen Organisationen“ beteiligt haben. Sie kann deswegen nicht zurück nach Belarus. 

    Wann kommt bei anderen der Punkt, an dem man sich tatsächlich entscheidet, Belarus zu verlassen? Ob es die Angst ist, im Zuge politischer Verfolgung festgenommen zu werden. Gleichzeitig ist da die Furcht, ins Ausland zu gehen, wo man in einer fremden Welt ein neues Leben aufbauen muss, wissend, dass man seine Liebsten in der Heimat womöglich nie mehr wieder sieht. Wie plant man seine Flucht? Was muss man alles bedenken? Mit diesen schwierigen und schmerzhaften Fragen befasst sich Olga Loiko in einem Text für die Online-Plattform Plan B. 

    Die Journalistin Olga Loiko war gezwungen, Belarus zu verlassen / Foto © Siarhei Balai
    Die Journalistin Olga Loiko war gezwungen, Belarus zu verlassen / Foto © Siarhei Balai

    Tausende Notfalltaschen haben die Belarussen seit 2020 gepackt. Wechselwäsche, Zahnputzzeug, Thermounterhosen, Hygieneartikel. Der eine stellt sie an einen sichtbaren Ort mit detaillierten Anweisungen für die Angehörigen, der andere schiebt sie möglichst weit aus dem Blickfeld. Die Taschen stehen in unsanierten Mietwohnungen oder im Kofferraum schicker Autos und warten darauf, dass ihre Stunde schlägt. Vielen haben sie schon genutzt. Bestenfalls nicht im Gefängnis, sondern auf der Flucht aus dem Land.

    Oder doch hierbleiben?

    Eine geplante Ausreise ist mühevoll und erfordert eine mehrstufige Vorbereitung. Es gibt lange Debatten: Wohin überhaupt, was wird mit Arbeit, Wohnung, Besitzstand in Belarus, Verwandten. Man braucht Visa, Vollmachten, Apostillen, Katzenimpfungen. Anders sieht es im Fall einer plötzlichen Bedrohung aus. Oder einer verschärften. Als ich nach zehn Monaten hinter Gittern aus dem Untersuchungsgefängnis freikam, wusste ich genau, dass eine Ausreise unvermeidlich ist. Glücksspiel mit der Staatsmacht ist eine schlechte Idee, besonders, wenn es ein Spiel ohne Regeln ist. Wenn einfach Asse aus dem Ärmel gezogen werden können. Wenn einfach alle Trümpfe aussortiert werden.

    Ich will nicht weg. 45 Jahre mehr oder weniger geordnetes Leben sind nicht nichts. Verwandte, Eigentum, die Überzeugung, dass das hier mein Land ist. Mit all seinen Ecken und Kanten. Andererseits habe ich auch keinen Hang zu co-abhängigen Beziehungen. Ich glaube nicht an Liebe ohne Gegenseitigkeit. An ein „ich bleibe um jeden Preis“. Darin steckt etwas von Lukaschenkos „die Geliebte gibt man nicht her“. Oder Kotschanowas „Ich halte zu ihm bis zum Schluss“. Wenn meine Anwesenheit der Heimat so lästig ist, dass sie mich eine gefährliche Verbrecherin nennt, inhaftiert und dann auch noch zur „Terroristin“ erklärt, sollten wir doch besser getrennt wohnen. Für eine gewisse Zeit oder für immer. 

    Und das ist für viele der Stolperstein. Ein One-Way-Ticket. Niemals nach Hause zurückkehren. Nie mehr die Eltern sehen. Auf verschiedenen Seiten der Grenze sein, mit Kindern, Partnern, Freunden. Am neuen Ort nicht einleben können. Für diejenigen, die das Gefängnis hinter sich haben, ist es leichter: das Leben grundlegend zu ändern ist weniger schlimm, als wieder hinter Gittern zu landen. Die Familie und alle Angehörigen werden sich besser fühlen, wenn ich nicht im Gefängnis bin. Es ist ruhiger und billiger.
     

    Die Illustrationen zu diesem Text wurden von einer ehemaligen politischen Gefangenen gezeichnet, die Folter und Zwangsemigration erlebt hat. Ihr Pseudonym: Who Is

    Punkt ohne Wiederkehr

    Es ist wichtig, die Entscheidung selbst zu treffen. Es wird viele Pseudounterstützer geben. Der Druck, der im Land auf einem lastet, kommt der Belastung zehn Meter unter Wasser gleich. Verlass das Land! Du musst das Land verlassen! Warum geht sie nicht? Alle geben Ratschläge, egal ob sie noch im Land sind oder schon draußen. Es ist gut, wenn man die Möglichkeit hat, das Thema in Ruhe mit jemandem zu besprechen, der noch bei Verstand ist. Wie gefährlich es sein kann, wenn jemand das Land nicht rechtzeitig verlässt, können die Angeklagten von Gruppenverfahren berichten. Es ist also auch Teil des Spiels, das Land so zu verlassen, dass man niemanden im eigenen Umfeld gefährdet.

    Den Ratgebern möchte ich raten: Wenn ihr euch solche Sorgen um jemanden macht, bietet ihm Hilfe an. „Wenn du das Land verlässt, können wir auf deine Wohnung aufpassen/ deinen Eltern im Haushalt helfen/ deine Katze oder deinen Kanarienvogel vorübergehend bei uns aufnehmen/ dir mit dem Visum helfen/ dir Tipps geben, wo du kostenlos bei Freunden in Warschau oder Vilnius unterkommen kannst.“

    Gut zu wissen: Egal wie präzise euer Ausreiseplan ausgearbeitet ist, seid bereit, alles über den Haufen zu werfen, wenn die Gefahr plötzlich um die Ecke kommt. Rote Linien – Eröffnung eines Strafverfahrens, Ergänzung eines neuen Anklagepunktes und ähnliches – sind rote Linien. Die Hauptsache ist dann, nicht innezuhalten, indem man sich farbenblind oder kurzsichtig stellt. Tasche schnappen, Haus verlassen …

    Man muss fahren

    Geschichten darüber, wie Belarussen der Umarmung des Heimatlandes entfliehen, gibt es unzählige. Über Felder, durch Flüsse, über Zäune, Flughäfen, Busbahnhöfe, Züge. „Sie werden schießen – und das nicht zur Warnung. Sie müssen 500 Meter rennen, das schaffen Sie.“ „Bei Ihrem Pass klingelt was, sie werden ihn mitnehmen, ein FSB-Mann wird Sie befragen – es dauert nicht lange, maximal 20 Minuten. Bemühen Sie sich, ruhig zu bleiben.“ „Vergessen Sie nicht, aus dem Zug auszusteigen. Manche sind so aufgewühlt und aufgeregt, dass sie es vergessen.“ Die redlichen, gesetzestreuen und manchmal sogar ängstlichen Belarussen haben sich in einer neuen Realität wiedergefunden. 

    Das Gesetz brechen? Im Januar 2021 terrorisierte ich nur das zuständige Finanzamt – ich wollte ganz schnell 50 Rubel Einkommensteuer zahlen! „Was heißt hier: Warten Sie, die Summe wurde noch nicht eingefordert? Dann fordern Sie sie ein! Lassen Sie es uns händisch eingeben! Was, wenn ich verhaftet werde, wer zahlt dann die Steuer für mich?“ Die Mitarbeiterinnen der Steuerbehörde schauten einander perplex an, aber dann verstanden sie die Situation.

    Und nun habe ich den Status „Terrorist“ und ein Ausreiseverbot und verlasse das Land unter der wachsamen Führung des BYSOL-Teams (viele Grüße an alle und danke nochmals!). Jetzt breche ich wirklich das Gesetz, so weit ist es gekommen.
     

    Illustration © Who Is

    Unterwegs

    Im Grunde ist alles ganz einfach. Grundlegende Vorsichtsmaßnahmen, das Telefon zuhause lassen (stattdessen ein „sauberes“ Telefon mitnehmen), Freunde vorwarnen (wo muss der Ausreisende im Fall des Notanrufs abgeholt werden, wie bekommen die Verwandten die Schlüssel usw.) Die Familie weiß am besten von nichts – sie muss die Ungewissheit aushalten, dafür aber auch nicht lügen.

    Ein leichtes Schneegestöber weht durch die Straßen von Minsk. Ich empfinde kein bisschen „Abschied von der Heimat“. Eigentlich wäre es angebracht, es wirklich an mich heranzulassen. Das kommt später. Schnell der Abschied von den Freunden (Der Gedanke „Es ist doch für immer“ huscht vorbei. Nur fast richtig geraten. Es ist noch kein Jahr vergangen, und wir sind wieder Nachbarn.) Die Marschrutka, die keine ist, steht in der Toreinfahrt des Bahnhofs. Los geht’s.

    Es müsste schrecklich sein, dabei ist es einfach nur surreal. „Hast du deinen Pass?“ „Klar, wie soll ich sonst über die Grenze kommen? Er wird kontrolliert, dachte ich …“ Es stellt sich heraus, dass man auch leicht ohne Pass über die Grenze kommt, es kostet nur zweieinhalb Mal so viel. Im Auto sitzen der gerissene Fahrer, zwei Damen russischer Staatsbürgerschaft von zweifelhafter Beschäftigung – und eben ohne Pässe, zehn Beagle-Welpen mit gefälschten Dokumenten und ich, Terroristin auf der Flucht oder James Bond mit Minimaleinkommen. 

    Die Grenzkontrolle ist rein formal, wir halten nur unsere Dokumente hoch – und schon sind wir auf russischem Staatsgebiet. Nur die zwei Frauen ohne Pass müssen anschließend aus der Dachgepäckbox geholt werden – schon kann es weitergehen.

    Über die verschiedenen Fluchtrouten wurde schon viel erzählt. Vielleicht unnötigerweise. Die Machthaber müssen besser nicht alles wissen, und die neuen Flüchtlinge nicht allzu sehr auf schon beschriebene Fluchtrouten setzen. Sie können sich als kompromittiert erweisen und gefährlich sein. Es gibt Leute, die sich mit der Evakuierung befassen, mit den Routen und Visa, professionell. Es ist besser, sie zu Rate zu ziehen.

    Und danach?

    Was danach kommt, ist unterschiedlich. Manchen fallen die ersten Tage schwer. Oft sind das diejenigen, die ins Unbekannte gefahren sind. Dann folgt die Euphorie über das Gefühl der Sicherheit. Man muss nicht bei jedem Anruf zusammenzucken, bei jedem Klopfen an der Tür, bei Stimmen im Treppenhaus, bei den charakteristischen Bussen ohne Nummernschild (oder auch mit). Dann folgt die Bürokratie, das Asylverfahren. Ein Haufen komplizierter Angelegenheiten und Probleme. Oft bedrückend, aber immer lösbar. Es wird ein Meer von Emotionen sein. Die Freude über Begegnungen mit Freunden und neue Reisen. Die Verzweiflung darüber, geliebten Menschen, die in Belarus geblieben sind, nicht helfen zu können. Unsicherheit bei der Arbeitssuche. 

    Es wird Frust geben, und Enttäuschung. Bei vielen auch den Wunsch zurückzukehren. Ich respektiere jede Entscheidung. Zu viele Faktoren haben Einfluss darauf. Zu schwierig ist es, bei Null zu beginnen, besonders, wenn man nicht mehr ganz jung und gesund ist. Zu schmerzhaft ist es, einen Teil der Familie zurückzulassen, und zu teuer, alle mitzunehmen.

    Glaubt man Remarque, und es gibt nicht viele Schriftsteller, die so tief in die Gefühlswelt von Menschen eingetaucht sind, die in die Emigration gezwungen wurden, so steht einer der schwierigsten Abschnitte noch bevor. Wenn (und falls) es möglich sein wird zurückzukehren, wird man es dann tun? Wird man das endlich wieder geordnete Leben (irgendwann wird es ja wieder geordnet sein) dann wieder aufgeben? Aber das ist schon eine andere Geschichte.

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    Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

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  • Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben

    Vor 30 Jahren wurde Alexander Lukaschenko bei der wohl offensten und fairsten Wahl in der Republik Belarus zum Präsidenten gewählt. Damals hatte das Land 10,2 Millionen Einwohner, heute sind es nur noch 9,2 Millionen. Wegen der scharfen politischen Verfolgung seit 2020 haben bis zu 500.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Die Geburtenrate sinkt seit Jahren. Lew Lwowsi, Direktor der Organisation BEROC gibt düstere Prognosen: „Wenn wir die aktuelle Geburtenrate beibehalten, wird es am Ende des Jahrhunderts nur noch 3 bis 3,5 Millionen Einwohner geben.“ Der Mangel an Menschen, die entweder im Gefängnis sitzen oder das Land verlassen, stellt auch das System Lukaschenko vor enorme Herausforderungen. Vor allem im Hinblick auf die für 2025 angekündigten Präsidentschaftswahlen.

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija, welche wirtschaftlichen und sozialen Minenfelder Lukaschenkos Zukunft bedrohen.

    Der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija sieht in den drängendsten wirtschaftlichen Problemen Belarus Parallelen zum Computerspiel Minesweeper / Foto © imago-images/Pond 5 Images

    Wie im Spiel Minesweeper

    Der Vergleich der Zukunft mit einem Minenfeld entspricht vollkommen der militaristischen Rhetorik, die Einzug gehalten hat, seit Russland mit seiner vollumfänglichen Invasion in der Ukraine eine geopolitische Krise in Europa hervorgerufen hat. Ähnliche Vergleiche verwenden auch Wirtschaftsexperten, etwa Konstantin Ssonin, wenn er über Zeitbomben spricht, die Wladimir Putin der russischen Wirtschaft als Erbe hinterlässt. Auch die belarussische Wirtschaft wird vom aktuellen Regime ein komplexes und gefährliches Minenfeld erben.

    Bei der Analyse der brennendsten Probleme kann man Parallelen zu dem alten Computerspiel Minesweeper ziehen: Bereits heute kann eine Reihe zukünftiger Probleme mit Fähnchen markiert werden. Ein großer Teil des Problemfeldes ist jedoch noch nicht aufgedeckt, es bleibt ein Rätsel, wo die Gefahren lauern. Dennoch wollen wir versuchen, die Schlüsselprobleme zu benennen, die der Wirtschaft in Belarus unausweichlich bevorstehen und deren Wurzeln in Fehlentscheidungen der Führungsebene im Verlauf der letzten 30 Jahre liegen – der Epoche Alexander Lukaschenkos.

    Die Politik des Regimes hat das demografische Problem verschärft

    Erstes und wirklich entscheidendes Problem, das das die belarussische Wirtschaft lösen muss, ist die Demografie. Obwohl ihr natürliche Ursachen zugrunde liegen, werden die negativen Folgen durch die repressive Politik des herrschenden Regimes um ein Vielfaches verstärkt. Hunderttausende Belarussen waren gezwungen, das Land zu verlassen. Der eklatante Mangel an qualifizierten Fachkräften, die einen Kurs der wirtschaftlichen Regeneration unterstützen könnten, wird zur dauerhaften Gefahr für die Zukunft.

    Die demografischen Probleme sind eng mit sozialen Problemen verbunden. Wenn die Zeit der Reformen erst kommt, wird sich die Transformation des Wirtschaftssystems unweigerlich auf das Lebensniveau auswirken. Je länger Reformen aufgeschoben werden, desto schmerzlicher wird später die Anpassung an neue wirtschaftliche Realitäten. Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Marktwirtschaft üblicherweise zu einer stärkeren Ungleichheit der Einkommen führt. Das aktuelle, scheinbar gute Niveau ökonomischer Gleichheit in Belarus stellt in Wirklichkeit eine Gleichheit der Armen dar, daher kann es nicht die Basis für eine sozialverträgliche Zukunft sein.

    Geklärt werden müssen Sanktionen, Schulden und die Anbindung an Russland

    Ein offensichtliches Problem, das wir von der aktuellen politischen Führung erben werden, sind die vielfältigen Sanktionen, die gegen die belarussische Wirtschaft verhängt wurden. Setzt eine neue Generation von Führungskräften eine Politik fort, die den internationalen Standards widerspricht, so wird der Sanktionsdruck bestehen bleiben oder sich gar verstärken. Dies wirkt sich wiederum negativ auf den Außenhandel und den Zugang zu internationalen Märkten aus. Nur eine Aufhebung der Sanktionen ermöglicht eine Entwicklung der belarussischen Wirtschaft. Aber dafür braucht es politischen Willen.

    Ein weiteres hausgemachtes Problem, für das die jetzige Führung Verantwortung trägt, ist die feste Anbindung der Wirtschaft an die Russische Föderation. Belarus hängt enorm von der wirtschaftlichen Unterstützung aus Moskau ab, unter anderem von Energielieferungen zu günstigeren Preisen, von Haushaltszuschüssen und dem Zugang zum russischen Markt. Russland ist der Hauptabnehmer für belarussische Exportwaren und stellt den einzigen großen Handelsweg dar, der Zugang zu Drittstaaten ermöglicht.

    Ein Wechsel des wirtschaftlichen Paradigmas in Belarus würde unweigerlich zu einer Änderung im Verhältnis zu Russland, zu einer Reduzierung der Unterstützung und der Begünstigungen führen. Das Beispiel anderer osteuropäischer Staaten zeigt allerdings, dass selbst eine starke Abhängigkeit vom „Energieimperium“ überwunden werden kann, wodurch schließlich eine normale Entwicklung nach Marktprinzipien möglich wird.

    Auch die hohe Schuldenbelastung wird an die zukünftige Generation der belarussischen Führungskräfte vererbt. Seit das Land Ende der 2000er Jahre seinen Zugang zu billigen russischen Energieträgern verlor – die Vergünstigungen blieben zwar bestehen, aber in geringerem Umfang –, ist die Auslandsverschuldung beträchtlich gestiegen. Dass sie in den letzten Jahren leicht zurückging, ist eher ein negatives Zeichen, da es davon zeugt, dass sich die belarussische Wirtschaft am Rande der Welt befindet und für Investoren uninteressant ist. Auch wenn die aktuelle Auslandsverschuldung kein kritisches Ausmaß hat, muss der Staat für die Bedienung der Kredite unbedingt am globalen Kapitalmarkt teilnehmen. Hier steht Belarus offensichtlich vor Schwierigkeiten, da die Zusammenarbeit mit den führenden internationalen Wirtschaftsstrukturen gekappt ist. Folglich wird die Belastbarkeit der wirtschaftlichen Ausrichtung zukünftiger belarussischer Regierungen in großem Maße davon abhängen, ob sie die Auslandsverschuldung beherrschen und Beziehungen zu potenziellen Kreditoren aufbauen können.

    Eine weitere Bedrohung: Der Schlag auf sozialem Gebiet

    Ein weniger offensichtliches, aber wichtiges Problem, das aus den vorab genannten resultiert, ist die potenzielle Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. Früher wurde sie mithilfe ausländischer Geldgeber modernisiert. Da diese nun fehlen, geht die Finanzierung vollkommen zulasten des Haushaltes, dessen Möglichkeiten höchst begrenzt sind. Die Unterhaltung eines ausreichenden Maßes an Infrastruktur und ihre Qualität wird zur deutlichen Herausforderung für die nächste Generation belarussischer Führungskräfte.

    In einer Transformationskrise, die durch einen (früher oder später einfach notwendigen) Umbau des Wirtschaftssystems entsteht, können sich die Staatsausgaben für Gesundheitsversorgung, Bildung und Soziales verringern. Das wiederum wird zu einer Absenkung des Lebensniveaus führen, den sozialen Druck verstärken und so potenziell die Situation im Land destabilisieren. Insofern gewinnt die Unterstützung von Seiten internationaler Wirtschaftsinstitute an Bedeutung. Doch mit ihnen muss man zunächst eine gemeinsame Sprache finden.

    Die Rezepte sind bekannt

    Wir haben hier nur die aktuellsten Probleme der belarussischen Wirtschaft aufgezählt. Eigentlich müsste man sich bereits jetzt sorgfältig auf Reformen vorbereiten, um negative Folgen in der Zukunft zu minimieren, müsste detaillierte Pläne für einen Übergang zu einer wirklichen Marktwirtschaft ausarbeiten, die alle möglichen Risiken und Gegenstrategien berücksichtigt.

    Wichtig dabei ist, die soziale Absicherung der Bevölkerung zu gewährleisten, Unterstützungsprogramme für Arbeitslose, Rentner und andere sozial vulnerable Gruppen zu entwickeln. Das aktuelle System der sozialen Unterstützung wird in der Zukunft nicht mehr wirksam funktionieren. Um die Wirtschaft zu fördern, muss unbedingt das Wachstum der Privatwirtschaft stimuliert werden, indem günstige Entwicklungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen geschaffen werden. Darüber hinaus muss die unmäßige Abhängigkeit von dem einen ausländischen Markt beseitigt werden. Es braucht eine Diversifizierung der Wirtschaft, eine Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffexporten, die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige und neue Absatzmärkte. Dabei müssen unbedingt die Fehler vermieden werden, die zu Beginn der 1990er Jahre begangen wurden. Dafür ist ein transparentes und rechenschaftspflichtiges System der staatlichen Verwaltung notwendig.

    Eigentlich ist alles recht klar. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Viele postkommunistische Staaten sind einen ähnlichen Weg gegangen. Nur wäre es naiv, auf eine Erleuchtung der aktuellen belarussischen Staatsführung zu hoffen. Um ihre Macht im Hier und Jetzt zu sichern, legt sie weiter Minen unter die Zukunft.

  • Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben

    Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben

    Vor 30 Jahren wurde Alexander Lukaschenko bei der bis heute wohl offensten und fairsten Wahl in der Republik Belarus zum Präsidenten gewählt. Damals hatte das Land 10,2 Millionen Einwohner, heute sind es nur noch 9,2 Millionen. Wegen der scharfen politischen Verfolgung seit 2020 haben bis zu 500.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Die Geburtenrate sinkt seit Jahren. Lew Lwowsi, Direktor der Organisation BEROC gibt düstere Prognosen: „Wenn wir die aktuelle Geburtenrate beibehalten, wird es am Ende des Jahrhunderts nur noch 3 bis 3,5 Millionen Einwohner geben.“ Die Vielzahl an Menschen, die entweder im Gefängnis sitzen oder das Land verlassen, stellt auch das System Lukaschenko vor enorme Herausforderungen. Vor allem im Hinblick auf die für 2025 angekündigten Präsidentschaftswahlen. 

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija, welche wirtschaftlichen und sozialen Minenfelder Lukaschenkos Zukunft bedrohen.

    Der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija sieht in den drängendsten wirtschaftlichen Problemen Belarus Parallelen zum Computerspiel Minesweeper / Foto © imago-images/Pond 5 Images

    Wie im Spiel Minesweeper

    Der Vergleich der Zukunft mit einem Minenfeld entspricht vollkommen der militaristischen Rhetorik, die Einzug gehalten hat, seit Russland mit seiner vollumfänglichen Invasion in der Ukraine eine geopolitische Krise in Europa hervorgerufen hat. Ähnliche Vergleiche verwenden auch Wirtschaftsexperten, etwa Konstantin Sonin, wenn er über Zeitbomben spricht, die Wladimir Putin der russischen Wirtschaft als Erbe hinterlässt. Auch die belarussische Wirtschaft wird vom aktuellen Regime ein komplexes und gefährliches Minenfeld erben.

    Bei der Analyse der brennendsten Probleme kann man Parallelen zu dem alten Computerspiel Minesweeper ziehen: Bereits heute kann eine Reihe zukünftiger Probleme mit Fähnchen markiert werden. Ein großer Teil des Problemfeldes ist jedoch noch nicht aufgedeckt, es bleibt ein Rätsel, wo die Gefahren lauern. Dennoch wollen wir versuchen, die Schlüsselprobleme zu benennen, die der Wirtschaft in Belarus unausweichlich bevorstehen und deren Wurzeln in Fehlentscheidungen der Führungsebene im Verlauf der letzten 30 Jahre liegen – der Epoche Alexander Lukaschenkos.

    Die Politik des Regimes hat das demografische Problem verschärft

    Erstes und wirklich entscheidendes Problem, das die belarussische Wirtschaft lösen muss, ist die Demografie. Obwohl ihr natürliche Ursachen zugrunde liegen, werden die negativen Folgen durch die repressive Politik des herrschenden Regimes um ein Vielfaches verstärkt. Hunderttausende Belarussen waren gezwungen, das Land zu verlassen. Der eklatante Mangel an qualifizierten Fachkräften, die einen Kurs der wirtschaftlichen Regeneration unterstützen könnten, wird zur dauerhaften Gefahr für die Zukunft.

    Die demografischen Probleme sind eng mit sozialen Problemen verbunden. Wenn die Zeit der Reformen erst kommt, wird sich die Transformation des Wirtschaftssystems unweigerlich auf das Lebensniveau auswirken. Je länger Reformen aufgeschoben werden, desto schmerzlicher wird später die Anpassung an neue wirtschaftliche Realitäten. Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Marktwirtschaft üblicherweise zu einer stärkeren Ungleichheit der Einkommen führt. Das aktuelle, scheinbar gute Niveau ökonomischer Gleichheit in Belarus stellt in Wirklichkeit eine Gleichheit der Armen dar, daher kann es nicht die Basis für eine sozialverträgliche Zukunft sein.

    Geklärt werden müssen Sanktionen, Schulden und die Anbindung an Russland

    Ein offensichtliches Problem, das wir von der aktuellen politischen Führung erben werden, sind die vielfältigen Sanktionen, die gegen die belarussische Wirtschaft verhängt wurden. Setzt eine neue Generation von Führungskräften eine Politik fort, die den internationalen Standards widerspricht, so wird der Sanktionsdruck bestehen bleiben oder sich gar verstärken. Dies wirkt sich wiederum negativ auf den Außenhandel und den Zugang zu internationalen Märkten aus. Nur eine Aufhebung der Sanktionen ermöglicht eine Entwicklung der belarussischen Wirtschaft. Aber dafür braucht es politischen Willen.

    Ein weiteres hausgemachtes Problem, für das die jetzige Führung Verantwortung trägt, ist die feste Anbindung der Wirtschaft an die Russische Föderation. Belarus hängt enorm von der wirtschaftlichen Unterstützung aus Moskau ab, unter anderem von Energielieferungen zu günstigeren Preisen, von Haushaltszuschüssen und dem Zugang zum russischen Markt. Russland ist der Hauptabnehmer für belarussische Exportwaren und stellt den einzigen großen Handelsweg dar, der Zugang zu Drittstaaten ermöglicht.

    Ein Wechsel des wirtschaftlichen Paradigmas in Belarus würde unweigerlich zu einer Änderung im Verhältnis zu Russland, zu einer Reduzierung der Unterstützung und der Begünstigungen führen. Das Beispiel anderer osteuropäischer Staaten zeigt allerdings, dass selbst eine starke Abhängigkeit vom „Energieimperium“ überwunden werden kann, wodurch schließlich eine normale Entwicklung nach Marktprinzipien möglich wird.

    Auch die hohe Schuldenbelastung wird an die zukünftige Generation der belarussischen Führungskräfte vererbt. Seit das Land Ende der 2000er Jahre seinen Zugang zu billigen russischen Energieträgern verlor – die Vergünstigungen blieben zwar bestehen, aber in geringerem Umfang –, ist die Auslandsverschuldung beträchtlich gestiegen. Dass sie in den letzten Jahren leicht zurückging, ist eher ein negatives Zeichen, da es davon zeugt, dass sich die belarussische Wirtschaft am Rande der Welt befindet und für Investoren uninteressant ist. Auch wenn die aktuelle Auslandsverschuldung kein kritisches Ausmaß hat, muss der Staat für die Bedienung der Kredite unbedingt am globalen Kapitalmarkt teilnehmen. Hier steht Belarus offensichtlich vor Schwierigkeiten, da die Zusammenarbeit mit den führenden internationalen Wirtschaftsstrukturen gekappt ist. Folglich wird die Belastbarkeit der wirtschaftlichen Ausrichtung zukünftiger belarussischer Regierungen in großem Maße davon abhängen, ob sie die Auslandsverschuldung beherrschen und Beziehungen zu potenziellen Kreditgebern aufbauen können. 

    Eine weitere Bedrohung: Der Schlag auf sozialem Gebiet

    Ein weniger offensichtliches, aber wichtiges Problem, das aus den vorab genannten resultiert, ist die potenzielle Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. Früher wurde sie mithilfe ausländischer Geldgeber modernisiert. Da diese nun fehlen, geht die Finanzierung vollkommen zulasten des Haushaltes, dessen Möglichkeiten höchst begrenzt sind. Die Unterhaltung eines ausreichenden Maßes an Infrastruktur und ihre Qualität wird zur deutlichen Herausforderung für die nächste Generation belarussischer Führungskräfte. 

    In einer Transformationskrise, die durch einen (früher oder später einfach notwendigen) Umbau des Wirtschaftssystems entsteht, können sich die Staatsausgaben für Gesundheitsversorgung, Bildung und Soziales verringern. Das wiederum wird zu einer Absenkung des Lebensniveaus führen, den sozialen Druck verstärken und so potenziell die Situation im Land destabilisieren. Insofern gewinnt die Unterstützung von Seiten internationaler Wirtschaftsinstitute an Bedeutung. Doch mit ihnen muss man zunächst eine gemeinsame Sprache finden. 

    Die Rezepte sind bekannt

    Wir haben hier nur die aktuellsten Probleme der belarussischen Wirtschaft aufgezählt. Eigentlich müsste man sich bereits jetzt sorgfältig auf Reformen vorbereiten, um negative Folgen in der Zukunft zu minimieren, müsste detaillierte Pläne für einen Übergang zu einer wirklichen Marktwirtschaft ausarbeiten, die alle möglichen Risiken und Gegenstrategien berücksichtigen. 

    Wichtig dabei ist, die soziale Absicherung der Bevölkerung zu gewährleisten, Unterstützungsprogramme für Arbeitslose, Rentner und andere sozial vulnerable Gruppen zu entwickeln. Das aktuelle System der sozialen Unterstützung wird in der Zukunft nicht mehr wirksam funktionieren. Um die Wirtschaft zu fördern, muss unbedingt das Wachstum der Privatwirtschaft stimuliert werden, indem günstige Entwicklungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen geschaffen werden. Darüber hinaus muss die unmäßige Abhängigkeit von dem einen ausländischen Markt beseitigt werden. Es braucht eine Diversifizierung der Wirtschaft, eine Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffexporten, die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige und neue Absatzmärkte. Dabei müssen unbedingt die Fehler vermieden werden, die zu Beginn der 1990er Jahre begangen wurden. Dafür ist ein transparentes und rechenschaftspflichtiges System der staatlichen Verwaltung notwendig. 

    Eigentlich ist alles recht klar. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Viele postkommunistische Staaten sind einen ähnlichen Weg gegangen. Nur wäre es naiv, auf eine Erleuchtung der aktuellen belarussischen Staatsführung zu hoffen. Um ihre Macht im Hier und Jetzt zu sichern, legt sie weiter Minen unter die Zukunft.

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  • Geschichten der Hoffnung

    Geschichten der Hoffnung

    In Belarus rattert nach wie vor die Repressionsmaschinerie, nahezu täglich gibt es zahlreiche Festnahmen und drakonische Urteile. Vor dem Hintergrund scheine es, schreibt Alexandra Schakowa, „als ob um uns herum nichts Gutes geschieht“. Die Journalistin hat sich für Mediazona Belarus deswegen auf die Suche begeben und Geschichten von Menschen aufgeschrieben, die zeigen, dass es auch in Belarus nach wie vor das Gute im Kleinen gibt. Wir haben die Protokolle aus dem Russischen und Belarussischen übersetzt.

    Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

    Darja, Oblast Mogiljow
    Ich wollte eine Freundin in Polen besuchen, die schon vor einigen Jahren unfreiwillig emigriert ist. Ich ging also belarussische Süßigkeiten einkaufen. Im Geschäft Krasny Pischtschewik kaufte ich praktisch alles – die Freundin hatte nach Neuheiten gefragt. Eine ziemlich große Tüte war zusammengekommen. Die Damen an der Kasse fragten: „Für wen kaufen Sie denn so viel?“ Ich erzählte, dass ich einer Freundin im Ausland Süßigkeiten aus der Heimat mitbringen wolle. Die Verkäuferinnen begannen mich auszufragen, wohin es gehe, Polen oder Georgien, und gaben mir dann schließlich noch eine Packung einer neuen Geleesorte für die Freundin mit – einfach so, aus Solidarität, als Geschenk von ihnen.

    Swetlana, Minsk
    Im Winter ging ich in ein Geschäft im Einkaufszentrum und probierte eine Mütze auf. Normalerweise gefällt mir selten etwas, und ich trage auch kaum Mützen, aber diese war wie für mich gemacht. Ich wollte sie unbedingt kaufen. Aber ich hatte nur die Geldkarte, Bargeld trage ich selten bei mir. Ich kramte zusammen, was noch im Portemonnaie steckte – es fehlte ein Rubel. In diesem Augenblick rief meine Schwester an. Ich erzählte ihr von der tollen Mütze, die ich gefunden habe, aber nicht kaufen kann, weil mir genau ein Rubel fehlt. Ich wollte den Laden gerade verlassen, da hielt mich eine Verkäuferin auf und gab mir einen Rubel: „Hier, nehmen Sie, das ist eine Kleinigkeit, machen Sie sich die Freude.“ Ich bedankte mich natürlich bei ihr, darauf sagte sie: „Seit 2020 helfen die Belarussen einander doch noch ganz anders.“ Mir wurde gleich sehr leicht ums Herz.

    Jelena, Minsk
    Ich musste das Land verlassen. Ohne jetzt ins Detail zu gehen: Es brannte noch nicht, aber sie hätten jeden Moment vor meiner Tür stehen können. Ich musste im Notfallmodus alles verkaufen und verschenken, was in unserer Mietwohnung stand. Möbel, einen großen Kühlschrank, eine Waschmaschine – und einen Haufen Kleinkram.
    Ein Freund arbeitete in einem Laden für Haushaltstechnik, dort gab es einen Transporter und Möbelträger. Ich verabredete mit ihm, dass er mir hilft und ich ihn und die Möbelpacker bezahle. Sie fuhren die Möbel zu Freunden, die technischen Geräte zu meinen Eltern, eine ordentliche Runde durch die ganze Stadt. Den schweren Kühlschrank trugen sie in den fünften Stock, auch ein paar Tische. Am Ende der Fahrt fragte ich, was ich schuldig sei. Er antwortete: „Ich sag’s dir später, wir müssen erst rechnen.“ Ich dachte mir, okay, sie werden ihre Tarife haben, abhängig vom Stockwerk, in das sie tragen mussten, und so weiter. Als ich ihn zwei Tage später anrief, sagte er: „Wir haben uns mit den Jungs beraten und beschlossen, dass du uns in Anbetracht der Situation nichts schuldest, wir haben das umsonst gemacht.“ Ganz ehrlich – ich musste weinen.

    Sergej, Oblast Mogiljow (belarussisch)
    Bei uns kam es ganz unerwartet zu einer Welle der Solidarität. In einem der Einkaufszentren gab es eine Aufnahmestelle für herrenlose Haustiere. Natürlich gibt es in der Stadt auch große Tierheime. Das hier war nur eine kleine Unterkunft, in der Kätzchen und Hündchen auf neue Besitzer warteten, und gleichzeitig mit ihren niedlichen Schnäuzchen Spenden für alle anderen sammelten. Ich weiß, dass viele Tiere von dort in ein neues Zuhause fanden. Aber dann passierte irgendetwas und die Aufnahmestelle schrieb auf Instagram, dass die Verwaltung beschlossen habe, ihnen den Mietvertrag zu kündigen. Da ging es aber los! Nicht einfach nur Likes und Kommentare – die Leute gingen persönlich zur Hausverwaltung oder riefen dort an, um ein gutes Wort für die Tierunterkunft einzulegen. Die Verwaltung lenkte ein, will den Vertrag nun nicht mehr kündigen und bat darum, bloß nicht mehr anzurufen. 

    Alexander, Oblast Grodno
    Im Winter kam ich mal wieder in Kurzzeithaft. Vor den Wahlen holen sie bekanntermaßen überall die Aktivisten. Aber diesmal machten sie es anständig, nur zwei Personen, ich konnte im Auto sitzen. Man merkte gleich – das waren Bullen von hier, keine zugereisten. 
    Während der Kurzzeithaft wird man jetzt manchmal für Arbeiten eingesetzt, Müllsortieren oder Ähnliches. Früher konnten wenigstens die Verwandten zu dieser Arbeitsstelle kommen und Essen und Arbeitskleidung vorbeibringen. Jetzt ist das verboten. Aber die Arbeiter, die dort waren, teilten ihr Mittagessen mit uns und brachten uns sogar mal extra was von zu Hause mit, obwohl sie selbst nur ganz wenig verdienen. So war das.

    Maxim, Mogiljow
    Bis zu meiner Festnahme im Jahr 2022 half ich einem Jungen mit einer schweren Erkrankung, Geld für Medikamente und die Behandlung zu sammeln. Es gibt sehr wenige Kinder mit dieser Diagnose in Belarus, und nach 2020 gab es auch keinerlei Aufmerksamkeit mehr für ihre Anliegen. Nicht, dass alle sie vergessen hätten, aber vermutlich bekamen sie weniger Spenden, weil im Land die politischen Gefangenen und die Haftgeschädigten hinzugekommen waren. Ich hatte mich in seine Geschichte stark reingehängt, obwohl das schwerfiel, weil der Kleine wirklich schwerkrank war und es nicht leicht hatte. Als ich wieder freikam, sah ich, dass die notwendige Summe zusammengekommen war, der Junge hatte mit seinen Eltern zur Behandlung ins Ausland reisen können, und sein Zustand war jetzt sogar stabil. Er hatte mir sogar ein Bild gemalt, zum Dank für die Beteiligung an der Sammlung. Bislang konnten wir uns aber – aus bekannten Gründen – noch nicht treffen.

    Irina, Oblast Brest (belarussisch)
    2023 kam ich aus dem Straflager frei. Kürzlich rief der Ehemann einer politischen Gefangenen an, die noch einsitzt. Er hatte sie dort besucht und die Ehefrau hatte ihn gebeten, mich zu finden – sie machten sich im Straflager Sorgen, wie es mir in der Freiheit gehe … Ich erzählte ihm von der Führungsaufsicht und der Miliz. Das Wissen kann nützlich für sie sein, in der Zukunft. 
    Diese Frau wurde in letzter Zeit mehrfach gemeldet, musste in den Strafisolator. Sie ist krank, aber um mich macht sie sich Sorgen, wie es mir in der Freiheit geht. 

    Katerina, Minsk
    Ich hatte ein Vorstellungsgespräch bei einem Online-Supermarkt und die Managerin sprach Belarussisch. Ohne nach Worten suchen zu müssen, richtig gut und flüssig. Es war schön, in Belarus Belarussisch zu hören. Ich glaube, man hört es jetzt häufiger im Ausland, es in Belarus zu sprechen, kommt praktisch einem Einzelprotest gleich.

    Dimitri, Oblast Mogiljow
    Die Inhaber eines der hiesigen Cafés organisierten in ihren Räumen Ausstellungen lokaler Künstler. Kürzlich gab es schon die dritte Vernissage. Ich war dort – einfach super! Viele Leute, Live-Musik, Gespräche, es wurde getanzt. Und alles ohne einen Schluck Alkohol auf den Tischen. Da sage noch einer, in Belarus sei alles verstummt. Für unsere Kleinstadt war das ein großes Ereignis. Man musste keinen Eintritt zahlen, konnte Kunst sehen und Kaffee trinken. Die Wirtin des Cafés kennt sich schon in der lokalen Kunstszene aus und kann alles über die Bilder erzählen. 
    Bei einem der Bilder soll man sich etwas wünschen können. Aber wie denn, frage ich, man kann es doch nicht anfassen? Darauf antwortet sie: Sprechen Sie einfach mit ihm.

    Waleri, Oblast Brest (belarussisch)
    Alles wie immer und gehabt – gute, mutige Leute tun, was getan werden muss. Als ich in Haft war, kümmerte sich ein Freund die ganze Zeit über um meine Frau, rief sie einmal pro Woche an und brachte mir ohne Not weiß-rot-weiße Pastila [eine Süßigkeit aus Fruchtpüree] in die Untersuchungshaft. Zum Ende hin war sie dann schon weiß-kirschrot-weiß, weil der Produzent das Rezept geändert hatte. Als ich in der Strafarbeit war, sammelten zwei andere Leute, die ich kaum kannte, zwei riesige Taschen voll Sachen für mich: Pullover, Hemden, Schuhe, Arbeitskleidung, mehrere Paar Handschuhe. Leute aus unterschiedlichen Kontexten halfen mir buchstäblich die gesamte Zeit über: mit Geld, Obst und Gemüse, allem.

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  • „Uns gibt es nicht“

    „Uns gibt es nicht“

    Warum begegnen Menschen in den westlichen Ländern Belarus mit so wenig Interesse? Warum läuft Belarus meistens unter dem Radar der internationalen Aufmerksamkeit? Warum gibt es so wenig Interesse für die belarussische Literatur? Das sind Fragen, die viele Belarussen umtreiben und die auch aktuell wieder in den sozialen Medien diskutiert werden. Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič hat dazu einen launigen, polemischen aber auch analytischen Post für seinen Facebook-Account geschrieben, der vom Online-Portal Budzma übernommen wurde. „Die meisten, die über die Aussichten der belarussischen Literatur im Westen diskutieren“, schreibt Bacharevič, „verstehen meiner Meinung nach die fünf wichtigsten Dinge nicht.“

    Erstens. Uns gibt es nicht.

    Im Westen gibt es Belarus praktisch nicht. Die belarussische Sprache nicht, die belarussischsprachige belarussische Literatur nicht, die belarussische Geschichte nicht, Belarus nicht als Text, den andere verstehen und annehmen, der akzeptiert ist und in den großen Welttext eingeht. Auf die belarussischsprachige belarussische Literatur schaut man immer ein wenig argwöhnisch und herablassend. Genau wie auf die Sprache Balbuta.

    Folgendes muss man verstehen: Die belarussische Literatur wird in der Regel abgelehnt, ohne gelesen zu werden, ohne dass Bücher und Manuskripte auch nur aufgeschlagen werden. Es genügt zu hören: „belarussische Literatur“ – sofort denken sie an etwas selbstverständlich Schwaches. Es ist sehr schwer, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Ein belarussisches Buch kann sein, wie es will – spannend, genial, schlecht, wunderlich, unterhaltsam, langweilig … Ganz gleich. 99 Prozent nehmen es gar nicht in die Hand, lesen keine einzige Seite, denn es ist ja belarussisch, also direkt uninteressant. Deshalb: Ein Hoch auf die ausländischen Enthusiasten, Wissenschaftler und Übersetzer, die hin und wieder doch westliche Verleger überreden, in den Text zu schauen, ihn schätzen zu lernen und eine Übersetzung herauszugeben! Denn wenn ein belarussisches Buch doch einmal gelesen wird, ruft es häufig wohlwollende Verwunderung hervor: So ist das also, wir wussten ja gar nicht, dass es bei euch interessante Autoren gibt.

    Und noch ein Hinweis: Belarussische historische Belletristik ist für den westlichen Leser im Grunde pure Fantasy. Eine Geschichte von einem ausgedachten Land und ausgedachten Menschen, von Monstern und Magiern. Aber Fantasy gibt es im Westen so viel, dass niemand auch noch eine belarussische Version braucht, die Anspruch auf Ernsthaftigkeit erhebt. Die belarussische historische Prosa läuft dem westlichen Geschichtsbild zuwider. Daher gibt es dort keine Perspektive für sie.

    Zweitens.

    Hundertmal habe ich es gesagt und sage es jetzt noch einmal: Der westliche Buchmarkt hat seine Erwartungshaltung. Für die belarussische Literatur gibt es ein winziges Regal – wie auch für andere kleine Literaturen. Die belarussische Literatur interessiert den Westen nur dann, wenn sie sich mit der ihr zugewiesenen Rolle abfindet. Für den westlichen Leser, Kritiker und Verleger kann die belarussische Literatur nur dann interessant sein, wenn sie aus der Position der Opfer spricht: „Wir sind unglücklich und leiden, bei uns herrschen Finsternis, Diktatur, Hoffnungslosigkeit, Tschernobyl, Lukaschenka, Zweiter Weltkrieg, Okkupation usw.“ – oder aus der Position der Zeugen: „Wir erzählen euch jetzt, wie das ist – erst in der Sowjetunion, dann unter Lukaschenka, am eigenen Leib alle Schrecken von Totalitarismus, Armut, Elend und Diktatur zu erleben.“ Wenn belarussische Literatur versucht, mehr als das zu sein – Warnung, Idee, Reflexion, pure Kunst, Philosophie, all das, was jede große Literatur eben einfach sein kann – sagt man uns: Stopp. Lasst mal die Finger davon, das ist unser Privileg. Woher wollt ihr denn etwas von der Welt verstehen? Wie kommt ihr darauf, dass ihr das Recht habt, etwas anderes als Opfer oder Zeugen zu sein? Denkt daran, aus welchem Loch ihr gekrochen seid – und dann überlegt gut, ob ihr uns etwas beibringen könnt. Räumt erst einmal bei euch selbst auf.

    Drittens. Übersetzer

    Ich schreibe hier ausschließlich über die belarussischsprachige Literatur. Denn die russischsprachige Literatur, die sich belarussisch nennt, ist ein ganz anderes Phänomen. Übersetzer aus dem Russischen gibt es zuhauf. Man muss niemandem erklären, was das imperiale Russland ist, seine Kultur, Geschichte, seine Sprache, seine Literatur. Stellt man die belarussische russischsprachige Literatur in einen russischen, sowjetischen oder postsowjetischen Kontext – dann hat man auch in der belarussischen Literatur ganz gute Aussichten, gesehen und gelesen zu werden.

    Aber was sollen die belarussischsprachigen Autoren in dieser Situation tun?

    Im Westen, das lohnt sich zu wissen, fürchtet man sich sehr vor Nationalismus. Die belarussischsprachige belarussische Literatur wird häufig als nationalistische Literatur wahrgenommen. Vielleicht sagt man euch das nicht direkt ins Gesicht. Man denkt es aber. Und man denkt auch: „Anstatt in ihrer kleinen Sprache zu schreiben, die nicht mal in ihrem Land wirklich jemand spricht, könnten sie doch lieber Russisch schreiben – und wären anerkannt und verständlich. Und anstatt über ihre eigenen Sachen auf Belarussisch zu schreiben, könnten sie sich doch dem Russischen und Sowjetischen zuwenden, das ist klar, verständlich und verkauft sich! Aber euer Belarus als Europa – das klingt ja lachhaft … Das soll Europa sein? Belarus ist ein kleines Russland, als solches sehen wir es, und so ist es interessant für uns, und alles, was diesem eleganten Muster widerspricht, ist naiver Nationalismus und der kindische Versuch, auf unseren europäischen Schnellzug aufzuspringen.“

    Viertens

    Nun müssen wir auch ein wenig über die eigene Schuld der belarussischen Literatur sprechen. Häufig, wenn nicht in der Mehrheit der Fälle, ist sie langweilig-traditionell, kriegerisch-traditionalistisch, demonstrativ verschlossen für westliche Einflüsse, konservativ und nationalistisch im negativen Wortsinne, fremdenfeindlich und sowjetisch. In vielen ihrer Erscheinungsformen zeigt sie keinen Wunsch, vom Westen zu lernen, Entdeckungen zu machen, Kontakt zur Welt aufzubauen. Idiotischer Größenwahn, literarisches Chuch'e, das macht sie aus, die belarussische Literatur. „Wir brauchen das alles nicht, es ist fremd, wir sind groß und besser als alle, die wir kennen, denn wir haben Schamjakin und Dunin-Marzinkewitsch.“ Mit einem solchen Credo kommst du nirgendwohin. Die großen Nationaldichter Kupala und Kolas, gemachte Ikonen, kennt im Westen niemand, und mit diesen Ikonen und der bolschewistischen Flagge der Sowjetliteratur, mit dem Stolz auf den stalingeschaffenen „Künstlerbund“, ohne Sprachkenntnisse, ohne Interesse daran, was sich in der westlichen Literaturwelt tut, im Glauben an die eigene Ausnahmestellung treten die alten belarussischen Schriftsteller mit unsicherem Lächeln in die große Welt hinaus und beklagen sich: Und wo sind wir? Wo ist unsere Sichtweise, wo die Anerkennung? Wir haben sie verdient! Wieso sieht uns niemand?

    Fünftens

    Die großen westlichen Verlage – das ist Kommerz, das ist kapitalistisches Unternehmertum. Es geht zuallererst um Geld. Und wenn ein Buch niemand lesen will, es nicht einmal durchblättern möchte, dann wird es sich nicht verkaufen. Deshalb erscheinen die belarussischsprachigen belarussischen Bücher, die relativen Erfolg in kleinen Leserkreisen haben und hoffentlich auch zukünftig erscheinen werden, in kleinen und unabhängigen Verlagen – wo Geld zum Glück nicht alles entscheidet. Das sind Orte, wo Verleger arbeiten, die sich für unsere Literatur und unsere Kultur interessieren, die Bücher lieben, das Wort, die Idee, den Stil – und nicht Millionenauflagen. Für den westlichen Markt ist das ist völlig normal. Es gibt riesige Verlage, es gibt kleinere, und es gibt ganz kleine – jeder hat sein Publikum, seine Nische, seine Erfolge und seine Ausrichtung. Hauptsache ist, all das schließt Kontakte, Wechselwirkungen und Perspektiven auf größere Sichtbarkeit und Rezeption nicht aus.

    Und noch einmal: ein Hoch auf alle Deutschen, Engländer, Polen, Franzosen, Litauer, Niederländer, Schweden, Norweger, Amerikaner, Schotten, die ohne besonderen persönlichen Vorteil, nur aus Interesse an unserer Literatur, versuchen, westliche Verleger für belarussische Literatur zu interessieren. Ein Hoch auf die Übersetzer, dank denen Bücher belarussischer Schriftsteller verlegt, gelesen, besprochen, präsentiert werden – und dadurch leben.

    Alles in allem ist das kein fröhliches Bild. Doch nun geht es um Trost und Hoffnung. Ich bin zwar nicht sicher, ob mich das beruhigt, aber: Zum Glück oder zum Unglück sind wir nicht allein. Auf der Welt gibt es viele kleine Literaturen mit noch bescheideneren Perspektiven. Bei uns ist nicht alles so schlecht. Immerhin existiert die belarussische Literatur im Westen in Übersetzungen aus dem Belarussischen. Das reicht nicht – aber es wird immer mehr.

    Was soll man also tun, wenn man so sehr dazugehören will, sein will wie alle, Erfolg haben möchte?

    Man kann beginnen, in einer Fremdsprache zu schreiben. Die Konkurrenz wird aber hart sein. Außerdem gelingt es kaum, in einer anderen Sprache so zu schreiben wie in der eigenen. Es kommt einer bewussten Abkehr von Komplexität und Stil gleich. Um nicht zu sagen – einem Verrat. Denn die Hauptsache ist das Wie, nicht das In welcher Sprache. Und doch ist es eine Abkehr. Von sich selbst, zugunsten der Sichtbarkeit. Letztlich hat die absolute Mehrheit der belarussischen Autoren die belarussische Sprache erst später gelernt, nicht in der Kindheit wie eine Muttersprache. Warum also nicht noch eine Sprache lernen? Oder zwei? Oder drei?

    Man kann auch auf Russisch schreiben. Wie ich schon sagte, das ist dann etwas ganz anderes und man begegnet dir ganz anders. Die Rezeption ist eine ganz andere, viel wohlwollender, leichter und mit mehr Anerkennung.

    Von den schmalen Regalen, die im Westen für die belarussische Literatur bereitstehen, schrieb ich bereits. Von Opfern und Zeugen. Ich renne mir seit Jahren den Kopf an dieser Wand ein. Und manchmal scheint mir, sie gibt ein wenig nach. Genau das will ich mit der deutschen Übersetzung meines Romans Europas Hunde erreichen – erzwingen, dass ich mit diesem Buch nicht als Wilder aus einem elenden Land betrachtet werde, sondern als europäischer belarussischer Autor, der etwas zu sagen hat und dessen Land und Sprache nicht schlechter sind als andere.

    Man kann es so machen wie Julia Cimafiejeva und ich. Weiterhin in dieser kleinen Sprache schreiben. Mit Ausdauer und Würde. Literatur auf Belarussisch. Eine andere belarussische Literatur schreiben – nicht die größte von allen, sondern eine von vielen Literaturen dieser Welt. Von anderen lernen, aufmerksam lesen und zuhören, möglichst offen sein. Über das Eigene schreiben, ohne das Fremde abzulehnen. Nicht zulassen, auf ein Regal, in eine Nische oder in die Grube für die Unglücklichen und Traurigen geschoben zu werden. Nicht zulassen, dass sie dich als „blutende Wunde“ vermarkten. Stets das Gefühl haben, auf Reisen zu sein. Andere Sprachen sprechen, erklären, fragen, versuchen zu verstehen: Wo sind wir? Was ist das für eine Welt? Was will sie uns sagen? Eine Reise hält jederzeit Überraschungen bereit, angenehme und weniger angenehme.

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  • Menschen des Waldes

    Menschen des Waldes

    „Eine wichtige Dimension des belarussischen Lebens ist immer noch die Schutz- und Ressourcenfunktion des Waldes, das Neue ist die ökologische Sorge um ihn.“ So heißt es im Ankündigungstext zum Fotoprojekt Menschen des Waldes (belaruss. Ludzi Lesu), das die Initiative VEHA im Jahr 2021 ins Leben gerufen hat. Das Projekt geht der Beziehung der Belarussen zu ihren Wäldern auf den Grund. Im Mai 2024 wurde das fertige Buch zum Projekt mit dem Michail Anempadystau-Preis ausgezeichnet. Wir haben mit Lesia Pcholka, Kuratorin von VEHA, über das Projekt gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern. 

    1978, Wjalikaja Berastawiza. Auf der Birke: Hieorhij Stracha, seine Tochter Tazzjana, sein Sohn Aleh und Natallja Lytschkouskaja. Natalljas Mutter Swjatlana steht rechts / Foto © Aljaxandr Lytschkousk, zur Verfügung gestellt von Mikola Taranda. VEHA-Archiv, Sammlung „Menschen des Waldes

    dekoder: Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?

    Lesia Pcholka: Die Idee, ein Buch zum Thema Wald zu machen, hatten wir im Jahr 2021. Direkt nach den Protesten von 2020 und während der einsetzenden massenhaften Repressionen. Die Straßen der Städte waren damals unsicheres Gelände geworden, die Wände unserer Wohnungen boten keinen Schutz mehr. Man hatte uns den städtischen Raum genommen. Die Wälder boten damals vielen Belarussen Ruhe, viele zogen aufs Land. 

    Wir machten eine Ausschreibung zu dem Thema, um Fotos zu bekommen. Die Frist endete am 20.02.2022, vier Tage vor Russlands großer Invasion in der Ukraine. Wir hatten das Material vorliegen und waren schon tief in das Thema eingestiegen, aber dann kam der Schock des Krieges. Wir diskutierten im Team lange, ob wir das Recht haben, in Zeiten solchen Leids über ein belangloses Thema wie den Wald zu sprechen. Es fehlte auch Kraft, um sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Trotzdem gaben wir das Buch heraus, denn wir fühlten uns dem Plan für das Projekt verpflichtet. 

    In der Folge erhielten wir Rückmeldungen, dass diese anderen Nachrichten für die Menschen wichtig waren, sie führten sie vom Schrecken weg, zeigten etwas über sie selbst, die Belarussen, über das weitergehende unsichtbare Alltagsleben in Zeiten von Krieg und Repression. Mit der Zeit begriffen wir, dass unser Thema nicht schlecht gewählt war, ich bin froh, dass wir die Arbeit am Buch zu Ende gebracht haben.

    Was für eine Beziehung haben Belarussen zum Wald?

    Dieses Thema hat meine Kollegin Asia Cimafiejeva sehr gut dargestellt in ihrem Artikel Der Wald und der Alltag der Belarussen für unser Buch. Sie schreibt darin, die Kollektion von VEHA Ludzi lesu zeige verschiedene Aspekte – sowohl private als auch öffentliche. Auf den Bildern sehen wir einerseits die lebendige Beziehung zwischen Mensch und Wald, wie sie für ein traditionelles Denken typisch ist. Wir sehen die modernistische Entfremdung von der Natur und die Rückkehr zu ihr als einem Ort der Erholung oder gar Flucht vor der Realität. Wir beobachten aber auch staatliche Interessen: wirtschaftliche und militärische. Der Wald ist Hintergrund für viele Beziehungen und Tätigkeiten des Menschen. Wir betrachten ihn nicht getrennt von uns – schon die Präsenz des Fotoapparats bezeichnet unseren Einbruch in sein Territorium. Wie positiv dieses Eindringen für den Wald ist, bleibt eine offene Frage.

    Wie kommen Sie an die Fotos für die Projekte?

    Aktuell hat das VEHA-Archiv fünf thematische Sammlungen: The Best Side/ Najlepšy bok; Girl’s night/Dziavočy viečar; Last photo/Apošny fotazdymak; People of the Forest/Ludzi Lesu; Ruins of Belarus/Ruiny Belarusi. Wir analysieren verschiedene belarussische Familienarchive und schauen, welche Motive am häufigsten auf den Fotos auftauchen, auf dieser Grundlage wählen wir unsere Themen aus. Wir machen eine Ausschreibung und die Menschen schicken uns digitale Kopien von Fotos aus ihren Privatarchiven. Darüber hinaus bitten wir um detaillierte Informationen zu Jahr und Ort der Aufnahme sowie den Namen der Abgebildeten. So bleiben die Originalfotos in den Familien, nur die Kopien werden zum Forschungsgegenstand, zum Teil des VEHA-Onlinearchivs, und in Ausstellungen und Büchern veröffentlicht. 

    Unsere letzten Bücher wurden in Belarus herausgegeben, in kleinen Auflagen von etwa 200 Exemplaren. Das Buch Ludzi Lesu ist das erste, das im Exil erschien, in Polen. Es besteht aus drei Teilen. Den ersten Teil könnte man beschreiben als Einssein mit der Natur – Menschen umarmen Bäume oder verstecken sich in hohen Waldblumenwiesen. Der zweite Teil zeigt Fotos, die den Wald als Ressource darstellen. Im dritten Teil geht es um den Wald als Erholungsgebiet und Schauplatz von Alltagshandlungen.

    Wie kommt das Projekt bei den Belarussen an?

    Das Buch Ludzi Lesu ist 2022 erschienen. Immer mehr Menschen verlassen das Land und das letzte, woran sie denken, ist ihre Bibliothek aufzufüllen. Zwar haben wir in der Galerie FAF in Warschau eine Buchpräsentation organisiert, aber es gab keine nennenswerten Rezensionen zu dem Buch. Die belarussische Kultur hat 2022 einen harten Schlag versetzt bekommen, von dem sie sich nicht so schnell erholen wird. Ich weiß nicht, wie bewusst es den Menschen im Ausland ist, dass es für Belarussen innerhalb von Belarus gefährlich ist, sich mit ihrer nationalen Kultur zu beschäftigen. Außerhalb der Landesgrenzen gilt man als Besatzernation, zusammen mit den Russen. Das sind keine förderlichen Bedingungen.

    Welches Ziel hat die Arbeit von VEHA?

    Die Fotografien im VEHA-Archiv sind keine künstlerischen Attraktionen, sondern eine kollektive Darstellung von Alltäglichkeit. Ein Abbild dessen, wo wir heute stehen. Unsere Routine, das, was wir für bedeutsam genug halten, um es zu fotografieren. Gerade in den alltäglichen Praktiken provozieren wir Veränderungen – oder aber entscheiden uns für Akzeptanz und Normalisierung. Dafür setzen wir das, was wir auf dem Foto sehen, in Beziehung zu der Zeit, in der das Foto entstanden ist, zu den politischen und sozialen Ereignissen dieser Zeit. Diese Praxis hilft dabei, das Vergangene zu ordnen, sich die eigene Geschichte zurückzuholen.

    1966, der See Naratsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1968, Tscherwen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawа Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1969–1970, Retschyza. Woĺha und Ljubou Karunnaja / Foto © zur Verfügung gestellt von Aljaxandr Drahawos, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    1974, Wolha Shukawa (links) mit einer Freundin / Foto © zur Verfügung gestellt von Vassilina Sakalouskaja, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1930er Jahre, Polesien / Foto © zur Verfügung gestellt von Fundacja Archeologia Fotografii, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1959, Tscherwen. Vera Lipen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawa Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1956, Tscherwen. Vera Lipen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawa Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1966, Der See Naratsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1900–1910er Jahre, Schklou. Arbeiter der Fabrik Spartak am Ufer des Dnjepr / Foto © zur Verfügung gestellt vom Shklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1950er Jahre,das Dorf Starasselle. In einem Garten am Apfelbaum / Foto © zur Verfügung gestellt vom Shklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1950, Baranawitschy. Valjanzina Bahuschewitsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Maxim Schwed, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1945–1950, Maryja Jeudakimauna Pesljak / Foto © zur Verfügung gestellt von Julija Kaljada, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1934, Schklou. Im Park / Foto © zur Verfügung gestellt vom Sklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1978, Studentin des Medizinischen Institutes Hrodna (heute staatliche Medizinische Universität Hrodna) während der studentischen Baubrigade / Foto © Alina Taranda, zur Verfügung gestellt von Mikola Taranda, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1960er Jahre, Kusali. Tolik und Siarhej Protscharawy mit Mikalai Palikarpau / Foto © zur Verfügung gestellt von Darja Palikarpawa, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1920–1930er Jahre. Mädchen beten während eines Sommercamps vor einer behelfsmäßigen Kapelle auf dem Baumstumpf eines alten Baumes / Foto © zur Verfügung gestellt von Siarhej Leskiec, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1920–1930er Jahre / Foto © zur Verfügung gestellt vom Luninets District Local History Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1980, Hluscha, Region Mahilioŭ. Ales Adamowitsch / Foto © Jauhen Koktysch, zur Verfügung gestellt von Natallja Adamowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1966, Am See Naratsch. Raman Chacjalowitsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Fotos: VEHA-Archiv, Sammlung Menschen des Waldes
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 28.05.2024

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