дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter”

    „Ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter”

    Die Zustände in belarussischen Arbeitslagern und Gefängnissen beschreiben ehemalige Inhaftierte als unmenschlich. Politische Gefangene werden zusätzlich erniedrigt. Vor allem Frauen wird die Haft zur Qual gemacht, indem das Gefängnispersonal ihnen Tampons und Binden vorenthält. Mit ihrem wenigen Geld müssen sie sich beim Einkauf im Gefängnisladen entscheiden, ob sie dafür Lebensmittel kaufen, die helfen, die körperlich und psychisch belastende Haft zu überstehen, oder eben Menstruationsprodukte. 

    Die Journalistin und Aktivistin Jewgenija Dolgaja hat im Exil die Initiative Politvyazynka gegründet, um auf die besondere Lage von weiblichen politischen Gefangenen in Belarus aufmerksam zu machen. Im Auftrag des russischen Online-Portals Meduza hat sie Berichte von Frauen über ihre Haft protokolliert. Dazu hat die unter Pseudonym arbeitende Fotografin Volya, die auch selbst Teil dieser Stimmen-Sammlung ist, beschriebene Vorfälle mit Videos und Fotos nachgestellt. 

    Die Untersuchungshaftanstalten: Waladarka, Akreszina, Shodino 

    Seit den Protesten 2020 haben sich die Untersuchungsgefängnisse auf der Wolodarski- und der Okrestin-Straße sowie in der Kleinstadt Shodino im Gebiet Minsk einen besonderen Namen gemacht: Die Festgenommenen, die gegen Alexander Lukaschenko und die Wahlfälschung protestiert hatten, wurden dort geschlagen und gefoltert.  

    Die Verfolgung Andersdenkender in Belarus dauert bis heute an. In Erwartung ihrer Gerichtsverhandlung oder in administrativer Kurzhaft leben die Menschen in diesen Gefängnissen ohne Matratze und Decke, ohne Zugang zu einer Dusche oder die Möglichkeit, Paketsendungen zu erhalten. Eine besondere Herausforderung ist das für Frauen während ihrer Monatsblutung. 

    Jelena (Name geändert)  

    Festgenommen im Jahr 2022 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2023. Saß in den U-Haftanstalten Waladarka und Okrestina sowie im Frauenstraflager in Gomel.  

    Als sie mich festnahmen, hatte ich meine Tage. Zuerst brachten sie mich nach Hause, es gab eine Durchsuchung, dann brachten sie mich zur GUBOPIK. Zuhause schaffte ich es, mich umzuziehen und ein paar Sachen einzupacken: drei Unterhosen, fünf Paar Socken – es war ja nicht das erste Mal, ich kenne die Geschichte [meines Landes]. Außerdem nahm ich eine Packung Damenbinden mit. Natürlich packte ich auch Zahnbürsten ein, die wurden mir aber sofort weggenommen. Die Bindenpackung gab ich nicht aus der Hand, verwahrte sie immer zusammen mit meinem Pass. Ich nahm sie überall mit hin: zum Verhör bei der GUBOPIK und dann zum Bezirksamt des Inneren. 

    Dann brachten sie mich nach Okrestina. Dort nahmen sie mir alles ab. Aber die Binden drückte ich fest an meine Brust und sagte: „Das geht nicht, ich blute Ihnen sonst sie ganze Zelle voll, geben Sie sie mir.“ Sie gaben mir die Binden zurück, sie waren alles, was ich noch hatte. 

    Nach dem Gerichtstermin brachten sie uns [die Häftlinge] zur Verbüßung der Administrativstrafe ins ZIP [Isolationszentrum für Straffällige – dek], in die Strafzelle. Dort gibt es absolut nichts, nicht einmal Toilettenpapier. Wir waren acht Frauen in der Zelle. Eine hatte eine 1,5-Liter-Plastikflasche mit Wasser dabei – das war unsere Rettung. Erst tranken wir alle daraus, dann benutzten wir sie für die anderen Bedürfnis, alle acht. Wasser gab es im Karzer, der Hahn kam einfach aus der Wand, ohne Waschbecken. Um es aufzufangen, stellten wir den Abfalleimer unter den Wasserhahn. Wir versuchten, uns mit diesem kalten Wasser zu waschen – es war eh schon alles egal. 

    Durch die Panik wollte meine Periode gar nicht mehr aufhören. Irgendwann hatte ich nur noch fünf Binden übrig. Ich wusste, dass ich auf unbestimmte Zeit mit ihnen auskommen musste. Es war Februar und wir schliefen in der Strafzelle gestapelt auf dem Fußboden. Auf Beton. Wir merkten, wie uns langsam die Nieren abfroren. Wir teilten also diese letzten fünf Binden untereinander auf und klebten sie uns auf die Nieren – um wenigstens ein bisschen vor der Kälte geschützt zu sein [das hat sicher nicht geholfen]. Denn zusätzliche Kleidung hatten wie nicht, wir trugen bereits alle Kleidungsstücke, die wir besaßen – es war sehr kalt. So gingen also meine letzten Binden drauf.   

    Manchmal kam eine Krankenschwester und wir sagten – alle acht Frauen im Chor – dass wir alle gerade unsere Tage hätten. Sie gab, glaube ich, [jeder von uns] eine Binde pro Tag aus. Wir sammelten alle und gaben sie denen, die sie gerade brauchten. Indem wir teilten, retteten wir uns gewissermaßen. 

     
    Bei der Festnahme trugen die Silowiki Farbe auf die Kleidung der Protest-Teilnehmenden auf. Damit markierten sie diejenigen, die sich widersetzt hatten oder im Verdacht standen, Organisatoren zu sein. Blutflecken auf der Gefängniskleidung benutzten die Aufseherinnen ebenfalls als Möglichkeit, zu brandmarken und zu bestrafen, berichtet die Fotografin Volya, die ebenfalls in Kurzhaft saß.  

    Olga Loiko  

    Festgenommen im Mai 2021, saß bis März 2022 in U-Haft in der Waladarka. 

    Im Laden des Untersuchungsgefängnisses gibt es Damenbinden, aber man kommt nicht regelmäßig dorthin, vielleicht einmal aller zwei Wochen, manchmal seltener. Die Auswahl ist sehr dürftig, mehrmals gab es nur Slipeinlagen. Aber auch sonst haben sie dort nur die dünnen Binden mit dem Zwei-Tropfen-Symbol. „Super“, „Night“ oder Tampons gibt es nur in Paketen von Angehörigen oder als Mitbringsel. Wer keine oder nur selten Päckchen bekommt, ist schlecht dran.  

    Eine Zellengenossin [verurteilt wegen einer unpolitischen Sache] bekam von ihrer Mutter zu kleine Binden geschickt, was ihr sehr zu schaffen machte: Sie musste mehrere auf einmal einkleben und ging nicht mit zu den Spaziergängen – um nicht auszulaufen [und Blutflecken auf der Kleidung zu vermeiden]. 

    Einige Male im Monat trank sie vor dem Schlafengehen Kaffee und versuchte, halb im Sitzen zu schlummern. Andere Frauen in der Zelle hatten genügend verschiedene Hygieneartikel, aber sie wollte nicht darum bitten: Sie war überzeugt, dass sie allein zurechtkommt. Als ich ging, überließ ich ihr einen großen Vorrat. Sie nahm ihn und sagte: „Das hebe ich für die Verhandlung auf.“ Da ist man [während der Fahrten zum Gericht] tagelang im Gefängniswagen und danach im Käfig im Gerichtssaal. Da lässt einen keiner häufiger als nötig zur Toilette. 

    In diesen Positionen mussten Häftlinge auf Anweisung des Sicherheitspersonals während der Leibesvisitationen im Gefängnis stehen. 
    In diesen Positionen mussten Häftlinge auf Anweisung des Sicherheitspersonals während der Leibesvisitationen im Gefängnis stehen. 

    Tatjana  

    Festgenommen im Winter 2023, weil sie einen „extremistischen“ Instagram-Kanal abonniert hatte; saß im Minsker Isolationszentrum Okrestina. 

    Nach der Festnahme wurde ich sofort zur Aufnahme des Protokolls ins Bezirksamt gebracht. Dort überredete ich eine Mitarbeiterin, mich zur Toilette zu bringen und mir eine Binde aus meinen persönlichen Sachen zu geben. Ich wusste, dass mich im besten Fall Kurzhaft, im schlimmsten Fall ein Strafverfahren erwartete. Ich bat die Mitarbeiter, mir noch eine Binde mitzugeben, bevor es nach Okrestina weiterging. Sie lehnten ab. Da geriet ich in Panik: Ich wusste, dass bald meine Periode einsetzen würde. 

    Ich kam in Untersuchungshaft und am nächsten Tag gab mir das Gericht zehn Tage [Haft – dek]. In der Zelle waren acht Frauen. Eine von ihnen war obdachlos, sie hatte Läuse. Wir hatten weder Decken noch Matratzen. Die Verwandten konnten uns das Notwendigste nicht übergeben, wir hatten nur das, worin wir festgenommen worden waren. Ich trug ein schwarzes Blusenhemd, darunter ein weißes T-Shirt, und Jeans. 

    Die Binde, die ich eingelegt hatte, trug ich schon länger als 24 Stunden. Als sie nutzlos geworden war, musste ich mich entscheiden: Entweder ich zerreiße mein T-Shirt und habe ein paar Stoffeinlagen, friere dann aber in der Bluse (in der Zelle war es kalt), oder ich laufe aus. Ich zerriss das T-Shirt. Meine Zellengenossinnen begriffen, was ich vorhatte, und halfen mir, es in Lappen zu zerteilen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl der Ohnmacht, als ich mein weißes Lieblings-T-Shirt zerriss, die Luke in der Tür sich öffnete und ein grinsender Mitarbeiter sagte: „Was machst du denn da?“  

    Es half nicht viel, ich lief trotzdem aus.  

    Ich bat um Binden, doch die Gefängnismitarbeiter sagten, das sei nicht vorgesehen. Ich fragte auch beim medizinischen Personal: Eine ältere Frau mit Locken kam und fragte, was los sei. Ich bat sie, wenigstens Watte zu bringen, aber sie hörte gar nicht hin. 

    In der Zelle gab es keine Möglichkeit, sich richtig zu waschen: nur kaltes Wasser. Ein Lappen, der vom T-Shirt übriggeblieben war, war mein Duschschwamm. Ich tunkte ihn in Wasser und versuchte mich damit zu waschen. Als ich aus der Haft entlassen wurde, war meine Jeans hinten voll Blut. Ich ging und heulte, ich schämte mich. Mir kam es vor, als würden alle Gefängnismitarbeiter mit dem Finger auf mich zeigen und lachen.  

    Olga (Name geändert)  

    Zweimal festgenommen während der Proteste – 2020 und 2021. Beide Male saß sie im Gefängnis Okrestina. 

    Im August 2020 gab es in Okrestina gar nichts [an Hygieneartikeln]. Man durfte auch nichts mitbringen, nicht einmal Zahnpasta. Wenigstens gab es Toilettenpapier – es war von den Vorgängerinnen übriggeblieben. Das war alles, was man für die Periode hatte. Ich hatte Glück: Während der Zeit dort bekam ich meine Tage nicht. Die Frauen, die sie hatten, nahmen Toilettenpapier, aber trotzdem lief das Blut an den Beinen herunter, ohne dass man duschen gehen konnte. 

    Die Frauen zerrissen ihre Kleidungsstücke, was sie eben hatten. Zum Beispiel ein T-Shirt, wenn sie noch eine zusätzliches Stück Oberbekleidung hatten. Daraus machten sie dann so etwas wie Einlagen. Diese mussten dann auch gewaschen werden, in der Zelle war es heiß, über 40 Grad, und Wäsche trocknete recht schnell. Bei den Aufsehern konnte man um nichts bitten. Einer Frau mit Diabetes wurde sogar ihr Medikament verweigert. 

    Ein Jahr später, 2021, musste ich noch einmal in Kurzhaft [in Okrestina]. Da mussten wir auch sparen: Wir bekamen eine Binde bei der medizinischen Visite, aber die fand nicht täglich statt. Wir taten also immer alle so, als hätten wir gerade unsere Periode, um wenigstens ein bisschen was zu bekommen. Aber auch das war nicht genug. Damals gab es schon keine Pakete von außen mehr, an Binden war kein Rankommen. Jeden Tag wurde die Zelle gefilzt, da gab es einen Mann [einen Mitarbeiter der Strafvollzugsbehörde], der in unseren Schränkchen wühlte und auch einen Tampon weggenommen hätte. Stellt euch das mal vor: Du brauchst etwas so dringend, ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter, aber für ihn ist das ein Spaß. Er klaut es einfach, wozu auch immer. 

    Die Straflager: Gomel und Saretschje 

    In Belarus gibt es zwei Straflager für Frauen. Dort sitzen mindestens 111 belarussische politische Gefangene und hunderte Frauen, die aus nichtpolitischen Gründen verurteilt wurden, ihre Freiheitsstrafen ab. Das größere der beiden Lager ist in Gomel, dorthin kommen alle Frauen, die zum ersten Mal verurteilt werden. Dort sitzt auch Maria Kolesnikowa, eine der Anführerinnen der belarussischen Opposition. Sie verbüßt eine elfjährige Freiheitsstrafe in einer Einzelzelle. Bis Mitte November, als sie endlich ihren Vater treffen durfte, gab es mehr als 18 Monate lang keine Nachricht von ihr. Frauen, die zum zweiten Mal verurteilt werden – angebliche „Gewohnheitstäterinnen“ – kommen in das kleinere Straflager in der Siedlung Saretschje im Gebiet Gomel. 

    Ein Vergehen, das in den belarussischen Straflagern sehr weit verbreitet ist, ist der Verstoß gegen eine Regel der Lagerordnung, die als „Enteignung und Aneignung“ bezeichnet wird. Demnach dürfen die Gefangenen nichts miteinander teilen. Das Verbot bezieht sich auf alles, sogar Essen und Hygieneartikel. Für einen Verstoß gegen diese Regel können die Gefangenen in eine Strafisolationszelle gesteckt werden oder die Erlaubnis verlieren, Pakete zu erhalten, zu telefonieren oder Angehörige zu treffen.  

    Nahezu alle politischen Gefangenen müssen ohnehin auf diese Möglichkeiten verzichten: Viele von ihnen wurden von den belarussischen Machthabern zu „Extremisten“ erklärt. Im Frauenstraflager fallen die „Extremistinnen“ unter die Kategorie der Gewaltverbrecherinnen. Sie tragen Uniformen mit Aufnähern in Form eines gelben Dreiecks. 

    Die Lagerverwaltung kann den „Gewaltverbrecherinnen“ nach eigenem Ermessen Anrufe und Pakete untersagen, ebenso die Einkaufsmöglichkeit im Gefängnisladen limitieren. Diese Begrenzung kann bei ein oder zwei Basiseinheiten liegen [eine Basiseinheit beträgt aktuell 40 Belarussische Rubel, das sind etwa 11 Euro – Meduza/dek]. Für diesen Betrag muss die politische Gefangene dann Toilettenpapier, Binden und Tampons kaufen – und Lebensmittel, wenn sie keine Pakete erhält.  

    Alena  

    Verurteilt im Herbst 2022 wegen der Teilnahme an Protestaktionen, verbrachte zwei Jahre in Gefangenschaft, unter anderem im Frauenstraflager Gomel. 

    Der Arbeitslohn im Straflager liegt zwischen 2 und 20 Belarussischen Rubeln im Monat [entspricht aktuell 0,58 – 5,80 Euro – dek]. Die Eine kauft sich dafür einen Quarkriegel oder einen Jogurt, die Andere einen Apfel, um sich wenigstens eine kleine Freude zu bereiten. Man hat so einen Appetit auf Obst und Gemüse! Die Möglichkeit, Päckchen zu erhalten, durch die man ohne den Einkauf im Gefängnisladen auskommt, steht auf sehr wackeligen Füßen. Gegen politische Gefangene kann ohne nachvollziehbaren Grund Meldung gemacht werden – und schon wird die Paket-Erlaubnis entzogen. 

    Im Straflager darf man einmal im Monat eine Hygienebestellung aufgeben: ein Stück Kernseife, ein Stück Toilettenseife, eine Rolle vom billigsten Toilettenpapier, eine Packung Damenbinden. Das Toilettenpapier ist von so schlechter Qualität, dass es förmlich zwischen den Fingern zerfällt. Wenn diese Artikel aufgebraucht sind, behilft sich jede, wie sie eben kann. Die Eine stiehlt bei anderen, die Andere riecht schlichtweg nach Urin. Wieder andere bringen heimlich Stoffstücke aus der Nähwerkstatt mit.  

    Was Frauen in Straflagern und Gefängnissen als Monatsbinden verwenden: Kleidung, Stoffreste, Schnittmuster aus der Textilfabrik, Papier, Wattepads, Brot, Zellophan. 
    Was Frauen in Straflagern und Gefängnissen als Monatsbinden verwenden: Kleidung, Stoffreste, Schnittmuster aus der Textilfabrik, Papier, Wattepads, Brot, Zellophan. 

    Anna (Name geändert)  

    Festgenommen im Herbst 2022, verurteilt wegen der Teilnahme an den Protesten, freigelassen im Frühling 2024. 

    Den Frauen reicht nicht, was pro Monat an Hygieneartikeln verteilt wird. In meiner Einheit verschwanden ständig Socken vom Wäscheständer. Ich verstand nicht, woran das lag. Erst später erfuhr ich, dass die Häftlinge sie stehlen, die keine Hilfe von außen mehr bekommen – hauptsächlich Frauen, die schon lange einsitzen. Sie benutzen diese schwarzen Socken als Binden. Socken und Stoffreste, die sie aus der Textilfabrik mitnehmen, all das benutzen sie als Binden. Ich war entsetzt, als ich zum ersten Mal sah, dass in der Toilette der Werkshalle ständig blutige Stofffetzen liegen.  

    Die politischen Häftlinge haben es damit ein bisschen leichter, weil sie, auch wenn es nicht erlaubt ist, untereinander teilen. Aber im Allgemeinen ist die hygienische Situation furchtbar. Eine endlose Erniedrigung. Im Straflager ist einmal pro Woche Duschzeit, gründlich waschen kann man sich nicht. Gut ist schon, wenn man sich über der Toilette in der Zelle mit einer Wasserflasche waschen kann. Stell dir das mal vor: Du wäschst dich über der Toilette und um dich herum sind überall Menschen. Daran muss man sich erstmal gewöhnen. 

    Darja Afanassjewa  

    Belarussische Feministin und Aktivistin, die sich für Frauenrechte und die LGBTQ-Community in Belarus einsetzt. Festgenommen 2021 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2024. Saß im Frauenstraflager in Gomel.  

    Im Straflager hatte ich zum ersten Mal Menstruationsschmerzen. Vorher war mein Zyklus immer regelmäßig, die Blutung dauerte drei Tage und ich hatte keinerlei Beschwerden. Mit Beginn meines Lebens in Unfreiheit kam die Regel nicht mehr regelmäßig: Es konnte eine mehrmonatige Pause geben, danach zwei Wochen ununterbrochene Blutung. Der erste und der letzte Tag waren immer sehr schmerzhaft. Ich weiß noch, dass ich mich bei der Zellenkontrolle nicht gerade hinstellen konnte, solche Bauchschmerzen hatte ich. 

    Dann gehst du zur sogenannten „Ausgabe“, einem Fenster, wo Tabletten ausgegeben werden. Du sagst, du hast deine Tage und bittest um Schmerzmittel. Das wird abgelehnt, weil du dafür ein Rezept vom Arzt brauchst, für dessen Sprechstunde du dich aber eine Woche vorher anmelden musst. Der Arzt überweist dich an den Gynäkologen, bei dem man sich wieder eine Woche vorher anmelden muss. Die Lagerangestellten wissen das alles. Du stehst also da, die Bauchschmerzen bringen dich fast um, du siehst vor dir diese Tabletten, die du aber nicht bekommen kannst. Zudem wirst du wegen der Schmerzen auch nicht von deinen Diensten (zum Beispiel Putzdienst), dem Abladen von angelieferten Kartoffelsäcken oder dem Reinigen des Außengeländes freigestellt. 

    Einmal bekam ich meine Periode – und draußen schneite es. Im Straflager ist Schnee verboten: Alles muss bis auf den Asphalt weggeschippt werden. Also schippte auch ich nach dem Frühstück mehrere Stunden lang Schnee. Nachdem ich schon eine Weile Schnee in Säcken herumgeschleppt hatte, merkte ich, dass der Schmerz mich umbringt, dass ich bereits auslaufe, aber ich habe nur einen Rock, wenn da Blutflecken draufkommen, muss ich Zeit finden, sie noch vor der Arbeitsschicht auszuwaschen [um keinen Verweis zu bekommen]. 

     
    Wie improvisiert man Binden mit verfügbaren Mitteln? Eine Rekonstruktion. Aus der Erzählung der politischen Gefangenen Nadeshda für das Projekt Politvyazynka: „Als ich nach Okrestina kam, gaben sie mir keine Binden. Schließlich machte ich mir selbst welche – aus Zellophan und Brot, eingewickelt in Toilettenpapier“. 

    Maria (Name geändert)  

    Saß von 2019 bis 2021 im Frauenstraflager in Gomel, verurteilt wegen Drogenbesitz. 

    Menstruation im Gefängnis ist ein schwieriges Erlebnis. Durch den Stress verschlimmern sich die Schmerzen und die Dauer der Blutung verlängert sich. All das vor dem Hintergrund fehlender Hygieneartikel, die man nirgends bekommen kann.   

    Ich hatte wirklich unglaubliches Glück: Ich hatte meine [wiederverwendbare] Menstruationstasse dabei. Damit hatte ich keinerlei Probleme, im Unterschied zu den anderen Frauen in der Zelle. Eine der Frauen, sie war schon über 40, benutzte Stofflappen, und ihre Monatsblutung dauerte 28 Tage lang. Ich teilte meine Binden mit ihr, bat meine Familie, mir mehr mitzuschicken, aber sie reichten trotzdem nicht. Sie verwendete Lappen, die sie dann wusch. Eine andere junge Frau wurde von der langen und schmerzhaften Monatsblutung krank. Sie hatte einen sehr niedrigen Eisenwert und wurde anämisch.  

    Einmal hatte ich aber auch eine schlimme Erfahrung. Etwa in der Mitte der Haftzeit wachte ich auf der oberen Pritsche auf, ringsum war ein schreckliches Chaos. Innerhalb von 20 Minuten mussten sich 120 Frauen für die Arbeit fertigmachen und perfekte Sauberkeit hinterlassen. Alle versuchten, sich an der Toilette anzustellen und so schnell wie möglich ihr Bett zu machen. Ich aber wachte in einer Blutlache auf, die – so schien es mir – schon durch die Matratze tropfte, so viel war es. 

    Ich wusste überhaupt nicht, wie ich aufstehen sollte. Alles war rot, was sollte ich machen, wohin gehen? Wo fange ich an, das zu beseitigen? Was mache ich mit der Bettwäsche, wie bringe ich das Bett in Ordnung? Mein Kopf drohte zu bersten, ich heulte los. Aber niemand hatte einen Nerv für mich. Ich begriff, dass ich absolut allein mit diesem Problem bin und dass ich keine Lösung dafür habe. Ich heulte einfach, mehr ging nicht. 

    Zehn Minuten saß ich da und weinte, bis ich allein in der Zelle war. Dann kam eine junge Frau herein, die ein bisschen mit mir sprach: „Was machst du denn? Du musst raus, sonst kommst du in die Strafzelle!“ – das ist die Strafe, wenn man zu spät kommt. Ich erklärte ihr, dass ich nicht weiß, was ich tun soll, wie ich damit fertigwerden soll. Sie sagte: „Zieh dich an, komm schnell!“ Innerhalb von 30 Sekunden waren wir draußen. Auf dem Bett war keine Bettwäsche, die Matratze war voll Blut, aber wie durch ein Wunder klärte sich alles: Ich bekam nur Toilettendienst für die Verspätung. Unterwegs fragte uns eine Offizierin, was los sei. Die andere Gefangene erklärte ihr, ich hätte einen Nervenzusammenbruch wegen der Periode. Mir kam es damals so vor, als sei die ganze Welt zusammengebrochen. 

    Ich denke, das lag an der Scham, die schon seit der Kindheit in mir steckt, seit der Zeit der ersten Periode. Damals wurde bei mir offensichtlich einiges ausgelöst: Angst und Scham, dass alle mich anstarren werden, dass in der Lagertoilette 40 andere Menschen zuschauen werden, wie ich das Blut auswasche. Ich muss jetzt neu betrachten, dass das alles überhaupt nicht peinlich ist. Du lebst einfach, und manchmal fließt Blut aus dir, das ist eine ganz normale physiologische Sache. Aber obwohl im Gefängnis nur Frauen um mich herum waren, gab es doch eine furchtbare Ablehnung dieses Normalen, Physiologischen, Weiblichen. Wenn irgendwo Tropfen vom Monatsblut zurückblieben, gab es gleich einen Skandal in der Zelle. Wahrscheinlich konnte ich aus diesem Grund mit der Situation nicht umgehen. 

    Jelena (Name geändert)  

    Festgenommen 2022 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2023. Saß in der Waladarka und in Okrestina, danach im Frauenstraflager Gomel. 

    Ich hatte meine Periode, als man uns gerade in die Quarantänestation gebracht hatte, vor der Aufnahme ins Straflager. Aber in der Quarantäne interessiert es niemanden, ob du krank oder gesund bist. Alle müssen der Reihe nach das Essen [aus der allgemeinen Kantine] in dieses isolierte Gebäude schleppen. Das Wirtschaftsgebäude, in dem gekocht wird, befindet sich am anderen Ende des Geländes. Man muss [mit den Kübeln] durch das ganze Lager, durch diese ganze Kleinstadt laufen.   

    In der Quarantäne sind immer drei Einheiten à ungefähr 25 Personen. Für diese 60 bis 70 Leute muss das Essen in riesigen Gefäßen gebracht werden: Frühstück, Mittag, Abend. Eine nach der Anderen schleppten wir die Kübel, ich war vier Mal dran. Als ich einmal sagte, dass ich heute nicht schwer heben könne, antworteten sie mir: „Hier ist niemand gesund, alle sind krank. Es ist dein Problem. Alle tragen, also trägst du auch.“ 

    Nach einer Woche war meine Periode noch immer sehr stark. Mir war klar: Da stimmt etwas nicht. Die medizinische Kontrolle begann, wir wurden zur Gynäkologin gebracht. Ich sagte, ich könne heute nicht, ich hätte meine „kritischen Tage“. Die Gynäkologin sagte, das interessiere sie nicht: Los, ab auf den Stuhl. Ich kletterte hoch, bekleckerte alles mit Blut. Die Ärztin erschrak und sagte: „Sie haben ja eine Schwallblutung.“ 

    Mir wurden blutungsstillende Medikamente verschrieben, und etwa nach einer Woche hörte die Blutung endlich auf. Aus mir war also zwei, wenn nicht drei Wochen lang Blut geflossen. 

    Dann gab es ein weiteres Problem. Ich hatte einen Vorrat an Binden in einem Paket bekommen, aber vom Stress war meine Blutung ja viel stärker als in normalen Zeiten. Mein Vorrat war sehr schnell aufgebraucht. Woher also neue nehmen? Im Gefängnisladen gab es nur dünne Slipeinlagen, Tampons gab es auch nicht. Es war furchtbar. Ich probierte alles Mögliche, verwendete am Ende sogar Wattepads. 

    Es war jeden Monat von Neuem eine Herausforderung, besonders nachts. Alle „Extremistinnen“ schlafen auf der oberen Pritsche. Leise, ohne Knarren, kommst du dort nicht runter. Die „Eingesessenen“ schimpfen sofort fürchterlich, wenn sie gestört werden. Konflikte will man nicht. Aber diese ganze Wattekonstruktion muss man nachts austauschen. Duschen kann man nur einmal pro Woche, die übrige Zeit läuft man nur mit diesen Flaschen [mit Wasser für die Katzenwäsche] herum, und denkt permanent nur an eines – bloß nicht auslaufen. Wenn du nämlich Rock oder Uniform dreckig machst, kriegst du sie nicht wieder trocken. Auf dem Heizkörper darf man nichts aufhängen, eigentlich kann man nirgendwo etwas trocknen. Eine andere Uniform anzuziehen, ist nicht erlaubt – das ist dein Problem. Mit vollgeschmierten Sachen darfst du aber auch nicht rumlaufen [sonst gibt es einen Tadel]. Eine echte Denksportaufgabe. 

    Olga Klaskowskaja  

    Früher Journalistin bei Narodnaja Wolja, festgenommen im Oktober 2020, freigelassen im Winter 2022. Später noch einmal fast fünf Monate in der Strafzelle und im Karzer des Frauenstraflagers in Gomel im allgemeinen Strafvollzug. In Gefangenschaft erlitt sie abnorme Gebärmutterblutungen und musste zweimal operiert werden. 

    In die Strafzelle darf man keine Bindenpackung mitnehmen, selbst wenn sie aus der eigenen Paketsendung stammt. Binden werden einzeln und nach Laune der Mitarbeiter verteilt: Wenn sie Lust haben, geben sie welche, wenn nicht, dann nicht. Du bittest und bettelst um Seife und eine Binde. Dann wendet sich der Verantwortliche für die Strafzelle an die Hauswartin der Abteilung, in der du gelistet bist, und dann bringt dir die Hauswartin die Sachen – wenn du Glück hast. 

    Für mich war das ein Alptraum. Ich musste ständig betteln, mich erniedrigen. Aber welche Optionen hatte ich? Ich hatte starke Blutungen, hätte mehrere Binden gleichzeitig einlegen müssen. Man darf nur eine Unterhose in die Strafzelle mitnehmen. Aber bei starker Blutung reicht eine Unterhose nicht. Ein Mitarbeiter erbarmte sich und erlaubte mir eine zweite. Ich konnte also eine Unterhose mit kaltem Wasser waschen und hängte sie auf den Heizkörper, wofür ich gerügt wurde, weil man nur waschen darf, wenn Waschtag ist. Es war die reinste Hölle. 

    Als ich [aus dem Krankenhaus] wieder in meine Zelle zurückkam, verboten sie mir die Paketsendungen. Wenn du nur zwei Basiseinheiten [etwa 22 Euro – dek] zur Verfügung hast, kannst du nicht viele Binden kaufen. Die Qualität der Binden, die es im Gefängnisladen gibt, ist auch nicht gut. Deshalb musste ich mir mit Stofflappen behelfen. Ich sah andere Häftlinge, die das auch machten. Denn im Grunde gibt es keine andere Möglichkeit. 

    Ich empfand völlige Erniedrigung, Ausweglosigkeit, Frustration, Minderwertigkeit. Ich weiß noch, wie ich mit nackten Beinen in der Strafzelle stand – dort darf man keine Leggins oder Strumpfhosen tragen – und an meinen Beinen Blut herablief, auf dem Boden war schon eine Lache. Die Kolonie-Mitarbeiterinnen standen da, lachten und sagten: „Was musstest du auch das Gesetz brechen.“ 

    Die Fotografin Volya berichtet von ihrem Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis 

    Während der Proteste in Belarus wurde Volya zweimal festgenommen – beim Frauenmarsch am 19. September und beim Sonntagsmarsch am 8. November 2020. 

    Am 8. November 2020 fand eine der größten Massenfestnahmen statt. Zuerst nahmen sie nur Männer mit. Doch dann hörten wir aus den Funkgeräten die Anweisung: „Alle Weiber einsammeln“. Im Bezirksamt des Inneren, wohin ich gebracht wurde, waren schon über hundert Festgenommene, die Hälfte davon Frauen. Eine der Frauen hatte eine rote Markierung auf dem Arm, einer anderen war ein rotes Kreuz auf den Rücken gemalt. So markierten sie diejenigen, die sich bei der Festnahme widersetzt hatten oder unter Verdacht standen, Organisatorinnen zu sein. 

    Nach den Formalitäten brachten sie uns ins Gefängnis Shodino. Dort begrüßte man uns mit Hunden und Beleidigungen. Sie nahmen uns die Taschen ab, dann mussten wir in der Hocke etwa einen Kilometer weit durch den unterirdischen Gang zu den Zellen rennen. Eine Frau bat darum, normal gehen zu dürfen, da sie Herzprobleme habe, aber man erlaubte es nicht. Sie sagten, wenn sie nicht so laufe wie alle, würde es für die anderen schlimmer. Die Frau weinte und lief weiter in der Hocke. 

    Dann begann die Visitation. Vor der Zuweisung in eine Zelle musst du dich vor einer Mitarbeiterin [des Gefängnisses] nackt ausziehen und dich hinhocken – auch wenn du deine Tage hast. Die Binde muss man aus der Unterhose entfernen. Nach der Visitation verteilten sie uns auf die Zellen. In einer Viererzelle waren wir 20 Personen. In der Zelle selbst gab es nichts – keine Hygieneartikel, keine Matratzen, keine Kissen, nur eine Rolle Toilettenpapier. Trinkwasser und Essen bekamen wir auch nicht. Manche schliefen auf dem Bettgestell, manche auf den Bänken am Tisch. Ich schlief auf dem Fußboden. In der Zelle war es kalt, doch bei geschlossenen Fenstern konnte man nicht atmen. Die ganze Zeit über hörten wir, wie die Männer geschlagen wurden, wie man sie zwang, die Hymne zu singen. Am Morgen kam der Ermittlungsrichter zu uns. 

    Ich las das Protokoll aufmerksam durch und fand Fehler darin. Meine Akte wurde zur Überarbeitung geschickt – unglaubliches Glück. Meine erste Akte [vom 19. September] war auf diesem Weg verloren gegangen, die zweite wurde überarbeitet, danach kam die Verhandlung. Ich bekam eine Geldstrafe mit fünf Basiseinheiten. An diesem Tag ließen sie fast alle gegen Geldstrafe gehen. Ziel der Festnahme war Einschüchterung und Aufnahme in die Datenbank [mit Teilnehmenden der Protestaktionen]. 

    Wenn es einem wie durch ein Wunder gelingt, Binden mit in die Isolationshaft zu bringen, dann ist das ein Erfolg, da man sie auch anders verwenden kann. Manchmal können sie ein Kopfkissen ersetzen, vor dem [kalten] Beton schützen. Manche benutzten sie als Schlafmaske, da das Zellenlicht durchgehend brennt. 

    Wenn du zu einem Protestmarsch gehst, nimm so viele Binden mit wie möglich: für dich selbst und deine Zellengenossinnen. So habe ich es gemacht – und alle meine Bekannten auch. 

    Weitere Themen

    Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    Geschichten der Hoffnung

    „Die Repressionen lassen nicht nach“

    „Du hörst auf, dich als vollwertiger Mensch zu fühlen”

    Maria Kolesnikowas Haft: „Die Situation ist extrem gefährlich“

    „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

    Missbrauchte Körper

  • Europas Waisen

    Anka Upala ist eine bekannte zeitgenössische belarussische Schriftstellerin. Ihr Pseudonym ist eine Anspielung auf Janka Kupala, einen klassischen Autor der belarussischen Literatur.   

    Auch Anka Upala musste Belarus wegen der Repressionen verlassen, das Lukaschenko-Regime verfolgt Autoren und verbietet Literatur. „Ich will eine andere Zukunft”, schreibt sie. „Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit.” In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft fragt sie sich, was von dem Wandlungsprozess, der 2020 angestoßen wurde, geblieben ist. 

    Die deutsche Übersetzung und belarussische Originalversion des Essays werden zeitgleich mit der schwedischen und englischen Übersetzung veröffentlicht, die der Svenska PEN möglich gemacht hat. 

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Wundersame Tiefseefische mit Laternen über den Köpfen steigen nach einer Unterwasserkatastrophe vom Meeresboden auf und werden ans Ufer gespült. Man findet sie plötzlich überall auf der Welt. So betrachte ich das Auftauchen der großen Menge meiner Landsleute im Ausland in den letzten Jahren, das durch die politische Krise in Belarus hervorgerufen wurde. 

    „Gestern habe ich Leute aus Belarus getroffen!“, sagt mein Berliner WG-Mitbewohner Matze, als ich morgens in die Küche komme, um mir einen Kaffee zu machen. 

    Matze hatte gestern Abend mit Freunden zu Hause Schnaps getrunken, danach gingen sie in eine Bar. Dort machte er dann diese anthropologische Entdeckung. 

    „Da waren zwei Frauen, sie saßen in einer Ecke. Ich ging hin und fragte sie: ‚Warum sitzt ihr hier so in der Ecke?‘ Sie sahen aus wie zwei Spioninnen!“ 

    „Wieso hattest du diesen Eindruck?“ 

    Matze überlegt. Dann antwortet er: 

    „Sie waren viel zu perfekt!“ 

    „Eine litauische Bekannte, die seit zehn Jahren mit einer Belarusin zusammen ist, sagte mir mal, dass die Belarusen sehr kontrolliert sind.“ 

    „Ja, genau. Sie waren irgendwie so unentspannt.“ 

    „Sie sind es so gewöhnt. Ich glaube, sie können im Ausland nicht so schnell entspannen. Aber sie waren schon aufgeschlossen und haben mit dir geredet, oder?“ 

    „Ja!“ 

     

    Längst Vergangenes empfinde ich heute oft, als sei es gestern gewesen, und die Gegenwart als sei sie eine Wiederholung. Seit der Siegeserklärung des Usurpators nach den letzten Wahlen hat ein neuer Durchlauf begonnen. Und es war schwerer als bei den vorangegangenen Malen. Sicher auch, weil es im Vorfeld diesen Hoffnungsschimmer auf Veränderungen gab. Und der ist verloschen.  

    Ich habe aufgehört, einen Ausweg aus der Zeit zu sehen. Wissen über die Vergangenheit scheint es irgendwie zu geben, irgendwie aber auch nicht. Die Menschen von heute scheinen nichts von den Erfahrungen ihrer Vorfahren zu wissen. Wir stehen einfach da und beobachten, wie sich die Mauer der Zukunft über uns schiebt, die wir aus uralten Büchern kennen, sie bedeckt den halben Himmel: die Repressionen, der Krieg, die pathologische Herrschaft, die Unmöglichkeit heimzukehren. 

    Erst war ich in Litauen, danach in Deutschland. Meine litauischen und deutschen Bekannten sagen, dass bald wieder ein neuer Weltkrieg beginnt. Meine Freundinnen in Belarus sagen nichts. Wenn wir uns zu Videogesprächen treffen, reden wir nicht mehr über das Furchtbare. In unseren Gesprächen gibt es fast keinen Krieg und kein Gefängnis. Die Haut ist zu dünn, man darf sie nicht berühren. Erwähne nichts, worauf du keinen Einfluss hast. Wie beim Briefeschreiben an politische Gefangene, als ich immer das Thema Essen vermied und nur über Alltagsdinge schreiben konnte. 

     

    Am Abend ist meine Stimmung mies, gerade habe ich in der S-Bahn Online-Nachrichten gelesen, darunter auch eine Prognose der Zukunft unserer Region. Ich beiße die Zähne zusammen und sage mir: „Lasst uns lesen.“ Unser Minsker Freundinnenkreis hat ein Ritual: Wir lesen uns gegenseitig vor. Weil wir das auch weiterhin per Video machen, lässt sich alles, was um uns herum passiert, besser aushalten. Gleichzeitig bekommt man noch eine kleine Impfung Vergangenheit. Eine Freundin schlägt ein Buch aus der Bibliothek auf, ich höre in Berlin zu. Herbstanfang 1915. Maxim Harezki, Die Kommunarden von Wilna:  

    Sie entlassen anscheinend die Verbrecher aus den Gefängnissen. Die Politischen bringen sie alle weg, niemand weiß, wie und wohin. Sehr geheim wird das erledigt, schrittweise und im Dunkel der Nacht. Irgendwohin fern der Front, ins tiefe Russland, vielleicht Sibirien, damit mein Vater mehr fröhliche Gesellschaft hat. 

    Kommt man zum Bahnhof, sieht man Berge von Sachen: Kisten, Körbe, Koffer, Pflanzen, russische Ikonen … Die gewichtige Obrigkeit und die reichen Leute nehmen in Privatabteilen Platz. Fressen und trinken wie vor dem großen Hunger. Fröhlich rufen sie: 

    „Nicht für lang!“ 

    „Bald kommen wir wieder!“ 

    „Wir werden wieder im schönen Wilna spazieren!“ 

    Dabei sind nachts schon dumpf die Kanonen zu hören … Das sind die Deutschen, sagte man, sie nehmen Kaunas ein … 

     

    Wenn alles schon einmal aufgeschrieben wurde, warum kann man dann nichts ändern? Ich will eine andere Zukunft. Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit. Meine belarusische Großmutter überlebte den Zweiten Weltkrieg nur deshalb, weil sie durch ein Loch in der Scheunenwand entkam. Ich wuchs auf mit dem Gefühl, dass jede Person meiner Generation in Belarus eine solche Großmutter hat, die wie durch ein Wunder überlebt hatte. Das ist meine Norm. 

    Ich habe Belarus Ende letzten Jahres verlassen, ich hatte Glück. Großmutter, ich bin nach Deutschland geflüchtet! Bin dem Staat durch die Finger geschlüpft, die er nach mir ausgestreckt hat. Sie können mir nichts mehr tun. Aber die Menschen in Belarus haben keinerlei Schutz. Über jedem hängt ein Schwert, auch wenn das für die seltenen Gäste aus dem Ausland unsichtbar ist. Man sagt, sie staunen über Belarus, von dem sie – wenn überhaupt, dann nur Schreckliches gehört haben. Es gibt Restaurants, in den Geschäften mangelt es nicht an Lebensmitteln, die Menschen sind gut gekleidet, sie können lächeln und sogar lachen. Ringsum läuft scheinbar das Leben eines europäischen Landes weiter – denn das ist Belarus ja, auch wenn viele keine Ahnung von seiner Existenz haben. Nur auf der Ebene der Macht gibt es einen Bruch. In jedem Moment kann der Staat jeden beliebigen Menschen aus seinem Leben reißen und ihn zerstören, unter unmenschlichen Bedingungen festhalten, ihn und seine Angehörigen quälen, Arbeitsstelle, Besitz, Freiheit, Kontakte, Gesundheit und sogar das Leben nehmen. Die Person verschwindet und über ihr schließt sich das Wasser. Niemand in Belarus ist sicher. Die ausländischen Touristen sind keine Ausnahme. Ich erinnere mich noch daran. Man lebt mit einem Stein auf dem Herzen.  

    Die Tür ist zu. Wenn etwas passiert, kann die Mehrheit nicht fliehen. Es ist fast unmöglich, mit einem belarusischen Pass ein Schengen-Visum zu bekommen. Bislang stellen Deutschland und Italien noch Mehrfachvisa aus. Deutschland und Italien. Aber um ein deutsches Visum zu beantragen, muss man fast ein Jahr vorab einen Termin machen. Die Menschen stehen in einer endlosen Warteschlange, um sich in das Terminheft für die Beantragung eines italienischen Visums einzuschreiben. Es wird „Alehs Heft“ genannt, nach dem Namen des Botschaftsmitarbeiters, der es führt. Wie in einem Fantasyroman. 

    In furchtbaren Zeiten gibt es furchtbar viel Literatur. Früher habe ich häufig darüber nachgedacht, wie die belarusischen Schriftsteller, die in den 1930er Jahren während der stalinistischen Repressionen erschossen wurden, so viele herausragende Werke schreiben konnten, obwohl sie so jung gestorben sind. Mein Lieblingsprosaautor, Lukasch Kaljuha, bekannt für seine besondere, außergewöhnlich reiche Sprache, wurde verhaftet und in die Verbannung geschickt, als er gerade 23 Jahre alt war, erschossen wurde er mit 28. Wenn ich an ihn denke, könnte ich weinen wie um jemanden, den ich persönlich kannte. Es war so lustig mit ihm, als wir seine Texte lasen. Maxim Harezki war 37, als er verhaftet wurde, mit 45 wurde er erschossen. Harezki zu lesen ist wie eine Zeitreise. 

    „Ich habe die Theorie“, sagte meine polnische Freundin und Dichterin Natalia, „dass Autoren, die früh im Leben harte Erfahrungen machen, auch früh als Schriftsteller reifen.“ 

    Mir wäre das nicht in den Kopf gekommen. 

     

    Eine Woche bevor der litauische Migrationsdienst mich nach Deutschland abschob, ging ich auf die Suche nach dem Ort, an dem im Jahre 1864 die Führung des Russischen Imperiums den Revolutionär Kastus Kalinouski erhängte, der für die Belarusen die Idee der nationalen Unabhängigkeit personifiziert. An dem Platz im Vilniuser Stadtteil Lukiškės, wo damals der Galgen stand, stehen heute das Konservatorium und, im Gebäude, das ehemals den KGB beherbergte, das Genozid-Museum. Ich setze mich auf eine Bank und schaue über den Platz. Wenn keine Veränderungen kommen, dann trennt die Zeit gar nichts, vor 160 Jahren ist gleich gestern. Als man Kalinouski vor der Hinrichtung einen Adeligen nannte, widersprach er: „Bei uns gibt es keinen Adel, alle sind gleich!“ Ein Idealist. Zum Zeitpunkt seines Todes war er gerade sechsundzwanzig Jahre alt. Er hatte früh harte Erfahrungen gemacht. 

    Vor Kurzem kam ich hierher nach Lukiškės zu einem Konzert, um den litauischen Sänger Silvester Belt zu sehen und zu hören. Nach meinem Geschmack hatte Litauen dieses Jahr den elegantesten Beitrag zum Eurovision Song Contest. Mir gefällt, wie Silvester sich kleidet, wie er seine Schultern bewegt, ich mag sein feines Gesicht und besonders seine litauische Sprache. Sie klingt wunderschön. Er singt vom aufgeschobenen Leben. Sein lyrischer Held wird gebeten, ein wenig zu warten, und noch ein wenig, immer „morgen, morgen, morgen“. Ein Tag vergeht, und noch einer, und nichts ändert sich.  

    Silvester Belt ist der erste offene LGBTQ+Sänger in der litauischen Geschichte, der im nationalen Vorentscheid für den ESC ausgewählt wurde, aber er hat auch Mobbing erfahren. „Ich bin ein Beispiel für das progressive Litauen“, wandte er ein, als ihm in einem Interview gesagt wurde, seine Heimat sei nicht das progressivste Land in Europa. „Ich bin hier, um euch zu unterstützen“, sagte er zu den Menschen in Litauen, die er repräsentiert, „denkt nicht, dass ihr schlechtere Menschen seid als die anderen.“ Ich schaue im Internet nach, wie alt er ist. Der Typ ist 26. In seinem roten Anzug brennt er auf der Bühne, wie das Feuer seines Mutes. 

    Klassische Musik dringt aus dem Fenster des Vilniuser Konservatoriums. Von klassischer Musik zu Protesten „Für unsere und eure Freiheit!“ ist es nur ein Schritt. 

     

    2017 fanden litauische Archäologen die sterblichen Überreste der Aufständischen von 1863, darunter auch Kalinouskis. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, der Körper mit Kalk bedeckt. Die russischen Machthaber hatten beschlossen, die Leichen nicht weit zu transportieren, und vergruben sie mitten im Herzen von Vilnius, auf dem Gedyminas-Hügel. Man fand sie zufällig, nach einem Erdrutsch am Hang des Hügels. Die Umbettung fand zwei Jahre später statt. Alle Staaten, für die der Aufstand von Bedeutung ist, sandten offizielle Vertreter, aus Polen und Litauen waren die Präsidenten anwesend. Aus Belarus kam der stellvertretende Premierminister, mit anderen Worten: Niemand. Die Grabsteine der Aufständischen sollten in polnischer und litauischer Sprache beschriftet werden, nicht auf Belarusisch, denn der belarusische Staat hatte keine offizielle Anfrage gestellt. So läuft das. Belarusische Aktivisten, deren weiß-rot-weiße Flaggen auf dem Begräbnis dominierten, erreichten schließlich Inschriften in belarusischer Sprache. „Wir haben Briefe geschrieben!“, bestätigt mein Vilniuser Kollege Uladsislau. Der litauische Staat hatte sie ernstgenommen. Der belarusische hingegen machte keinerlei Ansprüche auf den Aufstand für nationale Unabhängigkeit geltend, dessen Geschichte wir mit unseren Nachbarn teilen. Idealerweise sollten sich belarusische Politiker mit Diplomatie beschäftigen und gemeinsam mit den litauischen Kollegen ein für beide Seiten akzeptables Narrativ unserer gemeinsamen Vergangenheit entwickeln, damit wir wie gute Nachbarn und Freunde in gegenseitigem Respekt nebeneinander leben können. Das Problem ist nur, dass es im belarusischen Staat keine belarusischen Politiker gibt. 

     

    Wenn ich außerhalb von Belarus bin, ist eine meiner stärksten Empfindungen das Gefühl der nationalen Verwaisung. 

    „Was weißt du über Belarus?“, fragt der slowakische Schriftsteller Pavel die österreichische Dramaturgin Miriam. 

    Pavel und Miriam habe ich während eines Stipendiums am Literarischen Colloquium Berlin kennengelernt, wir verbringen viel Zeit mit Gesprächen. 

    „Tut mir leid, aber eigentlich nur, dass dort Diktatur herrscht. Ich habe vorher noch nie jemanden aus Belarus getroffen“, antwortet Miriam. 

    „Kennt ihr diese Europakarten im Internet, die sich über die verschiedenen Länder lustig machen“, sage ich. „Früher sind mir immer wieder welche aufgefallen, die einen Witz zu jedem Land hatten, nur über Belarus gab es nichts. Manchmal war es einfach grau schraffiert. Im Ausland war über das Land also so wenig bekannt, dass man sich nicht mal Witze darüber ausdenken konnte. Wir sind die Waisen Europas. Wir haben keine nationalen, probelarusischen Staatsvertreter, die unser Land in der Welt repräsentieren und ein belarusisches Narrativ verbreiten könnten. Ich sehe keine andere Erklärung dafür, dass das Land auf der Welt so wenig bekannt ist.“ 

    Der Hauptgrund dafür, dass Belarus global eine terra incognita bleibt, ist aus meiner Sicht die Dysfunktionalität des Staates als nationale Vertretung. Staaten unterhalten als Institutionen Beziehungen, tauschen offizielle Anfragen aus, verteidigen ihre Kultur und Geschichte, machen das Land präsent und sichtbar auf dem internationalen Parkett. Findet all das nicht statt – ist das Land nicht „lokalisierbar“. 

     

    Im Museum der Wannseekonferenz in Berlin, dem Gebäude, in dem die Nationalsozialisten 1942 die Entscheidung über die „Endlösung der Judenfrage“ trafen, hatte ich die subjektive Empfindung, dass Belarus dort nur als Territorium präsent ist. Ich konnte die „Stimme“ Israels, Polens, Deutschlands hören, aber nicht Belarus. Und das kommt mir seltsam vor. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten wir einen enorm hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung. Jiddisch war eine der Amtssprachen in Belarus. Die belarusischen Kleinstädte sind gefüllt mit Geschichten von ermordeten Juden. Ich erinnere mich, wie ich an einem der Massengräber stand. Ein Einwohner erzählte, dass einmal ein Fundament für ein Denkmal für die Ermordeten gesetzt werden sollte. Als man zu graben begann, kündigten die Bauarbeiter vor Schreck, weil man gar nicht graben konnte, Jahrzehnte nach den Verbrechen hob der Bagger anstelle von Erde unverweste Leichen aus. Man entschloss sich, kein Fundament zu setzen, und legte einfach Betonplatten auf die Fläche. 

    Wer wird in dieser Geschichte für Belarus sprechen? Ohne offizielle Vertretung ist das schwer. Das Tsichanouskaja-Team, eine probelarusische, protostaatliche Struktur, befindet sich im Exil in Litauen, in einem Schwebezustand. Die Zivilgesellschaft ist in Geiselhaft einer „bewaffneten, kriminellen Vereinigung“, die auf finanzielle, militärische und ideologische Unterstützung von Putins Staat zählen kann. 

    Die Geschichte der letzten Jahre hat gezeigt, dass die belarusische Gesellschaft weit entfernt ist von Infantilität. In Zeiten von COVID und den Protesten 2020 bewiesen die Menschen eine große Fähigkeit zur Selbstorganisation. Auf der Makroebene werden die Interessen eines Landes aber nicht von Aktivisten vertreten. 

    Nationale Verwaisung empfinde ich auch deshalb, weil beim kürzlichen Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen Belarus vergessen wurde. Bei vielen von uns löste das einen Schock aus. Belarusische politische Gefangene leiden und sterben in Isolation. Wir sind durchsichtig. Tsichanouskajas Team wurde ignoriert. Für die Akteure der internationalen Politik ist eine Regierung im Exil keine ausreichende Vertretung, ein vom Nachbarland abhängiger Diktator ebenso. Deshalb gerät alles ins Stocken. Für andere Staaten ist nicht klar, wohin sie Anfragen bezüglich einer Zusammenarbeit mit unserem Land richten sollen. 

     

    Ich denke, ein bislang unreflektiertes Ergebnis der belarusischen Proteste 2020 ist, dass das Land, als es sich für eine kurze Zeit im Zentrum der Weltöffentlichkeit wiederfand, plötzlich mit anderen Augen auf sich blicken konnte, wie ein Beobachter von außen. „Wer seid ihr?“ – diese Frage stand im Raum. 

    Und wir begannen, Antworten zu suchen. Nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst. Um uns selbst dadurch besser zu verstehen. Bis heute beantworten die Belarusen diese Frage, als politische Geflüchtete und Arbeitsmigranten über die Welt verteilt, vergleichen sie sich mit den Kulturen, in denen sie gestrandet sind. Und bis heute beantworten sie diese Frage, wenn sie in Belarus geblieben sind. 

    Eine Freundin beobachtete kürzlich in Minsk folgende Szene: Eine Gruppe junger Menschen steht an einem Fußgängerüberweg, keine Autos in Sicht. Zwei von ihnen halten es nicht aus und gehen bei Rot über die Straße. „Jungs, ihr seid keine Belarusen!“, rufen ihnen die anderen zu, die auf Grün warten. 

    Noch vor Kurzem wussten die Belarusen nicht so recht, worin sie sich von anderen unterscheiden, welche Verhaltensmuster typisch für sie sind. Jetzt haben sie es herausgefunden. 

    Ein bekannter, aber aus meiner Sicht bislang unterschätzter Fakt ist, dass Maryja Kalesnikawa, eine der Anführerinnen der Proteste gegen die Diktatur, 2020 zum ersten Mal in der Geschichte sagte: „Belarusen, ihr seid unglaublich!“ Später begegnete mir eine sarkastische Kritik dieser Aussage, sie sei selbstverliebt, aber diese Ansicht teile ich nicht. Ich halte diese Äußerung und die Reaktion darauf für einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Die Menschen in Belarus haben sich nie für großartig gehalten, nun haben sie sich zum ersten Mal in der Geschichte so gesehen. Ist das etwa nicht bedeutend? 

     

    Mit Kolleg:innen aus verschiedenen Ländern sitzen wir auf der Terrasse des Literarischen Colloquiums in Berlin. Wir schauen auf den Wannsee, über den sich schon ein Streifen Sonnenuntergang gelegt hat. Bald werde ich in meine Berliner Bleibe zurückkehren müssen. 

    „Was sagt man auf Belarusisch, wenn man anstößt?“, fragt mich Bojana aus Serbien. 

    „Häufig sagt man Budzma!, aber mir gefällt eine andere Variante, Šanujmasja!“ 

    „Und was bedeutet das jeweils?“ 

    „Das erste heißt „Seien wir!“, das zweite „Respektieren wir uns!““ 

    „Gefällt mir beides!“ 

    Klingt nach einem Plan. 

     

     

    ANMERKUNG DER REDAKTION: 

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

    Weitere Themen

    Swetlana Tichanowskaja

    Hier kommt Belarus!

    Die moderne belarussische Sprache

    „Als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da“

    Verboten in Belarus: Literatur und Autoren

    Kurapaty: Der lange Weg zur Wahrheit

    Die unglaubliche Revolution

    IM HEIM DES KRIEGES

    Im Gestern einer neuen Zeit

    Kastus Kalinouski

  • Pressefreiheit im Überlebenskampf

    Pressefreiheit im Überlebenskampf

    Die meisten Journalisten haben Belarus seit Beginn der Repressionen im Jahr 2020 verlassen. Aber bis heute werden Medienschaffende verfolgt und festgenommen – erst kürzlich wurde die Journalistin Wolha Radsiwonawa zu vier Jahren Haft verurteilt. Die offizielle Anschuldigung: Beleidigung des Präsidenten und Diskreditierung des Landes.

    Seit ihrer Flucht nach Litauen, Polen oder Georgien arbeiten viele Medien aus dem Exil heraus. Sie sorgen dafür, dass es weiterhin Informationen darüber gibt, was in Belarus passiert. Wie prekär ist die Lage dieser Medien? Erreichen sie weiterhin ihr Publikum in Belarus? Welche Folgen hat die Verdrängung unabhängiger Medien für die belarussische Gesellschaft? Mit diesen Fragen befasst sich eine neue Studie, Wjatschelslaw Korosten fasst die wichtigsten Antworten für das Online-Medium Pozirk zusammen.

    Zum 1. Dezember 2024 waren in Belarus 1143 Medien registriert, so steht es auf der offiziellen Webseite des Informationsministeriums. 601 davon sind nichtstaatlich. Private Besitzverhältnisse bedeuten heute nicht automatisch einen kritischen Blick auf die Politik der Machthaber – man übt sich in Selbstzensur. Dennoch schrumpft dieser Bereich des Mediensystems im Land am schnellsten. Im September 2020 meldete das Belarusian Investigative Center mit Verweis auf das Informationsministerium noch 1927 Massenmedien, also 40,1 Prozent mehr als heute. Nichtstaatliche Medien gab es damals 1285 – innerhalb von vier Jahren ist diese Zahl also um 53,2 Prozent gesunken, auf weniger als die Hälfte.  

    Es liegt auf der Hand, dass hinter diesen Zahlen die repressive Ausmerzungspolitik der Staatsmacht gegen unabhängige, gesellschaftspolitische Medienformate steckt. Sie wurden als „extremistisch“ eingestuft, was die Fortführung der Arbeit im Land auf einen Schlag unmöglich machte und in vielen Fällen zum Umzug ganzer Redaktionen ins Ausland führte. Journalisten wurden verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt, aktuell sitzen 35 hinter Gittern. Personen, die diesen Medien Interviews geben, werden strafrechtlich verfolgt, für das Abonnement nichtstaatlicher Medien (de facto genügt es, sie zu lesen) werden Administrativstrafen verhängt, die in der Regel auch zum Verlust der Arbeitsstelle führen. 

    Die Zahl der Medienvertreter, die das Land verlassen haben, geht in die Hunderte. Daten des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ) zufolge gibt es aktuell 450-500 Emigranten mit diesem Hintergrund, mehr als 30 Redaktionen setzen ihre Arbeit im Ausland fort. Wie geht es ihnen in der Fremde? Vor welchen Herausforderungen stehen sie und wie gehen sie damit um? Welche Perspektiven hat die belarussische Medienbranche unter diesen Bedingungen? 

    BAJ: Ernsthafte professionelle und existenzielle Krise 

    Die Ergebnisse einer BAJ-Studie für 2024 bestätigen den Ernst der Lage. Die Befragung von 211 belarussischen Medienschaffenden in verschiedenen Ländern (Polen, Georgien, Litauen, ein geringer Anteil in Belarus) macht zwei Schmerzpunkte der Berufsgruppe deutlich:

    Erstens wird die Arbeit durch das Risiko der politischen Verfolgung sowie durch die Wahrscheinlichkeit, dass Angehörige Repressionen ausgesetzt werden, behindert. Zweitens generiert die journalistische Tätigkeit kein ausreichendes Einkommen, um im Ausland normal leben zu können. Diese Antworten gaben 67,3 Prozent beziehungsweise 62 Prozent der Befragten. 40 Prozent beklagten zudem eine sehr hohe Arbeitsbelastung.  

    Diese Statistik bestätigen auch die wiederkehrenden Meldungen über die desaströse Lage ganzer Redaktionen. Ende November schlugen Nowy Tschas und Malanka Media Alarm. Beide wählten den üblichen Weg – sie starteten eine Spendensammlung auf der Plattform des Solidaritätsfonds Bysol

    Die Belarussen reagierten zwar auf den Hilferuf, Spenden gehen bisher aber nur langsam ein. Auf diesem Weg wird man die großen Förderer, die mit jedem Jahr weniger werden, wohl kaum völlig ersetzen können. Im Laufe des Jahres machten bereits andere Medien auf ihre finanzielle Notlage aufmerksam: Reform, Plan B, Ex-press. Einige haben aus diesem Grund bereits ihre Arbeit eingestellt: KYKY, die belarussische Redaktion des polnischen Radio Wnet (Радыё Ўнэт), The Village Belarus. Schmerzhaft und nicht ohne Konflikte verläuft auch die Reformierung des Fernsehsenders Belsat, des größten belarussischsprachigen Medienoutlets im Ausland. 

    Zu den professionellen Herausforderungen kommen automatisch auch persönliche hinzu. 49,3 Prozent der Teilnehmenden der BAJ-Umfrage gaben an, psychische Probleme zu haben, 34,6 Prozent andere gesundheitliche Probleme, 33,2 Prozent Schwierigkeiten mit der Legalisierung im Ausland. Für 39,3 Prozent der Befragten erschwert die Sprachbarriere das Leben in der Emigration. „Die Umfrage zeigt, dass Journalistinnen und Journalisten eine ernsthafte professionelle und existenzielle Krise durchmachen“, erklären die Autoren der Studie. „Das liegt nicht nur an den politisch motivierten Repressionen und Risiken der Berufsausübung, der erzwungenen Emigration und der Trennung von Angehörigen und Arbeitskollegen, sondern in vielen Fällen auch am Fehlen einer stabilen Arbeit und Gesundheitsversorgung.“ 

    Die Machthaber nahmen den Medien die Möglichkeit zum Geldverdienen 

    Alexander Lukaschenkos Regime führt seinen Krieg gegen die unabhängigen Medien auf breiter Front. Neben der Stigmatisierung durch den „Extremismus“-Status und Repressionen gegen Mitarbeiter werden die Informationsplattformen auch weitestgehend von ihrem Publikum abgeschnitten.  

    Die Webseiten sind seit Langem blockiert, für das Abonnieren von Social-Media-Kanälen wird man in Belarus verhaftet, dazu werden unablässig Handys kontrolliert. Für finanzielle Unterstützung gibt es im Strafgesetzbuch gleich mehrere Artikel mit schweren, langjährigen Haftstrafen. All das führte dazu, dass man mit journalistischen Medieninhalten kein Geld mehr verdienen kann.  

    Bis 2020 verdienten die unabhängigen Medien nicht schlecht mit Werbung und steckten die konservativen Staatsmedien dabei locker in die Tasche. Werbekunden gingen viel lieber zu den privaten Anbietern, die ein breiteres Publikum hatten und qualitativ hochwertige, kommerziell erfolgreiche Spezialprojekte anbieten konnten. Deshalb konnten die nichtstaatlichen Redaktionen ohne einen Cent aus dem Staatsbudget und trotz Steuerlast finanziell auf eigenen Beinen stehen.  

    Dieser Boden wurde den Medien nun unter den Füßen weggezogen, von Eigeneinnahmen kann keine Rede mehr sein. Der belarussische Werbekunde kann nicht zu einer „extremistischen“ Plattform gehen – das wäre der direkte Weg in den Knast. Durch die Verbote sinkt die Zahl der Lesenden. Der Zugang zu den Informationsquellen ist nur eingeschränkt möglich. Deshalb stützt man sich nun hauptsächlich auf Spenden und Fördergelder.  

    In der demokratischen Welt mit ihren starken horizontalen Beziehungen ist diese Unterstützung gut ausgeprägt. Die Vertreter der Demokratiebewegung kämpfen bei internationalen Treffen ständig um ihren Erhalt. 

    Aber die Zeiten sind schwierig: In der Ukraine herrscht Krieg, in der EU sind auch russische Medienschaffende unterwegs, die vor Putins Repressionen geflüchtet sind. Sie sind auf Unterstützung aus denselben Quellen angewiesen. Auch georgische Journalisten werden womöglich demnächst Hilfe benötigen, wenn die herrschende prorussische Partei die Daumenschrauben weiter anzieht. Eine Kürzung der Unterstützung für belarussische Medien ist in dieser Situation und im fünften Jahr der Emigration also keine Sensation. Aus geopolitischer, strategischer Sicht begehen die internationalen Förderinstitutionen damit jedoch einen großen Fehler.  

    Die belarussische Propaganda übernimmt russische Praxis 

    Der grundlegende Unterschied in der Mediennutzung zwischen Belarus und Russland liegt in der Anfälligkeit der Bevölkerung für Staatspropaganda. In der belarussischen Medienwelt dominierten bis zu den Wahlen 2020 de facto unabhängige Ressourcen (die Auflagen der staatlichen Printmedien wurden durch Zwangsabonnements aufgeblasen, dem Staatsfernsehen glaubten viele nicht). Das erkannten die Machthaber später an, indem sie die Medien zum Sündenbock für die Massenproteste machten. Das Vertrauen in die Propagandisten war gering, da die Belarussen in den Jahrzehnten der Lukaschenko-Herrschaft gelernt hatten, nur dem zu trauen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten, und nicht der agitprop-artigen Fernsehberichterstattung. 

    In Russland arbeitete die Propaganda derweil raffinierter und mit größeren finanziellen Mitteln. Im Bereich der oppositionellen Medien entstanden keine wirklichen Flaggschiffe mit einem Publikum, das mit dem Fernsehpublikum vergleichbar wäre. Es war nicht zuletzt diese Gehirnwäsche der Bevölkerung, die Präsident Wladimir Putin die stabilen Wahlergebnisse brachte, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine möglich machten. 

    Nach 2020 bewaffneten sich die belarussischen Machthaber mit der russischen Praxis, das Publikum zu Zombies zu machen. Indem es die unabhängigen Medien zerschlägt und die propagandistischen Medien stärkt, versucht Lukaschenkos Regime, die Bevölkerung zu seiner primitiven Lehre zu bekehren. Wird das gelingen? Bislang sieht es nicht danach aus, aber hier spielt die Zeit eine wichtige Rolle. 

    Ungeachtet aller Bemühungen des Regimes kämpfen die unabhängigen Medien gegen deren Agitprop an. Die Publikumszahlen bleiben beachtlich, die Redaktionen verbreiten ihre Inhalte in verschiedenen Formaten, es entstehen immer neue Youtube-Kanäle, TikTok wird aktiv genutzt. Insgesamt zeigen die Medien im Exil gute Überlebensstrategien in Extremsituationen. Wenn sich aber die Trends fortsetzen, die sich in der BAJ-Umfrage abzeichnen, wird in der Informationsarena über kurz oder lang die Propaganda den Sieg davontragen. Damit würde die belarussische Gesellschaft, die vor vier Jahren den Willen zu demokratischen Veränderungen zeigte, der russischen immer ähnlicher – mit ihrer dominierenden Mentalität von Untergebenen anstelle von Staatsbürgern. 

    Den Medienmanagern sind Grenzen gesetzt 

    Am 30. November behauptete der Chef des staatlichen Rundfunkunternehmens Belteleradiokompanija, Iwan Eismont, das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Medien nehme zu. Die Zahlen, die er nannte, verdienen im Prinzip nicht mehr Vertrauen als jeder andere Propagandainhalt, dennoch haben sie Unterhaltungswert. 

    „Diesen Daten der Soziologen zufolge vertrauen bereits mehr als 50 Prozent der Bevölkerung den staatlichen Medien. Ich ziehe diese gut 50 Prozent nicht in Zweifel, weil wir das schwarz auf weiß auf feindlich gesinnten Plattformen sehen, wir sehen über die letzten Jahre ein großes Vertrauenswachstum“, sagte der Beamte. 

    Damit bestätigt er zumindest zwei Dinge: Erstens gibt er zu, dass bis vor Kurzem die Belarussen den offiziellen Medien nicht vertrauten. Zweitens erklärte er faktisch, dass nach vier Jahren vernichtender Repressionen, trotz Zerschlagung und Verboten, die unabhängigen Medien weiterhin gefragt sind und einen ernsthaften Einfluss auf die öffentliche Meinung in Belarus haben. Wäre es auch nur geringfügig anders, hätte Eismont bereitwillig 70 oder 80 Prozent Unterstützung vermeldet. Man kann es ja doch nicht überprüfen. Aber aus irgendeinem Grund spricht er von „gut die Hälfte”.  

    Aus dieser Perspektive stellt sich die Lage der Medienbranche überhaupt nicht kritisch dar. Eine andere Sache ist, dass es für die unabhängigen Journalisten in ihrer fragilen Lage immer schwieriger wird, mit der privilegierten Staatspropaganda zu konkurrieren. „Die belarussische Medienbranche erlebt eine kritische Zeit und bedarf infrastruktureller Veränderungen, neuer Herangehensweisen und Ressourcen zur Solidarisierung der Berufsgemeinschaften, technologischer und finanzieller Unterstützung“, heißt es in der erwähnten Studie des BAJ. Von so weit unten ist es schwer, positiv in die Zukunft zu blicken.  

    Der Vorsitzende des BAJ, Andrej Bastunez, sagte bei der Präsentation der Studie auf eine Frage von Pozirk, derzeit könne in Bezug auf den belarussischen Journalismus im Exil niemand Prognosen anstellen. Mit Verweis auf Experten meinte er, dass 2025 die Situation etwa auf dem heutigen Niveau bleiben werde, dabei aber eine Kürzung der Mittel um zehn Prozent möglich sei. „Was dann im Jahr 2026 sein wird, weiß man nicht“, sagte Bastunez. 

    Der stellvertretende Vorsitzende des BAJ, Boris Gorezki (belaruss. Barys Harecki), findet Zukunftsprognosen über die unabhängigen Medien ebenfalls schwierig: „Ausgehend von den vorliegenden Daten ist die Prognose unerfreulich. Die Probleme sind groß und bislang gibt es, sagen wir mal, keinen Grund zu der Annahme, dass da plötzlich irgendein Faktor ins Spiel kommt, der das Ruder herumreißt. Positiv betrachtet kann man sagen, dass es immerhin Medienorganisationen wie den BAJ gibt, die diese Probleme wahrnehmen. Und die Programme, die wir aufbauen, setzen direkt bei diesen Problemen an“, unterstrich der Medienmanager.

    Weitere Themen

    Mit System gegen das System

    „Als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da“

    Die unglaubliche Revolution

    „Uns gibt es nicht“

    „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können”

  • Das zynische Spiel mit der Migration

    Das zynische Spiel mit der Migration

    Die Lage an der östlichen EU-Grenze ist nach wie vor angespannt. Das Lukaschenko-Regime hatte Mitte 2021 künstlich eine Migrationskrise herbeigeführt. Als Reaktion auf die scharfen Sanktionen, die die EU verhängte, nachdem Minsk eine Ryan Air-Maschine zur Landung in Belarus genötigt hatte, um den Blogger und Aktivisten Roman Protassewitsch festnehmen zu können. Bis heute versuchen Menschen aus Syrien, Afghanistan, aber auch aus Mali, nach Polen oder Litauen zu gelangen. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt, zu sogenannten Pushbacks und zu Toten. Viele verschwinden in den Grenzwäldern.  

    Warum nutzt das Regime in Belarus bis heute Flüchtlinge als politisches Druckmittel? Welche Rolle spielt Russland dabei? Warum hat die EU wenig Interesse, mit Lukaschenko darüber zu verhandeln? Eine Analyse von Waleri Karbalewitsch für das Online-Portal Pozirk

    Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto
    Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto

    Am 2. September kündigte der belarussische Außenminister Maxim Ryshenkow für November eine internationale Konferenz in Minsk an, die sich mit der Bekämpfung der illegalen Migration in der Region beschäftigen sollte. Eingeladen seien „alle Interessierten, inklusive der Nachbarländer, anderer Staaten der EU und der GUS“. Ferner sagte der Minister: „Wir hoffen auf die Teilnahme aller, die an einer Normalisierung der Situation an der Grenze interessiert sind.“ 

    Am 15. November war es so weit. Allerdings: Von westlicher Seite waren nur ein Mitarbeiter der britischen Botschaft sowie der ungarische Botschafter vertreten. Das Problem der illegalen Migration an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Staaten ohne Beteiligung der europäischen Nachbarn zu diskutieren, kommt einem Scheitern der Ausgangsidee gleich. 

    Mit vorgespielter Empörung beschuldigt die belarussische Führung nun die westlichen Partner. Dabei hat sie das Problem selbst geschaffen – und sich einen so fragwürdigen Ruf erarbeitet, dass niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben will.  

    Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt 

    Zur Erinnerung: Bis 2021 gab es keinerlei Probleme mit illegaler Migration an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland. Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt. Lukaschenko hat viele Male öffentlich erklärt, er habe als Reaktion auf das feindliche Verhalten des Westens befohlen, Migranten aus dem globalen Süden nicht mehr daran zu hindern, die Grenzen zur EU zu überqueren. 

    Dabei ist unberechtigter Grenzübertritt in jedem Land eine Straftat. Migranten, die zum Beispiel die Grenze zu Polen überqueren, verletzen zwangsläufig zuerst die belarussische Grenze. Wenn die belarussischen Grenzbeamten die Rechtsbrecher nicht aufhalten, dann erfüllen sie ihre Funktion als Grenzschützer nicht. Mehr noch, sie verstoßen selbst gegen das Gesetz, indem sie die Straftat nicht unterbinden. 

    Der Schutz der Staatsgrenze gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Staates. Wenn die Machthaber sich weigern, sie zu erfüllen, zeugt das von einer unzulänglichen Staatsregierung. Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten stellt eine Art Spezialoperation gegen die Nachbarn dar. Das offizielle Minsk setzte sich ein Minimal- und ein Maximalziel. Ersteres bestand darin, sich an Europa, allen voran an den angrenzenden Staaten, für ihre Haltung zur innenpolitischen Krise in Belarus zu rächen. Die zweite, maximale Zielsetzung bestand darin, die EU zu Verhandlungen zu zwingen, deren Bedingungen der belarussische Machthaber diktieren wollte. Die Beteiligung der belarussischen Sicherheitskräfte an der Spezialoperation ist reichlich dokumentiert. 

    Es gab Situationen, da liefen Migranten in Kolonnen von mehreren tausend Menschen durch das Grenzgebiet, direkt auf der Fahrbahn, sammelten sich dann an der Grenze und versuchten, sie zu stürmen. Ohne Unterstützung von staatlichen Strukturen wäre das undenkbar gewesen. Selbst Innenminister Iwan Kubrakow räumte ein: „Wir gewährleisten die Absicherung, begleiten die Migranten bei ihren Streifzügen.“  

    Der Transfer der Migranten nach Belarus war bewusst auf Fließband gestellt worden. Nach EU-Informationen landeten im November 2021 wöchentlich mindestens 47 Flugzeuge aus den Staaten des Nahen Ostens in Minsk. Am 26. November des Jahres besuchte Lukaschenko das Transport- und Logistikzentrum nahe des Grenzübergangs Brusgi, wo temporär Migranten untergebracht wurden, um ihnen Geleit zu geben. Auf der improvisierten Kundgebung sagte der Machthaber: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch weder einkesseln noch fangen oder schlagen. Es steht euch frei. Wenn ihr durchkommt, dann geht nur.“ 

    Als Motivation fügte Lukaschenko hinzu, täglich würden es bis zu 200 Menschen erfolgreich über die Grenze schaffen. Er sagte auch, dass Belarus 12,6 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Migranten stecken würde, und rief sie dazu auf, der Regierung jeglichen Hilfsbedarf zu melden. 

    Das Ausmaß der Krise hat sich verringert, aber … 

    In den vergangenen drei Jahren haben sich bezüglich der Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland einige Veränderungen ergeben. Der Zustrom an Migranten und die Zahl der Durchbruchsversuche im Grenzgebiet haben abgenommen. Heute kommen die Menschen nicht mehr direkt aus dem Nahen Osten nach Belarus, sondern über Russland, die meisten von ihnen haben russische Visa. Die Beteiligung Moskaus am hybriden Krieg gegen Europa mithilfe von illegaler Migration steht außer Zweifel. Etwa dasselbe Muster von Durchbrüchen wurde an der russisch-finnischen Grenze organisiert, nachdem Finnland der NATO beigetreten war. 

    Lukaschenko machte in den letzten Monaten widersprüchliche Aussagen. Einerseits ordnete er an, den Kampf gegen illegale Migranten zu verstärken. Die Silowiki ergriffen tatsächlich einige Maßnahmen, um den illegalen Aufenthalt von Migranten auf belarussischem Boden zu unterbinden. Auf der jüngsten Konferenz verkündete Ryshenkow: „Niemand kann Belarus heute vorwerfen, wir würden nichts tun. Wir tun sehr viel: unzählige Fluchtrouten wurden abgeschnitten, unzählige illegale Migranten wurden aufgegriffen.“ 

    Aber wenn die Machthaber viel tun und die Migranten trotzdem weiterhin unerlaubt die Grenze überqueren, bedeutet das, dass das Regime die Situation im Land nicht unter Kontrolle hat. Gleichzeitig erklärte Lukaschenko abermals, dass er die illegalen Migranten nicht vom Grenzübertritt in die EU abzuhalten gedenke, da Europa gegenüber Belarus eine feindliche Politik verfolge und weiterhin auf Sanktionen bestehe.  

    Das Problem bleibt akut 

    Warum ignorierten nicht nur Politiker, sondern auch Diplomaten der EU-Staaten, nicht zuletzt der direkten Nachbarländer von Belarus, die Konferenz zur Bewältigung der illegalen Migration? Ergänzend sei erwähnt, dass auch an der Eurasischen Sicherheitskonferenz, die am 31. Oktober in Minsk stattfand, keine offiziellen Vertreter der EU (außer Ungarn) teilnahmen. Auch auf die Freilassung eines Teils der politischen Gefangenen in den letzten Monaten reagierte der Westen verhalten. Doch das ist ein humanitäres Thema, es geht um Menschenrechte und betrifft die Interessen der Nachbarstaaten nicht unmittelbar. 

    Die Migranten, die über belarussisches Territorium in die EU kommen, sind hingegen ein schmerzhaftes Problem nicht nur in Polen, Lettland und Litauen, sondern auch in Deutschland. Innerhalb der Staaten haben sie heftige politische Auseinandersetzungen ausgelöst. Zur Eindämmung der illegalen Migration wird viel unternommen, bedeutende Ressourcen werden aufgebracht. An der Grenze werden Schutzzäune errichtet, den Grenztruppen werden Armeeeinheiten an die Seite gestellt, um die Migranten aufzuhalten. Von allen Problemen, die die Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen heute belasten, ist die illegale Migration das akuteste. 

    Wenn also die belarussischen Machthaber die Nachbarn nach Minsk einladen, um die Bewältigung der Migrationskrise in der Region zu besprechen, wäre es vor diesem Hintergrund nicht angebracht, zu kommen? Aber nicht einmal die in Minsk vertretenen europäischen Diplomaten nahmen teil. Ryshenkow ließ beleidigt verlauten: „Leider hört man uns nicht an. Manch einer, der im Westen in dieser Richtung arbeitet, will uns gar nicht hören. Wir sind bereit, das Problem grundlegend zu analysieren, Lösungswege zu finden und gemeinsam zu handeln.“ 

    Minsk traut man nicht 

    Warum hört man also nicht zu? Vor allem, weil es im Westen ernsthafte Bedenken bezüglich der Handlungsfähigkeit des belarussischen Staates gibt. Man ist nicht überzeugt, dass Lukaschenko wichtige politische Entscheidungen wirklich eigenständig treffen kann. Entscheidet nicht doch Wladimir Putin alles? Welchen Sinn hat es dann, etwas mit Minsk zu besprechen? 

    Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten ist allem Anschein nach ein gemeinsames belarussisch-russisches Projekt, auch wenn die Rolle des Kreml in dieser Spezialoperation nicht wirklich klar ist. Ohne die Zustimmung Moskaus kann Minsk in dieser Sache jedenfalls kaum etwas ändern. Vor allem jedoch glauben die westlichen Nachbarn nicht an die Aufrichtigkeit des offiziellen Minsk und unterstellen ihm Heuchelei. Wenn die belarussischen Machthaber die Migrationskrise künstlich generiert haben, dann sollte es auch in ihrer Macht liegen, sie zu beenden. Es genügt eine Entscheidung Lukaschenkos, um die Grenzkontrollen wiedereinzurichten und alle Fragen obsolet zu machen. Dafür sind weder Konferenzen noch Gespräche auf höchster Ebene nötig. Der belarussische Staat müsste einfach nur seine Grenzschutzfunktion wieder wahrnehmen. 

    Dass sich die EU weigert, selbst ein akutes Problem mit Minsk zu besprechen, ist ein wichtiges Signal. Es zeugt davon, dass es in der Beziehung zwischen dem belarussischen Regime und der Europäischen Union heute eine Mauer, einen eisernen Vorhang gibt. Lukaschenkos Träume und Hoffnungen, dass eine neue Seite aufgeschlagen wird, es einen Neustart gibt, dass er anerkannt und in die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einbezogen wird, fallen im Westen auf keinen fruchtbaren Boden. 

    Das Außenministerium springt auf den Propagandazug auf 

    Im Grunde bestätigt bereits der Verlauf der Konferenz die Zweifel hinsichtlich der wahren Interessen des offiziellen Minsk in der Frage der illegalen Migration. Die Aussagen des Außenministers und anderer belarussischer Amtsträger bestätigen die Vermutung, dass es sich um eine reine Propagandaveranstaltung handelte. Die Staatsdiener leugneten jede Beteiligung der Staatsmacht an den Angriffen auf die Grenze, während sie im gleichen Atemzug den Westen aller Todsünden beschuldigten. 

    Innerhalb kürzester Zeit haben in Minsk also zwei internationale Konferenzen stattgefunden, zur eurasischen Sicherheit und zur Bewältigung der Migrationskrise. Und bei beiden handelte es sich um reine Propagandaveranstaltungen. Es gab weder neue Ideen noch Vorschläge. Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten verwandelt sich immer mehr in ein Amt für außenpolitische Propaganda. Wenn der neue Außenamtschef die Aufgabe bekommen hat, die Beziehungen zum Westen aufzutauen, dann ist er bislang krachend gescheitert. Dafür wird die antiwestliche Propaganda immer aggressiver. 

    Weitere Themen

    Alexander Lukaschenko

    Harte Landung

    Wird Lukaschenko nervös?

    Grenzverschiebungen

    „Russland braucht jetzt ein solches Belarus“

    „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

  • „Die Zensur der Kultur ist mittelalterlich”

    „Die Zensur der Kultur ist mittelalterlich”

    Musiker und Künstler, Schriftsteller und Theatermacher waren wesentlich an den Protesten von 2020 in Belarus beteiligt. Viele Kulturschaffende mussten im Zuge der Repressionen das Land verlassen, andere wurden zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt. Im Exil hat sich mittlerweile eine lebendige Kulturszene gebildet. Aber wie schafft es die Kultur im Land, unter immer drastischeren Zensurmaßnahmen zu überleben? 

    Sjarhei Budkin kennt sich in der belarussischen Kulturlandschaft bestens aus, er hat viele Jahre als Musikjournalist gearbeitet. Im Exil hat er die Organisation Belarusian Council for Culture mitgegründet, die sich für belarussische Kulturschaffende einsetzt. Mit ihm hat das Online-Medium Pozirk gesprochen.  

    Pozirk: Was für Musik kann man heute in Belarus gefahrlos machen? Geht auch etwas jenseits von Ideologie und Propaganda, oder nur der Stil von Lukaschenkos Schwiegertochter Anna Seluk? 

    Sjarhei Budkin: Es mag so aussehen, als würden in Belarus keine Songs, keine Theaterstücke, keine Gedichte geschrieben, aber so ist es nicht. Trotz allem gibt es selbst unter den aktuellen Rahmenbedingungen Inspiration und Reflexion, das kann man den Menschen nicht wegnehmen, nicht verbieten, nicht verschließen. 

    Eine andere Frage ist, wie all das an die Öffentlichkeit gelangen kann. Hier entstehen aus der Situation heraus unterschiedliche Formen und Formate der kreativen Existenz. So gibt es Wohnungskonzerte (kwartirniki) und Underground-Releases, aber auch Sachen, die vorerst in der Schublade liegen und nirgendwo zu sehen sind. Grundsätzlich kann man sagen, dass das kulturelle Leben in Belarus weitergeht und teilweise sogar sichtbar wird (wer suchet, der findet). Es gibt Live-Konzerte, es gibt richtige Alben, es gibt Events, die Musik und Literatur oder Musik und Film verbinden.  

     
    „Er ist der einzig Wahre auf der ganzen Welt” – ein Propaganda-Schlager, für den Anna Seluk den Text geschrieben hat. 

    Pozirk: Wie schätzen Sie die Situation der Kulturschaffenden ein – derjenigen, die in Belarus geblieben sind und abseits der Öffentlichkeit agieren, und derjenigen, die jetzt im Exil arbeiten? 

    Sjarhej Budkin: Ich bin dafür, zwischen Kreativen keine Trennlinien nach geografischen Gesichtspunkten zu ziehen, da wir ja die Prozesse im belarussischen Kulturbereich im Ganzen betrachten wollen. Diejenigen, die in Belarus geblieben sind, sind einfach anderen Existenzbedingungen ausgesetzt als die, die das Land verlassen haben. 

    Natürlich bedeutet es für alle eine Umorientierung, eine Selbstfindung unter neuen Bedingungen. Es ist fraglich, ob man den Beruf weiter ausüben kann. Die im Ausland sind mit Konkurrenz und Integrationsproblemen konfrontiert. Darauf waren viele nicht vorbereitet. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir uns in unserem Bereich faktisch von Neuem behaupten müssen, unser soziales Kapital ist auf null gesetzt. Gestern hast du noch in einer großen Halle gespielt, konntest in jeder beliebigen Stadt einen Saal füllen, heute spielst du in einer Bar vor fünf Leuten. Das ist sehr traurig, aber gleichzeitig ist man eben gezwungen, neue Formate zu suchen, sowohl in als auch außerhalb von Belarus.  

    Dass die belarussische Kultur auf ein völlig anderes Level zurückgeworfen wurde, steht außer Frage 

    Außerhalb des Landes reden wir da in erster Linie von Kooperationen: Leute aus denselben Bereichen lernen sich durch diese Umstände erst kennen. Wichtig ist, dass Belarussen aus dem In- und Ausland in gemeinsamen Projekten zusammenkommen. Die Ergebnisse werden wir erst mit einigem Abstand vollständig erfassen: Eine gewisse Zeit wird vergehen müssen, bis wir das genauer verstehen.  

    Aber dass die belarussische Kultur auf ein völlig anderes Level zurückgeworfen wurde, steht außer Frage. Ich bin da Optimist und sage, immerhin nicht um Jahrzehnte zurück, auch wenn die Zustände im Bereich der Zensur sicher mittelalterlich sind. 

    Man kann das alles zum Anlass nehmen, die aktuelle Zeit bestmöglich zu nutzen. Es entstehen neue Kontakte, verschiedenste Institutionen, Kraftzentren. Ich hoffe auf ein Institut zur Förderung der belarussischen Musik. Es gibt schon die unabhängige Filmakademie, das Buch-Institut, das Theater-Institut. Positiv betrachtet geschehen also recht interessante Dinge, von denen unsere gesamte Kultur profitieren wird. Aber ich würde noch keine Schlüsse ziehen, das steht alles noch in den Sternen. 

    Wie sieht aktuell die Zensur in Belarus aus? Gibt es noch die offiziellen „schwarzen Listen“? 

    Ich verfolge dieses Thema seit fast 30 Jahren. Als Veranstalter war ich mehrfach damit konfrontiert, aber offiziell wird niemand die Existenz solcher Listen bestätigen. Wenn es sie wirklich gibt, dann sind sie eher Empfehlungen. Niemand will seine Unterschrift daruntersetzen und sie damit legalisieren, da alle wissen, dass das auf jeden Fall ein Verstoß gegen die Verfassung und (auf lange Sicht) ein gesicherter Platz in der Geschichte der Zensur wäre. Aber trotzdem gab es diese Listen immer, und es gibt sie eben auch unter dem aktuellen Regime. Die Frage ist, durch wie viele Filter sie momentan laufen.  

    Es gibt Selbstzensur vonseiten der Veranstalter: Sie haben ja schon Erfahrungen, wer eine Tournee genehmigt bekommt und wer nicht. Es gibt Zensur direkt bei den Künstlern, die selbst wissen, ob sie mit ihrem Werk, ihrem Theaterstück oder ihrem Konzert an die Öffentlichkeit treten können. Und es gibt die unmittelbare ideologische Zensur, die sich auf mehrere Ebenen aufsplitten lässt. 

    Es gibt noch eine zusätzliche Zensur, ein relativ neues Phänomen, auch wenn es schon früher manchmal vorkam: Wenn nämlich der Veranstalter zwar alle genannten Zensurebenen durchlaufen hat, aber trotzdem eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass während der Präsentation, wenige Minuten vorher oder am nächsten Tag alles abgesagt oder einer noch stärkeren Zensur unterworfen wird. Es gibt absolut keine Spielregeln mehr. Als ich noch aktiv Konzerte veranstaltete, kannte ich wenigstens die Regeln. Ich wusste, wen man auf die Bühne lassen konnte und wen nicht. Aber jetzt gibt es keine Regeln mehr, oder sie ändern sich sehr schnell und man behält sie kaum im Blick. Im Vergleich zu früher also nichts Neues, nur brutaler und chaotischer. 

    Sjarhej Budkin leitet die Exil-Organisation Belarusian Council for Culture / Foto © privat 

    Auch ausländische Künstler sind wegen der Sanktionen der Zensur ausgesetzt. Dadurch sind russische Popstars, die oft den Krieg unterstützen und nicht gerade den hochwertigsten Content liefern, das Einzige, was sich die Belarussen kulturell erlauben können. Die Kunst- und Kulturszene ist also ausschließlich russisch. Kann das negative Auswirkungen auf den Geschmack der Leute haben?  

    Dazu reicht ein Blick auf die Webseite kvitki.by [kvitki = Tickets], dort sieht man deutlich, was in der Unterhaltungsindustrie und im Konzertsektor los ist. Schon 2021, als noch ausländische und russische Künstler nach Belarus kamen, die zu den Regimen von Putin und Lukaschenko eine klare Position vertraten, gab es darüber Diskussionen. Einerseits kann man Künstler, die nach Belarus kommen, als Unterstützer des Regimes betrachten. Andererseits können Künstler, die den „Geist der Freiheit“ in sich tragen, die Belarussen damit aufladen, denn es gibt unvorstellbar viele Belarussen, die diese Ideale teilen – demokratische Werte und dergleichen.  

    Es gibt in dieser Frage also keine eindeutige Antwort. Historisch betrachtet, können wir den Rolling Stones vorhalten, dass sie 1967 ein Konzert im kommunistischen Warschau gaben? War das ein Zeugnis ihrer Unterstützung des Imperiums, waren sie deshalb Stalinisten, Befürworter des Kommunismus? Man kann das ziemlich manipulativ in alle Richtungen deuten. Aber zweifellos wissen alle Künstler, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben, dass ihnen damit der Weg nach Belarus versperrt ist. 

    Was das belarussische Publikum angeht, wer Geschmack hat, versucht ihn beizubehalten. Wer keinen Geschmack hat, dem ist sowieso nicht zu helfen, der sieht sich nicht mal gratis etwas an, das Niveau hat. Schwieriges Thema … Den Menschen in Belarus fehlen sicherlich Live-Events, das kann man durch Online-Übertragungen nicht so einfach ersetzen. Deshalb müssen Bildungsprogramme und Netzwerke ausgebaut werden, um für Belarussen Möglichkeiten zu schaffen, wenigstens für kurze Zeit aus dem Land zu kommen, frische Luft zu atmen, Inspiration zu bekommen und dann motivierter an die Arbeit zu gehen. 

    Wie beurteilen Sie die Situation der Kreativen im Exil? Welche Tendenzen sehen Sie? 

    Das müsste man jährlich abfragen und auswerten, weil sich die Situation stetig verändert. Was wir im Verlauf der letzten drei Jahre beobachten konnten: 2021 mussten wir die völlige Zerschlagung des Kultursektors mitansehen, die Zerstörung des Nationaltheaters, den Stopp jeglicher schöpferischer Arbeit, die Auflösung von Kulturvereinen. Aber ein, zwei Jahre später lebten die Belarussen an neuen Orten im Ausland wieder auf. Der Sektor hat sich selbst regeneriert, und 2023 gab es schon etwa 200 neue Kulturorganisationen, gegründet von Belarussen im In- und Ausland. 

    Kultur entsteht nicht aus Direktiven, sondern aus dem Herzen 

    Vereine, die aufgelöst wurden, gingen ins Ausland und gründeten sich dort was Neues. Dafür gibt es viele Beispiele. Wer geblieben ist, hat andere Formen der Existenz gefunden. Diese Fähigkeit, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen, ist typisch für unsere Leute und etwas sehr Inspirierendes. In Polen wurden ganze Marken neu oder wiedererschaffen – Verlage oder Festivals. Es gibt fünf große Festivals, die nicht nur auf Belarussen ausgerichtet sind, sondern die Begegnung zwischen Polen und Belarussen fördern. Die Theaterszene haben die Kupalaucy im Griff, auch wenn der Abstieg vom Nationaltheater zu so einem Provisorium nicht so leicht ist.  

    Diese Beobachtungen zeigen: So sehr man auch vergiftet, planiert, verbietet, vernichtet – es wächst doch wieder nach, was Lebendiges. Kultur entsteht nicht aus Direktiven, sondern aus dem Herzen. Solange die Menschen dafür kämpfen, ihren Beruf auszuüben, sich auszudrücken, irgendwie Wege zur Selbstverwirklichung zu finden – solange werden wir viele interessante und herausragende Projekte erleben, die es ohne die Ereignisse von 2020 vielleicht nie gegeben hätte. 

    Ihre Prognose ist also positiv? 

    Ich versuche, bei dieser positiven Sicht zu bleiben, obwohl die Kehrseite all dessen vermutlich Armut ist. Die Menschen sind in alle Welt verstreut, sie sind unvorbereitet, stehen vor Fragen der Legalisierung, der Wohnungssuche, all das hinterlässt Spuren. Aber ich bemühe mich, optimistisch zu bleiben, und letztlich beweisen viele Menschen tatkräftig, dass man auch ohne Staat und große Unterstützung, für Geld, für das andere nicht mal vom Stuhl aufstehen, Großartiges leisten kann.  

    Was wird aus der Kulturszene in Belarus, wenn das Regime an der Macht bleibt? 

    Wir haben Polen als Beispiel vor Augen: Das Land besaß mehr als 150 Jahre keine Eigenstaatlichkeit, aber die Menschen konnten Kultur und Sprache bewahren. Bei uns sind gerade mal vier Jahre vergangen, das ist im Vergleich gar nicht so schlimm. Alles hängt von jedem Einzelnen ab. Jeder kann individuell einen Beitrag leisten, um die Kultur zu bewahren und sie weiterzugeben, indem er zum Beispiel seinen Kindern belarussische Lieder vorsingt oder belarussische Bücher und Alben kauft, die es ja nach wie vor gibt. 

    Was macht einen belarussischen Künstler heute aus, wie gestaltet sich sein Schaffen? 

    Für mich gibt es ungefähr drei Kategorien von Künstlern. Die erste Kategorie arbeitet ausschließlich für ein Publikum, das sich im Ausland, im Umfeld der Diaspora gebildet hat, und das reicht ihnen, sie wollen nicht mehr. 

    Die zweite Kategorie betrachtet das belarussische Publikum als Fundament und versucht, es um russisch-, ukrainisch- oder auch polnischsprachiges Publikum zu erweitern. Sie bemühen sich, in diesen Sprachen Lieder zu schreiben oder mit Künstlern aus diesen Ländern zu kooperieren. Die dritte Kategorie arbeitet ausschließlich für den westlichen Markt und positioniert sich nicht als belarussische Künstler, sie haben ein breiteres Publikum. Jeder dieser drei Wege ist sinnvoll.  

     
    Der Song Ja wychashu von Alexander Pomidoroff in Erinnerung der Proteste von 2020. 

    Als der Musiker Alexander Pomidoroff kürzlich erkrankte, musste er seine Landsleute um Unterstützung bitten. Wie machen die belarussischen Künstler ihre Kunst heute zu Geld (über Konzerte hinaus)?  

    Wer Musik macht, die gehört wird und durch die Verwertung entsprechend vergütet wird, hat finanzielle Erträge. Die Anzahl der Wiedergaben kann man auf Plattformen wie Spotify einsehen, das bildet den kommerziellen Erfolg ab. Konzerteinnahmen sind nur für wenige Künstler eine zentrale Einnahmequelle, zum Beispiel Max Korzh oder Molchat Doma.  

    Nebeneinkünfte sind keine Seltenheit. Das ist so gut wie überall in Europa so. Es gibt immer kommerziell erfolgreiche Künstler und es gibt einen Underground, der nicht von seinem Schaffen leben kann oder nur sehr bescheiden, wenn das eine bewusste Haltung ist. Die meisten Künstler, Musiker und Regisseure gehen der Kunst parallel zu einer Hauptarbeit nach. Daran ist nichts Ungewöhnliches, nicht alle können ausschließlich von ihrer kreativen Tätigkeit leben. 


     

    Pozirk-Hintergrundinformationen: 

    Nach Angaben des Belarussischen PEN befanden sich am 31.10.2024 mindestens 168 Kulturschaffende aus politischen Gründen in Haft.  

    Die Staatsführung versucht, „feindliche“ Künstler aus den Medien zu entfernen: Im September wurden beispielsweise auf Antrag der Staatsanwaltschaft der Oblast Homel alle Titel von Tor Band aus der App Yandex Music entfernt. 2022 waren die Songs der Band zu „extremistischem Material“ erklärt worden.   

    Am 31. Oktober 2023 verurteilte das Gebietsgericht Homel den Sänger und Gitarristen von Tor Band, Dmitri Golowatsch, zu neun Jahren Freiheitsentzug unter verschärften Bedingungen, den Drummer Jewgeni Burlo zu acht Jahren und den Bassisten Andrej Jaremtschik zu siebeneinhalb Jahren. 

    Vorher wurden bereits Litesound (Teilnehmende des Eurovision Song Contest 2012), Krumkač, Irdorath und andere Bands politisch verfolgt. 

    Im Jahr 2023 wurden 605 Kulturschaffende aufgrund von 1097 angeblichen Gesetzesverstößen rechtlich belangt. 

    Am 13. Oktober 2024 äußerte Kulturminister Anatoli Markewitsch, der im November 2020 ohne einschlägige Berufserfahrung ins Amt berufen worden war, die „destruktiven Elemente“ im Kulturbereich seien nun „ausgemerzt“. „Wir alle sind heute Kämpfer an der Kulturfront, mobilisiert für den geistigen Kampf um Belarus. Die Zeit hat uns erwählt. Vom Minister, vom Klubvorsitzenden und von der Leiterin der Dorfbibliothek hängt der Erfolg im Kampf um die Köpfe und Seelen unserer Mitbürger ab“, zitierten staatliche Medien den Minister. „Bereinigt von destruktiven Elementen“ könne die Kulturgemeinschaft, so der Kulturminister, „ihre Kräfte auf die Lösung der wichtigsten Aufgabe konzentrieren – auf die Erziehung würdiger Staatsbürger und Patrioten.“  

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    „Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“

    „Als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum”

    „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    Feuerdörfer

  • „Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können”

    „Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können”

    Besteht eine Chance, dass Belarus seine Abhängigkeit vom Kreml jemals abschütteln und seine Souveränität bewahren kann? Wer könnte Alexander Lukaschenko als Nachfolger beerben? Welchen Einfluss hat die Demokratiebewegung im Exil auf die Geschehnisse in Belarus?

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski setzt seine große Gesprächsreihe mit dem Online-Medium Gazeta.by fort – diesmal geht es nicht um die Vergangenheit von Belarus, sondern um die Zukunft.   

    An welchem Punkt der Geschichte stehen wir gerade? Ist der Tiefpunkt erreicht, ab dem es in Belarus wieder aufwärts gehen wird? 

    Man kann auch lange am Tiefpunkt bleiben, die Verbesserung muss nicht sofort eintreten, wenn man ihn erreicht hat. Zudem haben die belarussischen Machthaber in den letzten Jahren mehr als einmal gezeigt, dass sie den Tiefpunkt noch zu unterbieten wissen. Kurz gesagt, das Regime nimmt totalitäre Züge an. Noch dazu sind die „Präsidentschaftswahlen“ 2025 in Sicht, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sie nach einem strikten Szenario, mit präventiver Einschüchterung und vermutlich auch mit neuen Verhaftungen ablaufen werden.   

    Lukaschenko sendet gewisse Signale in Richtung Westen. An erster Stelle sind die bislang vier Freilassungswellen politischer Gefangener zu nennen. Und er hat versprochen, weitere Begnadigungen auszusprechen. Bislang sind diese Signale recht schwach, sie reichen nicht aus, um einen Dialog in Gang zu bringen. Das ist auch deshalb nicht verwunderlich, weil die Repressionen unvermindert weitergehen, anstatt nachzulassen. 

    Die Abhängigkeit zu Russland ist rapide gewachsen. Allen Spekulationen zum Trotz denke ich allerdings nicht, dass Putin Lukaschenko stürzen oder Belarus im Zuge des Ukraine-Kriegs als Trostpreis mitnehmen will. Erstens rückt Russland jetzt auch in der Ukraine vor, und zweitens ist die formale, attrappenhafte Unabhängigkeit Belarus‘ von Vorteil für den Kreml. Das Land einzunehmen, würde andere Partner, vor allem die postsowjetischen, noch mehr verunsichern, sie würden denken: „Lukaschenko hat sich Putin angebiedert, so gut er konnte, und trotzdem verleibt der sich Belarus einfach ein.” Ich glaube, für die russische Führung ist es günstiger, die belarussische Souveränität stückchenweise zu untergraben.  

    Eine pikante Nuance gibt es auch hierbei: Wenn Lukaschenko einmal nicht mehr ist, kann Moskau eine echte Marionette an der belarussischen Staatsspitze installieren. Dieses Paradox beschrieb kürzlich Sjanon Pasnjak: Sobald Lukaschenko seinen Posten verlässt, kann der Kreml die belarussische Souveränität erst recht unterminieren. 

    Illustration © Lilia Kvatsabaya  

    Viele verbinden die Option auf Veränderungen in Belarus mit dem Ende des Krieges in der Ukraine. Welche Position kann unser Land in einer Nachkriegsordnung einnehmen? 

    Erstens muss ich leider zugeben, dass es im Krieg aktuell schlecht für die Ukraine steht. Das von Präsident Selensky lange beschworene Ziel, die Grenzen von 1991 wiederzuerlangen, sieht heute, ohne Umschweife, unrealistisch aus. Es gibt Probleme mit Waffen, es gibt große Probleme mit der Mobilisierung. Auch die Art des Krieges, den Russland entfacht hat, ist für die Ukraine aussichtslos. Denn es ist ein Abnutzungskrieg, und die Ukrainer sind schlichtweg weniger an der Zahl als die Russen. Hinzu kommt, dass dem Kreml die eigenen Soldaten nichts wert sind.  

    Außerdem drängt der Westen die Ukraine zu Verhandlungen. Offensichtlich ist man dort kriegsmüde, die Rhetorik der Unterstützung Kyjiws geht zwar weiter, in der politischen Elite und einem Teil der Wählerschaft ist man die Probleme aber wohl leid und will, dass alles möglichst schnell endet. Anders gesagt: Der Westen drängt die Ukraine zu einem Waffenstillstand mehr oder weniger an der aktuellen Konfrontationslinie. Sollte eine solche Option formalisiert und festgeschrieben werden, wäre das kein gutes Zeichen für eine demokratische Perspektive in Belarus. Die demokratische Gemeinschaft war lange Zeit auf einen Sieg der Ukraine eingestellt, auf die Schwächung Russlands, das in einem solchen Fall auch kein Interesse mehr an Belarus hätte. Diese Pläne erscheinen heute unrealistisch. 

     Natürlich gibt es „schwarze Schwäne”, also unerwartete Wendungen – vor allem, wenn es um Krieg geht. Aber ich denke, man sollte die Dinge nüchtern betrachten. Wenn wir über die Perspektiven der demokratischen Kräfte sprechen, sollten wir nicht ultrarevolutionäre Rhetorik bemühen, sondern uns im Kampf für eine demokratische Perspektive für Belarus auf einen Marathon einstellen.  

    Viele westliche Politiker betrachten Belarus und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur 

    Wie kann die Weltordnung nach dem Krieg aussehen, was wird sich in der Region verändern? Natürlich will Lukaschenko mit am Verhandlungstisch sitzen. Er sieht, dass man sich mit Putin als Oberhaupt einer Nuklearmacht auf mehr oder weniger kremlfreundliche Bedingungen einigen wird.  Wenn der Westen sich also gezwungen sieht, sich in irgendeiner Form mit Putin abzugeben, könnte Belarus auf der Verliererseite enden. Viele westliche Politiker betrachten das Land und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur, sondern nur als Anhängsel Russlands. 

    Putin wird bei diesen Verhandlungen wohl in erster Linie an seine imperialen Interessen denken, und nicht daran, Lukaschenko zufriedenzustellen. Diese Gedanken zermürben den belarussischen Herrscher, machen ihn nervös. Es ist noch nicht lange her, da sagte er öffentlich sinngemäß: „Litauen und die ganzen Ausreißer wollen mir einen internationalen Haftbefehl anhängen, damit ich nicht an den Gesprächen über die Ukraine teilnehmen kann.”  

    Lukaschenko ist 70, Putin 72 Jahre alt. Sehen wir hier den Plan zweier Herrscher, so lange an der Macht zu bleiben, wie die Gesundheit es zulässt? 

    Putin ist in meinen Augen schon in der Rolle des klassischen Alleinherrschers über Russland aufgegangen. Ich denke nicht, dass er sich als Rentner sieht. Allem Anschein nach glaubt er, von Gott auserwählt zu sein. Wie übrigens auch Lukaschenko („zum Präsidenten muss man geboren sein“). Aber während Putin wohl überhaupt nicht an einen Machttransfer denkt, hat Lukaschenko unlägst mit seiner Verfassungsänderung für Aufsehen gesorgt. Bislang musste er seinen „Ausweichflughafen”, die Allbelarussische Volksversammlung, jedoch nicht ansteuern; die Institution ist eine Leiche, da rührt sich nichts. 

    Lukaschenko prokrastiniert. Ich glaube, er sieht wirklich keine würdige Person, der er seine Macht übergeben könnte. Daran ist er auch selbst schuld, weil er sich mit Exekutivkräften umgab und politische Selbständigkeit in seiner Machtvertikale nicht begrüßte. So hat niemand im Umfeld des Herrschers echte politische Erfahrung. Lukaschenko scheint wirklich zu befürchten, dass jemand wie Katschanawa oder sein Sohn Viktor partout nicht zurechtkommen würden, wenn sie seine Zügel übernähmen. 

    Außerdem ist da noch eine große Portion Angst um die eigene physische Sicherheit und um die Sicherheit seiner Familie im weitesten Sinne. Viel Porzellan wurde zerschlagen, viele Feinde gemacht. Viele Menschen sagen offen, er müsse für seine Verbrechen bestraft werden. Am Beispiel Nasarbajews in Kasachstan hat Lukaschenko gesehen, wie ein Machttransfer auch schiefgehen kann: Dort ist der aus den eigenen Reihen gewählte, neue Präsident dazu übergegangen, seine eigene Linie durchzusetzen. Deshalb prokrastiniert Lukaschenko, und es ist nicht ausgeschlossen, dass das so lange weitergeht, bis eine Art Stalin-Variante eintritt. 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski im Gespräch / Foto © Belsat
    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski im Gespräch / Foto © Belsat

    Die demokratischen Kräfte sagen, Belarus gehöre in die Europäische Union, das Regime sieht das Land in einer Union mit Russland. Wie würde sich die Gesellschaft Ihrer Meinung nach entscheiden, wenn sie frei wählen könnte? 

    Unabhängige soziologische Erhebungen zeigen, dass heute eine Minderheit der Belarussen den europäischen Weg befürwortet. Die Mehrheit tendiert zu Russland. Wobei das nicht bedeutet, dass die Menschen für einen Anschluss der sechs Oblaste an Russland sind. Die Belarussen schauen pragmatisch auf die zunächst einmal wirtschaftlichen Vorteile, die eine Union mit Russland verspricht.  

    Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils 

    Nach 2020 und 2022, nach dem Anstieg des Einflusses der russischen Propaganda und der Verdrängung der unabhängigen Medien aus dem Land, wird das gesellschaftliche Bewusstsein weiter in Richtung Russland gesteuert. Ich erinnere mich aber auch noch an die liberaleren Zeiten, als sich mehr als die Hälfte der Belarussen für einen EU-Beitritt aussprach. Ich denke, wenn die politische Situation in Belarus sich ändern würde, wenn es politische Konkurrenz und einen Wettbewerb der Ideen gäbe, könnte die öffentliche Meinung in Belarus recht schnell umschlagen. 

    Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils, die Dynamik der Entwicklung im benachbarten Polen – entsprechend waren sie auch stärker proeuropäisch eingestellt. Würde sich die Politik ändern, könnte das Pendel also schnell wieder in Richtung Europa ausschlagen. 

    Darüber hinaus sind die Belarussen mental Europäer. Russen, die in unser Land kommen, müssen eingestehen, dass die Gesellschaft und selbst das Niveau der Alltagskultur sich unterscheiden. Der proeuropäische Background bleibt in den subkortialen Strukturen der Belarussen gespeichert, was sich in der Zukunft auszahlen kann. 

    Wenn sich die öffentliche Meinung in Belarus in der Zukunft zugunsten einer EU-Integration ändert, wie könnte die Reaktion aussehen? Braucht die EU Belarus? 

    Wir reden hier natürlich über ein komplett hypothetisches Szenario, da aktuell nicht absehbar ist, wie und wann es in Belarus zu einem Machtwechsel kommen wird. Zudem birgt auch ein Machtwechsel Risiken: Russland wird seinen strategischen Aufmarschplatz sehr genau beobachten. Aber theoretisch ist es für Europa von Vorteil, Belarus im eigenen Lager zu wissen. Für Russland ist unser Land ein strategischer Balkon, der ins Baltikum, nach Polen und in die Ukraine hineinragt. 

    Wir kennen die Achillesferse namens Suwałki-Lücke. Dieser Abschnitt wird im Moment zwar von den Polen und Litauern befestigt, aber dennoch bleibt die Lücke bestehen. Auch von Europa aus sieht Belarus heute wie der Aufmarschplatz aus, von dem aus Russland jederzeit angreifen könnte. Deshalb wäre es in geopolitischer Hinsicht und für die Sicherheit der Alten Welt von Vorteil, wenn Belarus in die europäische Gemeinschaft integriert wäre. In der aktuellen Situation ist Belarus auch Quelle hybrider Gefahren, zuallererst illegaler Migration. Wäre Belarus Mitglied der EU, fiele dieses brenzlige Problem weg. Und dann das Thema Transit: Das belarussische Regime hat die Beziehungen zu Polen und Litauen zerrüttet, die Grenzübergänge sind enger geworden, es gibt nur noch wenige Nadelöhre. Aber der Transit ist auch für China und Europa wichtig. 

    Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus 

    Die belarussische Gesellschaft, einschließlich der Beamten (einigen Stereotypen zum Trotz), sähe für europäische Augen vermutlich ganz annehmbar aus. Die Bevölkerung ist gebildet, die Mentalität europäisch. Leider mussten Hunderttausende gezwungenermaßen das Land verlassen, dafür wissen jetzt die Polen, dass die Belarussen (mit kleinen Ausnahmen) gute und disziplinierte Arbeiter sind. Dass es Menschen sind, die sich leicht in die europäische Gesellschaft integrieren. Selbst das belarussische Verwaltungssystem ist (bei allen anderen gerechtfertigten Vorwürfen) doch relativ diszipliniert, kann Anweisungen und Pläne akkurat ausführen. Stellt man sich diese Gesellschaft in einem anderen politischen und wirtschaftlichen Rahmen vor, dann könnte sich Belarus meiner Ansicht nach schneller als einige andere neue EU-Mitgliedsstaaten in die Gemeinschaft integrieren. Aber solange Russland Belarus am Haken hält, handelt es sich, wie gesagt, um rein hypothetische Überlegungen. 

    Illustration © Lilia Kvatsabaya  

    Wie würden Sie aus heutiger Sicht ein negatives und ein positives Szenario für Belarus beschreiben? 

    Das schlimmste Szenario wäre der Verlust der Unabhängigkeit. Oder, Gott bewahre, ein Atomkrieg. Dass Lukaschenko russische taktische Nuklearwaffen nach Belarus geholt hat, war alles andere als eine Glanzleistung. Lukaschenko selbst meint, dass er damit seine Macht gesichert hat, dass einer Atommacht – so sieht sich Lukaschenko nun – niemand etwas anhaben kann. Tatsächlich sind die Waffen aber ein Risikofaktor. An einem solchen Spielzeug verbrennt man sich schnell die Finger. Faktisch bestimmt Russland über diese Waffen, und was in Putins Kopf vor sich geht, weiß niemand. So ist Belarus jetzt auch noch eine nukleare Geisel der russischen Willkür. 

    Ebenso muss man ehrlich sagen (denn das ist kein einfaches Thema): Im Falle eines erneuten Volksaufstandes in Belarus, einer neuen Phase des Kampfes für Demokratisierung, könnte sich Moskau zum Einmarsch provoziert sehen. Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus. Wir haben ein Imperium zum Nachbarn, das immer noch stark ist, dessen Greifinstinkt funktioniert. Das bedeutet nicht, dass sich die demokratischen Kräfte und alle, die Veränderungen in Belarus wollen, die Hände in den Schoß legen und auf ein Wunder hoffen sollen. Aber das Kalinouski-Regiment wird wohl kaum morgen in Belarus einmarschieren, ebenso wenig wird Tichanowskaja übermorgen im weißen Jeep mit Maschinengewehr in Minsk einrollen. 

    Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können 

    Wie könnte ein eher positives Szenario aussehen? Viele belarussische Experten neigen zu der Prognose, dass ein Rücktritt Lukaschenkos aus gesundheitlichen Gründen (es ist unwahrscheinlich, dass er die Macht übergibt, solange er einigermaßen gesund ist) und ein Wechsel an der Spitze Veränderungen einleiten könnten. Die Geschichte zeigt, dass auf grausame personalistische Regime in der Regel Tauwetterperioden folgen. Einigermaßen wahrscheinlich ist daher die Marathonvariante, bei der in einer Phase des sanfteren Autoritarismus ein schrittweiser Übergang zur Demokratie möglich wird. 

    Ich betone noch einmal, dass dies hypothetische Überlegungen sind, es kann jederzeit ein schwarzer Schwan herbeigeflogen kommen – sowohl im Kreml, als auch über Lukaschenkos Regime. Doch auch wenn man für unerwartete historische Veränderungen gewappnet bleiben muss, darf man sich darauf nicht verlassen, sondern sollte an der Marathonstrategie arbeiten. Zu Beginn der 1980er Jahre erschien die Sowjetunion trotz all ihrer Problemen stark, und wohl kaum jemand setzte darauf, dass das totalitäre Imperium genau ein Jahrzehnt später innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen würde. Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können. 

    Weitere Themen

    Grenzverschiebungen

    Spiel mit der Atomangst

    Belarus: Bleiben oder gehen?

    „Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt”

    „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

    Die Beziehung zwischen Belarus und der Volksrepublik China

    Schöne neue Welt

    Der Herrscher hat es eilig

    Feuerdörfer

  • „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

    „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

    Im Mai 2024 brach Pavel Kritchko Richtung Osten auf. Der belarussische Fotograf hatte wegen der Repressionen seine Heimat verlassen und war in Deutschland gelandet. Er fuhr nach Podlachien, eine Region im östlichen Polen, wo eine belarussische Minderheit beheimatet ist. „Während der gesamten Expedition hatte ich das Gefühl, nach Hause zurückzukehren”, sagt Kritchko, „und die gleichen Erfahrungen zu machen, die ich als Kind gemacht habe.” 

    So entstand das Fotoprojekt Podlachien, das sich um die Suche nach Identität dreht. Wir haben mit dem Fotografen gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.

    Eine alte Eisenbahnbrücke an der polnisch-belarussischen Grenze, nahe dem Grenzübergang Bobrowniki, der im Februar 2023 von den polnischen Behörden geschlossen wurde, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Der Schriftzug МИР (dt. Frieden oder Welt) befindet sich auf belarussischer Seite. Ende Mai 2024 präsentierten die polnischen Behörden einen Plan zur Errichtung von Grenzbefestigungen entlang der gesamten Grenzlinie zu Belarus und Russland. Die Kosten betragen voraussichtlich 2,5 Milliarden Euro.” 

     

    dekoder: Nicht alle unserer Leser haben von der Region Podlachien gehört – erzählen Sie uns ein wenig darüber. Was ist das für eine Region und was ist so besonders an ihr? 

    Pavel Kritchko: Podlachien (poln. Podlasie, belaruss. Padljaschscha) ist eine Region im Osten Polens an der Grenze zu Belarus, wo 56.000 polnische Staatsbürger leben, die im Zensus 2021 angaben, Belarussen zu sein. In der Region gibt es einige belarussische Schulen, an denen belarussische Sprache und Literatur auf dem Lehrplan stehen. Meinem Gefühl nach sind es hauptsächlich das orthodoxe Christentum und die mit kirchlichen Festtagen verbundenen volkstümlichen Bräuche, die die belarussische Gemeinschaft Podlachiens verbinden. Vor allem die ältere Generation beherrscht noch frei die podlachischen Dialekte, während die Jugend sie zwar versteht, aber nicht mehr aktiv nutzt. Jahrzehntelang galten diese Dialekte als Dorfsprache mit geringem Prestige, in letzter Zeit ist das Interesse an ihnen wieder gestiegen, da Aktivisten, Musiker und Schauspieler sie wieder unters Volk bringen. 

    Die Bewohner der grenznahen Wojewodschaft Podlachien waren im 20. Jahrhundert durch den Ersten Weltkrieg und die anschließenden nationalen und religiösen Konflikte einschneidenden Migrationszwängen ausgesetzt. Heute symbolisiert diese Region die Grenze zwischen den Belarussen, die ab 2020 ihr Land verlassen haben, und jenen, die geblieben sind, aber auch zwischen dem Westen (EU) und dem Osten (Belarus, Russland, China). Die angespannte Situation spitzte sich durch den Bau eines Grenzzauns zu, die Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika davon abhalten soll, durch Belarus in die EU zu gelangen, aber auch potentielle militärische Konflikte mit Russland verhindern soll.  

    Wie ist Ihr Fotoprojekt zu Podlachien entstanden? 

    Im März 2024 wurde ich in die Internationale Klasse für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover aufgenommen, wo ich mit großem zeitlichem Aufwand ein Archiv der Jahre 2020 bis 2023 anlegte: Ein Teil besteht aus Fotos von den Protesten, der andere aus Geschichten aus dem Exil. Das war ein sehr eigentümliches Großprojekt über parallele Realitäten: Belarus, wie ich es 2020 gesehen hatte, und die Belarussen, die – wie ich – im Ausland gestrandet waren. Je länger ich im Exil bin, desto schwächer wird meine Verbindung zu dem Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, zu den Menschen und Orten. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, dass Podlachien sich genau zwischen diesen beiden Realitäten befindet und dort viele ethnische Belarussen leben, die ungeachtet aller Schwierigkeiten und Veränderungen, die die letzten Jahrhunderte mit sich brachten, ihre Identität zu bewahren wussten. Ich dachte, diese Region könnte ein Bindeglied für mein Großprojekt sein, deshalb fuhr ich im Mai 2024 hin, um sie näher kennenzulernen.  

    Das Projekt als eine Art Spiegelbild ihrer eigenen Suche? 

    Als ich im Frühjahr 2024 durch Podlachien reiste, war ich fasziniert davon, dass ein Teil der ethnischen Belarussen dieser Gegend, oder einfach die Bewohner Podlachiens, sich jahrelang die Identitätsfrage gestellt und eine Antwort darin gefunden hatten, dass sie sich als Einheimische und ihre Dialekte als ihre bezeichneten.  

    Genau darum geht es in meinem Projekt – um das Finden und Bewahren der eigenen Identität. Darüber hinaus ist es auch ein sehr persönliches Thema. Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise, auf der ich meine Erfahrungen in verschiedenen Phasen meines Lebens nachempfinde: die Reise mit meinem Vater in sein Dorf vor 30 Jahren, oder das Belarussische Fest in Białystok, das mich irgendwie an Maladsetschna erinnerte, und viele andere Assoziationen.  

    Wie genau haben die Podlachen die Ereignisse in Belarus seit 2020 verfolgt? 

    Schwer zu sagen, weil ich 2020 in Belarus war und nicht gesehen habe, wie man in Podlachien auf die Ereignisse reagierte. Ende 2021 war ich einen Monat lang in Białystok und konnte dort die belarussische Diaspora beobachten, die sich im Exil wiederfand und die das Jahr 2020 zusammengeschweißt hatte. Diese Welle von Menschen, die ab 2020 nach Polen kamen, brachte neue Ideen, frischen Schwung und Energie, sie motivierten die schon früher emigrierten Belarussen, die den Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung helfen wollten und konnten. 

    Ein Beispiel für die Anteilnahme an 2020 ist das Tattoo einer Belarussischlehrerin, die noch nie in Belarus war. Das Tattoo zeigt das Symbol der vereinten Opposition im Wahlkampf 2020. Ebenso kann man die Kundgebungen der lokalen Bevölkerung (sowohl polnischer Belarussen als auch einfach Polen aus Podlachien) zur Unterstützung des Wandels in Belarus erwähnen. Viele Podlachen haben Verbindungen nach Belarus: Manche haben dort Verwandte, manche haben dort gearbeitet, manche sind einfach hingefahren, um billige Zigaretten zu kaufen und zu tanken, manche hatten ein Geschäft für Belarussen, die nach Polen kamen. All das wurde von den Ereignissen 2020 indirekt beeinflusst.  

    Wie ist das Verhältnis zwischen den Podlachen und den Belarussen, die neu dazugekommen sind? 

    In Podlachien leben auch viele Belarussen, die Belarus aus politischen Gründen verlassen mussten. Man kann die Belarussen Podlachiens ins drei Gruppen unterteilen: die ethnische Minderheit (Belarussen, die in Polen geboren wurden, einen polnischen Pass haben, sich aber als Belarussen identifizieren), Belarussen, die vor 2020 emigriert sind, und diejenigen, die seit 2020 das Land verließen, um den Repressionen in Belarus oder dem Krieg in der Ukraine zu entgehen.  

    Die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen drei Gruppen konnte ich nicht abschließend klären. Mein Eindruck war, und das erzählte man mir auch, dass die erste Gruppe in einer anderen Realität lebt als die zweite und dritte Gruppe, sie haben unterschiedliche Interessen: Die Einen kämpfen für den Erhalt der belarussischen Schulen in der Region und für die Kultur, die Anderen müssen zunächst ihren Alltag regeln und sich ein Leben im erzwungenen Exil aufbauen.  

    Wann haben Sie selbst Belarus verlassen? 

    Im August 2021, um an einem Residenzprogramm für Fotografen in Warschau teilzunehmen, organisiert vom Kollektiv Sputnik Photo. Ich hatte ein Ticket für die Rückfahrt, aber angesichts der Umstände ließ ich es verfallen: zuerst die Gerichtsverhandlungen gegen Maria Kalesnikawa und Maxim Snak und die Urteile, dann die Selzer-Prozesse und die Verhaftung des Journalisten (Henadz – dek) Maschejka von der Komsomolskaja Prawda. Irgendwann war ich endgültig überzeugt, dass man nicht mehr offen sagen kann, was man denkt, Freunde rieten mir, ein wenig abzuwarten und nach Möglichkeit nicht sofort zurückzukehren, und schließlich ließen mich die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze und der Beginn des Krieges in der Ukraine meine Rückkehr endgültig vergessen, solange sich nichts geändert hat.  

    War es schwer, sich an ein neues Leben zu gewöhnen? 

    Es war dann gar nicht so leicht, sich einzuleben. Das Schwierigste ist sich einzugestehen, dass es für lange ist. Es gibt einen Zustand der Ungewissheit. Leuten, die Belarus bewusst verlassen, fällt das Ankommen etwas leichter – weil es ihr Ziel ist, sich ein Leben irgendwo im Ausland aufzubauen. Ich würde nicht sagen, dass ich Heimweh habe, mich nach Dingen oder Orten sehne. Ich habe vielmehr das Gefühl, das irgendwo tief in mir vergraben zu haben und mir zu sagen, dass solche Gedanken mich nur daran hindern würden, auf die neue Umgebung einzulassen.  

    Ich habe zweieinhalb Jahre in Polen gelebt, davon fast anderthalb Jahre nur mit einem polnischen Visum [also ohne Reisemöglichkeit, Anm. dek], nun bin ich nach Hannover gezogen, um hier in die Fotografieszene einzutauchen. BelarusTown in Warschau lasse ich ein wenig hinter mir, weil es meine Integration und Sozialisation in der lokalen Gesellschaft auch ein bisschen behindert hat. Jetzt lebe ich in zwei Ländern – Deutschland und Polen: In dem einen studiere ich, im anderen setze ich meine Arbeit an den Geschichten über Belarus fort, weil es dort mehr Belarussen gibt und einfach deutlich mehr passiert. 

     

    Die Umgebung von Terespol nahe dem polnisch-belarussischen Grenzübergang für PKW und Busse, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Dort wird geparkt, geschraubt und gerastet. Im Moment ist Brest-Terespol der einzige offene Grenzübergang für den Personenverkehr aus Belarus, der dortige Übergang kann jederzeit eingeschränkt oder geschlossen werden. Seit April 2022 besteht seitens der EU ein Einreiseverbot für LKW aus Belarus und Russland, auch für den Transit. Belarus reagierte umgehend und zwingt nun auch Spediteure aus der EU, ihre Fracht an der Landesgrenze zu übergeben.” 

     

    Die LKW-Warteschlange zur Ausreise nach Belarus am Zollterminal Koroszczyn, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Der Fahrer, der mich aus Krzyczew in Richtung Terespol mitnahm, war ein Pole, der an den LKW-Warteschlangen Geld verdient. Er ist sehr zufrieden, dass gerade alle anderen Grenzübergänge geschlossen sind: ,Je länger sie geschlossen bleiben, desto besser für mich’.” 
    Das Mädchen Aja. Warschau, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Sie ist die Tochter der belarussischen Musikerin Rusia, deren Projekt Shuma traditionelle heidnische Gesänge mit elektronischer Musik verbindet: Ethno- und Ambient-Elemente, schwerer, hypnotischer Techno und abstrakte IDM (Intelligent Dance Music). Rusias Ziel ist es, das belarussische Kulturerbe zu erhalten und weltweit bekannt zu machen.”
    Ein Tattoo auf dem Arm von Alina Wawrzeniuk zeigt das Symbol der vereinten Wahlkampfstäbe der Opposition bei den belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020. Białystok, 12.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Alina ist Belarussischlehrerin und Leiterin einer Theatergruppe an der Schule Nr. 4 in Białystok. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Journalisten Mikołaj Wawrzeniuk, lebt sie im Dorf Gredele in Podlachien. Beide sind in Polen geboren und identifizieren sich als Belarussen ,Ich habe nie in Belarus gelebt, aber das hindert mich nicht daran, mich als Belarusse zu fühlen’, sagt Mikołaj.”
    Kinder proben ein Schauspiel über Belarus in der Theatergruppe der Belarussischlehrerin Alina Wawrzeniuk an der Schule Nr. 4 in Białystok, 12.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko  
    „Alle Kinder sind außerhalb von Belarus geboren, lernen aber Belarussisch in der Schule, in den meisten Fällen, weil ihre Eltern sich als Belarussen in Polen identifizieren. Ich fragte die Kinder, warum sie in Polen Belarussisch lernen, bekam aber nur Antworten, die eine gewisse Gewohnheit erkennen ließen: Sie gingen in den Kindergarten, wo sie Belarussisch lernten, was sie in der Schule fortsetzten, und selbst nach dem Schulabschluss seien sie weiter in der Theatergruppe aktiv.” 
    Das ehemalige Bahnhofsgebäude in Hajnówka. Heute beherbergt es das Kulturzentrum Stacja Kultury, wo regelmäßig Theaterfestivals, Künstlerresidenzen und andere Kulturveranstaltungen stattfinden, 10.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „In der Stadt gibt es nur wenige Orte, an denen junge Leute ihre Freizeit verbringen können. Ich sprach mit einer Gruppe Teenager darüber, wie sie die Situation der belarussischen Sprache einschätzen, wie Jugendliche ihre Zeit in Hajnówka verbringen und ob sie später weggehen wollen. Andrej, ein 17-jähriger ukrainischer Geflüchteter, unterhielt sich mit mir. Ich sprach belarussisch und polnisch, er verstand alles und antwortete auf Polnisch. Er lebt seit fast zwei Jahren mit seinen Eltern in Polen, zwei seiner Brüder sind an der Front, auch er denkt darüber nach, in die Ukraine zurückzukehren, wenn er 18 wird, um im Krieg zu kämpfen.” 
    Der Imker Marian in der Nähe des Dorfes Krzyczew, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Marian sammelt Honig an der polnisch-belarussischen Grenze. Vor seiner Pensionierung arbeitete er in Brest (Belarus) im Eisenbahndepot und war für die Umspurung der Züge verantwortlich, die die Grenze überquerten. Die Spurweite der Eisenbahngleise in Belarus und Polen unterscheidet sich.” 
    Bewohner des polnischen Dorfes Ciełuszki kehren mit ihrem sowjetischen Wladimirez-Traktor vom Feld zurück, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Das Dorf interessierte mich auch deshalb, weil mein Vater in einem Dorf namens Zeluscha im Gebiet Mahiljou geboren wurde, die Ortsnamen ähneln sich sehr. Ich erinnere mich nicht gut an meine Großeltern väterlicherseits, denn sie starben, als ich noch klein war. Ich kann mich aber sehr gut daran erinnern, wie aktiv sie Landwirtschaft betrieben, welche Tiere sie seinerzeit hatten: Hühner, Schafe, Schweine, Kühe und natürlich einen Gemüsegarten. Der Großvater war seit dem Zweiten Weltkrieg Invalide, er hatte nur ein Bein und ging an Krücken.” 
    In der Nähe des Dorfes Krzyczew, wo der Bug die polnisch-belarussische Grenze bildet, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Ich lief fast zehn Kilometer, um an diesen Ort zu gelangen, wo man ohne Mauer nach Belarus schauen kann. Unterwegs wurde ich dreimal von Fahrzeugen des Grenzschutzes gestoppt. Meine Dokumente wurden kontrolliert, ich wurde befragt, was ich hier mache, warum ich fotografiere, und sie notierten meine Mobilnummer, wahrscheinlich, um später meinen Aufenthaltsort tracken zu können.” 
    Schaufenster in Białystok, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Mich interessierte die Analogie der Hautfarbe der Schaufensterpuppen mit der Situation an der Grenze, wo Belarussen und Ukrainer, die illegal die Grenze überqueren, einfach Schutz und Asyl in Polen erhalten sollen, während Menschen mit anderer Hautfarbe, Herkunft, Religion in der Regel beim Versuch, ins Land zu kommen und um Asyl zu bitten, nach Belarus zurückgeschoben werden. Einige dieser Migranten tragen extra Kreuze bei sich und erklären, dass sie ebenfalls Christen sind, in der Hoffnung auf eine andere Haltung der Grenzsoldaten.” 
    Im Hof eines agrotouristischen Anwesens im Dorf Puchły, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Meine erste Nacht in Podlachien verbrachte ich im Dorf Puchły, wo ich ein Zimmer auf einem Bauernhof gebucht hatte. Ich hatte lange gezögert, da die Anreise ohne Auto kompliziert ist. Letztlich bereute ich die Entscheidung nicht: Nachdem ich angekommen war, lernte ich die Wirtin Maria kennen, mit der ich mich gut verstand und über das Leben, die Welt, mich selbst und die Umstände sprechen konnte. Maria lud mich zum Osterfrühstück mit der Familie ein, denn es sei nicht gut, an diesem Feiertag allein zu sein, ich solle mich wie zuhause fühlen und Teil ihrer Familie sein. Das Frühstück erinnerte mich sehr an die Tradition in meiner Familie, zu Ostern zusammenzukommen.”
    Ausfahrt des Urlaubs-Bauernhofes im Dorf Puchły, unterwegs zum Ostergottesdienst in der orthodoxen Kirche in der Nacht des 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Es ist etwa 23:15 Uhr und sehr dunkel. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Ab und an ist ein Geräusch zu hören und in der Ferne Licht zu sehen von den Autos, die ebenfalls auf dem Weg zur Kirche sind. Die Kirche verbinde ich mit meiner Großmutter (mütterlicherseits). Wir lebten alle zusammen in einer Wohnung in Minsk, und ich weiß noch, wie meine Oma fast jeden Morgen im gemeinsamen Wohnzimmer eine Kerze anzündete und betete. Ich konnte sie von meinem Zimmer aus durch den Vorhang an der Tür sehen. Im Winter, wenn es morgens noch besonders dunkel war, konnte ich das Flackern der Kerze sehen, das Flüstern der Großmutter hören und das heiße Kerzenwachs riechen.” 
    Ein Junge am orthodoxen Osterfest in der Kirche im Dorf Puchły, 05.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Der Junge erinnert mich an mich selbst, denn ich war etwa in seinem Alter, als ich im Heimatdorf meines Vaters, Zeluscha in Belarus, orthodox getauft wurde. Ich erinnere mich nur undeutlich daran, da ich noch sehr klein war und mir während der Zeremonie heißes Kerzenwachs die Hand verbrannte. Ich glaube, meine Kirchgänge zu Gottesdiensten, Beichten und Kommunionen kann man an zwei Händen abzählen, alle fanden auf Bitten meiner Mutter statt. Sie wollte, dass ich die Tradition und den Glauben bewahre, die ihre Mutter (meine Großmutter) ihr beigebracht hatte. Ich verstand die Bedeutung dessen nicht ganz und beobachtete einfach alle notwendigen Gebräuche.”
    Osterprozession um die Kirche im Dorf Puchły, Polen, 05.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Es gehört zu den Ostertraditionen, Ikonen und andere Gegenstände aus der Kirche zu tragen und damit dreimal um die Kirche zu gehen.” 
    Der Text des Liedes Oreszki (dt. Nüsse). Er ist in lateinischer Schrift geschrieben, die Sprache aber eigentlich ein lokaler Dialekt – eine Mischung aus Belarussisch, Ukrainisch, Polnisch und Russisch. / Foto © Pavel Kritchko 
    Mauer an der polnisch-belarussischen Grenze unweit des Dorfes Usnarz Górny, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko
    Eliasz Fionik und Agata auf dem Weg in ihr Musikstudio in Bielsk Podlaski, 07.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Doroteusz Fionik hat zwei Söhne, Eliasz und Maksym. Maksym unterstützt den Vater stärker bei der Erhaltung der Kulturtradition, er ist Mitglied im traditionellen Liederensemble Żemerwa. Eliasz hingegen scheint all das etwas ferner zu liegen, vielleicht, weil er der Jüngste ist. Er findet, dass ein Akkordeon allein und alte Methoden nicht ausreichen, um die traditionelle Kultur zu fördern. Ihn interessiert eher, wie man die traditionelle Kultur durch moderne Musik zugänglicher machen kann. Deshalb verfolgt er sein eigenes Projekt, komponiert Musik und schreibt Songtexte im lokalen podlachischen Dialekt.” 
    Ein Storch im polnischen Dorf Trześcianka, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „In den belarussischen Legenden ist der Storch (belarus. busel) ein heiliger Vogel, Verbindung zwischen Himmel und Erde, Herr und Beschützer der Ernte, des Himmelsfeuers und anderer himmlischer Elemente. Für viele Belarussen ist der Storch auch etwas Besonderes, das an Zuhause, an die Heimat erinnert. Der Storch wurde in Belarus zum Symbol der nationalen Reinheit und Wiedergeburt. Man glaubt, dass der Storch Erfolg bringt, wenn er sein Nest neben deinem Haus baut, weshalb die Menschen in den Dörfern Plattformen auf den Strommasten anbringen, damit die Störche leichter ihre Nester bauen können.” 

    Fotografie: Pavel Kritchko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am 21.11.2024

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    Die moderne belarussische Sprache

    Das Echo nach dem Schuss

    Krieg in der Ukraine – Hintergründe

    „Als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da“

    „Die Repressionen lassen nicht nach“

  • Zurück in die Zukunft

    Zurück in die Zukunft

    „Im heutigen Belarus fungiert die Geschichte als eines der wichtigsten Elemente der Staatsideologie”, sagt Waleri Karbalewitsch. In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Politikwissenschaftler, wie das Lukaschenko-Regime historische Narrative einsetzt und umdeutet, um zusätzlich zu einer neuen Wirklichkeit eine eigene Erinnerungskultur zu formen. 

    Lukaschenkos Vision der belarussischen Geschichte, versinnbildlicht im neuen Nationalen Historischen Museum / Collage dekoder, Architekturentwurf © belta.by, Foto © Sergei Savostyanov/ Itar Tass/ Imago 

    Bei einem Besuch im Agrogorodok Parochonsk (Rajon Pinsk) kam Alexander Lukaschenko am 4. Oktober plötzlich auf das Thema Geschichte zu sprechen. Dabei überhöhte er die Bedeutung der Geschichte ins Unermessliche, als wäre sie für die belarussische Gesellschaft geradezu überlebenswichtig. 

    Er sagte: „Die [im Westen] wollen, dass wir die Geschichte vergessen. Aber unsere Geschichte ist voller Helden. Es genügt nicht, sich nur zu erinnern, stolz müssen wir sein. Und das sind wir auch. <…> Sie wollen uns also umkodieren, neu formatieren. Sie wollen uns zu anderen machen – zu Iwans, die ihre Herkunft nicht mehr kennen. Damit verfolgen sie Schritt für Schritt das Ziel: uns wieder unterwerfen, uns in die Knie zwingen. Sie wollen uns zwingen zu tun, was sie brauchen, um auf unsere Kosten zu leben.“ 

    Lukaschenko meint also, der Westen wolle mithilfe der Geschichte Belarus unterwerfen und unterdrücken. Hier drängen sich gleich mehrere Fragezeichen auf: Wo? Wann? Wie? Bisher war hauptsächlich von militärischer Bedrohung durch den Westen zu hören. Haben die Westler jetzt die Methoden geändert? Offenbar geschieht das so heimlich, dass es niemandem auffällt. Und nur mit dem Scharfsinn eines Alexander Grigorjewitsch gelingt es einem, zur Wahrheit durchzudringen, das Unsichtbare zu sehen. 

    Erinnerungspolitik als grelle Illustration 

    Als Reaktion auf die arglistigen Machenschaften des Westens verfolgen die belarussischen Machthaber ihre eigene Erinnerungspolitik. Dieser Prozess weist einige Besonderheiten auf:  

    1. Vor allem fungiert das historische Gedächtnis als wichtigstes Element der Staatsideologie, manchmal sogar als ihr Ersatz. Denn das Regime kann keine klare Ideologie anbieten, die nämlich Narrative für die Zukunft erfordern würde. Deswegen appelliert es an die Vergangenheit. Eine heldenhafte Vergangenheit als Ersatz für eine strahlende Zukunft – das ist die Botschaft an die Gesellschaft. 

    2. Die Erinnerungspolitik in belarussischer Auslegung ist eine grelle Illustration, zitiert wunderbar die bekannte These des sowjetischen Historikers Michail Pokrowski, Geschichte sei über die Vergangenheit gestülpte Politik.  

    In allen Staaten nutzen Regierungen und Politiker historische Narrative, um ihren politischen Kurs zu legitimieren. Zumindest jene Narrative, die an Schulen unterrichtet werden oder in der Kunst Ausdruck finden (Geschichte als Wissenschaft klammern wir mal aus). Der russische Publizist Alexander Rubzow schrieb: „Sobald sich die Macht an die Geschichte heranmacht, dann wird Geschichte nicht mehr erforscht, sondern verwaltet wie eine begrenzte Ressource.“ 

    Tatsächlich wirkt das bei uns oft allzu künstlich. Die Machthaber glauben, sie müssen permanent vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sprechen, vom „Genozid am belarussischen Volk“ erzählen – und dann wird das Volk Lukaschenko lieben. Ob das funktioniert, ist fraglich. 

    Welche Aspekte der Geschichte hervorgehoben werden, ist ein Indikator für Tendenzen des politischen Lebens, die starken Schwankungen unterliegen. Ein Beispiel dafür: Bis vor Kurzem war Kastus Kalinouski vielleicht die einzige Figur aus der belarussischen Geschichte, die weder Gesellschaft noch Politik spaltete. Er war bei Nationalisten und Kommunisten gleichermaßen anerkannt, gehörte auch in der Sowjetzeit zu den belarussischen Nationalhelden. Er hätte ein Symbol der belarussischen Einheit sein können. Das Regime machte jedoch auch aus ihm ein Symbol der Spaltung. 

    Im November 2019 wurde zur feierlichen Umbettung von Kalinouskis sterblichen Überresten eine belarussische Delegation nach Vilnius entsandt, an deren Spitze Vizepremier Igor Petrischenko stand. Bei der offiziellen Zeremonie sagte er, Kalinouskis Wirken sei eng verbunden mit der Entwicklung der National- und Kulturbewegung zu einem Kampf für die belarussische Staatlichkeit und für einen eigenen, vom Volk regierten Staat. Damit ist klar, dass Kalinosuki ein belarussischer Nationalheld ist.  

    Und es wurde noch besser: „Die Parole der Aufständischen um Kastus Kalinouski war wohlgemerkt: ‚Wen liebst du? – Ich liebe Belarus‘. Das Vermächtnis der Kämpfer hat nicht an Aktualität verloren und findet seine Fortsetzung in der obersten Devise unseres Landes: ‚Für ein starkes und blühendes Belarus‘“. Das lässt sich wohl herunterbrechen auf: Lukaschenko ist ideologisch ein Nachfolger Kalinouskis! 

    Am 17. November 2019 sagte der Herrscher höchstselbst in einem Wahllokal auf die Frage von Journalisten, was er von Kalinouski halte: „Er wirkte in unserer Region, war einer von uns, wenn Sie so wollen – ein Staatsbürger. Das ist nicht zu leugnen.“ Es dauerte gar nicht lange, und alles war anders. Am 2. Juli 2022 hielt Lukaschenko bei Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag eine Rede, in der er über den Aufstand von 1863 sagte, das belarussische Volk habe gegen die polnischen Aufständischen gekämpft, die von den belarussischen Bauern gefangen und dem Zaren ausgeliefert worden seien, weil sie nicht wieder unter die polnische Knute wollten.  

    Anders gesagt: Die Aufstände gegen Russland auf belarussischem Territorium gelten nun offiziell als polnische Aufstände, zudem hätten sie sich nicht nur gegen das zaristische Imperium gerichtet, sondern auch gegen Belarus. Dazu zählt eben auch der Aufstand unter Kalinouskis Führung. 

    Was ist da passiert? Der politische Wind hat sich gedreht. Seit 2020 schreibt sich das Regime fest in Russlands ideologischen Kontext ein und verzichtet im Umgang mit der eigenen Geschichte auf ein nationales Narrativ. Die Staatsideologie passt sich an die veränderten, momentanen Bedürfnisse der herrschenden Riege an, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht. 

    Großteil der Geschichte einfach abgehackt 

    3. Historische Inhalte werden der Gesellschaft sehr aggressiv vermittelt, als einzige Wahrheit. Jegliche alternativen Ideen sind verboten und werden strafrechtlich verfolgt. Bücher, die Kritik an der Sowjetunion enthalten, werden für extremistisch erklärt.  

    Das Thema des „Genozids am belarussischen Volk“ wird bezeichnenderweise von der Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet. Auf Grundlage ihres Materials werden Schulbücher zu diesem Thema herausgegeben. Gleichzeitig führt diese Behörde Strafverfahren wegen Leugnung des Genozids durch. Die Propagandamaschine funktioniert also nicht ohne politische Repressionen gegen Andersdenkende. Den Gegner mundtot zu machen, ist eine Bedingung für den Erfolg.  

    4. Eine eigenwillige Geschichtsinterpretation wird auch zur Entwicklung eines Lukaschenko-Kults aktiv eingesetzt. So hielt der Mythos in die Lehrbücher Einzug, die Präsidentschaftswahlen 1994 seien der wahre Beginn der belarussischen Staatlichkeit und gar der belarussischen Geschichte. So wird Lukaschenko zum „Gründervater“ der belarussischen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit erklärt. Um diesen Mythos zu stärken, werden andere bedeutende Ereignisse der reichen belarussischen Geschichte kleingehalten, Nationalhelden Stück um Stück abgewertet. 

    Bereits 2005 ließ Lukaschenko nach Franzisk Skaryna und Pjotr Mascherow benannte Straßen im Zentrum von Minsk umbenennen. Nun ist Kalinouski an der Reihe. Die Entfernung seines Namens aus der belarussischen Geschichte ist nicht nur ein Tribut an die Ideologie des Russki Mir. Lukaschenko soll einfach keine Konkurrenz haben. 

    Um die Bedeutung der eigenen Person aufzuzeigen, nutzt Lukaschenko auch selbst den Blick in die Geschichte. Im September 2024 sagte er bei einer Feierstunde zum Tag der Nationalen Einheit: „1919 <…> war die Stimme der neu gegründeten Belarussischen Sowjetrepublik noch nicht recht zu hören. Vielleicht, weil es keine Einheit gab. <…> Alle möglichen Nazmeny, nationalen Minderheiten, stritten sich um die Macht. <…> Hätten wir damals schon eine starke Hand und Einigkeit gehabt, dann hätten wir standgehalten. Und die Katastrophe mit dem Vertrag von Riga wäre nie passiert …“ 

    Nun ja, Sie verstehen, es gab keine „starke Hand“. Übersetzt in einfache Sprache: Hätte es damals eine Diktatur gegeben, so wie heute mit Lukaschenko an der Spitze, dann wäre das Land in Ordnung. Das ganze Unglück von Belarus basiert darauf, dass es damals noch keinen Lukaschenko gab, dass er leider erst jetzt aufgetaucht ist. (Anmerkung in Klammern: In 30 Jahren konnte niemand dem Herrscher vermitteln, dass Nazmeny für Nationale Minderheiten steht, und nicht – wie er denkt – für Nationalisten.) 

    5. Historische Mythen, die dem Nationalbewusstsein zugrunde liegen, sollen normalerweise zeigen, dass der jeweilige Staat eine tiefverwurzelte Tradition hat. Je tiefer, desto besser. Der national orientierte Teil der belarussischen Intelligenzija betrachtete das Großfürstentum Litauen als historisches Fundament für den belarussischen Staat.  

    Die Erinnerungspolitik, die die Regierung der Gesellschaft anbietet, umfasst allerdings nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Geschichte. Im Grunde beschränkt sie sich auf die Zeit von 1941 bis 1945. Die restliche tausendjährige Geschichte von Belarus wird ausgeklammert, man kennt sie, interessieret sich aber kaum dafür. Man versucht, die gesamte heutige Politik durch das Prisma des Zweiten Weltkriegs zu interpretieren.  

    Nach der imperialen Pfeife 

    6. Die gesamte belarussische Geschichte wird nun als Teil der russischen betrachtet. Für die Mittelschule wird ein Lehrbuch zur gemeinsamen Geschichte des Unionsstaates erarbeitet, zudem wird eine Reihe mit dem Titel „Russland und Belarus: Seiten gemeinsamer Geschichte“ herausgegeben und es wurde das Label „Bibliothek des Unionsstaates“ ersonnen. 

    Anders ausgedrückt: So wie die sowjetischen Schüler die Geschichte Russlands als „Geschichte der UdSSR“ lernten, so lernen die heutigen belarussischen Schüler die Geschichte Russlands unter dem Titel „Geschichte des Unionsstaates“. Die belarussische Geschichte aus nationaler Perspektive wird entsprechend verschwinden. 

    Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass die Herausbildung einer jungen Nation auf einem strikten ideologischen Bruch mit dem Imperium und dem kolonialen Erbe (in unserem Fall dem russischen und sowjetischen) basieren muss.  

    In Belarus läuft heute alles umgekehrt. Nationale belarussische ethnokulturelle Symbole und Elemente werden verworfen. Mehr noch, die weiß-rot-weiße Flagge, das Pahonja-Wappen, die Rada BNR werden zu nazistischen Symbolen erklärt. Die Regierung formt die belarussische Identität auf Grundlage russischer Geschichtsnarrative. Zu allen anderen Abhängigkeiten der Republik Belarus von Russland (wirtschaftlich, politisch, militärisch) kommen nun noch ideologische und soziokulturelle Abhängigkeiten hinzu. 

    In diesem Zusammenhang sagte der polnische Historiker belarussischer Herkunft, Oleg Łatyszonek: „Lukaschenko ist mit keinem anderen Diktator der Weltgeschichte vergleichbar. Mir ist kein Diktator bekannt, der kein Patriot war. Das waren immer Nationalisten, alle wollten ihre Nation aufwerten. Aber hier haben wir den ersten, der seine Nation vernichtet.“ 

    7. Die Geschichte wird aktiv zur Herleitung einer antipolnischen Politik genutzt. Polen wird das Bild eines äußeren Feindes zugeschrieben. Lukaschenko versucht, mit antipolnischen Narrativen weniger eine nationale, als vielmehr eine regionale Identität zu etablieren. Der gesamte Nationalismus im postsowjetischen Raum war antirussisch geprägt. Der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Ukraine ist nicht Russland“. Lukaschenko hingegen versucht, den belarussischen Pseudonationalismus als antipolnisch festzuschreiben. 

    Auch der neue Feiertag – der „Tag der Nationalen Einheit“ am 17. September – hat eine klar antipolnische Ausrichtung. Die Staatspropaganda spielt aktiv mit historischen Traumata der Zwischenkriegszeit, als der Westen von Belarus zu Polen gehörte. Das polnische Thema scheint auch in der offiziellen Kampagne gegen „Nazismus“ auf. In Dokumenten der Sicherheitsorgane, zum Beispiel in der Anklageschrift gegen den Vorstand der geächteten Bund der Polen in Belarus, werden die Soldaten der Armia Krajowa mit den Nationalsozialisten gleichgestellt.  

    So wird die Geschichte in unverwechselbarer belarussischer Interpretation zu einer Dienstmagd der Politik. 

    Weitere Themen

    Die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik

    Bystro #37: Ist das „Genozid-Gesetz“ in Belarus Geschichtsklitterung?

    Francisk Skorina

    Belarus und das Großfürstentum Litauen

    Kastus Kalinouski

    Schöne neue Welt

  • Schöne neue Welt

    Schöne neue Welt

    „Die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit ist unter Lukaschenkos Regime nichts Neues”, schreibt die belarussische Journalistin Katerina Truchan. Aber seit den Ereignissen im Jahr 2020 ergreife sie stärker denn je alle Lebensbereiche der belarussischen Gesellschaft. „Jede einzelne Amtshandlung zielt nicht nur darauf ab, jegliches Andersdenken auszumerzen, sondern auch ein neues Denken auszubilden, das einer Regierung die Stange hält, die keine mehr ist.” 

    In ihrem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk zeigt Truchan, mit welchen ideologischen Baupfeilern der Machtapparat diese neue Wirklichkeit in Belarus errichten will.  

    Die Flagge der Republik Belarus auf einer Ziegelsteinwand / Foto © xVivacityImagesx Panthermedia/IMAGO

    Architektonischer und anderer Patriotismus 

    Vor zwei Wochen wurden Alexander Lukaschenko die Pläne für das neue Nationale Historische Museum präsentiert. Im Fall einer Umsetzung entsteht in Minsk das nächste Gebäude, das die „Zeit nach 2020“ symbolisiert: billiger Pseudopatriotismus, der das Antlitz vieler Städte bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das neue Museumsgebäude, das den Plänen zufolge die Umrisse von Belarus aufweisen soll (was ohnehin nur von oben zu sehen sein wird), sowie der Park der Nationalen Einheit rundherum sind nur ein kleiner Teil der Hinterlassenschaften in Glas und Beton der Regime-Vertreter. 

    2020 reagierten die Wahlverlierer auf die weiß-rot-weißen Flaggen mit Massen von geschmacklos und häufig verfehlt eingesetzten rot-grünen Fahnen. Später wurden sie auf Hausmauern gemalt und so zahlreich an Gebäuden aufgehängt, dass es jeden Tag aussieht, als wäre Nationalfeiertag. Anscheinend versucht das Regime mit so primitiven Methoden, sein Revier zu markieren. 

    „Genozid am belarussischen Volk“ 

    Gleichzeitig wurden die Lehrbücher umgeschrieben. Kurz nach der Niederschlagung der Proteste von 2020 begannen die Machthaber, den „Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ hochzufahren. Zuständig (und höchst aktiv) ist die Generalstaatsanwaltschaft. Im Jahr 2021 begann ein entsprechendes Strafverfahren, das in Schauprozesse gegen Kriegsverbrecher münden sollte. Im Januar 2022 unterstützte Lukaschenko dieses Strafverfahren mit einem neuen Gesetz, das die öffentliche Leugnung des Genozids unter Strafe stellte. Im Grunde legte die Generalstaatsanwaltschaft die einzige staatlich anerkannte Interpretation der nationalsozialistischen Verbrechen fest, und das Gesetz sorgte für strafrechtliche Panzerung: Von dieser Interpretation abzuweichen, ist von nun an verboten.   

    Das Thema Genozid sickerte aus der Staatsanwaltschaft sogleich in den Alltag durch: in die Lehrbücher, in die Propagandasender, die ersten Angeklagten kamen posthum vor Gericht, gegen andere wurden neue Verfahren eingeleitet. Mehrere Eltern von Schulanfängern in Minsk teilten Pozirk mit, dass die ideologische Bearbeitung der nächsten Generation gleich am ersten Tag beginne: sechs- und siebenjährigen Kindern wird vom Genozid erzählt. 

    „Für meinen Mann und mich war das ein Schock. Wir waren zwar darauf vorbereitet, dass unser Kind diesen ideologischen Quatsch mit nach Hause bringen wird, aber doch nicht schon in der ersten Klasse! Früher kam das erst in höheren Schulstufen. Wir haben auch ein noch ein größeres Kind, aber die Größeren erreichen sie nicht mehr so leicht, deshalb bemühen sich die Lehrer in dieser Klassenstufe gar nicht so sehr“, erzählte Pozirk eine Minskerin, deren Kind die erste Klasse eines Gymnasiums besucht.  

    Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Regierung, statt der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen und die Archive zu öffnen, den Genozid weitgehend dazu benutzt, ein Bild von „Volksfeinden” zu malen: Schuld sind natürlich die Vorfahren jener, die die heute so „feindselige” EU gegründet haben, sowie die Polen und die Ukrainer.  

    Auch vor banalen Lügen schrecken die Machthaber nicht zurück. Zum Beispiel die Geschichte mit den Ausgrabungen bei Homel, wo die Staatsanwaltschaft im Wald von Schtschekotowskoje Opfer des Genozids „gefunden“ und 2022 feierlich umgebettet hat. Historiker sind sich einig, dass an diesem Ort in den 1930er Jahren NKWD-Mitarbeiter sowjetische Bürger erschossen haben, zu diesem Ergebnis kamen Archäologen bereits 1995. Stellt man die Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft heute infrage, kann man allerdings strafrechtlich belangt werden. Sehr praktisch, nicht? 

    In den Jahren 2024-25 sollen per Erlass Lukaschenkos in allen Gebietshauptstädten Gedenktafeln für die Opfer des Genozids angebracht werden, den Kindern bringt man weiterhin Halbwahrheiten bei, die Propaganda wird sich immer ihre Feinde finden. Die Opfer des stalinistischen Roten Terrors werden noch stärker in Vergessenheit geraten. Die Gedenkstätte in Kurapaty befindet sich heute in einem Zustand fast völliger Verwahrlosung, immer wieder kommt es zu Vandalismus, und selbst wenn sich jemand finden würde, der wieder für Ordnung sorgt – das Risiko ist beträchtlich. Die wenigen Aktivisten, die noch in Belarus und mutig genug sind, diesen Ort zu besuchen, bleiben aus verständlichen Gründen lieber unter dem Radar. 

    Mit Begeisterung werden auch die Lehrbücher umgeschrieben, im Lehrbuch der elften Klasse werden die Ereignisse von 2020 als „Putschversuch“ bezeichnet. Zudem werden ab dem neuen Schuljahr in vielen Klassen monatlich Informationsstunden zum Thema „Genozid am belarussischen Volk“ stattfinden. Dafür wurden 2023 Lehrbücher mit dem Titel „Der Genozid am belarussischen Volk im Großen Vaterländischen Krieg“ herausgegeben. Seit 2023 sind entsprechende Handreichungen für die erste bis vierte Klasse, die fünfte bis neunte sowie zehnte bis elfte Klasse erschienen. 

    „Tag der nationalen Einheit“ 

    Die Idee zu einem solchen Feiertag wurde zum ersten Mal bei der Allbelarussischen Volksversammlung 2021 erwähnt. Er wurde per Erlass eingeführt und ist heute einer der Grundpfeiler der belarussischen Propaganda. 

    2024 gab der Dekan der Belarussischen Staatlichen Universität, Alex Beljajew, im Vorfeld der Feierlichkeiten in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur BelTA eindeutig zu verstehen, wozu Lukaschenko einen solchen Feiertag benötige: Die Vereinigung des Westlichen Belarus mit der BSSR sei nach 1949 in der Sowjetunion nicht gefeiert worden, da die Volksrepublik Polen zum sozialistischen Lager gehörte und man sie nicht unnötig an diese schwierige Phase der polnisch-sowjetischen Beziehungen erinnern habe wollen. 

    „Aber nach 2020 sahen wir, dass diese Nachbarn, mit denen wir befreundet sein wollten, ihrerseits keine Hemmungen hatten, unser Verhältnis zu trüben. Gerade Polen scheute keine Mühen, in Belarus Meinungsmacher auszubilden, die sogenannte fünfte Kolonne“, sagte der Dekan. Und so sei es aus ideologischer Sicht erforderlich gewesen, den 17. September als Feiertag zu fixieren. Dieser Tag wird in Belarus mit ideologischem Pomp gefeiert, im typischen Modus des „freiwilligen Zwangs”. Ob daraus je ein Nationalfeiertag wird, steht in den Sternen. 

    „Extremismus“ und „Terrorismus“ 

    Die juristische Willkür ist beinah schon seit Lukaschenkos Amtsantritt eine besondere Spezialität seines Regimes. Der revolutionäre Geist von 2020, der noch immer in der Luft liegt, das Fehlen von unabhängigen Medien, Menschenrechtsorganisationen, von unabhängigen Gerichten, einer Anwaltskammer sowie sonstige Folgen der repressiven Diktatur – all das sorgte für Bedingungen im Land, unter denen jeder und jede zum Extremisten oder Terroristen erklärt werden kann, je nach ideologischer Gefahr für das Regime (, die von ihm ausgeht). 

    Die Tatsache, dass absolut alle unabhängigen Medien, Blogger und Gruppen in sozialen Netzwerken als extremistisch eingestuft wurden, führte dazu, dass man in Belarus immer weniger Zugang zu Informationen hat – es ist entweder zu riskant (wenn man entsprechende Quellen nutzt) oder sinnlos (wenn man versucht, sich anhand von regierungstreuen Quellen zu informieren). Dadurch ist die Bevölkerung aus dem Kontext gerissen, und die Machthaber nutzen diese unfreiwillige Ahnungslosigkeit und die Abwesenheit von Regimekritik jeglicher Art aus und tun, was sie wollen.  

    Ein zusätzlicher Schlag gegen die Gesellschaft ist die Suche nach missliebigen Autoren nicht nur unter den Lebenden, sondern auch unter den Toten. Pozirk liegen Informationen vor, dass landesweit in allen Bibliotheken die Ausmusterung „unerwünschter“ Bücher im Gange ist. Sie werden auf die Liste „extremistischer Materialien” gesetzt, vor potenziellen Lesern versteckt. Es ist nicht erlaubt, die Bücher einfach vom Markt zu nehmen und in den Bibliotheken zu belassen. Dabei sind die Bibliotheken selbst zu treuen Handlangern des Regimes geworden, hier finden ständig einschlägige Veranstaltungen statt, organisiert von den Kultur- und Ideologiereferaten der Stadt- und Gebietsverwaltungen. 

    Abhängigkeit von Russland 

    Belarus kriecht nicht nur, wenn es um Wirtschaft geht, unter Russlands Fittiche. Nach 2020 ist Belarus aufgrund von Lukaschenkos Rolle in Russlands Krieg gegen die Ukraine ein grauer Fleck auf der Europakarte geworden. Genau wie Russland. Vereint durch gemeinsame Miseren und Hürden beschleunigten die beiden Staaten ihren Integrationsprozess, der davor jahrelang nicht vom Fleck gekommen war, und bastelten an ihrer Immunität gegen Sanktionen und andere Einschränkungen. 

    Ergebnis ist eine umfassende Importsubstitution, von Kultur und sozialen Netzwerken bis zu einheitlichen Lehrbüchern zur Geschichte des Unionsstaates. In Belarus schaut man russische Serien auf russischen Streamingportalen, russische „Stars“, die den Loyalitätsfilter passiert haben und den Krieg gutheißen, gehen hier auf Tournee; häufig sind es russische Blogger und Influencer, an denen sich die belarussische Jugend orientiert. 

    Wohin die kulturelle Verschmelzung der beiden Staaten führt, in denen ein Nobelpreis schlimmer ist als ein Verbrechen, wird sich zeigen. 

    „Die Tendenz ist schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen“ 

    Der Historiker und Politologe Alexander Friedman formulierte in einem Kommentar für Pozirk, dass es schwierig sei, die Zukunft vorauszusagen und zu erkennen, was den Machthabern gelingen werde und was nicht. 

    Bezüglich der vom Lukaschenko-Regime angeschobenen ideologischen Prozesse zählt der Historiker einige Faktoren auf, die ausschlaggebend für die Zukunft sind: die Intensität, mit der die Machthaber diese Prozesse voranbringen, und der Zeitraum, über den sie andauern. Derzeit spreche alles für eine hohe Intensität mit großem Kraftaufwand. Friedman wies auch auf die Vielfalt der Methoden hin; das Regime sei auch in den Sozialen Netzwerken und in der Jugendarbeit aktiv. Dabei werde häufig eine russische Perspektive befördert, auch im historischen Kontext. „Sie stützen sich auf sowjetische Narrative und Mythen, die die ältere Generation, die die Sowjetunion noch erlebt hat, sehr gut kennt, die Jungen hingegen nicht mehr wirklich”, betont Friedman. 

    Dabei unterstreicht er, dass jetzt zwar ein Kampf um die Geschichte stattfinde, die Leute in Belarus, die mit diesen offiziellen Konzepten gefüttert würden, aber nach wie vor alternative Informationsquellen im Internet nutzen können, auch ohne unbedingt Fremdsprachen zu beherrschen. „Das erschwert die Arbeit der Propagandamaschine erheblich. Wenn sie diese Verbindungen kappen – also das Internet oder die westlichen Sozialen Netzwerke blockieren, könnten sie ihre Narrative leichter durchsetzen. Solang sie das nicht tun, ist es schwieriger“, sagt der Experte. 

    Dabei denkt Friedman nicht, dass das Regime damit Erfolg haben wird. Ein gutes Beispiel sei die Sowjetunion, in der der Bevölkerung sehr vieles aufgezwungen wurde, historische Bewertungen inklusive, und trotzdem habe das oftmals keine tiefen Spuren hinterlassen. Einen Grund dafür sieht der Historiker darin, dass in der UdSSR Geschichte nicht unterrichtet worden sei, um Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und besser zu verstehen, was passiert ist, sondern wie emotionales Beiwerk, das „ziemlich schnell kommt und geht“. Von einem tiefen Verständnis wie in Deutschland, wo der Nationalsozialismus und seine Verbrechen über Generationen reflektiert würden, sei man meilenweit entfernt gewesen. 

    Darüber hinaus interessieren die Themen, die das Regime anbietet, vor allem die jungen Belarussen kaum: „Der Zweite Weltkrieg und alles, was damit zu tun hat – das waren schreckliche Verbrechen, ohne Frage. Der 17. September ist weniger eindeutig, liegt aber auch sehr lange zurück. Für die junge Generation ist das alles sehr weit weg und schwer nachvollziehbar. Das waren Zeiten, in denen wenig an ihre heutige Realität erinnert.“ 

    Friedman glaubt nicht, dass das Regime mit den Geschichten durchkommt, die es der Gesellschaft und insbesondere der Jugend aufdrängen will: „Das geht eher ‚zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus‘.“ Sein Resümee: „Die Tendenz ist natürlich schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen.“ 

    Weitere Themen

    Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?

    Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

    Alexander Lukaschenko

    „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Verboten in Belarus: Literatur und Autoren

    Kurapaty: Der lange Weg zur Wahrheit

    Die unglaubliche Revolution

    Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?