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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kulinarische Verwerfungen

    Kulinarische Verwerfungen

    Wem gehört der Chaladnik? Woher stammt der Krupnik? Was sind Kalduny? In einem Beitrag auf Radio Svaboda entführt der Historiker Alex Bely in die belarussische Küche und ihre komplexen kulturhistorischen Ursprünge. Zum Schluss gibt es nicht nur schmackhafte Erkenntnisse, sondern auch noch ein Rezept.  

    Die dekoder-Redaktion wünscht smatschna jeszi! Guten Appetit! 

    Mit einem Artikel über Chłodnik Litewski (wörtlich: Litauische Kalte Suppe) handelte sich The New York Times in Litauen und Polen eine Flut von Kommentaren ein. Ursache war, dass dieses auch in Belarus sehr beliebte Gericht als polnisch bezeichnet wurde. Die länderübergreifende Diskussion in den sozialen Netzwerken dauerte über eine Woche an, auch Belarussen beteiligen sich daran. Der Historiker Ales Bely weist darauf hin, dass die traditionellen Speisen der Völker der Rzeczpospolita eine relativ gemeinsame Geschichte haben, es aber viele Speisen gibt, die Kontroversen hervorrufen. 

    „Wenn wir jemandem ein Gericht zuschreiben, geht es gar nicht so sehr um die Rezepte. Es geht vielmehr um die Frage der ‘Verankerung’ in einer Kultur. Dass man es hier mehr kocht als da“, sagt der Historiker. Seiner Ansicht nach litt die traditionelle belarussische Küche am stärksten während der belarussischen Unabhängigkeit und in der Sowjetzeit. Damals wurde neben der Umgangssprache auch die Alltagskultur russifiziert. Die Belarussen nutzten die Unabhängigkeit nicht als Chance, um ihre eigene kulturelle Marke zu stärken. 

    „Die Alltagskultur, die die nationalen Besonderheiten markiert, wurde verwischt. Sie war zwei Globalisierungstendenzen ausgesetzt: der allgemeinen und der des Russki Mir. Man hätte sich dem widersetzen können, doch es fehlte an Institutionen. Niemand lehrt oder studiert kulturwissenschaftliche Phänomene der nationalen Küche an der Universität. Wir haben auch keine Kochkurse, die auf die nationale Küche spezialisiert sind“, sagt Bely. 

    Um ein traditionelles Gericht einer Nation zuzuordnen, meint der Experte, muss man nicht nur die historischen Grundlagen berücksichtigen, sondern auch den Status des Gerichts in der heutigen Gesellschaft: ob es als nationale Marke etabliert ist. 2024 gab Ales Bely das Buch Samy Zymus (dt. etwa: Der süße Kern) heraus, in dem er die Speisen der belarussisch-jüdischen Küche detailliert beschreibt, darunter auch jene, die wir im Folgenden vorstellen. 

    Chaladnik (Kalte Rote-Beete-Suppe) 

    Den Chaladnik könnten auch die Ukrainer für sich beanspruchen, erzählt Ales Bely. Wobei die ukrainische Küche wiederum die russische stark beeinflusst habe. Chaladnik servierte man auch in der historischen Region Lettgallen und bei Juden im Großfürstentum Litauen. Diese nannten ihn kalte buretschkes (kalte Rote Beete). Der Historiker räumt ein, dass er in der Chaladnik-Frage eher auf litauischer Seite stehe, meint aber, dass es kein ausschließlich litauisches Gericht sei. 

    Mickiewicz schreibt vom ‘chłodnik litewski’. Dreimal wird diese Speise in Pan Tadeusz erwähnt. Ihm war egal, ob er Pole oder Litauer war, das waren für ihn zwei Seiten seiner Identität.“ Dem Historiker zufolge war das Epizentrum des Chaladnik das historische Litauen – ein großer Teil des heutigen Litauen und das belarussische Njomangebiet. Die Litauer machen den Chaladnik lieber mit Kefir, sagt Bely. Man könne sogar speziellen Kefir für Chaladnik kaufen, der schon Gurken und Dill enthält. In Belarus bereite man Chaladnik lieber mit saurer Sahne (Smjatana) zu. 

     Ein Klassiker der belarussischen Küche, Chaladnik / Foto © Alesja Belanovich-Petz
    Ein Klassiker der belarussischen Küche, Chaladnik / Foto © Alesja Belanovich-Petz

    „Die Litauer waren immer stolz auf ihren Chaladnik. Es gibt sogar ein Sommerfestival in Vilnius, das dem Gericht gewidmet ist, und der Chaladnik wurde auf europäischer Ebene als nationales Kulturerbe Litauens anerkannt. Das erfordert intellektuellen, organisatorischen und emotionalen Einsatz. Die Menschen beteiligen sich an der Etablierung des Chaladnik als zutiefst litauisches Phänomen“, sagt der Historiker. Belarus könnte seiner Meinung nach den Chaladnik genauso beanspruchen wie die Litauer.  

    „Aber Belarus tut nichts dafür. Man kann solche Fragen nicht durch respektlose Diskussionen in den sozialen Netzwerken lösen. Ich verstehe, warum sich die Litauer über die Polen ärgern. Die Polen haben die Tendenz, die Beteiligung anderer Völker an der Rzeczpospolita zu vergessen. Als sei die Rzeczpospolita per se mit Polen gleichzusetzen und alles, was dazugehörte, polnisch.“ 

    Bazwinnje (Rübenkrautsuppe) 

    Bazwinnje oder Bazwinnik ist eine Suppe aus dem Kraut und den Knollen junger roter Rüben [die übrigens auch mit Mangold verwandt sind, Anm. d. Ü.], die heiß oder kalt serviert werden kann. Es hat vor allem auf dem Gebiet des historischen Litauens Tradition. „Eine lange Zeit, im 17. und 18. Jahrhundert, empfanden es die Polen als Barbarei, dass die Litauer Rübenkraut kochten. Es stellte sie für die Polen auf eine Stufe mit den Schweinen. Sie nannten die Litauer und Belarussen deshalb abwertend boćwiniarze (dt. etwa Rübenkrautler)“, erzählt der Historiker. 

    „Im 19. Jahrhundert eigneten sich die Polen die Bazwinnje dann ebenfalls an. Heute sind sie überzeugt, dass es ihr Gericht ist, obwohl sie es früher nicht mochten und Späße darüber machten“, fügt Bely hinzu. „Auf Radziwiłłs Scholle erwuchs die rote Knolle, nicht ein Kanten Brot“, zitiert er eine polnische Redensart.  

    Krupnik (Graupensuppe) 

    Die Graupensuppe Krupnik ist wohl die unter den Völkern der Rzeczpospolita am weitesten verbreitete Suppe. Die wichtigste Zutat sind Graupen, die aus Gerste, Hirse oder Roggen sein können. Hinzu kommen Möhren oder Pilze. Fleisch ist in der Regel nicht enthalten, es ist ein Armeleuteessen. Man bemühte sich, „Weißes“ hinzuzufügen, wenn nicht saure Sahne, dann wenigstens Milch. Keinesfalls sollte man den Krupnik mit dem gleichnamigen alkoholischen Getränk verwechseln. 

    In Belarus wird die Bezeichnung Krupnik heute kaum noch verwendet, merkt unser Gesprächspartner an. Er erinnert sich, dass ein Betrieb in Lida eine Fertigmischung für diese Suppe herstellte, sie aber „Perlgraupen-Pilz-Suppe“ nannte. „Die Belarussen wissen in diesen Streitigkeiten oft nicht, worum es überhaupt geht, weil gar nicht alle die Bezeichnung, wie hier Krupnik, kennen“, meint Bely.  

    Bulbjanaja Kischka (Kartoffelwurst) 

    Ales Bely ist der Ansicht, dass dieses Gericht aus Belarus stammt. In Polen wird es vorwiegend in Podlasie gekocht, „das noch vor Kurzem belarussisch war“, sagt der Historiker. 

    „Das Wort kischka (dt. eigentlich Darm, Schlauch) ist nicht polnisch. Auch das ist ein Armeleuteessen: Aus Mangel an Fleisch macht man eine Wurst aus Kartoffeln und Griebenspeck“, erläutert Bely. Aber auch in diesem Fall, macht man in Polen das bessere Nationalgerichte-Marketing. „Die Polen veranstalten eine Weltmeisterschaft im Kartoffelwurst- und Kartoffelkuchenmachen in Supraśl (einer Kleinstadt bei Białystok, Anm. d. Red.), einer einstigen Bastion der belarusssischen Kultur“, erklärt Ales Bely.  

    Schmorkraut mit Pilzen 

    Das ist eines der ältesten bekannten Rezepte der belarussischen und litauischen Küche. In Vilnius wird es Mitte des 17. Jahrhunderts erwähnt, auch in Schriftstücken des Magistrats von Mahiljou taucht das Gericht im 17. Jahrhundert auf.  

    Früher haben sich die Polen über die Speise lustig gemacht, unterstreicht der Historiker, da, wie sie fanden, Kulturgemüse und Waldfrüchte nicht zusammenpassten. Später eigneten sie sich das Gericht doch an. Schmorkraut beeinflusste das heutige (polnische Nationalgericht) Bigos. Früher wurde als Bigos einfach Hackfleisch oder -fisch bezeichnet und erst mit der Zeit kam das Kraut hinzu. Später wurde Schmorkraut mit Pilzen als Füllung verwendet, zum Beispiel für Kalduny oder Knyschy (ein belarussisches Gericht: kleine Teigtaschen für ein, zwei Bissen).  

    Kalduny (Gefüllte Teigtaschen) 

    Als Kalduny bezeichnet man traditionell kleine Teigtaschen, sagt der Historiker. „Ich habe eine Postkarte von 1975 aus einem Moskauer Verlag, der in einer Auflage von einer Million ein Kartenset zur belarussischen Küche herausgab. Sie zeigt eine Bouillon mit Kalduny – Teigtaschen wie Pelmeni. Heute findet man in Litauen in jedem beliebigen Supermarkt koldunai – dieselben Tiefkühlbeutel wie Pelmeni“, erzählt Bely. 

    Seiner Ansicht nach haben die Belarussen vergessen, dass dieses Essen eigentlich Kalduny heißt. Heute nennt man es eher Draniki (dt. Kartoffelpuffer) mit Fleischfüllung. 

    Wahrscheinlich waren es die Tataren, die die Kalduny ins Großfürstentum Litauen und die Rzeczpospolita brachten, sagt der Historiker. Es war ein Klumpen in Teig gewickeltes Fleisch, ursprünglich Hammel oder eine Mischung aus Lamm- und Rindfleisch. Später konnte die Füllung auch aus Fisch oder Kartoffeln mit Griebenspeck bestehen.  

    Bei den Tataren gab es Bräuche rund um die Kalduny. Man versuchte etwa, einen Pfeifton zu erzeugen, indem man die Teigtasche mit der Zunge geschickt an den Gaumen drückte, sodass die Luft entwich. Und fünf Kalduny mit Brühe mussten reichen, um sich satt zu essen. Das heißt, sie waren größer als Pelmeni. Ales Bely fügt hinzu, dass heute auch ein drittes Gericht Kalduny genannt wird: mit Fleisch gefüllte Kartoffelklöße. In Polen nennt man sie kartacze, in Litauen cepelinai und in Belarus, wo sie vor allem im Gebiet der Dswina Tradition haben, auch kljozki s duschami – „Klöße mit Seele“.  

    Subrouka (Wisentwodka) 

    Subrouka ist ein alkoholisches Getränk auf Kräuterbasis mit einem Alkoholgehalt von 40 Volumenprozent. Es wurde ursprünglich in der Belaweshskaja Puschtscha hergestellt, im polnisch-belarussischen Grenzland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es bei Jägern und Förstern während der Wisentjagd beliebt, erzählt der Historiker. Die Polen machten Subrouka – Żubrówka – zur international bekannten Marke, die bei hochprozentigen Spirituosen weltweit den dritten Verkaufsrang hält. 

    „Seit mehr als 30 Jahren ist Białystok im unabhängigen Polen das Marketingzentrum für Żubrówka. Die Polen pushen ihn mit Videos und Barkeeper-Wettbewerben. Sie haben enorm investiert“, erklärt der Experte. 

    Auch in Belarus wird ein Getränk hergestellt, das Żubrówka ähnelt, aber der Name wird nicht mehr verwendet, da sich beim Zerfall der UdSSR eine russische Firma die Rechte zur Subrowka-Herstellung gesichert hat. In Belarus heißt er jetzt: Subrowatschka, Bazkawa subrowatschka, Belarusskaja dubrawa

    Ales Belys Chaladnik-Rezept 

    • Gekochte Rote Beete und frische Gurken grob reiben. 

    • Schnittlauch oder Zwiebellauch klein schneiden. Man kann auch Dill und geriebene Radieschen zugeben. 

    • Alle Zutaten mit Salz vermengen. Mit Kefir und Mineralwasser übergießen. Mit gekochtem Ei und Eiswürfeln servieren. 

    • Dazu schmecken Pellkartoffeln. 

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  • Die Verschwundenen von Belarus

    Die Verschwundenen von Belarus

    Vor 25 Jahren verschwanden in Belarus die beiden prominenten Oppositionelle Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski. Es waren die ersten Fälle des Verschwindenlassens von politischen Gegnern unter der Herrschaft von Alexander Lukaschenko, zwei weitere sollten folgen. Diverse Untersuchungen haben zu Tage gebracht, dass die vier Männer mit großer Sicherheit im Auftrag des Regimes entführt und ermordet wurden. Ihre Leichen wurden bis heute nicht gefunden.  

    In einem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk erinnert der Journalist Wjatscheslaw Korosten an diese dramatischen Ereignisse und an eine Zeit, in der Lukaschenko begann, seine Macht mit aller Brutalität abzusichern. 

    Der 16. September 1999 war der letzte Tag, an dem Viktor Gontschar, ehemaliger Vorsitzender des Zentralen Wahlkomitees und Abgeordneter des Obersten Sowjets, und sein Freund, der Unternehmer Anatoli Krassowski, lebend in Minsk gesehen wurden. Bekannt ist, dass sie an diesem Abend die Sauna auf der Fabritschnaja-Straße besuchten. Danach stiegen sie in Krassowskis Auto, konnten den Parkplatz aber nicht verlassen. Beide verschwanden spurlos und sind auch 25 Jahre später verschollen. 

    Auf Grundlage zahlreicher Medienberichte und wichtiger Beweise kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, dass der Politiker und der Unternehmer auf Befehl von Alexander Lukaschenko entführt und später ermordet wurden. Ausgeführt wurde der Präsidentenwille von Kämpfern einer Sondereinheit, die aus einer Brigade eines Sondereinsatzkommandos des Innenministeriums gebildet und später von den unabhängigen Medien „Todesschwadronen“ genannt wurde. Auf dem Parkplatz fanden die Ermittler Glassplitter von dem Auto und Blutspuren vor. 

    Der mutmaßliche Chef der Schwadronen, Dmitri Pawlitschenko, wurde im Jahr 2000 sogar auf Anordnung des KGB-Vorsitzenden Wladimir Mazkewitsch und mit Genehmigung des Generalstaatsanwalts Oleg Boshelko verhaftet. Der Verdacht lautete auf Organisation politischer Morde. Einen Tag später wurde er jedoch auf persönliche Anordnung Lukaschenkos wieder freigelassen, Mazkewitsch und Boshelko wurden bald darauf in den Ruhestand versetzt. 

    Das Verschwinden von Gontschar und Krassowski war nur einer von mehreren ähnlichen Fällen. Am 7. Mai 1999 verschwand in der Gegend der Shukowski-Straße in Minsk der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko, der in die Opposition gewechselt war. Am 7. Juli 2000 wurde der Journalist Dmitri Sawadski auf dem Weg zum Minsker Flughafen entführt. Mehrfach wurde gemeldet, dass auch hinter diesen Verbrechen die „Todesschwadronen“ stehen. 

    „Pawlitschenko hat alle persönlich ermordet” 

    Im Jahr 2019 bekannte das ehemalige Mitglied des Sondereinsatzkommandos SOBR Juri Garawski in einem Interview mit der Deutschen Welle, an den Entführungen von Gontschar, Krassowski und Sacharenko beteiligt gewesen zu sein. Er hatte Belarus inzwischen verlassen und gab an, zu einer Spezialeinheit gehört zu haben, die dafür sorgte, dass Oppositionelle verschwanden. Garawski erklärte, Pawlitschenko habe alle drei Entführten persönlich mit einem Revolver erschossen. Sacharenkos Leiche sei im Krematorium des Minsker Nordfriedhofes verbrannt worden, Gontschar und Krassowski seien auf einem Gelände des Innenministeriums nahe Begoml im Gebiet Witebsk vergraben.  

    Nach dem Interview brachten Menschenrechtsaktivisten eine Strafanzeige gegen Garawski ein. Das Verfahren fand in der Schweiz statt, wo der Ex-Elitekämpfer politisches Asyl beantragt hatte. Die Anklage lautete auf „Beteiligung an mehrfachem Verschwindenlassen“ (die Schweizer Gesetzgebung erlaubte keine Anklage wegen Mordes oder Beteiligung daran, da die Verbrechen auf belarussischem Territorium begangen worden waren.)    

    Im September 2023 wurde Garawski vom Kantonsgericht St. Gallen freigesprochen, man betrachtete seine Angaben als nicht ausreichend für einen Schuldspruch. Das Urteil begründete der Richter damit, dass dies ein besonderer Fall in der juristischen Praxis sei: Es sei eine Regierung involviert, die für die Gewaltverbrechen verantwortlich sei. „Daran sollte kein Zweifel bestehen. Aber bei der Befragung verstrickte sich der Angeklagte in Widersprüche und verweigerte Antworten“, sagte der Richter. 

    „Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet“ 

    Das Verschwindenlassen politischer Gegner war nicht Lukaschenkos Erfindung. Vermutlich hatte Pawlitschenkos Truppe die entsprechende „Lizenz zum Töten“ bereits einige Jahre vorher erhalten, ursprünglich für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Im postsowjetischen Raum waren die 1990er sehr unruhig. Diverse kriminelle Banden nutzten das Machtvakuum in den ehemaligen Sowjetrepubliken aus und brachten die Privatwirtschaft unter ihre Kontrolle, betrieben Drogenhandel, verübten Auftragsmorde und andere Schwerverbrechen. 

    Auch wenn das organisierte Verbrechen in Belarus weitaus schwächer ausgeprägt war als in Russland, beschloss Lukaschenko, das Übel an der Wurzel zu packen. Dafür schlug er, so nimmt man an, einen sehr effektiven Weg ein, griff aber zu illegalen Methoden.  

    In der zweiten Hälfte der 1990er verschwanden Autoritäten aus dem Verbrechermilieu plötzlich spurlos. Am meisten Aufsehen erregte der Fall des 37-jährigen Minsker „Diebes im Gesetz“ Wladimir Kleschtsch, genannt Schtschawlik. Im Dezember 1997 erhielt er auf seinem Mobiltelefon einen Anruf von einem Unbekannten, ging dann nach draußen, um „das Auto umzuparken“, und wurde nie wieder gesehen. Von Zeit zu Zeit kommentiert Lukaschenko nicht ohne Stolz seinen Sieg über die organisierte Kriminalität. Einzelne Aussagen kann man durchaus als Geständnisse interpretieren. 2001 ließ er verlauten, er habe bereits 1996 die Granden der Verbrecherwelt „über gewisse Schurken“ gewarnt: „Traut euch bloß nicht, eine Unterwelt zu schaffen, ich reiße euch allen die Köpfe ab“. Und fügte noch hinzu: „Es gab solche Fälle, wo sie sich nicht benommen haben. Ihr wisst ja noch, diese Schtschawliks und wie sie alle hießen. Und wo sind die jetzt? Eben, deshalb ist jetzt Ruhe und alle sind froh.“ 

    Juri Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli Krassowski und Dmitri Sawadski (v.l.n.r.), auf einem Banner bei einer Protestaktion in Warschau im Jahr 2004  / Foto © gemeinfrei
    Juri Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli Krassowski und Dmitri Sawadski (v.l.n.r.), auf einem Banner bei einer Protestaktion in Warschau im Jahr 2004 / Foto © gemeinfrei

    Im Jahr 2011 kam Lukaschenko in einer Rede an die Nation und das Parlament wieder auf das Thema zu sprechen: „Die Banden, die seinerzeit aus der sowjetischen Kinderstube herausgewachsen waren, hatten sehr enge Verbindungen nach Moskau. Wir haben sie schnell auf Linie gebracht. Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet.“ 2017 schrieb die BelGaseta dazu: „Ob es stimmt oder nicht, ist schwer zu sagen, aber immer, wenn in Belarus neue ‘Diebe im Gesetz’ auftauchen, führen die Ermittler sogenannte prophylaktische Gespräche mit ihnen und erinnern sie an ‘Schtschawliks verrottete Knochen’“.  

    Natürlich wusste Lukaschenko von der Rechtswidrigkeit seines Vorgehens, als er die Freigabe zur Abrechnung mit dem Kriminellen gab. Aber in diesem Fall heiligte seiner Ansicht nach der gute Zweck die Wahl der Mittel. Nicht umsonst rühmte er sich später damit, wie gnadenlos diese Schtschawliki in Belarus ausgemerzt wurden. Davon, dass mit der Zeit seine politischen Gegner die Rolle der Schtschawliki einnahmen, schwieg er lieber. Man kann das ja auch als logische Folge betrachten: So eine Todesschwadron erweitert, wenn sie mal gegründet ist, auf natürlichem Weg ihren Aufgabenbereich.  

    Früher oder später wird es eine Untersuchung geben 

    Lukaschenko gelangte 1994 durch vollkommen faire Wahlen an die Staatsspitze. Sofort begann er, die demokratischen Institutionen zu zerlegen, und demonstrierte so seine Absicht, an der Macht zu bleiben. Mithilfe zweier Volksabstimmungen konzentrierte er praktisch unbegrenzte Befugnisse in seinen Händen. Dabei bewegte sich der erste Präsident mehrfach auf Messers Schneide, besonders 1996, als es fast zu einem Amtsenthebungsverfahren kam. 

    Ursprünglich hätten die nächsten Wahlen für das höchste Staatsamt 1999 stattgefunden. Wäre das politische System in Belarus erhalten geblieben, hätte Lukaschenko durchaus verlieren können, da die Ergebnisse seiner ersten fünfjährigen Amtszeit nicht gerade berauschend waren. Doch mit den erwähnten Methoden hatte er die Machtstrukturen völlig verändert und ausschließlich auf seine Person ausgerichtet. Dadurch fand die nächste Wahl erst 2001 statt, wurde aber von der internationalen demokratischen Gemeinschaft nicht anerkannt. 1999 ging vornehmlich als das Jahr in die Geschichte ein, in dem prominente Oppositionelle verschwanden. 

    Das war der Moment, in dem Lukaschenko eine rote Linie überschritt, die das Szenario eines friedlichen Machtwechsels ausschloss. Nach dem Ende seiner Amtszeit hätte eine unabhängige Untersuchung der Fälle Gontschar, Krassowski, Sacharenko und Sawadski beginnen können, wie es die Angehörigen der Vermissten, die Opposition und westliche Politiker forderten. Und sehr schnell wären Hinweise darauf gefunden worden, dass auch dem belarussischen Präsidenten ein Platz auf der Anklagebank gebührt. Eigentlich verliert eine solche Untersuchung mit den Jahren nicht an Aktualität. Auch deshalb kämpfte Lukaschenko 2020 um seinen Absolutismus, ohne Rücksicht auf die Mittel. Etwas Schlimmeres als 1999 hätte dieses Regime auch vor vier Jahren nicht mehr anrichten können.  

    Die Immunitätsgarantien, die nach dem Referendum von 2022 in die Verfassung aufgenommen wurden, sind ebenfalls auf die Ereignisse von vor 25 Jahren zurückzuführen. Ergänzt wurde ein Punkt, dass „der Präsident nach dem Ende seiner Amtszeit für Handlungen, die er im Rahmen seiner Amtsausübung und seiner präsidentiellen Befugnisse ausgeführt hat, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.“ 

    Der 70-jährige Lukaschenko spricht immer häufiger davon, dass er nicht ewig lebt, und baut gewissenhaft an einem System seiner persönlichen Sicherheit im Fall einer Machtübergabe an einen Nachfolger. Regelmäßig spricht er auch von der Notwendigkeit, dass seine Nachkommen sein Erbe bewahren. Was die Sicherheit angeht, kann ihm alles gelingen. Die Staatsmacht wirkt monolithisch, die Sicherheitsorgane befinden sich in ständiger Kampfbereitschaft, und von den Wahlen 2025 sind keine Überraschungen zu erwarten.  

    Das mit dem Erbe ist weniger rosig. Früher oder später wird Belarus eine Demokratisierung erfahren, das Volk wird sein Recht zurückerhalten, die Regierung zu wählen. Eine offene und transparente Untersuchung der aufsehenerregenden Entführungen von 1999-2000 wird auf jeden Fall zu den Prioritäten einer neuen Regierung gehören. Und die Ergebnisse, im ganzen Land veröffentlicht, könnten sogar die eisernsten Verfechter der belarussischen Stabilität erschüttern. 

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  • „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    „Dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei“

    Alexander Vasukovich ist einer der bekanntesten belarussischen Fotografen der jüngeren Generation. Seine Bilder erschienen in zahlreichen internationalen Zeitungen und Publikationen. Bereits seit dem Beginn des Euromaidan dokumentiert er die Ereignisse in der Ukraine, so auch den russischen Krieg seit 2014.

    In seiner Heimat wurde er im Oktober 2023 festgenommen, offiziell wegen Teilnahme an den Protesten im Jahr 2020. Dennoch gelang ihm die Flucht nach Polen, wo er derzeit lebt. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und den Krieg in der Ukraine gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.

    Natalija, 44 Jahre, im Krankenhaus von Browary, Oblast Kyjiw. Sie wurde am 14. März in Tschernihiw am Bein verwundet, 24.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    dekoder: Sie waren bereits 2013 auf dem Maidan, um die dortigen Ereignisse fotografisch festzuhalten. Warum diese Entscheidung, aus Belarus in die Ukraine zu fahren? 

    Alexander Vasukovich: Damals stand meine Karriere als Fotograf noch am Anfang, aber ich hatte bereits Erfahrung mit Aufnahmen bei Protesten gemacht: nach den [belarussischen] Präsidentschaftswahlen 2010, als die Kundgebungen mit gewaltsamer Auflösung und Haftstrafen für viele Beteiligte endete, darunter auch die Präsidentschaftskandidaten.  

    Vom ersten Maidan im Jahr 2004 hatte ich nur gehört, deshalb beschloss ich hinzufahren, als der zweite begann. Mich begeisterte, wie die Ukrainer für ihre Freiheit kämpften. Ich sah Menschen, die bereit waren, für ihre Ideen sogar ihr Leben zu opfern. Ich sah, wie den Ukrainern der Sieg gelang, und genau das wollte ich auch in meiner Heimat sehen. Deshalb fotografierte ich auch nach Beginn des Krieges im Osten der Ukraine weiter jene Menschen, die nicht einmal den Kampf fürchteten. Ich wollte die Freiwilligen zeigen, die auf der Welle des Siegesgefühls vom Maidan in den Krieg gezogen waren, um auch dort zu gewinnen. Vor Ort wurde mir dann klar, dass das im Krieg bedeutend schwieriger ist.  

    Diese Reisen wurde zur Grundlage für das sehr persönliche und schmerzhafte Projekt Commemorative photo (dt. Gedenkfoto), mit dem ich an den Wert des menschlichen Lebens erinnern wollte. Der Tod von Menschen, die wenige Augenblicke vorher noch lebendig neben mir standen, hat mich sehr getroffen. Ich schickte dann Fotos an die Angehörigen und sprach mit ihnen. So wurde dieser Krieg, obwohl ich Ausländer bin, auch ein wenig zu meinem. Deshalb konnte ich auch 2022 nicht aufhören zu fotografieren. 

    Die Fotos in dieser Auswahl stammen vor allem aus dem ersten Jahr der russischen Invasion. Nach welchen Kriterien haben Sie die Bilder ausgewählt? 

    Ich sehe drei zentrale Gründe dafür, dass die Bilder hauptsächlich aus dem ersten Jahr stammen. Da ist zum einen die Intensität dessen, was passierte, dann die Abwesenheit von Einschränkungen und Regulierungen, wo man sich aufhalten durfte, und drittens die Veränderung meiner Wahrnehmung dessen, was vor sich ging.  

    Zu Beginn des Krieges war es wesentlich einfacher, irgendwo hinzufahren und zu fotografieren. Niemanden interessierte, was du machst, du konntest in Ruhe irgendwo sein und beobachten, was passiert. Es gab befreite Gebiete, die man leicht erreichen konnte, um die Folgen der Kriegshandlungen zu dokumentieren, mit den Menschen zu sprechen, alles zu sehen, was passiert war, bevor aufgeräumt wurde. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr Regeln tauchten auf. Bei meiner zweiten Reise konnte ich schon nicht mehr dorthin fahren, wohin ich wollte: Für viele Orte war die Begleitung durch einen Presseoffizier erforderlich, und da es nicht so viele gab, war das mit Wartezeiten verbunden.  

    So viel Zeit hatte ich nicht, also fuhr ich mit dem Motorrad los, weil das mein einziges Transportmittel war, und ich vor dem ersten Schnee zurück sein musste. Damals konzentrierte ich mich auf Bachmut: Ich war sehr beeindruckt, wie die Menschen dort zwischen den Stellungen lebten, während über ihren Köpfen tagelang Geschosse hin und her flogen, die manchmal nicht ans Ziel kamen und auf den schmalen Streifen zwischen den Fronten krachten. Die Menschen lebten dort und warteten darauf, dass all das endlich aufhört.  

    Bei meiner dritten Reise Ende September 2023 wollte ich in erster Linie fotografieren, wie die Zivilbevölkerung in den Frontstädten überlebte. Damals war der Zugang schon sehr schwierig, man durfte fast nirgends ohne Begleitung Zeit mit der Zivilbevölkerung verbringen, von den Begleitpersonen gab es nicht genügend und außerdem konnte man von den Menschen keine Offenheit erwarten, wenn ein Soldat daneben saß. Der einzige Ort, an dem ich in Ruhe machen konnte, was ich wollte, war die Stadt Siwersk.  

    Wie erlebten Sie die Ukrainer im Krieg? 

    Bei meiner ersten Reise waren die Menschen stark mobilisiert und sehr kämpferisch eingestellt, mit jeder weiteren Reise erschienen sie mir müder, fast alle sagten: „Hoffentlich ist es bald vorbei.“ Für mich war es damals schwer vorstellbar, wie sich das anfühlt: Du hast ein Haus, dein normales Leben, ein paar Besitztümer – und dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei, du hast nichts mehr, musst flüchten und alles zurücklassen.  

    Erst als ich selbst mein Zuhause verlassen musste, ohne die Aussicht, in absehbarer Zeit zurückzukehren, konnte ich das etwas besser nachempfinden.  

    Nicht alle können und wollen evakuiert werden, bei meiner dritten Reise sprach ich mit vielen Menschen, die in ihrer Stadt blieben. Siwersk lag direkt hinter der Front, die Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt bereits anderthalb Jahre im Keller. Auf die Frage, warum sie blieben, antworteten sie, dass sie in der Westukraine niemand brauchen würde, dass man dort darüber lachen würde, wie sie sprechen, dass man ihnen dort keine Arbeit geben würde, und sie hier wenigstens einen Ort zum Leben haben, auch wenn sie jeden Moment sterben könnten.  

    Wie wurden Sie als Belarusse aufgenommen, schließlich nutzte die russische Armee belarussisches Territorium für ihre Angriffe auf die Ukraine? 

    Bis zum Kriegsbeginn fühlte ich mich in der Ukraine wie zuhause. Es war das erste Land, in das ich gereist war, meine ersten ausländischen Freunde waren Ukrainer. Kurz vor Kriegsbeginn planten meine Freundin und ich, in die Ukraine zu fahren und unsere Freunde zu besuchen.  

    Dann begann der großangelegte Angriff, ich versuchte sofort, als Fotograf eine Akkreditierung zu erhalten. Viele wollten meine Bewerbung nicht weiterreichen, weil ich belarussischer Staatsbürger bin. Die Kollegen sagten, ich würde keine Akkreditierung erhalten, und wenn doch, dann würde man mich vor Ort nicht arbeiten lassen, mich sogar schlagen. Als ich dann jemanden gefunden hatte, der meine Akkreditierung unterstützte und meine Unterlagen einreichte, war ich auf eine lange Überprüfung und eine mögliche Absage vorbereitet, aber schon drei Tage später hatte ich die Akkreditierung. 

    Bei der ersten Reise war ich mit einer ukrainischen Freundin unterwegs und musste nicht groß erklären, wer ich bin. Bei der zweiten Reise wollte ich allein fahren, mit meinem Motorrad mit belarussischem Kennzeichen. Ich hatte gelesen, was über Belarussen im Internet geschrieben wurde und machte mir Sorgen, wie ich dort allein erklären würde, warum ich in der Ukraine unterwegs bin. Manchmal stellte ich mir vor, man würde hinter mir ausspucken, nachts meine Reifen zerstechen.  

    Aber zum Glück war die Realität ganz anders: Die Leute waren eher erfreut, einen Belarussen zu sehen, der auf der ukrainischen Seite fotografierte, sie interessierten sich dafür, wer ich bin und wie die Belarussen über den Krieg denken. Die Leute begriffen wohl, dass ich in Ordnung sein musste, weil ich bei ihnen war.  

    Ende 2023 wurden Sie in Belarus nach der Rückkehr aus der Ukraine festgenommen. Warum sind Sie überhaupt zurückgekehrt? 

    Ich habe in Belarus gelebt und bin dorthin zurückgekehrt, weil ich das Land liebe, weil meine alten Eltern dort leben und auch meine Großmutter, die jetzt schon 99 Jahre alt ist. Ich wollte dort sein und fotografieren, sobald sich etwas verändert. 

    Nach meiner dritten Reise interessierte sich der KGB an der Grenze für mich. Sie stellten viele Fragen über meine Arbeit in der Ukraine, besonders wunderten sie sich, wie ich ohne Freunde bei der ukrainischen Armee in Orte wie Butscha kommen konnte. Sie wollten nicht glauben, dass das möglich war. Nach der Befragung ließen sie mich gehen. In den folgenden Tagen wurde ich beobachtet, und nach zwei Wochen holten sie mich schließlich ab. 

    Sie durchsuchten meine Wohnung, nahmen Computer, Festplatten und Notizbücher mit. Nach zehn Tagen wurde mir eine Anklage vorgelegt. Sie lautete: Teilnahme an Protesten nach Artikel 342, Absatz 1 des Strafgesetzbuches: „Organisation von Gruppenaktivitäten, die die öffentliche Ordnung grob stören und einhergehen mit offener Zuwiderhandlung gegen gesetzliche Vorschriften der Machtorgane, oder die das Funktionieren von Verkehr, Betrieben, Einrichtungen oder Organisationen stören, oder aktive Teilnahme an solchen Aktivitäten.“ Die Anschuldigung bezog sich darauf, dass ich beim Fotografieren auf der Straße gestanden hatte, die Sicherheitskräfte also angeblich blockiert hätte. Dass ich dort als Journalist im Einsatz war, interessierte die nicht.  

    Meine Reisen in die Ukraine waren sicher ein Katalysator für die Festnahme. Über Google findet mal leicht heraus, dass ich mit fast allen unabhängigen belarussischen Medien zusammengearbeitet habe, die heute als „extremistisch“ gelistet sind. Auf diese Zusammenarbeit stehen bis zu sechs Jahre Haft. 

    Wie ist Ihnen die Flucht nach Polen gelungen? 

    Nach der Festnahme war ich drei Monate in Untersuchungshaft. Danach wurde ich zu drei Jahren Hausarrest verurteilt. Was bedeutet, dass ich das Haus nur für meine offizielle Arbeit verlassen durfte. Eine Bar oder Freizeitveranstaltungen zu besuchen war untersagt. Auch ein Besuch bei meinen Eltern und bei meiner Oma. Nach 19 Uhr musste ich zuhause sein. Die Miliz hätte jederzeit kommen und überprüfen können, ob ich zuhause und nüchtern bin.  

    Ich begriff, dass ich nichts mehr machen konnte, was mir wichtig ist. Zudem war das Risiko sehr hoch, dass ein weiteres Strafverfahren gegen mich angestrengt wird. Also beschloss ich, das Land zu verlassen, auch wenn mir das bis zuletzt widerstrebte. Aber ich wusste: Wenn ich bleibe, würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Gefängnis landen.  

    Also kontaktierte ich den Evakuierungsdienst der Organisation BYSOL. Sie hilft ehemaligen politischen Häftlingen und ihren Familien, Belarus zu verlassen, selbst wenn ein Ausreiseverbot besteht. Details meiner Flucht kann ich nicht verraten, sonst würde ich den Fluchtweg für andere gefährden. 

     

     
    Explosionsspuren einer Mörsergranate auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums im Dorf Stojanka, Oblast Kyjiw, 31.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Leichen, die im Keller eines Sommerlagers gefunden wurden. Ukrainische Beamte sagen, dass die russische Armee das Lager während der Okkupation als Stützpunkt nutzte. Butscha, Oblast Kyjiw, 04.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Zerstörte Brücke über dem Fluss Siwersky Donez in der Nähe des Dorfes Salyman. Bewohner haben die Brücke selbst repariert, nachdem das Gebiet durch die ukrainische Armee befreit worden war. Oblast Charkiw, 20.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Ein Soldat der ukrainischen Streitkräfte fährt über Felder zu den Stellungen seiner Einheit in der Nähe der Stadt Bachmut. Oblast Donezk, 15.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Die Großmutter spricht mit ihrem Enkel, dem elfjährigen Daniil, nach der Beerdigung seines Vaters Wolodymyr. Er hatte bei den Spezialkräften gedient und ist im Kampf gefallen. Kyjiw, 23.03.2022, / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Durch Beschuss zerstörte Kirche im Dorf Lukaschiwka. Nach Angaben von Einheimischen diente sie als Lazarett für verwundete russische Soldaten und als Munitionslager. Oblast Tscherschnihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Ukrainische Soldaten laden Munition in einen Mannschaftstransportwagen. Bachmut, Oblast Donezk, 11.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Halyna und Viktor im Keller eines Wohnhauses. Seit Kriegsbeginn leben sie hier. Siwersk, Oblast Donezk, 02.10.2023 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Ein durch russische Angriffe zerstörtes Wohnhaus in der Stadt Borodjanka. Allein in den ersten Kriegsmonaten wurden hier 404 Eigenheime und Wohnhäuser zerstört. Oblast Kyjiw, 05.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Rettungskräfte bergen eine Leiche aus den Trümmern eines Wohnhauses in Borodjanka. Die Stadt wurde besonders hart von russischen Angriffen getroffen und erlitt die massivsten Zerstörungen in der Region Kyjiw. Oblast Kyjiw, 12.04.2022 Foto © Alexander Vasukovich
     
    Ein ukrainischer Soldat angelt von einer zerstörten Brücke über dem Fluss Siwersky Donez. Dorf Sakitne, Oblast Donezk, 26.09.2023 / Foto © Alexander Vasukovich  
     
    Sanitäter behandeln einen verwundeten Soldaten im Krankenhaus von Bachmut. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Verletzten so zu stabilisieren, dass sie von der Frontlinie wegtransportiert werden können. Oblast Donezk, 17.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Eine Frau hat in einem Kyjiwer Krankenhaus ein Kind zur Welt gebracht. Kyjiw, 30.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Menschen überqueren den Fluss Siwersky Donez mit einem Boot, da die Brücke zerstört wurde. Stary Saltiw, Oblast Charkiw, 12.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Ein ukrainischer Soldat posiert vor einer feuernden M-46-Kanone in der Nähe von Bachmut. Oblast Donezk, 15.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Zerstörte Brücke über dem Fluss Siwersky Donez. Isjum, Oblast Charkiw, 15.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

    Leere Gräber nach der Exhumierung von Leichen in einem Massengrab aus der Zeit der russischen Besatzung. In den Wäldern nahe der Stadt wurden nach der Rückeroberung durch die ukrainischen Streitkräfte mehrere solcher Massengräber entdeckt, darunter eines mit mindestens 440 Leichen. Oblast Charkiw, 15.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Ein hungriger Hund frisst die Überreste einer Kuh, die durch Beschuss getötet wurde. Viele Haustiere wurden von ihren Besitzern auf der Flucht zurückgelassen. Dorf Lukaschiwka, Oblast Tschernihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Einwohner der Stadt Siwersk in einer Kantine, die von evangelischen Christen organisiert wird. Jeden Tag können Menschen hier kostenfrei eine warme Mahlzeit bekommen. Die meisten von ihnen leben in den Kellern ihrer Häuser, die durch Beschuss beschädigt wurden. Oblast Donezk, 04.10.2023 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Rakententeil auf einem Feld in der Nähe des Dorfes Lukaschiwka. Oblast Tschernihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Wolodymyr, 64 Jahre, repariert ein umgefallenes Kreuz auf dem Grab seines Nachbarn. Er wurde durch russischen Beschuss getötet. Da es zu riskant war, den Leichnam auf den Friedhof zu bringen, begruben sie den Freund in der Nähe des Wohnhauses, in dem er lebte. Siwersk, Oblast Donezk, 05.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Ein Mann trägt Wasserflaschen über eine zerstörte Brücke über den Fluss Bachmutka. Die Menschen müssen den Fluss überqueren, um in den anderen Teil der Stadt zu gelangen und dort Wasser und Lebensmittel zu bekommen. Bachmut, Oblast Donezk, 29.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Sanitäter bringen eine verletzte Frau in ein Stabilisierungszentrum in Bachmut. Die Frau und zwei weitere Zivilisten wurden beim Beschuss der Nachbarstadt Tschassiw Jar verletzt. Bachmut, Gebiet Donezk, 17.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Zerstörte Brücke über dem Fluss Oskil. Gorochowatka, Oblast Donezk, 20.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Eine tote Taube, die durch Beschuss einer Straße in der Stadt Bachmut getötet wurde. Oblast Donezk, 17.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

    Fotografie: Alexander Vasukovich
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 26.09.2024

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  • „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

    „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

     

    Viele Belarussen, die mittlerweile im Exil in Polen, Litauen oder Georgien leben, engagieren sich für die Demokratiebewegung. Im Belarus selbst ist Engagement gefährlich und öffentlicher Protest nicht mehr möglich. Lukaschenko hat seinen Machtapparat vor allem auf eines eingeschworen: auf politische Verfolgung. Verlässliche Informationen darüber, wie es sich unter derart hochrepressiven Bedingungen lebt, wie sich die Sichtweisen der Belarussen seit 2020 entwickelt haben, gibt es kaum. 

    Im Interview erklärt der Soziologe Andrei Wardomazki vom Belarusian Analytical Workroom die Tücken seiner Arbeit: Wie lassen sich die Einstellungen und Stimmungen der Belarussen ermitteln? Tut sich tatsächlich eine Kluft zwischen den Belarussen im Exil und denen im Land auf? 

    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY
    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY

    dekoder: Die Belarussen in ihrem Land und außerhalb ihres Landes nehmen die Situation in Belarus unterschiedlich wahr, einige Experten nennen die Differenz zwischen den Sichtweisen sogar „katastrophal“. Woher kommt das? 

    Andrei Wardomazki: Der Begriff „Katastrophe“ hat eine subjektive emotionale Aufladung. Ich sage lieber „bedeutender“ oder „wesentlicher Unterschied“.  

    Unterschiedliche Meinungen gibt es immer. In den USA zwischen Republikanern und Demokraten, in Großbritannien zwischen Tories und Whigs … Das gilt auch für Belarus. Seit wann es diesen bedeutenden Unterschied in der Wahrnehmung der Belarussen gibt – es ist schwierig, hier einen Anfangspunkt zu markieren. Ein Faktor war bestimmt die zunehmende Emigration nach 2020. Damals tauchten einige Merkmale auf, die auf eine erhebliche Differenz zwischen der Sichtweise der Belarussen im und außerhalb des Landes hindeuteten. Erhebliche Unterschiede, die sich vielleicht irgendwann zu wesentlichen entwickeln.  

    Der nächste Meilenstein war der Beginn des großangelegten russischen Angriffs auf die Ukraine. Ab da prägten sich zwei unübersehbare Informations- und Weltanschauungskokons heraus. 

    Wie kann man diese Kokons beschreiben? 

    Ich nenne sie „Nein zum Krieg“ und „Es gibt keinen Krieg“. Es gibt auch Kokons zu anderen weltanschaulichen Positionen. Zum Beispiel zur geopolitischen Ausrichtung, zur Einstellung zu Europa. Die Menschen sehen verschiedene Realitäten. Während ein Belarusse im Exil das Lächeln der westlichen Politiker vor Augen hat, sieht man von Belarus aus den Gesichtsausdruck eines EU-Grenzbeamten beim Grenzübertritt. 

    Der nächste Kokon betrifft das Thema Wirtschaft. Jenseits von Expertenkreisen (die die Situation nüchtern beurteilen) besteht unter den Durschnittsbelarussen im Ausland die Vorstellung vom wirtschaftlichen Niedergang in Belarus, dass es immer schlimmer wird. Die Bevölkerung im Land bewertet die wirtschaftliche Lage anders, sie nimmt keine Verschlechterung wahr. Die Statistik gibt ihnen übrigens recht. 

     

    Der nächste Unterschied ist, dass die Exil-Belarussen von extremen Repressionen und der totalen Entbelarussifizierung in Belarus ausgehen. Aus dem Land selbst hingegen gibt hört man immer wieder, dass Gras darüber gewachsen sei. Aus verständlichen Gründen führe ich keine Beispiele an. 

    Die Auswanderer sind im Jahr 2020 steckengeblieben, in Belarus herrscht schon eine „neue Normalität“ 

    Worin liegt der Unterschied im Denken der Belarussen innerhalb und außerhalb des Landes, wie und warum bilden sich diese Kokons? 

    Es gibt den Parameter der sozialen Zeit. In vielerlei Hinsicht kann man die Diaspora charakterisieren als erstarrt im Jahr 2020. Alles blieb dort und damals stehen – die Menschen, das Weltbild, die Psychologie. Aber innerhalb von Belarus passieren Veränderungen, die zu einer Art „neuen Normalität” führen. Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit, mit vielen Interpretationsmöglichkeiten. Er bewegt sich in einem Informationsstrom, der ihm vielfältige Interpretationen anbietet, verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen.  

     

    Der Belarusse in Belarus bewegt sich im Strom der Zensur und Begrenzung. Putin soll man nicht kritisieren, über Selensky lieber nichts Gutes sagen. Das Jahr 2020 darf man nicht positiv bewerten, und zu manchen Persönlichkeiten sollte man sich gleich gar nicht äußern. Das ist Zensur, vermischt mit Selbstzensur. 

    Generell sind der Grund für solche Kokons einerseits diese verschiedenen, manchmal diametral entgegengesetzten Informationsströme, andererseits gehen die persönlichen Erfahrungen auseinander. Die Kombination aus beiden erzeugt eine Kluft. Ein wichtiger Grund hat mit Sicherheit damit zu tun: mit dem Überleben. In Belarus ist es schlicht gefährlich, blockierte ausländische Medien und nichtstaatliche belarussische Auslandsmedien zu lesen oder zu konsumieren, die Mehrheit ist als „extremistisch“ gelistet. Man richtet daher seine Aufmerksamkeit auf andere Quellen, wechselt den Kokon. 

    Sie sprechen über die Belarussen im In- und Ausland, erwähnen aber diejenigen nicht, die in Belarus geblieben sind und dennoch dasselbe lesen und schauen wie die Emigrierten. 

    VPN-Dienste verringern das Problem der Blockierungen erheblich, aber die Gefahr bleibt bestehen. Ich denke, den Anteil derer, die dieselben Medien konsumieren wie die Emigranten, kann man bei 30 Prozent verorten. Übrigens ist das Vertrauen in die unabhängigen belarussischen Medien genauso hoch wie das in die russischen Medien. Trotz aller Einschränkungen bleibt das Interesse also bestehen. Das ist ein wichtiger Indikator.  

     

    Es wirken aber auch psychische Schutzmechanismen. Manche Menschen sind nicht in der Lage, Fotos aus Butscha anzusehen oder viel negative Information aufzunehmen. Hält ein Mensch das nicht aus, zieht er sich zurück in einen ruhigeren, positiveren Kokon. Beim Entstehen dieser Kokons wirken also zwei Arten von Selbstschutz. Erstens das existenzielle, lebensnotwendige Sicherheitsbedürfnis – sich die Freiheit zu bewahren, die man verlieren kann, wenn man Medien nutzt, die in Belarus blockiert sind oder als extremistisch gelten. Zweitens der psychische Selbstschutz – die Unfähigkeit, das Negative in den Medien auszuhalten. 

    So bewegt man sich in einer Art Korridor zwischen dem gerade noch Erträglichen und dem Interesse daran, informiert zu bleiben. In diesem Korridor zwischen Unerträglichkeit und Neugier wird alles genutzt, was an Medien zugänglich ist.  

    Welche Gründe gibt es noch, dass Leute aus einem Kokon in einen anderen wechseln? 

    Wenn die Interessen auseinandergehen und die Probleme, die die Menschen beschäftigen, nicht den Themen entsprechen, die die nichtstaatlichen Medien anbieten. Zum Beispiel interessiert man sich für Wirtschaft, aber hört nur von politischen Gefangenen. Dann entfernt man sich von dieser Information und landet in einem anderen Kokon. 

    Kann man einen Point of no Return prognostizieren, an dem die Belarussen im In- und Ausland einander endgültig nicht mehr verstehen werden? 

    Bei sozialen Phänomenen gibt es keine „hundert Prozent“, kein „absolut schlecht“ und „absolut gut“, kein „endgültig”. 

    Gab es bei den Deutschen einen Point of no Return? Gibt es ihn in Nordkorea? Dort sind die Menschen überzeugt, dass sie besser als der Rest der Welt leben, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber das heißt nicht, dass sich die Situation nicht irgendwann, in einer langen Zeitspanne, ändern kann. Über die russische öffentliche Meinung sagt man heute: „Das ist der Point of no Return, du kannst sie nicht mehr ändern.“ Aber das gibt es nicht. Was es gibt, sind Punkte, die eine Annäherung schwieriger oder leichter machen, die Veränderungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. 

     

    Hier muss man noch die gegenseitigen Vorbehalte zwischen Emigranten und Gebliebenen erwähnen. Beide Seiten beschuldigen die jeweils andere, konform mit dem Regime zu sein, meinen damit aber unterschiedliche Dinge. Die Emigrierten sagen, ihr seid geblieben und zahlt Steuern, ihr unterstützt das Regime. Die Gebliebenen wiederum sagen, ihr Konformisten seid abgehauen, wer wird dann unser Land erhalten oder sogar kämpfen? Nach demselben – sozialpsychologischen und logischen – Prinzip haben sich die gegenseitigen Anschuldigungen schon 2020 eingebürgert, damals zwischen den Unterstützern des Wandels und den systemtreuen Jabatki. Heute beschuldigen einander Inlandsbelarussen und Auslandsbelarussen. 

    Es ist ein einzigartiges Phänomen: Dass die einen Belarussen die anderen Belarussen zu erforschen beginnen. Darin liegt die Besonderheit dieser Untersuchung, sowohl für die Wissenschaft als auch insgesamt für die belarussische Gesellschaft. Ich wiederhole, es gibt keinen Point of no Return. Es gibt eine Verweildauer in einem Zustand, die länger oder kürzer sein kann. Aber dass eine Situation für immer festfriert, das gibt es nicht. Dasselbe gilt für Konformismus- und Kollaborationsvorwürfe. 

    Erzeugen die Informationskokons die Trennlinie oder verstärken sie sie nur? Zum Beispiel Präferenzen bei der außenpolitischen Orientierung oder bei ökonomischen Veränderungen. 

    Das sind so Stimmungen, die schwanken und sich nicht stabil in eine Richtung bewegen. Einmal reagiert Europa anders auf die Situation in Belarus – schon ändert sich die Einstellung in Belarus. Grafiken, die diese Schwankungen der geopolitischen Präferenzen illustrieren, zeigen keine kontinuierliche, lineare Ausrichtung, es gibt ein Auf und Ab. 

    Nur ein Parameter bleibt konstant: Belarus und seine Armee sollen nicht direkt am Krieg in der Ukraine teilnehmen. Die Haltung zur Nutzung belarussischer Infrastruktur oder zur Stationierung russischer Truppen kann sich hingegen ändern. Sie kann sich auch verschlechtern. 

    Welche Stereotype über die Sichtweisen von Emigrierten und in Belarus Gebliebenen wurden im Verlauf der Studie aufgebrochen? 

    Jede Forschung ist in gewisser Weise ein Brechen mit Stereotypen. Ich habe schon das Beispiel der Repressionen angesprochen. Von außen besteht die stereotype Ansicht, dass die Situation in Belarus maximal schlimm ist und sich noch weiter verschlimmert. Aber die Befragten in Belarus geben nicht nur negative Einschätzungen ab. Und trotz der zahlreichen katastrophalen Wirtschaftsprognosen empfinden die Einwohner die Lage nicht als absoluten Zusammenbruch. 

    Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen 

    Was die geopolitische Ausrichtung angeht, so nehmen die Belarussen beispielsweise Europa ganz unterschiedlich wahr, meist je nach persönlichen Erfahrungen und je nach Informationsquellen. Ich möchte hier keine Antworten zitieren, aber es gibt viele Details abseits von Stereotypen. 

    Über Russland sagen die einen, dass davon die Kriegsgefahr ausgehe, die anderen, dass die Freundschaft mit Russland Garant dafür sei, dass das belarussische Territorium von den Kämpfen verschont bleibe. 

    Im Rahmen unserer Forschungen, unter anderem zum Thema „Informationskokons in Belarus und im Ausland“, tragen wir Berge von detaillierten Informationen zusammen und denken bereits über die Entwicklung einer Kokontheorie nach. Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen. 

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  • Maria Kolesnikowas Haft: „Die Situation ist extrem gefährlich“

    Seit anderthalb Jahren gab es keine direkten Informationen über den Zustand der belarussischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa, die zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Nun sind Informationen durchgedrungen, die von ehemaligen Mitgefangenen stammen sollen. Demnach soll sich der Zustand der 42-Jährigen rapide verschlechtert haben, sie werde buchstäblich ausgehungert und wiege nur noch 45 Kilogramm.  

    Der belarussische Ableger des Onlinemediums Mediazona hat mit einem anonymen Informanten über die menschenunwürdigen Haftbedingungen gesprochen.  

    Seit mehr als eineinhalb Jahren haben Maria Kolesnikowas Angehörige keine Briefe mehr von ihr erhalten. Fast die gesamte Zeit befindet sie sich in einer Isolationszelle, in der es kein warmes Wasser gibt und nach Kanalisation riecht. Aufgrund ihres Magendurchbruchs kann sie kein Gefängnisessen zu sich nehmen, für Einkäufe im Gefängnisladen darf sie nur 40 Belarussische Rubel (ca. 11 Euro) im Monat ausgeben. Ihre Schwester Tatjana Chomitsch teilt mit, dass Kolesnikowa nur 45 Kilogramm wiege. Eine Quelle, die mit Kolesnikowas Haftbedingungen vertraut ist, hat Mediazona erzählt, was darüber bekannt ist.

    Verleihung des Karlspreises in Aachen, 26.05.2022. Bild von Maria Kolesnikowa, Preisträgerin in Abwesenheit / Foto © UtexGrabowsky/photothek.de/ IMAGO

    „Als würdest du im Klo leben“. Die Bedingungen in der Isolationszelle 

    Maria Kolesnikowa befindet sich seit dem 10. März 2023 in einer Isolationszelle (russ. PKT) der Frauenstrafkolonie Nr. 4 in Homel. Sie kam in die Isolationszelle. Drei Monate zuvor war sie mit Bauchfellentzündung aufgrund eines Magengeschwürs (Durchbruch der Magenwand) in die Notaufnahme eingeliefert worden war. 

    Die Isolationszelle hat eine Größe von etwa 1,60 mal 2,50 Metern. An den Wänden sind zwei Pritschen für je zwei Personen befestigt, die nur zur Nachtruhe von 20:30 bis 5:00 Uhr heruntergelassen werden. Die Toilette ist ein Loch im Boden einer Zellenecke, ein Blech von der Größe einer aufgeschlagenen Zeitung soll als Sichtschutz dienen. Diese Trennwand erfüllt ihren Zweck nicht: Egal, wie man sich hinhockt, man wird entblößt zu sehen sein. 

    „Der Gestank bleibt im Raum, du atmest ihn täglich ein. Du wohnst also quasi auf dem Klo“, sagt der Gesprächspartner Mediazona. In der Mitte der Zelle stehen am Boden befestigte schmale „Sitze“ und eine aus Metall geschweißte Truhe, die man ebenfalls nicht verschieben kann. Am Waschbecken gibt es nur kaltes Wasser, einmal pro Woche darf man in den Duschraum. Das einzige Fenster befindet sich direkt unter der Decke und ist auf der Innenseite vergittert. Zwischen dem Gitter und dem äußeren Fensterrahmen liegen etwa 60 Zentimeter Mauer. 

    Aufgrund ihrer Erkrankung müsste Maria eine spezielle Diät einhalten, doch in der Isolationshaft bekommt sie das, was auch die anderen Gefangenen essen. Als Maria nach dem Krankenhausaufenthalt in die Strafkolonie zurückkehrte, bat sie ihre Angehörigen, sie mit Breiflocken zu versorgen – die einzige Nahrung, die sie essen durfte. In der Isolationszelle darf sie jedoch nur einmal alle sechs Monate ein Päckchen oder kleines Paket erhalten (Art. 114 der Strafvollzugsordnung). 

    Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge verschlechtert sich Marias Gesundheit aufgrund der Mangelernährung und der unmenschlichen Bedingungen, denen sie seit anderthalb Jahren ausgesetzt ist. Das hat sie der Gefängnisverwaltung bereits mitgeteilt. 

    Bei einer Zellenkontrolle sagte Maria im Beisein des Leiters der Kolonie: „Ich mache mir Sorgen um meine Gesundheit“, und fragte, wo ihre Medikamentensendungen und ihre Briefe seien. Der Leiter antwortete, alle hätten sie vergessen. Einer Quelle von Nowy Tschas zufolge erhielt Maria trotz ihrer Bitten lange keine medizinische Hilfe, und Briefe wurden vor ihren Augen zerrissen. 

    Der Tagesablauf 

    In der Isolationszelle steht Maria jeden Morgen um fünf Uhr auf, klappt das schwere „Bett“ hoch und befestigt es an der Wand. Dann öffnet sich die Tür – die Gefangene nimmt den Abfalleimer und verlässt in Begleitung eines Vollzugsbeamten die Zelle, um einen Lappen und Chlorwasser zu holen. Zum Putzen hat sie etwa 15 Minuten, dann sammelt eine Gefangene aus der Hauswirtschaftskolonne alle Lappen wieder ein. 

    Gegen sechs Uhr morgens wird das Frühstück gebracht. Gewöhnlich ist es Brei mit Fettzusatz, ein Stück Weißbrot und süßer Tee. „Der Brei ist mit Milch. Er hat definitiv eine Fettbeigabe, damit er einigermaßen nahrhaft ist. Der Tee ist so extrem süß, dass man ihn nicht trinken kann“, erzählt der Gesprächspartner. Manchmal gibt es zum Frühstück auch ein gekochtes Ei oder – im Fall der Aufbaunahrung, die Maria nach der Operation bekam – Quark. Während der Mahlzeiten verteilt ein Arzt die Medikamente, die den Insassinnen verschrieben wurden. Manchmal wird bei Maria morgens ein EKG gemacht. Nach dem Frühstück ist Zellenkontrolle. Wieder geht die Tür auf, die Vollzugsbeamten kontrollieren ihr Äußeres und die Sauberkeit der Zelle. 

    Von 8:30 bis 9:00 Uhr wird sie zum Spaziergang in einen Innenhof geführt, der 1,50 mal 1,50 Meter groß und oben übergittert ist. Wer in Isolationshaft ist, dem steht nur eine halbe Stunde täglich zu. „Spaziergang ist zu viel gesagt. Eher eine halbe Stunde draußen stehen. Um diese Zeit kommt dort auch keine Sonne hin.“ 

    Nach dem Spaziergang sitzt Maria den ganzen Tag in der Zelle. Sie hat ein Handtuch, eine Zahnbürste und Zahnpasta, Toilettenpapier, (vielleicht) einen Becher und ein Buch. In der Isolationszelle kann man während der Mahlzeiten mit Erlaubnis der Mitarbeiter Wasser kochen – aber nur, wenn es einen Wasserkocher gibt und man einen eigenen Becher hat. 

    Um zwölf Uhr wird das Mittagessen verteilt. Es gibt Fruchtkaltschale oder Kompott aus Trockenfrüchten, eine Suppe und ein Hauptgericht (zum Beispiel Plow). Abendessen gibt es um 18:00 Uhr, das kann zum Beispiel Kartoffelbrei und gebratener Fisch sein. Um 20:30 Uhr beginnt die Vorbereitung auf die Nachtruhe – Maria klappt ihr „Bett“ aus. Um 21:00 Uhr ist Schlafenszeit, das Licht in den Zellen bleibt jedoch an. 

    40 Rubel pro Monat für Einkäufe im Laden 

    Maria darf pro Monat 40 Rubel (eine Basiseinheit laut Art. 114 der Strafvollzugsordnung) von ihrem Konto für Einkäufe im Laden der Strafkolonie ausgeben. Lagerinsassen, die sich nicht in Isolation befinden, werden in den Laden begleitet und dürfen sich dort die Waren selbst aussuchen. Maria schreibt eine Liste, das Geld wird von ihrem Konto abgezogen, und die Vollzugsbeamten bringen ihr die Produkte in die Zelle. Da Maria das Angebot nicht so genau kennt, kann es vorkommen, dass es das Gewünschte nicht mehr gibt. 

    Wir haben im Online-Shop der Strafkolonie 4 die Preise studiert und uns überlegt, was Maria dort für 40 Rubel kaufen könnte: 

    – 10 Rollen Toilettenpapier: 4,60 BYN 

    – 1 Packung Damenbinden: etwa 4 BYN 

    – Zahnpasta und Zahnbürste: 10 BYN 

    – Duschgel: 6,50 BYN 

    – Shampoo: fast 8 BYN 

    Wenn sie in einem Monat alle Hygieneprodukte kaufen muss, bleiben ihr etwa sieben Rubel für Essen: 

    – Tee und Kaffee: etwa 15 BYN 

    – Buchweizenflocken: 3,50 BYN 

    – 1 Packung Quark: 2 BYN 

    – Dorschleberkonserve: 20 BYN 

    – 1 Kilo Orangen: etwa 7 BYN. 

    Sie könnte zum Beispiel auch Chinakohl kaufen, für 7 Belarussische Rubel das Kilo. Oder Weißkohl für 1,5 Belarussische Rubel das Kilo, der aber schwerer und daher pro Stück teurer ist. 

    Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge kann Maria sich von den Hygieneprodukten Seife (die auch als Shampoo dient), Duschgel und Deodorant leisten. Toilettenpapier braucht man auf Vorrat, es ist vielseitig verwendbar, auch als Taschentuch und Slipeinlage“. Von den Nahrungsmitteln kauft sie die billigsten Kekse und Tee, Kaffee ist hingegen ein „großer Luxus“. „Letztlich muss sie sich entscheiden: entweder essen oder Haare waschen oder Toilettenpapier“, sagt der Gesprächspartner.

    „Die Situation ist nicht hart, sondern extrem gefährlich“ 

    Für den Aufenthalt in einer Isolationszelle legt die Strafvollzugsordnung eine maximale Dauer von sechs Monaten fest. Maria wurde jedoch weder nach einem halben noch nach einem Jahr entlassen. Unter gewöhnlichen Haftbedingungen – also nicht in Isolationshaft oder in der Strafzelle – leben die Frauen zu mehreren Dutzenden in sogenannten Baracken. Sie werden zur Arbeit, in den Speisesaal, in den Klub, in den Laden geführt. 

    Den Informationen von Mediazona zufolge wird Maria Kolesnikowa noch immer in Isolationshaft gehalten – bereits anderthalb Jahre lang. Fast die gesamte Zeit hat sie allein in der Zelle verbracht. Bekannt ist, dass einmal eine „zänkische“ Insassin in ihre Zelle einquartiert wurde. Kurz bevor Maria eigentlich aus der Isolation in ihre Gruppe zurückkehren sollte (am 10. März 2024), wurde sie wegen Respektlosigkeit dem Personal gegenüber mit drei Tagen Haft in der Strafzelle (SCHISO) bestraft. Ehemalige politische Gefangene erzählen, dass man im Grunde für alles gerügt werden kann, was man zum Gefängnispersonal sagt. Zum Beispiel für die Anrede „junger Mann“. Nach der Strafzelle kam Maria wieder in die Isolationszelle (PKT). 

    „Diese Situation ist nicht hart, sondern sie ist extrem gefährlich. Natürlich warten sie auf ein Reuebekenntnis von Mascha“, mutmaßt der Gesprächspartner. Den letzten Brief von Maria erhielten ihre Angehörigen am 15. Februar 2023. Sie selbst darf keine Post erhalten, ein Anwalt wird nicht vorgelassen. 

    Marias Schwester Tatjana Chomitsch schrieb dazu [auf Facebook]: „Meines Wissens leidet Maria in der Kolonie an Hunger. Sie wiegt 45 kg bei einer Größe von 1,75 m. Ihre Krankheit erfordert eine Diät, daher kann sie von der Gefängnisverpflegung nicht viel essen. […] Jemandem mit Magengeschwür Lageressen zu geben, ist praktisch Folter und ein langsamer Mord. Jemandem das Recht zu entziehen, seiner Familie zu schreiben, beschleunigt diesen Tod.“ 

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    Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, der zu jener Zeit auch von belarussischem Territorium aus geführt wurde, gab es zahlreiche Sabotageakte an Eisenbahnstrecken in Belarus. Denn die russische Armee nutzte die Infrastruktur im Nachbarland für den Transport von Militärgerät und Soldaten. Viele der sogenannten Eisenbahnpartisanen wurden schließlich festgenommen und zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Andere versuchten zu fliehen. Für solche Fluchtpläne braucht es mutige Aktivisten, die dafür selbst riskieren, festgenommen zu werden. So ist es Alesja ergangen: Die junge Frau tappte in eine Falle der belarussischen Sicherheitsbehörden und erlebte danach ein Martyrium in verschiedenen Haftanstalten. Das belarussische Online-Medium Mediazona Belarus hat ihre Geschichte aufgeschrieben. 

    Alesja steht entkleidet im Flur der Übergangshaftanstalt in Mahiljou, einer speziellen Ecke ohne Videokameras, wo die „nackte Durchsuchung“ stattfindet. Eine blonde Polizeibeamtin schiebt ihr einen Finger in den Mund, um nachzusehen, ob Alesja dort etwas versteckt. Ihr werden mehrere Artikel des Strafgesetzbuches vorgeworfen, darunter unter anderem Terrorismus. Später wird Terrorismus aus der Anklage gestrichen, Alesja wird zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Sie übersteht die Prügel während der Verhöre und die Haft, flüchtet nach der Entlassung nach Vilnius und erzählt nun Mediazona ihre Geschichte.  

    Alesja Bunewitsch (mittig) mit Swetlana Tichanowskaja und ihrem Mann Oleg Meteliza bei Feierlichkeiten zu Kupalle / Foto © privat 

    Alesja wurde im April 2022 nahe der litauischen Grenze festgenommen. Auf Bitten ihres Mannes, des in Litauen tätigen belarussischen Aktivisten Oleg Meteliza, hatte sie jemandem helfen wollen, die Grenze nach Litauen sicher zu überqueren. Alesja wusste nichts über die Identität dieser Menschen, aus Sicherheitsgründen bekam sie keine Informationen, damit sie „im Fall der Fälle“ im Verhör keine Namen nennen konnte. „Ich sollte das Gelände begutachten, ob man da durchkommt. Allgemeine Informationen sammeln, ob dort Grenzsoldaten sind, wie die Qualität der Wege ist, ob es Kameras gibt, Beleuchtung und so weiter.“ 

    Später stellte sich heraus, dass diese Fluchtvorbereitungen einer Gruppe von Eisenbahnpartisanen aus Babrujsk galten. Allerdings waren sie einige Tage vorher verhaftet worden, einem von ihnen schossen die Silowiki ins Knie. Das Urteil gegen die Eisenbahnpartisanen aus Babrujsk erging im Februar 2023: Dmitri Klimow und Wladimir Awramzew wurden zu je 22 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, Jewgeni Minkewitsch zu anderthalb Jahren Haft. Für Alesjas Festnahme inszenierten die Silowiki eine Spezialoperation, für die sie sich als jene Aktivisten aus Babrujsk ausgaben.  

    Alesja erinnert sich: Sie stand an einer Position, an der sie die Umgebung des Dorfes Salatje im Gebiet Hrodna im Blick hatte, sah das Auto, in denen sie die Partisanen vermutete. Allerdings fuhr es im Kreis, was Alesja ziemlich seltsam vorkam, da man sich dort eigentlich nicht verfahren konnte. „Dann hielten sie also an und nahmen mich fest. Ich verstand überhaupt nicht, was da passierte. Sie hatten sich auch nicht vorgestellt. Sie zückten ein Messer, bedrohten mich, ich solle mein Telefon hergeben. Dann schubsten und zerrten sie mich, stießen mir die Ellbogen in die Rippen, obwohl ich gar nichts machte, ich saß nur still da, weil ich unter Schock stand. Irgendwann schrie ich sogar ,Hilfe, Banditen!’. Weil sie ja wirklich so aussahen.“ 

    Sie taserten uns mit dem Elektroschocker 

    Alesja wurde in einen Wald gebracht, in dem bereits einiges los war – bewaffnete Silowiki in Sturmhauben, viele Fahrzeuge – PKWs, Kleinbusse. Auch der Belarusse Alexej Kowalewski wurde dorthin gebracht. Er hatte nichts mit den Eisenbahnpartisanen zu tun, wollte nur zusammen mit ihnen die Grenze überqueren. Zuvor war er wegen der Teilnahme an den Protesten in Minsk zu Strafarbeit verurteilt worden. Alesja fielen deutliche Spuren von Prügel an ihm auf. Die Silowiki stellten sie einander gegenüber, um herauszufinden, ob sie sich kannten. Alexej und Alesja sahen einander zum ersten Mal.  

    „Sie stellten uns zur Durchsuchung nebeneinander auf, die Hände in Handschellen erhoben, sie taserten uns mit dem Elektroschocker, erst ein Bein, dann das andere. Danach schlugen sie uns einfach ins Gesicht. Nicht fest, aber ich hatte vorher nie Gewalt erlebt. Ich wehrte mich nicht, versuchte nur, mit ihnen zu reden – was passiert und warum man mich festhält. Irgendein Ranghöherer kam und behauptete, ich sei eine europäische Prostituierte, die für Geld Verbrechen begehe. Und gab dann den Befehl, mich zu verhören.“ 

    Irgendwann trat ein Mann in Lederhandschuhen an Alesja heran. Er fasste sie am Hals und begann Fragen zu stellen: „Wie viele seid ihr in eurer Bande? Wo sind die anderen? Wer sollte euch hier abholen?“ Alesja antwortete nicht, der Mann würgte sie. Er drückte ihr immer fester die Kehle zu, bis sie fast das Bewusstsein verlor. „Was weiter geschah, liegt völlig im Nebel, ich sagte gar nichts mehr, erst dann beschlossen sie, mich zum KGB zu bringen.“ Die Verhöre dauerten mehrere Stunden, manchmal den ganzen Tag. Aus der Arrestzelle wurde sie zum KGB gebracht. Dort wurde Alesja zwar nicht mehr geschlagen, aber gezwungen, lange mit nach vorn ausgestreckten Armen dazustehen. Einer der Silowiki fuchtelte mit einem eisernen Lineal, als würde er ihr gleich auf die Hände schlagen. 

    „Ich dachte – versuch’s nur. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, ich nehme dir dein Lineal weg und schlage selbst damit zu. Wieso behandelt ihr mich so, ich benehme mich doch normal, ich wehre mich nicht, leiste keinen Widerstand. Ich will einfach nur verstehen, wo ich hineingeraten bin.“ 

    Im Verhör wurde Good Cop – Bad Cop gespielt: Einer sprach sanfter und stellte persönliche Fragen, der andere fragte nur zur Sache. Trotz allem machte Alesja Aussagen, die auf Video aufgenommen und später auf dem TV-Sender ONT gezeigt wurden. Sie hatte dem Propagandafernsehen ein Interview verweigert, weshalb diese Mitschnitte der Verhöre in dem Beitrag aufgenommen wurden „Das Schlimmste war für mich, dass ich in dem Video einen wirklich hässlichen Hut trug, weil ich einen blauen Fleck im Gesicht hatte, und weil ich überhaupt nicht gut aussah. Ich wollte nicht, dass mein Vater und meine Bekannten mich so sehen.“ 

    Aus der Untersuchungshaft nach Mahiljou 

    Aus Hrodna brachte man Alesja in die Übergangshaft nach Mahiljou. Über die Mitarbeiter dort sagt Alesja: „Bestien, anders kann man es nicht sagen. Die Frauen, die dort arbeiten, behandelten mich, als hätte ich ein Baby gefressen und wäre stolz darauf.“ Als ihre Menstruation begann, verwehrte man ihr die Aushändigung von Hygieneartikeln.   

    „Einmal drohte ich, kein Wort mehr zu sagen, bis ich Binden bekomme. Denn ich bin eine Frau und sitze jetzt in Hosen voller Blut vor euch, weil ich einfach nichts habe. Selbst meine Anwältin bat um Erlaubnis, mir Hygieneartikel zu kaufen und mitzubringen, das sei doch nicht mehr normal. Schließlich brachte mir der Ermittler Kontaktlinsenflüssigkeit, Feuchttücher, Tampons und Binden. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn ich saß wirklich in vollgebluteten Hosen dort.“ 

    Alesja hatte keine Wechselkleidung, die Schuhe hatte man ihr weggenommen, deshalb musste sie zu den Befragungen und Durchsuchungen in Socken über den Flur. Waschmittel hatte sie auch keines – für sie wurden keine Päckchen angenommen, nicht einmal Seife. Besonders erniedrigend waren die Durchsuchungen, erinnert sich die politische Gefangene. Sie musste sich komplett ausziehen, die Beamtinnen steckten ihr die Finger in den Mund, um zu schauen, ob dort nichts versteckt wäre.  

    „Die Fressluke öffnet sich, du streckst die Hände raus, sie legen dir Handschellen an. Dann öffnen sie die Zelle, du trittst heraus, sie führen dich in die Ecke, wo du dich ausziehen musst. Ich dachte gerade noch: Was für ein hübsches Mädchen, so blond, so gepflegt, das Gesicht und die Nägel. Und da sagte ebendieses Mädchen: ,Na los, Schlampe, zieh dich aus. Stringtanga? Ist der nicht zu klein?´“ 

    Vor der Verhaftung hatte Alesja mit ihrer Familie mehrere Jahre in Vilnius gelebt. Dort wartete auch ihr neunjähriger Sohn auf sie. Er hätte sie im Gefängnis besuchen können, doch die Eltern entschieden sich bewusst dafür, Kastus nicht nach Belarus zu bringen. Sie verschwiegen ihm nichts, aber, so erinnert sich Alesja, begriff er eigentlich bis zuletzt nicht richtig, was das alles bedeutete. „Die ersten Briefe, die er mir schickte, waren ganz kurz und trocken, als wäre ihm nicht klar, wie lange das dauern würde. Er dachte, ich würde bald zurückkommen. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht freiwillig schrieb, dabei hatte ich meinen Mann gebeten, ihn nicht zu zwingen. Später verstand er irgendwie von selbst, dass ich nicht so bald nach Hause kommen würde. Da wurden seine Briefe ausführlicher, er schrieb mir, wie sein Tag war, was es zu essen gab, worüber er lachen musste, welche Filme er guckte.“ 

    Oft schrieb der Sohn an die Mutter: „Du bist meine Heldin, ich weiß, dass du Menschen geholfen hast.“ Das beruhigte Alesja – sie hatte sich große Sorgen gemacht, dass ihr Sohn denken könnte, die fremden Leute seien ihr wichtiger gewesen als er. Im Straflager wollte Alesja irgendwann keine Videoanrufe mit ihrem Sohn mehr führen. Der Grund dafür war, dass immer ein Polizeibeamter anwesend war, der in die Kamera schaute und die Gespräche mithörte. Diese Entscheidung fiel ihr nicht leicht.  

    „Ich konnte nicht zulassen, dass einer, der mir so zuwider ist, meinen Sohn sieht und unser belarussischsprachiges Gespräch hört. Belarussisch ist für die alle ohnehin ein schwieriges Thema. Deshalb ging ich einfach nicht mehr hin, entschuldigte mich in Briefen und in den normalen Telefonaten dafür. Ich sagte: Tut mir leid, Kind, ich kann das nicht.“ 

    Von einem Gefängnis ins nächste 

    Alesja wurde aus der Übergangshaft ins Untersuchungsgefängnis von Mahiljou verlegt. Die Bedingungen dort nennt sie „wie im Sanatorium“: frisch renovierte Zellen, viel Platz für persönliche Habseligkeiten und abends Warmwasser. Die „Extremisten” wurden besonders streng gehalten, aber „daran konnte man sich gewöhnen“. Einmal schrieb die Belarussin beim Hofgang den berühmten Satz „Russisches Kriegsschiff, fick dich“ an die Wand. Unter dem Schriftzug tauchten immer mehr Pluszeichen auf. In einem anderen Innenhof stand „Glauben! Können! Siegen!“

    In Mahiljou verbrachte sie fünf Monate. Dann wurde der Anklagepunkt Terrorismus fallengelassen und sie in ein Untersuchungsgefängnis in Hrodna überstellt. „Ich hatte mich gerade an Mahiljou gewöhnt, da ging wieder alles von vorn los – neue Mitinsassen, neue Zelle, sogar ein neuer Ermittlungsbeamter wurde mir zugeteilt.“ Im Untersuchungsgefängnis Hrodna herrschten schlechtere Bedingungen. Alesja erinnert sich an alte, winzige Zellen, die schon lange nicht renoviert worden waren. In einer Zelle für vier Personen konnte man gleichzeitig auf dem Bett sitzen und sich die Hände im Waschbecken waschen. 

    „Das war einfach eine Welt für sich, wie indische Slums. Winzige Zellen, niedrige Decken, alles dreckig. Als ich meine erste Zelle sah, kamen mir direkt die Tränen, aber dann nahm ich das Waschpulver, das ich noch hatte, und irgendeinen Schwamm und begann alles zu schrubben, weil es schon furchtbar war, einen Fuß auf diesen Boden zu setzen.“ 

    Die Gerichtsverhandlung 

    Im Untersuchungsgefängnis Hrodna verbrachte die Aktivistin weitere fünf Monate, dann kam ihr Fall endlich vor Gericht. Alesja machte sich vor dem ersten Gerichtstermin große Sorgen. Sie wurde in Handschellen zur Verhandlung gebracht, da die Begleitpolizei wohl nicht informiert war, dass sie nicht mehr wegen Terrorismus angeklagt war. Beim ersten Termin konnte sie ihre Familie und Freunde sehen, danach wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt, da angeblich geheime Informationen zur Sprache kämen. „Lächerlich, wo sie doch alles längst auf ONT berichtet hatten.“ 

    Das Gericht verurteilte Alesja zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie. Später wurde ihre Haft per Amnestie auf ein Jahr verkürzt – ihr Vergehen (illegaler Grenzübertritt mit Vorsatz) war nicht politisch, sie stand auf keiner Extremistenliste und die Einzelheiten des Falls schaute sich offenbar niemand so genau an. 

    Haft in der Frauenkolonie 

    Es begann ein „neues Leben“ in der Frauenkolonie IK-4 in Homel. Alesja berichtet nicht detailliert über das Lager, um jene nicht zu gefährden, die noch dort einsitzen. „Jedes Mal, wenn jemand aus der Kolonie entlassen wurde und ein Interview gab, bekamen wir das zu spüren. Einmal wurde zum Beispiel berichtet, dass [die politische Gefangene] Marfa Rabkowa regelmäßig in die Turnhalle geht. Seitdem darf sie da nicht mehr hin, vermutlich bis zum Ende ihrer Haftzeit. Man darf also auch nichts Positives sagen. Und sagst du etwas Negatives, zum Beispiel, dass es im Gefängnisladen keine Gurken gibt, nur Tomaten – dann sind auch die Tomaten weg. So funktioniert das. Und das ist schlimm: Du kommst raus und denkst, jetzt erzähle ich alles, wie es wirklich ist, wie sie die Menschen misshandeln. Aber dann verstehst du, dass es nur schlimmer wird, wenn du darüber sprichst.“ 

    Man degradiert völlig, alle anderen Bedürfnisse sind ausgelöscht

    Am schwersten war für Alesja in der Strafkolonie, dass sie keine Zeit für sich und keine Wahl hatte: Egal, wohin du gehst oder was du machst – du gehörst dir nicht. „Du hörst auf, dich als vollwertiger Mensch zu fühlen. Das System ist darauf ausgerichtet, dass du die ganze Zeit nur darüber nachdenkst, was du essen und wann du dich waschen kannst. Wie ein Tier, du überlegst nicht, welches Buch du lesen willst oder was du in einem Brief schreiben könntest. Die Gedanken drehen sich im Kreis: Morgen sieht es schlecht aus mit Frühstück, also muss ich wenigstens einen Kaffee trinken. Danach habe ich drei Dienste, dann Inventarkontrolle, wann kann ich in den Waschraum, ich muss ein Schlupfloch finden. Man degradiert völlig, alle anderen Bedürfnisse sind ausgelöscht.“ 

    Die Zeit in der Kolonie vergeht schnell, erzählt Alesja, und wenn weniger als hundert Tage bis zur Entlassung verbleiben, tauchen die Gedanken an die Freiheit auf „Du erlaubst dir, dich auf Dinge zu freuen und Pläne zu schmieden. Du lässt dir zwei Monate im Voraus einen Termin zur Maniküre machen und sehnst dich nach gepflegten Haaren und einer neuen Brille. Nach der Rückkehr in ein normales Leben. Aber das verbirgst du vor den anderen, die noch lange dortbleiben müssen, um ihnen nicht wehzutun. Sie freuen sich zwar aufrichtig für dich, aber du fühlst dich trotzdem schuldig.“ 

    Endlich in Freiheit 

    Alesja kam am 3. Mai 2024 frei. Es war ihr nicht gestattet, ihr Uniformkleid mitzunehmen, obwohl sie die Lagerkleidung selbst bezahlt hatte. „Sie nahmen mir alles weg, nicht mal die Socken, die dort ausgegeben wurden, durfte ich mitnehmen. Dabei hätte ich mit dieser Kleidung etwas vorgehabt, ich wollte sie den Leuten draußen zeigen.“ 

    Am Lagertor wurde sie von Freundinnen abgeholt – sie brachten sie in eine Wohnung, wo sie sich duschen und umziehen konnte, dann luden sie sie zu einem leckeren Essen in ein Café ein. „Als ich dann endlich zu Hause war, ging ich am späten Abend, gegen 23 Uhr, entspannt im Hausmantel vor die Tür, zündete mir eine Zigarette an und begriff – das ist es, es ist real. Endlich Freiheit. Ich kann mir das erlauben.“ 

    Einige Tage später kamen Polizisten, um sie zu kontrollieren. Sie kamen immer wieder, auch nachts, und durchsuchten ihr Handy. Später wurde sie unter Führungsaufsicht gestellt, musste zwischen 22 und 6 Uhr zuhause bleiben und durfte die Stadt nicht verlassen. Alesja plante schließlich die Ausreise – in Litauen warteten Ehemann und Sohn auf sie, und die erhöhte Aufmerksamkeit der Silowiki zwang sie zur Eile. Im Juni kam die Belarussin in Vilnius an.   

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    Anfang August trafen sich Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher demokratischer Organisationen zu einer Konferenz in der litauischen Hauptstadt Vilnius, um zwei Tage lang über Perspektiven für ein demokratisches Belarus zu sprechen. In einem Vortrag stellte Leonid Sudalenko von der Menschenrechts-Organisation Wjasna Zahlen über das Ausmaß politischer Repressionen seit Beginn des Wahlkampfes im Jahr 2020 vor. Als Reaktion auf die gefälschte Wiederwahl von Alexander Lukaschenko hatten Wellen des Protests das ganze Land erfasst. Mit großer Brutalität gelang es dem Regime schließlich, den Protest niederzuschlagen. Viele zentrale Figuren der Demokratiebewegung flohen ins Ausland. Andere verschwanden in Gefängnissen und Lagern.  

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat die wichtigsten Zahlen und Entwicklungen in Sudalenkos Ausführungen zusammengefasst.

    Der Menschenrechtler Leonid Sudalenko bei seinem Vortrag auf der Konferenz Neues Belarus in Vilnius / Foto © Pressedienst von Swetlana Tichanowskaja
    Der Menschenrechtler Leonid Sudalenko bei seinem Vortrag auf der Konferenz Neues Belarus in Vilnius / Foto © Pressedienst von Swetlana Tichanowskaja

    Den Beobachtungen von Wjasna zufolge wurden seit Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes mehr als 50.000 Menschen aus politischen Motiven festgenommen. 

    Im selben Zeitraum wurden mehr als 3.380 Menschen als politische Häftlinge anerkannt. 

    Davon kamen fast 2.000 Menschen wieder frei, sind also jetzt ehemalige politische Häftlinge. 

    Von diesen 2.000 Menschen haben etwa 1.134 ihre Strafe vollständig verbüßt und wurden entlassen (der Rest befand sich in Untersuchungshaft und/oder verließ das Land ohne die Strafe zu verbüßen.) 

    Leonid Sudalenko berichtete weiterhin, dass die Menschenrechtsaktivisten von Wjasna zum jetzigen Zeitpunkt von mindestens 5.472 Personen wissen, die in politisch motivierten Strafverfahren verurteilt wurden.  

    „Dabei handelt es sich sowohl um politische Häftlinge als auch um Personen, die sich bis zum Gerichtsverfahren nicht in Hafteinrichtungen befanden oder eine Strafe erhielten, die nicht mit Freiheitsentzug verbunden war“, sagte der Menschenrechtler. 

    Sudalenko nannte auch die Anzahl politischer Urteile in Strafverfahren in Belarus aufgeteilt nach Jahren: 

    2020: 900 Personen 

    2021: 1.225 Personen 

    2022: 1.242 Personen 

    2023: 1.603 Personen 

    „Wie man sieht, steigt die Zahl derer, die aus aus politischen Gründen verurteilt werden, in den letzten drei Jahren an“, schloss Sudalenko: „Die Repressionen lassen nicht nach, und es spricht auch nichts dafür, dass sie in nächster Zeit aufhören könnten.“ 

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    Was bedeutete die Zeit der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik für die Ausbildung eines nationalen Bewusstseins in Belarus? Warum blieb dieses dennoch eher schwach? Warum zeigt sich die belarussische Gesellschaft nach den Protesten, die am 9. August 2020 begannen, wieder gespaltener? 

    Im zweiten Teil seines Gesprächs mit dem Online-Medium Gazeta.by reflektiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski vor dem Hintergrund der wechselhaften belarussischen Geschichte über die große Frage der nationalen Identität seiner Landsleute.

    Bahdana Paulouskaja: Der Blick in die Geschichte zeigt, dass bei uns nur sehr wenige Autokraten herrschten. Wie kam es dann, dass die Belarussen bei den freien Wahlen 1994 für einen Diktator stimmten und sich damit auf Jahrzehnte ein Problem schufen? Wann passierte dieser Fehler in der Matrix?

    Alexander Klaskowski: Erstens gab es in der belarussischen Geschichte sehr wohl genügend Autokraten, Tyrannen und Despoten, zum Beispiel den russischen Zaren, der die Aufstände unserer Vorfahren in Blut ertränken ließ. Oder auch Stalin. Natürlich suchten sich die Belarussen damals ihre Herrscher nicht selbst aus, es war immer eine Fremdherrschaft. Und dieser Mangel an eigener Wahlerfahrung schlug sich dann leider bei den ersten mehr oder weniger freien Wahlen in Belarus 1994 nieder.

    Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist 

    Zweitens, und das ist das Beschämendste, wählten die Belarussen keinen Diktator, sondern ihren Saschka, wie ihn damals viele nannten. Es gab Fernsehübertragungen der Sitzungen des Obersten Sowjets im Ovalen Saal, und die Zuschauer sahen diesen einfachen Mann vom Dorf, der die Wahrheit aussprach und sagte, er wolle die Mafia besiegen, wenn er an die Macht kommt. Er wirkte wie ein ländlicher Robin Hood, war aber in Wirklichkeit einfach nur ein talentierter Populist. Zum großen Leidwesen hatten die Belarussen in ihrer Masse nicht genügend politische Erfahrung und kein ausreichendes Maß an nationalem Selbstbewusstsein. 
    Auch der wirtschaftliche Kollaps trug seinen Teil bei. Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist, dass die Kinder Kleider und Schuhe haben, und genau damit spielte Lukaschenka, als er versprach, die guten alten Zeiten zurückzubringen. Danach zog er die Schrauben an, so dass die Belarussen keinen anderen Führer mehr wählen konnten. Sie versuchten es immer wieder, zuletzt 2020, aber leider endete alles in einer riesigen Tragödie, die bis heute andauert. 

    Welchen Einfluss hatte die Sowjetzeit auf uns? Konnten wir uns seit Beginn der Unabhängigkeit von den Spuren der Sowjetisierung befreien? 

    Ich bin kein Freund davon, die sowjetische Zeit nur schwarz zu zeichnen. Wie ich schon sagte, gerade das Bestehen der BSSR war im Jahr 1991 von Vorteil: Belarus erhielt seine Unabhängigkeit, anders als beispielsweise Tatarstan . Oder denken wir an die Zeit der Belarussifizierung der 1920er Jahre, als die Verfechter der Wiedergeburt eifrig den Boden der belarussischen Sprache beackerten. Sicher, viele von ihnen wurden später von Stalins Regime erschossen, aber was sie damals geleistet haben, wirkt bis zum heutigen Tage nach. 

    Des Weiteren muss man die Industrialisierung nach dem Krieg erwähnen, die Urbanisierung, als die Belarussen massenhaft in die Städte übersiedelten – aus ihren dunklen Holzhäusern zogen sie in große Wohnungen mit allem Komfort. Und auch in den Dörfern mehrte sich der Wohlstand. Meine Eltern zum Beispiel – Kriegskinder – erzählten, wie sie in der Kindheit und Jugend hungerten. Meine Mutter konnte während ihres Studiums an der Akademie in Horki nur einmal in der Woche ein Brot kaufen. Sie schnitt es in sieben Teile, aber hatte solchen Hunger, dass sie es trotzdem innerhalb weniger Tage aufaß.

    Minsk, damals die Hauptstadt der BSSR, in den sowjetischen 1970ern

    Aber schon Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre hatten meine Eltern, obwohl sie im Dorf lebten, einen Fernseher, einen Kühlschrank, einen Trog voller Speck, konnten sich gute Wintermäntel kaufen und einen Teppich an die Wand hängen, wie es damals modern war. Mein Onkel Koszja fuhr einen Kirowez-Traktor und verdiente gutes Geld – 350 Rubel im Monat. 

    In der Sowjetzeit gab es also eine Periode, in der Belarus einen großen wirtschaftlichen und sozialen Sprung machte. Lukaschenka beruft sich noch heute darauf, wenn er sich brüstet, wir hätten unser sowjetisches Potential nicht verloren. Dieses hat allerdings nicht Lukaschenka geschaffen, sondern Generationen von Belarussen mit ihrer fleißigen Arbeit davor.

    Belarus war tatsächlich eine der hochentwickeltsten Republiken der UdSSR, was auch negative Aspekte hatte. So konnte Lukaschenka nämlich 1994, mitten in der postsowjetischen Krise, die Erinnerung an Wohlstand und Reichtum für seine Interessen nutzen. Ein weiterer Pluspunkt der Sowjetzeit war, dass die Belarussen eine fundierte Ausbildung erhielten und der soziale Aufstieg in weiten Teilen gut funktionierte. Ich selbst bin beispielsweise ein Junge aus dem Dorf, bekam ohne jedes Vitamin B einen Studienplatz an der Fakultät für Journalismus und später eine Stelle bei einer landesweiten Zeitung mit hoher Auflage. Die Redaktion hatte meine Einstellung beantragt, da ich bereits eng mit ihr zusammengearbeitet hatte und meine Artikel häufig gedruckt wurden. Einige Jahre später war ich bei der Zeitung schon zum Chef vom Dienst aufgestiegen.

    Die schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle 

    Selbst innerhalb der Machtelite gab es Menschen wie Henads Buraukin, der Staatsrundfunk und -fernsehen der BSSR leitete und dort die belarussische Sprache förderte. Natürlich in einem abgesteckten Rahmen, aber er konnte für die belarussische Sache arbeiten. Im ZK der Kommunistischen Partei von Belarus (KPB) saß der Dichter Sjarhei Sakonnikau, der die belarussischen Schriftsteller unterstützte und mit Wassil Bykau befreundet war. Die Kaderauswahl war damals in gewissem Maße vernünftiger als heute unter Lukaschenka, wo wir beobachten können, dass in seiner Umgebung allen voran die Schmeichelhaften reüssieren, zudem ganz offene Adepten der sogenannten Russki Mir.

    Natürlich war die sowjetische Periode auch eine Zeit, in der während der stalinistischen Repressionen sowohl die nationale Elite als auch einfache Belarussen vernichtet wurden. Mein Urgroßvater Wazlau, der sich während der Kollektivierung bei einer Versammlung skeptisch über das Kolchossystem geäußert hatte, wurde wegen „antisowjetischer Agitation“ (analog zum heutigen „Extremismus“) verfolgt und verbrachte viele Jahre in Straflagern und in der Verbannung. Auch die schleichende Russifizierung ist ein Phänomen der Sowjetzeit. Hier kann man aber auch nicht alles auf das kommunistische System schieben, denn viele Belarussen entsagten ihrer Muttersprache ohne jeglichen Zwang, sobald sie in die Stadt gezogen waren. Niemand steckte ihnen Nadeln unter die Nägel, sie wechselten selbst zur russischen Sprache, um nicht wie Kalchosniki zu wirken.

    Diese schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle. Denn im Unterschied zu den Einwohnern der damaligen baltischen Sowjetrepubliken konnten die Belarussen sich nicht entschieden von Moskau losreißen. Wieder etwas, womit Lukaschenka spielen konnte, als er die Schallplatte von der sogenannten brüderlichen Integration auflegte.

    Hat uns 2020 in der Frage der nationalen Identität vorangebracht? Denn natürlich haben wir zunächst diese große Begeisterung gesehen, das Meer der weiß-rot-weißen Flaggen, spürten Nationalstolz und den Wunsch, uns Belarussen zu nennen. Aber jetzt erlebt das Land furchtbare Repressionen, alles Belarussische wird verdrängt, Bücher werden verboten, Lehrbücher umgeschrieben und an russische Narrative angeglichen.

    Das muss man dialektisch betrachten. Einerseits beobachten wir einen furchtbaren Rückschritt, das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter. Die Bedingungen, unter denen politische Gefangene festgehalten werden, die Misshandlungen, denen sie ausgesetzt sind, erinnern an finstere Zeiten, als despotische Monarchen ihre Feinde in Gruben und Verliese sperrten, um sie lebendig verrotten zu lassen.

    Aber, um auf die Ereignisse von 2020 zurückzukommen, ich möchte betonen, dass die Geschichte keinen Konjunktiv duldet. Sonst könnte man auch über Kalinouskis Aufstand sagen, er sei verfrüht gewesen, dieser Aufruhr hätte schreckliche Repressionen, die Ausrottung der nationalen Elite, die beschleunigte Russifizierung provoziert – kurzum, es sei zu früh nach der Freiheit gestrebt worden.

    Aber so reden wir nicht. Denn wir verstehen, zum Ersten, dass solche historischen Ereignisse nicht planbar sind, sondern stattfinden, wenn verschiedene Faktoren zusammentreffen, man kann sie nicht mechanisch in eine passendere Zeit verschieben. Zweitens hat der Kalinouski-Aufstand ungeachtet der Tragik des Moments in historischer Hinsicht auch heute eine große Bedeutung für die belarussische Idee und die nationale Identität. 

    Heute kämpft das Kalinouski-Regiment  in der Ukraine. Auf der anderen Seite sehen wir, wie die Lukaschisten auf der Kalinouski-Straße in Minsk schon mit den Zähnen knirschen, wir wissen, dass sie diese Schilder früher oder später abnehmen werden. Das heißt aber auch, dass sie das beschäftigt, denn sie spüren die Kraft der belarussischen nationalen Idee, personifiziert in Kalinouski. Man kann also jetzt über die Ereignisse von 2020 fantasieren, nachträglich irgendwelche scholastischen Modelle entwickeln, wie man hätte gewinnen können, aber das ist sinnlos. Denn ein Sieg war so gut wie unmöglich, die Kräfte waren ungleich verteilt. Hätte man versucht, den Palast der Unabhängigkeit  zu stürmen, hätte das noch mehr Tote gebracht. 


    Ein Protestmarsch am Prospekt der Unabhängigkeit in Minsk im August 2020 / Foto © Dimitri Bruschko

    Könnte man sagen, dass gerade die Figur Lukaschenka, die plötzlich alle satt hatten, 2020 unsere Nation konsolidierte?

    Die These der nationalen Konsolidierung würde ich anzweifeln. Einige Führer des demokratischen Lagers begehen leider den Fehler, vereinfachte Formeln zu benutzen wie „das Volk leidet unter dem Joch der Diktatur“. Ich verstehe, dass das in gewissem Maße eine Exportvariante ist, um westlichen Politikern zu erklären, dass das Regime und die belarussische Bevölkerung nicht ein und dasselbe sind. Aber unabhängige soziologische Befragungen belegen, dass die Nation tatsächlich gespalten ist und 2020 diese Spaltung noch verstärkt hat: Die beiden Lager – Lukaschisten und Regimegegner – hassen einander einfach. Einige Politologen sagen sogar, dass die Bevölkerung sich praktisch im kalten Bürgerkrieg befindet.
    Tatsächlich ist das Bild komplexer, denke ich. Es gibt einen großen Anteil relativ neutral eingestellter Menschen. Das sind Leute, die (zum Großteil) potentiell für Veränderungen sind, sich aber jetzt in ihre Schneckenhäuser zurückgezogen haben und einfach im Hier und Jetzt leben möchten, weil die Frustration sie ermüdet hat. Vor uns liegt also noch ein sehr schwerer und leidvoller Prozess – diese Fetzen der zerrissenen Nation zusammenzunähen.

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