2000 bis 4000 Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien sitzen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus bei Temperaturen um den Gefrierpunkt fest. Immer wieder versuchen Gruppen, die Zäune und Grenzvorrichtungen in Richtung EU zu durchbrechen. Mittlerweile stehen rund 15.000 polnische Soldaten an der Grenze, die ein Durchkommen der Flüchtlinge zu verhindern versuchen, sie immer wieder in Richtung Belarus zurückdrängen. Belarussische Grenzer treiben die Flüchtlinge dagegen immer wieder in Richtung Polen. In Minsk protestierte eine große Gruppe von Migranten am Sportpalast im Zentrum der Hauptstadt.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wirft den belarussischen Machthabern vor, mit der Flüchtlingskrise „einen hybriden Angriff” auf die EU gestartet zu haben. Polen wertet Alexander Lukaschenkos Rolle in der Krise als „Staatsterrorismus”, der deutsche Außenminister Heiko Maas nennt ihn einen „Schleuser”. Der belarussische Außenminister Wladimir Makej dagegen hält die Krise an der Grenze für eine Provokation durch die NATO und droht mit Vergeltung. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow sagte: „Die Lage ist definitiv angespannt, alarmierend – sie erfordert ein verantwortungsvolles Handeln aller Beteiligten.” Unterdessen telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Wladimir Putin und bat ihn, auf Lukaschenko einzuwirken. Die Lage an der östlichen EU-Grenze spitzt sich weiter zu. Weitere EU-Sanktionen sollen den belarussischen Machthaber zusätzlich unter Druck setzen. Lukaschenko droht im Gegenzug, den Warenverkehr durch sein Land und den Transit von Öl und Gas in Richtung EU zu blockieren.
In Politik und Medien wird derweil auch in Belarus debattiert, wie der Konflikt zu lösen und zu bewerten sei. In der staatlichen Zeitung SB.Belarus segodnjameint der Politikanalyst Juri Schewzow ganz im Sinne der offiziellen Rhetorik des Machtapparats, dass Polen die Schuld an dem Konflikt trage: „Dieses Land lebt mit monströsen Vorstellungen von sich selbst und der Realität. Und deshalb haben die Polen kein Recht, sich als Europäer zu bezeichnen. Indem sie an der Grenze Gräueltaten begehen, verletzen sie europäische und christliche Werte.” Die belarussische Führung inszeniert sich in einer Krise, die sie selbst geschaffen hat, als „Beschützerin von humanitären Werten”. Darauf spielte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja mit ihrer Aussage auf Twitter an: „Erinnern wir uns: Die Migrantenkrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU hat nicht erst gestern oder vor einem Monat begonnen. Sie begann mit der politischen Krise in Belarus im letzten Jahr.” Im eigenen Land geht Lukaschenkos Machtapparat seitdem brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. Die polnische Regierung hat sich schon früh auf die Seite der Protestbewegung in Belarus gestellt. Polen war einer der EU-Staaten, die die Sanktionen gegen Lukaschenko vorangetrieben haben. Durch den Flüchtlingsstrom, der von den belarussischen Machthabern seit Anfang Juli lanciert und flankiert wird, soll also nicht nur die EU, sondern auch Polen abgestraft werden. Polen erwägt nun, seine Grenzen zu Belarus vollständig zu schließen. Auch die Ukraine, die auf 1000 Kilometern an Belarus grenzt, überlegt, ihre Grenzvorrichtungen zu verstärken.
In seinem Text für das Medium Naviny.by rückt der Journalist Alexander Klaskowski vor allem die belarussische Sichtweise auf den Konflikt in den Vordergrund. Dabei fragt er, ob es Lukaschenko gelingen kann, die EU mit seiner Taktik zu schwächen, welche Rolle Putin in Lukaschenkos Eskalationsplan spielt und ob der Kreml überhaupt Interessen an einer weiteren Eskalation der Krise hat.
Schadenfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Aber hat Minsk auch rationale Gründe, diese Krise zu eskalieren? Wird es Lukaschenko gelingen, Europa „zu beugen“, wie er es ausdrückt? Und wie wird sich Russland angesichts dieser Eskalation verhalten – das Land, das zweifellos weit mehr Einfluss auf die belarussische Führung hat als die anderen Beteiligten?
„Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze?“
Die belarussische Führung gibt sich unschuldig: Die Menschen aus den Problemländern seien legal eingereist, sie begingen keine Verstöße und so weiter und so fort. Das ist natürlich pure Heuchelei.
Lassen wir die Frage, wie diese Leute nach Belarus gebracht wurden einmal beiseite. Zumindest gibt es strenge Regeln für das Betreten von belarussischen Grenzgebieten durch Ausländer. Doch während Hunderte von Belarussen, die in geschlossenen Kolonnen durch die Straßen liefen, das mit Gefängnis bezahlen mussten, wird es dahergelaufenen Gestalten aus irgendeinem Grund nicht verwehrt. Die belarussischen Sicherheitskräfte präsentieren sich bei solchen unerlaubten Aktionen als reinste Knuddelbären.
Lukaschenko hat am 9. November ein Interview mit Igor Korotschenko, dem Chefredakteur der russischen Zeitschrift Nazionalnaja oborona (Nationale Verteidigung) genutzt, um ziemlich durchsichtige Botschaften an Europa zu übermitteln: „Ihr habt Sanktionen gegen mich verhängt, gegen die Belarussen. Ihr habt einen hybriden Krieg gegen Belarus angezettelt – Medien, Wirtschaft, Politik, jetzt seid ihr schon beim Militärischen und der Sicherheit angelangt. Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze, und das auch vor Migranten?“
Nach Lukaschenkos Meinung ist es von der EU ein wenig töricht, „von mir zu verlangen, dass ich, wie bislang, das aus eigener Tasche bezahlen und stoppen soll“. Kurz und gut: Ändert eure Politik gegenüber dem Regime, setzt euch an den Verhandlungstisch und zahlt, wenn ihr dieses Problem loswerden wollt. Die Propagandisten des Regimes erklären klipp und klar, Lukaschenko könne diesen Albtraum „mit einem Fingerschnippen“ beenden.
Bislang scheint Europa jedoch nicht geneigt, vor Minsk in die Knie zu gehen. Polen und Litauen verhalten sich trotz Kritik von der UN und Menschenrechtlern hart gegenüber den ungebetenen Gästen und schlagen ihnen die Tür vor der Nase zu.
Zudem arbeitet Brüssel an einem fünften Sanktionspaket, um Minsk für diese Politik zu maßregeln. Das Image des Regimes auf der internationalen Bühne wird immer abstoßender; es wird vom Westen immer deutlicher als Bedrohung der Sicherheit in der Region wahrgenommen, als Quelle der Instabilität für die Gemeinschaft der demokratischen Länder.
Das Regime setzt auf die Schwäche der europäischen Politiker
Kann man also sagen, dass Lukaschenkos Spiel zum Scheitern verurteilt ist? Wie lässt sich die Hartnäckigkeit des Regimes bei der Eskalation der Migrationskrise erklären?
Die belarussische Regierung, die darauf abzielt, Europa zu verärgern, wendet hier „dieselbe Logik an wie bei ihren inländischen Gegnern“, so der Politikexperte Waleri Karbalewitsch in einer Stellungnahme gegenüber Naviny.by. Seiner Meinung nach ist die Regimeführung vor allem von einem Bedürfnis nach „elementarer Rache“ getrieben.
Es gebe aber auch ein rein rationales Kalkül – nämlich, Europa zu den Bedingungen des Regimes an den Verhandlungstisch zu zwingen. „Lukaschenko hält europäische Politiker für Schwächlinge“, so Karbalewitsch. Und wenn etwa der österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg im Vorfeld einer Konferenz zu Belarus in Wien erklärt, man könne mit Minsk nicht nur in der Sprache der Sanktionen sprechen, gibt er der belarussischen Führung Grund zu der Annahme, dass es sinnvoll sei, den Druck auf Europa zu verstärken. Zwar sei es Lukaschenko bisher nicht gelungen, die EU „zu beugen“, aber es gebe auch keine starke Reaktion aus Europa. „Die Europäische Union ist ratlos“, so Karbalewitschs Fazit.
Auch Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose in Warschau, äußerte gegenüber Naviny.by die Meinung, dass „es zurzeit in Europa keine politischen Führer gibt, die die volle Verantwortung übernehmen und die willensstarke Entscheidung treffen könnten, das Lukaschenko-Regime ohne Rücksicht auf die Folgen zunehmender Spannungen zu bezwingen“.
Lukaschenko, so der Politologe, „handelt nach dem Prinzip der maximalen Spannungseskalation“. Er setze auf die Erfahrung, dass europäische Politiker bei steigendem Leidensdruck dazu neigen, „den Weg des Kompromisses zu gehen, eine Möglichkeit zum Dialog zu suchen“. Zudem habe der belarussische Regent „nichts mehr zu verlieren“, was das Image eines zivilisierten Politikers angeht.
Putin spielt sein eigenes Spiel
Im Kontext dieser Eskalation wird klar, dass Moskau Minsk die Bälle zuspielt. Am 10. November versuchte die weiterhin amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Migrationskrise mit Wladimir Putin zu besprechen. Dieser jedoch, so teilt der Pressedienst des Kreml mit, „schlug vor, eine Erörterung der entstandenen Probleme im direkten Kontakt der offiziellen staatlichen Vertreter – der EU-Mitglieder und Minsk – in die Wege zu leiten“. Kurz gesagt, er hat Europa gepflegt zu Lukaschenko geschickt.
Tatsächlich wäre es eine starke Vereinfachung anzunehmen, dass Putin nur daran denkt, wie er in seinem Konflikt mit dem Westen am besten Lukaschenkos Interessen vertreten kann. Moskau spielt sein eigenes Spiel. Ussow weist unter anderem darauf hin, dass mittlerweile Kampfflugzeuge vom Typ Tu-22M3 der russischen Luftstreitkräfte im belarussischen Luftraum patrouillieren.
„Ist die Migrationskrise vielleicht nur ein Deckmantel, um russisches Militär nach Belarus zu schicken?“, fragt der Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose Pawel Ussow. Ihm zufolge könnte Putin höchstpersönlich der Europäischen Union die Vermittlerrolle in der Lösung der Krise aufnötigen und daran die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland knüpfen, indem er eine Art Normandie-Format einfordert, in dem Moskau als vollwertiger Partner für Europa agiert.
Mit anderen Worten, der Kreml wäre auf diese Art in der Lage, sein Problem der politischen Kontrolle über Belarus zu lösen und gleichzeitig „Lukaschenko zur Realisierung der eigenen Außenpolitik im Hinblick auf die EU zu instrumentalisieren“, erklärt Ussow zusammenfassend.
Die Führungselite ist es nicht gewöhnt, Schritte vorauszuberechnen
Generell ist die Behauptung, in dieser Situation würde der Schwanz mit dem Hund wedeln, zumindest bestreitbar. Ja, Lukaschenko trumpft mit dem russischen Atomschild auf und muss sich tatsächlich, trotz all seiner Kunststücke, nicht vor einer Intervention des Westens fürchten (obwohl man immer wieder – auch im Gespräch mit Korotschenko – an die Schicksale von Saddam Hussein und Muammar Gaddafi denkt, die die westlichen „Halunken“ „einfach getötet“ haben).
Die Hoffnungen anderer Gegner Lukaschenkos, Putin könne ihn zähmen oder gar ganz absetzen, sind derweil naiv. Die beiden autoritären Regime sind artgleich und geistesverwandt, zudem hat der Kreml bislang weder einen wirklichen Ersatz für den belarussischen Führer noch ein zuverlässiges Instrumentarium für einen solchen Machtwechsel.
Auf einem anderen Blatt steht, dass der Kremlchef seine Mission keinesfalls in der Schaffung möglichst bequemer Bedingungen für den belarussischen Problempartner sieht, und auch nicht in seiner Rettung um jeden Preis. Im Gegenteil, Moskau nutzt dessen wachsende Konfrontation mit dem Westen aus und verstärkt seine militärische Präsenz in Belarus (was nicht in Lukaschenkos Interesse und noch weniger im Interesse der belarussischen Souveränität liegt). Erweitert man den Blick, wird klar, dass die russische Führung Belarus in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt hat, aus dem es auch eine neue Führung nicht herauslösen kann.
Gleichzeitig ist der Kreml bereit, den skandalträchtigen Verbündeten beim Wort zu nehmen: Ah, du sagst, die Polen und andere Aggressoren werden gleich mit ihren „Leoparden“ in den Unionsstaat einfallen? Dann lass uns doch mit ein paar Militärbasen und einigen „Iskander“-Raketensystemen an den Grenzen zum heimtückischen NATO-Monster aushelfen. Und du könntest dann eigentlich, nachdem du bezüglich der Krim-Anerkennung schon A gesagt hast, endlich mal B sagen (was die Beziehungen zur Ukraine automatisch erheblich verschlechtern und Minsk weiter isolieren würde).
Hinzu kommt noch, dass die fortgesetzte strikte Abweisung der illegalen Migranten durch Polen und Litauen zu einer Ansammlung dieser Menschen in Belarus führen kann, die zum innenpolitischen Problem für das Regime würde. Dadurch wäre die belarussische Regierung, so Karbalewitsch, notgedrungen zu einer „Drosselung dieser Operation“ gezwungen.
Doch aktuell beobachten wir noch immer eine Erhöhung der Einsätze. Die belarussische Führungselite ist es nicht gewöhnt, viele Schritte vorauszuberechnen und hofft scheinbar nach wie vor darauf, Europa „beugen” zu können. Im Endeffekt riskiert Minsk, sich in jeder Hinsicht zu verrechnen. Die Beziehungen zum Westen werden endgültig begraben und Belarus rutscht noch tiefer in Moskaus imperiale Falle.
Als die Nachricht die Runde machte, dass die belarussische Ausgabe der russischen Boulevard-Zeitung Komsomalskaja Prawda geschlossen wird, überraschte dies viele Beobachter und Experten. Denn es kommt nicht alle Tage vor, dass sich die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gegenüber dem Kreml mit einer solch weitreichenden Entscheidung durchsetzen. Schließlich ist das russische Stammblatt ein einflussreiches Sprachrohr für die restaurative Politik des Kremls. Dessen Sprecher Dimitri Peskow hatte mit Bezug auf die Pressefreiheit die belarussischen Machthaber noch dazu aufgefordert, die Blockierung der Webseite wieder aufzuheben, als diese nach der Schießerei in Minsk und der entsprechenden Berichterstattung blockiert worden war.
Die Schließung war kurz darauf verkündet worden, nachdem die Zeitung über eine Wohnungsdurchsuchung in Minsk durch den KGB berichtet hatte, bei der zwei Menschen ums Leben gekommen waren, und kritische Fragen aufgeworfen hatte. Zudem wurde der Journalist Gennadi Mosheiko festgenommen, der den Artikel recherchiert und verfasst hatte. Er befindet sich zurzeit im Gefängnis von Shodino. Von der Staatsanwaltschaft wurde er aufgrund eines Paragraphen angeklagt, der rassistische, ethnische, religiöse oder andere soziale Anfeindungen unter Strafe stellt. Zudem wird ihm vorgeworfen, Repräsentanten der Silowiki beleidigt zu haben.
Wie kommt es, dass sich das System Lukaschenko mit seiner Taktik gegenüber der russischen Führung durchsetzen konnte? In seiner Analyse für die russische Online-Plattform Carnegie geht der belarussische politische Beobachter Artyom Shraibman dieser Frage auf den Grund. Dabei erklärt er auch, welche besondere Stellung die belarussische Ausgabe der Komsomolskaja Prawda in Belarus selbst hatte.
Wie schon zu früheren Zeiten hat eine neuerliche Episode in der Eskalation der belarussischen Krise russische Interessen tangiert. Nach dem tragischen Vorfall, bei dem in einer Minsker Wohnung der KGB-Offizier Dimitri Fedossjuk und der auf Seiten der Proteste stehende IT-Fachmann Andrei Selzer bei einem Schusswechsel starben, begannen die belarussischen Behörden einen aktiven Kampf gegen alle, die öffentlich ihr Mitgefühl mit der falschen Seite ausdrückten.
Neben 200 festgenommenen Social-Media-Nutzern traf es auch die Komsomolskaja Prawda w Belarusi. Auf der Webseite der Zeitung war für wenige Minuten ein Artikel online zu lesen, in dem sich eine Klassenkameradin Selzers positiv über ihn äußerte.
Wenige Stunden später war die Seite blockiert, und die Printausgabe wurde umgehend aus den letzten Geschäften, in denen sie noch erhältlich war, entfernt, nachdem bereits im vergangenen Jahr der Vertrieb per Post und über die staatlichen Kioske verboten worden war. Einige Tage später wurde dann der Autor des Artikels, der belarussische Staatsbürger Gennadi Mosheiko, festgenommen. Laut Angaben des Chefredakteurs der Komsomolka, Wladimir Sungorkin, geschah das in Russland, laut belarussischen Strafverfolgungsbehörden im eigenen Land.
Sungorkin bezeichnete die Geschehnisse als Willkür, andere kremlnahe Medienmanager forderten die Freilassung Mosheikos, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, kritisierte die Sperrung des Internetauftritts der Zeitung. Darüber hinaus kam es jedoch zu keinem ernsthaften Konflikt zwischen den beiden Staaten.
Die russische Komsomolka entschied sich schlicht für eine Schließung des belarussischen Ablegers. In den folgenden Stellungnahmen sagte Peskow, dass der Kreml die Schließung der Zeitung bedaure, man sich aber nicht in die Minsker Angelegenheiten mit belarussischen Massenmedien und einem belarussischen Staatsbürger einmischen könne.
Im Affekt
Die Schließung der belarussischen Komsomolka und die Festnahme des Journalisten beschloss Minsk im Affekt in den ersten Tagen, wenn nicht Stunden nach der Schießerei. Die belarussischen Machthaber waren schockiert, dass es nach monatelanger Unterdrückung der Proteste jemand erstmalig gewagt hatte, den Sicherheitskräften bewaffnet entgegenzutreten, wofür er von vielen zum Helden erhoben wurde.
Den am Tatort erschossenen Selzer konnte man nicht mehr bestrafen, aber es stellte sich ein offensichtliches Bedürfnis nach Vergeltung ein. Also begannen Massenfestnahmen, weil viele Kritik an dem getöteten Sicherheitsoffizier äußerten und der Familie des IT-Fachmanns ihre Anteilnahme bekundeten – 200 Menschen wurden festgenommen und angeklagt, viele wurden gezwungen, sich vor laufender Kamera öffentlich zu entschuldigen.
Fernsehmoderatoren und regierungsnahe Personen, darunter Parlamentsabgeordnete, riefen zu Vergeltungsmaßnahmen auf: Man solle die Führer der Oppositionsbewegung aus dem Ausland zurückholen, sie nach Mossad-Methoden liquidieren oder „für jeden [Silowik – dek] 20 oder 100 in die Scheiße tunken, damit sich das nicht wiederholt“.
In solch einer Atmosphäre ist die Veröffentlichung jeder noch so kleinen positiven Information über Selzer in Lukaschenkos Augen eine Todsünde für jedes Medium; und deshalb wurde die Komsomolka umgehend geschlossen, ohne Bedenken und Rücksprache mit Moskau.
An dieser Stelle ist wichtig zu erwähnen, dass die belarussische KP mit dem russischen Mutterblatt nicht vergleichbar war – weder agitierte sie gegen den Westen, noch unterstützte sie offen die belarussische oder die russische Führung. Sie war ein neutrales Medium mit einer recht liberal eingestellten Redaktion.
Die Zeitung hatte offen und ehrlich über die Proteste berichtet und wurde dafür mit einem Druck- und Verbreitungsverbot belegt. Sie überstand den erzwungenen Austausch des Chefredakteurs und zog sich dann von politischen Themen zurück, um sich vor dem Hintergrund der Zerstörung der letzten unabhängigen Medien im Land das eigene Überleben sichern zu können.
Daher war die belarussische Komsomolka für Minsk eine Art Hybrid – einerseits verfügte sie über eine schützende Verbindung nach Moskau, und damit, wie einige meinen, zu Putins Lieblingszeitung, andererseits aber bestand ihre Redaktion aus Belarussen, die offensichtlich nicht mit der eigenen Regierung sympathisierten. Eine Schließung hatte schon länger in den Fingern gejuckt. Nun hatten die Finger ihren Vorwand gefunden, der stärker war als die Besorgnis, damit jemanden in Moskau zu verärgern.
Autoritäre Souveränität
Viele waren überrascht, dass Moskau nur so verhalten auf die Schließung eines bedeutenden Medienbetriebs in einem verbündeten Staat und die Festnahme seines Journalisten reagierte. Hätte einer der prowestlichen Nachbarn – die baltischen Staaten, Georgien oder die Ukraine – eine vergleichbare Ohrfeige geliefert, wäre Russlands Reaktion vollkommen anders ausgefallen. Doch Verbündeten, besonders den autoritären, verzeiht man weitaus mehr als den Gegnern.
Der Kreml versteht unter Souveränität das Recht, auf dem eigenen Territorium mit den von der Regierung als notwendig erachteten Mitteln für Ordnung zu sorgen, und respektiert dieses Recht auch bei verbündeten Autokraten. Daher rührt die größere Toleranz gegenüber deren Handlungen, selbst wenn sie russischen Interessen schaden könnten. Vorausgesetzt natürlich, es handelt sich nicht um vorrangige Interessen wie beispielsweise Sicherheitsfragen.
Lukaschenko hat sich diese Herangehensweise des Kreml zunutze gemacht, ohne irgendwelche Folgen. Als 2013 der Generaldirektor von Uralkali, Wladislaw Baumgertner, zu Gesprächen nach Minsk eingeladen war, wurde er beim Verlassen des Regierungsgebäudes festgenommen und war einen Monat im Untersuchungsgefängnis des KGB sowie im Anschluss noch mehrere Monate in Hausarrest. 2015 lehnte Lukaschenko die Errichtung eines russischen Luftwaffenstützpunktes [in Belarus – dek] ab, 2019 die Vollendung des belarussisch-russischen Unionsstaates. 2017 wurden mehrere allzu prorussische Publizisten inhaftiert. 2020 ließ die Staatsführung drei Dutzend Kämpfer einer privaten russischen Militäreinheit festnehmen, und es wurde ihre Auslieferung an die Ukraine in Erwägung gezogen. Zur selben Zeit wurde die Belgazprombank durchsucht, die von russischer Seite eingesetzte Führung abgesetzt und einige Funktionäre inhaftiert.
Doch nicht nur Belarus pflegt dieses Know-how, auch Kasachstan verhaftete problemlos prorussische Autoren für den Aufruf zum Separatismus und setzte die Latinisierung der Schriftsprache durch – natürlich zur Unzufriedenheit Moskaus, aber doch unter stillschweigender Hinnahme des Kremls. Moskau kann unliebsame Handlungen seiner Verbündeten auf dem Verhandlungsweg abmildern, jedoch geschah dies selten zeitnah und im offenen Konflikt. Lukaschenko wurde häufig verziehen oder es wurde ihm gestattet, sich langsam aus der Situation herauszuwinden, um einen Skandal zu vermeiden.
Letztlich zeigt sich hier aber, wie wesensfremd Menschenrechtsrhetorik wirkt, wenn sie von der russischen Regierung kommt. Peskows Erklärung, die belarussische Regierung schränke die Meinungsfreiheit ein, klingt angesichts dessen, was der Kreml in den letzten Monaten bezüglich der Meinungsfreiheit in Russland angestellt hat, wie Selbst-Trolling.
Der schwindende Freundeskreis
Setzt sich die Geschichte mit der Komsomolskaja Prawda nach dem gleichen Muster fort, wie es bei ähnlichen Fällen in der Vergangenheit vorherrschte, dann wird die belarussische Regierung in ihrer Haltung bestärkt, dass man sich durchaus nicht zurückhalten muss, auch wenn es gegen russische Interessen geht. Zum Schutz der Union ist Moskau bereit, vieles zu schlucken.
Wichtig ist, die richtigen Schmerzpunkte zu drücken, den Kampf gegen gemeinsame Feinde zu erklären, schnell und rücksichtslos zu handeln und damit das russische Gegenüber vor die Wahl zu stellen: zwischen einem lauten Skandal und einem stillen, wenn auch leicht demütigendem Kompromiss.
Die Folgen sind zwar weniger offensichtlich, aber in der langfristigen Perspektive durchaus bedeutsam. Lukaschenko ist schon länger sehr unbeliebt bei einigen Gruppen innerhalb der russischen Führungskader und den ihr nahestehenden Kräften.
Die radikalen Nationalpatrioten können Lukaschenko seine multivektorale Außenpolitik nicht verzeihen, etwa die Nichtanerkennung der Krim und die seichte Belarusifizierung innerhalb seines Landes. Im Rohstoffsektor hat man genug von den ständigen Energiekriegen mit Minsk, die jedes Mal mit politischen Vergünstigungen enden, welche dann wiederum mit Komplimenten wie der Zerschlagung der Belgazprombank beantwortet werden.
Unter Systemliberalen und Regierungstechnokraten gibt es eine Art ästhetische Ablehnung Lukaschenkos und seines Stils, aber auch eine Verdrossenheit ob ständig neuer Kredite im Austausch gegen wohl portionierte Integrationsversprechen. Einzelne Oligarchen und Wirtschaftsgruppen, wie etwa Uralkali oder die Agrarlobby, hegen eine völlig eigennützige Abneigung gegen Minsk, das auf den gemeinsamen Märkten als direkter Konkurrent Russlands oft die Preise kaputt macht.
Und nun demoliert Lukaschenko auch noch sein Verhältnis zum schützenswerten Teil des russischen Mediensektors und dadurch auch zu den Förderern dieser Medien im Kreml. Das russische Machtsystem ist zwar vertikal aufgestellt, besteht aber doch aus einem Konglomerat unterschiedlicher Gruppen. Niemand kann voraussagen, wann die Zahl der minskkritischen Kräfte in Putins Umgebung in Qualität umschlagen wird, doch der Trend ist eindeutig. Der Kreis der Verbündeten Lukaschenkos in Moskau schwindet schon seit Jahren, während die Zahl derer wächst, die von ihm genervt sind.
Für Minsk wird es daher immer schwieriger, in Moskau Geld zu erpressen. Die reale Unterstützung wächst nicht, ungeachtet der völligen Isolation Lukaschenkos im Westen, ungeachtet seiner rhetorischen Kehrtwende in eine prorussische Richtung, der Annäherung im militärischen Bereich und der Unterzeichnung des Unionsprogramms.
Selbst wenn Putins Konservatismus, seine sowjetische Nostalgie und sein Unwillen zum Konflikt mit Verbündeten genügen, um die Forderung der russischen herrschenden Elite nach einem härteren Kurs gegen Minsk zu besänftigen, sollte Lukaschenko doch die Daumen drücken und hoffen, dass Putin 2024 auf seiner Position bleibt.
Jede, selbst die kasachische, Version eines Machtwechsels in Russland wird dazu führen, dass Lukaschenko, egal welchen Posten er dann in Minsk bekleidet, mit denen zurückbleibt, die er all die Jahre nicht zu verärgern fürchtete. Diejenigen, die ihm frühere Vergehen vielleicht verzeihen würden, könnten weit weniger Schlange stehen, als diejenigen, wie aktuell die Führung der Komsomolskaja Prawda, die noch eine Rechnung mit Lukaschenko offen haben.
Tief hinab steigt die Lyrikerin Tanya Skarynkina, 1969 in der west-belarussischen Kleinstadt Smarhon geboren, – in ihre Erinnerungen und Träume, in die multikulturellen sprachlichen Bande der belarussischen Provinz, in die historische Verwerfungen und Brüche des belarussischen Kulturraums und in die schillernden Welten der Literatur und des Films. So macht sich Skarynkina, die zu den bedeutendsten Dichterinnen und Essayistinnen ihres Landes gehört, in ihrem literarisch-poetischen Text vor dem Hintergrund der Ereignisse seit dem Sommer 2020 auf die Suche nach einer Zukunft für Belarus. Ein Land, das auch in der Vergangenheit immer wieder die eigenen Menschen verloren hat, weil sie vor neuen Machthabern in andere Länder fliehen und als Fremde andernorts ein neues Leben beginnen mussten.
Augustregen hat ohne Vorwarnung die Julihitze abgelöst. Ich gehe absichtlich ohne Regenschirm hinaus. Nach der Höllenhitze ist die Nässe angehm. Für alle Fälle nehme ich den Staubmantel mit, zu dem man hier früher koshówez sagte. An der Betonung auf der vorletzten Silbe merkt man, dass es ein polnisches Wort ist, und das verwundert auch nicht, denn früher war auf unserem Gebiet Polen. „Polschtsch“ sagt die ältere Generation. Warum es koshowez heißt, weiß ich nicht, denn er ist aus wasserundurchlässiger Plane genäht. Sicher nicht aus kosha, Leder. Vielleicht ist es ein ganz leichter Mantel (koshuch)? Im polnischen Wörterbuch konnte ich kożowiec nicht finden, auch im belarussischen suchte ich erfolglos. Also wohl ein dialektaler Schatz aus der Vergangenheit.
Der Heilige Augustinus, einer der ersten Autoren des frühen Christentums, schreibt in seinen Confessiones, dass nur die Vergangenheit existiert, die Zukunft gibt es nicht. Die Gegenwart im Übrigen auch nicht. Es gibt nur die Gegenwart des Vergangenen und die Zukunft des Vergangenen. Darauf baut Augustinus sein gesamtes Verständnis der menschlichen Kultur. Ich laufe ohne Schirm durch den warmen Regen und denke darüber nach. Es fällt mir schwer zuzustimmen. Doch für gewöhnlich vertraue ich dem Heiligen Augustinus.
Ich erreiche den Teich im Stadtzentrum. Obenauf Seerosen. Die Oberfläche des Blattes der Gelben Teichrose soll die Ebene der zukünftigen Geschichte sein, deswegen stelle ich mir beim Beobachten der Regentropfen vor, wie sie als Details, die täglich in den Text einfließen und ihn schwerer machen, das Blatt der Teichrose niederdrücken. Teichrosen wachsen auch im Weiher von Perawosy, dem Dorf, in dem meine Mutter geboren wurde. Alle meine Verwandten mütterlicherseits bis in die vierte Generation, vielleicht auch weiter zurück, lebten dort. Sie nannten den Weiher kutok – Winkel – und Teichrosen bulauka – Stecknadeln.
Warum ich so viel über meine Vorfahren weiß? Ich hatte das Glück, mit der Archivarin Lena aus Minsk befreundet zu sein. Lena fand zum Beispiel Transportlisten der Flüchtlinge aus Perawosy aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie schickte mir die Kopie eines Dokuments von 1914, auf dem Großvater Iosifs Familie registriert ist – der Vater meiner Mutter mit seinen Eltern (Adelaida, Apalinary) und Schwestern (Genueva, Maryja), die vor dem Krieg nach Maladsetschna flohen. Ergebnis dieser Flucht war, dass Maryja, die von allen Marynja genannt wurde, den Chef der Eisenbahn von Maladsetschna kennenlernte, einen Józef Tyszko. Sie heirateten und seitdem haben wir polnische Verwandtschaft.
Ich stelle mir die Kriegswirren vor, alle fliehen, die Züge sind vollgestopft bis unter’s Dach, keinerlei Komfort, und dann mittendrin diese Liebe, jedenfalls dachte ich das immer, aber sie sagten mir, Tanja, welche Liebe, nichts dergleichen, keinerlei Komfort, Wirrnis, Krieg, die Menschen flüchteten, egal wie, vor Explosionen, vor Deutschen mit Stahlhelmen. Es hat sich so ergeben, aus Ausweglosigkeit hat sie ihn genommen, weil sie wie Bettler lebten, und dann der Krieg, und er brachte sie nach Polschtsch. Eigentlich brauchte keiner den anderen.
Als der Schriftsteller Dmitri Bykow den Schauspieler Konstantin Raikin fragte, worum es in Kafkas Verwandlung gehe, wunderte ich mich. Kennt ein bekannter Literat und Fernsehmoderator – denn gestellt wurde die Frage in der Sendung SSL (Shalkaja samena literatury, dt. Lausiger Literaturersatz) – wirklich die Antwort auf diese Frage nicht? Er beteuerte aufrichtig, es nicht zu wissen, also gab Raikin eine Antwort, die das Blut in den Adern gefrieren lässt: „Das Schlimmste ist, wenn man nicht gebraucht wird, aber existiert.“
Zu diesem Thema habe ich ständig postapokalyptische Träume. Dass uns Außerirdische erobern, die sich in Menschen verwandeln. Die echten Menschen mit ihren Schwächen und romantischen Gefühlen werden sie in der Zukunft nicht mehr brauchen. Mal ehrlich, was sollen die realen Menschen in einer nicht-existenten postapokalyptischen Zukunft?
Traum Nr. 1 Wir fahren in einem offenen Auto durch die Berge. Serpentinen hinauf. Vielleicht in ein Sanatorium. Leichter Wind umweht unbeschwerte Gesichter. Noch eine Kurve, und da ist das Meer. Plötzlich, wie immer im Traum, alles passiert plötzlich, herrscht Chaos auf der Straße. Die Autos verhalten sich wie eine Herde wildgewordener Kühe. Jemand sagt, die Verkehrsregeln sind aufgehoben. Ein Lastwagen fährt vorbei, darin sitzen Soldaten in Reihen. Etwas mit ihren Gesichtern stimmt nicht. Die Gesichter glänzen in der Sonne als wären sie aus Plastik. Aus grauem Kunststoff. Auf jedem Gesicht liegt ein gleichbleibender Ausdruck von Selbstzufriedenheit. Angewidert und fassungslos wende ich mich ab, mir wird klar: Jetzt ist alles aus. Wir kehren in die Stadt zurück. Das Meer ist vergessen. Unsere fröhliche Gesellschaft zerfällt mit einem Mal. Ich gehe allein durch die Stadt. Ich beobachte, wie „diese“ – so nenne ich die außerirdischen Besatzer im Stillen – unsere Mädchen mustern und sich widerlich grinsend über die Objekte ihrer Begierde austauschen. Wenn sie das Verlangen nach Kopulation verspüren, bewegen sie sich mit riesigen Sätzen, wie Heuschrecken, zu einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Vielleicht sitzt dort ihr Stab und sie konsultieren die Machthaber bezüglich dieser unbekannten körperlichen Impulse. Denn unter „diesen“ gibt es keine sogenannten Frauen. Ihre Arbeiter breiten behände unverhältnismäßig große Rollen mit künstlichem Dreck über die Gehwege und Rasenflächen. Kino wurde verboten. Auf Bildschirmen, die in unglaublicher Zahl in der ganzen Stadt installiert wurden, laufen Trickfilme, die jemand mit der Vorstellungskraft eines Wurms und ebensolchen künstlerischen Fähigkeiten gezeichnet hat. Ohne Musik und Sprache. Die Figürchen krümmen sich in seltsamen Rhythmen über die Bildschirme, ihre Augen sind leer, mit schwarzer Farbe ausgemalt. Ich stehe und schaue und muss mich beinahe übergeben. Einer von „diesen“ sagt hinter mir: „Schön.“ Ich muss brechen. Da beschließt unsere kleine Gesellschaft, ein halbes Dutzend Invasionsgegner, die nicht einverstanden sind, zu fliehen. In die Wüste. Wie Beduinen gekleidet. Fliehen wir nach Afrika. Albert Camus’ Roman Der Fremde, dessen Titel ich ohne Erlaubnis leicht abgewandelt übernommen habe, spielt in Nordafrika, im kolonialen Algerien, wo der Autor auch geboren wurde. Plötzlich fällt mir auf, dass auch der Heilige Augustinus aus Algerien stammte. Das hat für mich Bedeutung. Ich sammle Koinzidenzen. Camus’ Protagonist Meursault sammelt seltsame Zufälle, schneidet sie aus Zeitungen aus und klebt sie in ein Heft. Manchmal liest er sie wieder, so wie ich nun zum vierten Male Der Fremde. Als er bereits im Gefängnis sitzt, nachdem er aus Versehen am Strand einen Araber getötet hat, und weiß, dass ihn die Guillotine erwartet, spielt ihm die böse Ironie des Schicksals noch einen ungewöhnlichen Fall aus der Presse in die Hände: Ein Mann war sich nach Amerika gegangen, dort zu Reichtum gekommen und dann heimgekehrt. Das interessiert Meursault:
„Zwischen meinem Strohsack und dem Bettrost hatte ich nämlich ein fast an den Stoff geklebtes, vergilbtes, durchsichtiges altes Stück Zeitung gefunden. Es berichtete von einem Vorfall, dessen Anfang fehlte, der sich aber in der Tschechoslowakei ereignet haben musste. Ein Mann war aus einem tschechischen Dorf aufgebrochen, um sein Glück zu machen. Nach fünfundzwanzig Jahren war er reich und mit Frau und Kind zurückgekehrt. Seine Mutter unterhielt mit seiner Schwester in seinem Geburtsort ein Hotel. Um sie zu überraschen, hatte er seine Frau und sein Kind in einem anderen Gasthof gelassen, war zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannt hatte, als er hereinkam. Er war auf die Idee gekommen, zum Spaß ein Zimmer zu nehmen. Er hatte sein Geld gezeigt. Nachts hatten seine Mutter und seine Schwester ihn mit einem Hammer totgeschlagen, um ihn auszurauben, und hatten seine Leiche in den Fluss geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen, hatte, ohne es zu wissen, die Identität des Reisenden enthüllt. Die Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt. Ich habe diese Geschichte wohl Tausende Male gelesen. Einerseits war sie unwahrscheinlich. Andererseits war sie normal. Jedenfalls fand ich, dass der Reisende es ein bisschen verdient hatte und dass man nie spielen soll.“
„Unglaublich“, denkt Camus’ Held laut über diesen Fall.1 Im Theaterstück, nicht im Buch. Zuerst sah ich die Verfilmung von Luchino Visconti. Doch das reichte mir nicht. Ich suchte nach weiteren Inszenierungen über diesen Menschen, der von der Gesellschaft ausgestoßen worden war. Ich fand das Stück im Moskauer Theater Sowremennik, erst kürzlich, 50 Jahre nach Viscontis Film mit Marchello Mastroianni in der Hauptrolle. Eine junge, noch unbekannte Regisseurin hatte das Stück inszeniert und war dabei mutig genug gewesen, den Originaltext des Buches abzuwandeln. Im Buch bewertet der Held die Zeitungsnotiz über den Tschechen nicht. Er sagt nicht: „Unglaublich.“
Ebenso unglaublich ist, dass der Tscheche aus der Gefängnis-Notiz nach Hause zurückkehrte, denn die Jantschukowitschs aus dem Dorf Perawosy zum Beispiel sind nicht zurückgekehrt. Jantschukowitsch war der Familienname meiner Mutter. Im Dorf am Flüsschen Wilija lebten nur Jantschukowitschs. Alle waren miteinander verwandt, manche näher, manche ferner. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten sie nach Amerika aus. Meine Archivfreundin Lena schickte mir die Dokumente der Perawoser Jantschukowitschs zur Ausreise und zur Registrierung in Amerika. Meine eigenen Verwandten fand ich nicht darunter. Keine mir bekannten jedenfalls. Außer Dshan natürlich, auch ein Jantschukowitsch, über den ich seit meiner Kindheit Geschichten höre. Und der als einziger zurückgekehrt ist.
Mama erzählt: „Nachbar Dshan hatte einen Hampelmann. Wenn wir am Faden zogen, machte der Faxen. Immer wenn wir zu Dshan kamen, wollte jeder der erste beim Hampelmann sein. Er war aus Sperrholz, hing an der Wand und war bunt angemalt. Dshan hatte ihn aus Amerika mitgebracht und aufgehängt.“
Dshan hieß ursprünglich Iwan. In Amerika hieß er dann John. Aber John, so meine Vermutung, fügte sich wegen des „o“ nicht in die Sprache ein, denn das Belarussische liebt das „a“. Ich studiere die Kopie der Registrierungskarte von Dshan-Iwan genauer und erfahre, dass er von 1917 bis 1933 in der Textilfabrik von Worcester, Massachusetts gearbeitet hat. In seinem Haus hing eine riesige Fotografie, die in der Fabrikhalle aufgenommen worden war.
Mama: „Da waren vielleicht 200 Menschen auf der Fotografie. Immer, wenn wir mit Mama und Papa dort zu Besuch waren, schaute ich sie an und versuchte, Dshan zu finden.“
Ich weiß, wie Dshan ausgesehen hat. Wir haben ein Foto vom größten Hochwasser, das Perawosy erlebt hat. Darauf sind Mama und ihre Freundin Soja Warsozka zu sehen, wie sie mit dem Boot in die Stadt zur Arbeit fahren. Wie Statuen stehen sie in dem kleinen Boot, adrett mit ihren Handtäschchen. Torebka sagte man damals in polnischer Art zu einer Damenhandtasche. Und feine Schühchen tragen sie. Die Schuhe machte damals der berühmte Damenschuhmacher Baran von der Perschamajski-Straße. Mama und Soja sitzen ganz still. Am Ruder ein schmaler Mann mit dunkler Mütze. Das ist Dshan.
Traum Nr. 2 Es ging weiter und weiter und schließlich kamen wir nach Afrika. Mit dem Floß schlugen wir uns zum Anwesen durch, einem riesigen leerstehenden Haus mit Flachdach in arabischem Stil. Fast alle Fenster sind eingeschlagen. Ich erahne, dass hier ein Krieg stattgefunden hat, scheinbar ein Atomkrieg, der keine Menschen übriggelassen hat. Es wird Abend, der breite Fluss, an dessen Ufern das Haus steht, (genau wie in Perawosy), glänzt im Licht der tiefstehenden Sonne. Vogelschwärme. Krach, Geschrei. Als es dunkel ist, entfache ich ein kleines Feuer auf dem Flachdach eines der Wirtschaftsgebäude und röste Kartoffeln. Pelle sie und esse. In diesem Traum ist alles so langsam. Und überdeutlich.. Die Kartoffel zerfällt in meinen Händen. Kühlt ab. Ich esse. Ich spüre nichts von der Veränderung, die stattfindet,. Dass ich nichts außer Kartoffeln zu essen habe. Ich bin eine Verstoßene und muss mich den neuen Lebensbedingungen anpassen. Den Bedingungen ewiger Einsamkeit. Deshalb denke ich mir aus (und das ist einfach, wenn man träumt), dass das Haus dem meines Großvaters in Perawosy gleicht, in dem ich nie gewesen bin. Auch die Sonne ist dieselbe, nur heißer. Und der glitzernde Fluss ist wie unsere Wilija, das trockene Gras am Ufer und die vielen kleinen Punkte der Vögel im Glanz des Flusses sind fast wie unsere belarussischen in Smarhon. Nur zum Reden ist niemand da, aber daran kann man sich gewöhnen.
Die Bewohner von Perawosy, dem Dorf an der Wilija, wo Ururgroßvater Ignacy, Urgroßvater Apalinary, Großvater Iosif und meine Mutter geboren wurden, verließen ihr schönes Dorf am Fluss, so denke ich, mit großer Bitterkeit und Angst, als sie in die amerikanische Ferne zogen, wo es schwierig war, mit Einheimischen zu reden. Und sie ja erstmal dieses Englisch lernen mussten. Der Familienname klang dort ungewohnt, wie ein wildes Wort. Also wurden sie zu Jankowskis, Janchuks und Janssons. Wie haben sie wohl beschlossen, in diese Ferne zu ziehen, die Jankowskis, Janowskis, Janchuks und Janssons? Mit welchem Geld, für welches Schiff kauften sie Fahrkarten? Der Gedanke macht mich unruhig. Warum hielt und hütete die Heimat sie nicht, warum zwang sie sie ans Ende der Welt für ein Stück Brot? Sie vertrieb sie wie Fremde, wie Dreck, wie Stroh. Dabei gehörten sie doch zu ihr. Es bringt mich um den Schlaf. Ich schalte einen amerikanischen Film ein, Edge of Tomorrow mit Tom Cruise, schaue, bis mir die Augen zufallen. Ich schalte ab, als die Protagonistin Cruise gerade befiehlt: „Du musst uns von diesem Strand wegbringen.“
Am Strand werden „unsere amerikanischen Landsleute“ von den außerirdischen Mimics angegriffen. Agile Giganten, halb Spinne, halb Krabbe, halb Oktopus, halb Affe, halb was weiß ich. Vielleicht Tyrannosaurier. Ich schlafe spät ein. Um drei Uhr nachts klingelt das Telefon. Nummer unbekannt, aber man weiß ja nie. Ich gehe ran – Krach, Geschrei, Rufe. Ich höre, ohne zu begreifen: „Hol uns raus!“ „Was?“ „Hol uns hier raus!“ Ich lege auf und stelle auf lautlos. Ich bin nicht Tom Cruise. Keine Retterin. Am Morgen sehe ich acht unbeantwortete Anrufe auf dem Display. Von verschiedenen nichtgespeicherten Nummern. Hätte ich sie doch retten sollen? Haben sie sich selbst vor den angreifenden Mimics gerettet? Die Hilferufe gehen mir nicht aus dem Kopf. Die unbekannte Stimme hallt in meinen Ohren nach.
Traum Nr. 3 Die nächste Postapokalypse beginnt mit einem lauten Geräusch aus dem Himmel. „Mu“, der zen-buddhistische Laut, alt wie die Welt. Aus dem Japanischen übersetzt bedeutet er „nichts“. Als sich im Traum aber am Himmel über dem Hauptplatz von Smarhon ein präzises Riesenloch bildete, war da der Kopf einer Kuh, die der ganzen Stadt „Mu“ zurief. Und es geht los. Der Kopf verschwindet. Durch das Loch, das in Sekundenschnelle größer wird, sinkt eine gewaltige fliegende Untertasse herab und schwebt über dem Hauptplatz. Heraus hagelt es gegnerische Soldaten in metallenen Raumanzügen. Die Gesichter verdeckt, die Absichten maximal feindlich. Die ganze Stadt zieht sich in den unterirdischen Gang zurück, der, wie sich herausstellt, schon immer unter dem Lenin-Denkmal ist, was aber keiner weiß. Ich, Heldin meiner eigenen Träume, achte darauf, dass niemand dem Massaker der erbarmungslosen Außerirdischen zum Opfer fällt. Erst als der letzte Bürger in den dunklen Schacht gestiegen und sein Rucksack außerhalb meiner Sichtweite ist, gehe auch ich. Über meinem Kopf ziehe ich den gusseisernen Deckel mit der Aufschrift „Smarhon“ zu. Die Aufschrift des Lukendeckels ist keine Erfindung der Autorin des Traums. In der Stadt gibt es tatsächlich eine Gießerei, die bis heute Kanaldeckel produziert. Wie schwarze Pfannkuchen lagen sie einst in der ganzen Sowjetunion verteilt. Ob es heute noch so ist, weiß ich nicht. Aber in unserer Stadt gibt es ein ganzes Meer davon.
Mama: „So was gab es bei uns nicht, sagte Dshan immer. Hochhäuser, schwarze Menschen. Ihm graute vor alldem. Als er wieder hier war, hat er sich einmal in Smarhon betrunken und ist in eine Pfütze gefallen. Da erschienen ihm plötzlich Wolkenkratzer aus der Pfütze und er sprach mit sich selbst auf Englisch.“
Die Nachfahren der Jantschukowitschs aus Massachusetts sehen schon aus wie Amerikaner. Man schickte mir Archivbilder der amerikanischen Perawoser. Ein junger hübscher Soldat mit weißer Schirmmütze und blauer Uniformjacke, der Enkel von Pjotr Jantschukowitsch aus Perawosy, ist ein Ebenbild von Tom Cruise. Dieselben grünen Augen, dichte Augenbrauen, kleiner klar umrissener Mund, große Nase. John Jansson. Hier würde er Iwan heißen. Selbst das Muttermal auf der linken Wange, genau in der Mitte, wie bei Cruise. Hätten die , die da „rausgeholt“ werden wollten, doch lieber Cruise angerufen und nicht mich. Im Film hat er immerhin die Welt von der monströsen Besatzung befreit, indem er sich in fantastischer Weise ins Gehirn des Wesens versetzte, das die Mimics steuerte. Ich dagegen konnte nicht mal im Traum meinem Vater helfen.
Traum Nr. 4 Das Zimmer, in dem Papa und ich wohnen, ist lang und schmal wie ein Korridor. An der Stirnseite gibt es ein großes Erkerfenster. Zum dritten Mal schon lebe ich im Traum hier, in einer Kommunalka. In der Nacht wache ich auf und begreife plötzlich, dass sie gleich hier sein werden, um uns zu holen. Die Nachbarin im Nachthemd hat schon zweimal mit besorgtem Gesicht hereingeschaut. Auch ohne dies ist klar, dass wir verloren sind. Die Angst wächst. Ich gehe zur Nachbarin in die Gemeinschaftsküche. Dort ist es wie im Mittelalter. Kupfergeschirr, ein rußgeschwärzter Kessel hängt über dem Feuer am Haken. Auf dem Holzboden liegen Kohlköpfe, Rüben und Zwiebeln herum. Und da kommen sie. Glatzköpfige Brüder in schweigender Reihe, alle in Schwarz. Über das Gemüse stolpern sie direkt zu Papa. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so furchtbar wäre. Ich weiß, dass sie ihn dort drin schlagen, aber es ist nichts zu hören. Dann führen sie ihn an uns vorbei aus der Wohnung. Ich halte die Augen geschlossen, um zu sehen, wie sie Papa zusammengeschlagen haben. Mit Beinen wie Watte gehe ich in unser Zimmer zurück. Nirgends ein Fleck Blut. Wahrscheinlich haben sie extra so geschlagen, dass man nichts sieht. Von Papa ist der Bambusstock geblieben. Mich schmerzt der Gedanke, wie Papa ohne ihn laufen wird. Dabei hat Papa im realen Leben den Stock gar nicht benutzt. Dann begreife ich, dass er jetzt keinen Stock mehr braucht, weil er nirgendwohin mehr gehen wird. Sie haben ihn weggebracht, um ihn zu töten. Auf dem Klavier liegt noch ein Spielzeug. Irgendwas Struppiges. Ich schaue genauer hin: es ist ein kleiner Löwe. Mein Vater hat mir sich selbst als Plüschtier hinterlassen, Löwe ist sein Sternbild. Ich verstehe nicht, warum sie mich nicht auch mitgenommen haben. Ich bin ihm doch so ähnlich. Wahrscheinlich lautet der Befehl, Mädchen nicht mitzunehmen. Vorläufig.
Aus den Dokumenten, die ich bekommen habe, geht hervor, dass nur eine einzige junge Frau aus Perawosy die Reise nach Amerika angetreten hat. Ältere Frauen gab es auch, sie fuhren mit ihren Männern. Aber diese 18-jährige Anna fuhr allein. „Marital status: Ledig (Single) Departure.“ So steht es auf dem Formular. Sie verließ das Dorf 1912. Auf der Pennsylvania fuhr sie von Hamburg nach New York. Ziel war natürlich Massachusetts. Wie bei allen. Zum Glück reiste sie über Deutschland und nicht über Großbritannien, wo 1912 die Titanic ihre erste und letzte Fahrt nach New York antrat. Ich habe mir den gleichnamigen Film von James Cameron extra noch einmal angeschaut, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen die einfachen Leute auf den billigsten Plätzen über den blauen Ozean ihrem himmelblauen Ziel entgegenfuhren. Es waren nicht die besten. Ich stelle mir vor, dass gut und gerne Leute aus Perawosy auf der Titanic gewesen sein könnten. Und hoffe, dass sie zu den Geretteten gehörten. Man müsste die Passagierliste der Titanic auftreiben. Plötzlich sind mir diese Menschen nicht mehr egal. Ich frage meine Mutter: „Wie ist Dshan gestorben?“
Mama: „Schlimm. Im Kolchos war ihm ein Auto gegen den Kopf gefahren. Die Dshanicha, also Julia, seine Frau, kümmerte sich nur leidlich um ihn. Gab ihm nichts zu trinken, damit er nicht auf den Topf musste, selbst gehen konnte er nicht mehr. Meine Eltern gingen mal zu Besuch und er bat um Wasser. Vater brachte welches, da flog die Dshanicha herbei und schimpfte ihn aus. Da hat sie von Vater aber was zu hören bekommen – und Dshan sein Wasser. Er war so klug, wohlerzogen und galant. Und wie er Maria mochte, meine mittlere Schwester, weil sie gerne mit ihm sprach. Über Englisch fragte sie ihn aus, aber er wusste nur noch wenig.“
Wie wohl Dshans Leben verlaufen wäre, wenn er nicht zurückgekehrt wäre und das Englische nicht vergessen hätte? Wie wäre es John Jansson ergangen, wäre er hier geboren? In Amerika wurde John, trotz – oder vielleicht wegen – seiner heldenhaften Erscheinung, nur 30 Jahre alt. Dem Todesjahr und der Kriegsuniform auf dem Foto zufolge könnte er im Bürgerkrieg in El Salvador gestorben sein. Der wohl furchtbarste Film über diesen Krieg ist Salvador von Oliver Stone. In der 10. Klasse habe ich ihn mit einer Freundin im Kino angeschaut. Wir sind beide wegen der grausamen Terrorszenen völlig ausgeflippt: die Willkür der Todesschwadronen, die die schutzlose, unbewaffnete Bevölkerung traktieren, wie es ihnen die wahnsinnige Phantasie ungebildeter Menschen mit unbegrenzter Macht souffliert. Man konnte schon getötet werden, wenn man bei der Ausweiskontrolle seinen Pass nicht dabeihatte. Seitdem trage ich meinen Pass immer bei mir. Und habe sogar ein Gedicht darüber geschrieben:
Ich habe immer meinen Pass dabei wer weiß
wer weiß ob jemand kommt und streng befiehlt:
„Dokumente her!“ Was zeige ich dann?
Nach diesem Film fing ich an, methodisch von Flucht zu träumen, von Festnahmen, Gefängniszellen, sogar einer Erschießung. Sie erschossen mich, aber ich starb nicht. An meinem Körper zeichneten sich nur ein paar Löcher ab, eingebrannt, wie beim Terminator, der auch ein Weltretter ist, wie Tom Cruise in Edge of Tomorrow, wie ich in meinem Traum vom Laut „Mu“. Die perfekte Clique.
Traum Nr. 5 Ich habe die Schlüssel zu den Hintertüren einiger Läden in der Stadt. Mit einer Freundin gehe ich nachts durch die leeren, hallenden Räume. Niemand da, wir mögen die Stille. Plötzlich eine Razzia. Die Polizei stürmt das Gebäude und direkt im Lager, zwischen Kisten, Fässern und Säcken, wird uns der Prozess gemacht. Gleich hier im Laden sollen wir in die Zelle gesteckt werden. Im Keller, hinter ein Holzgitter. Offenbar gibt es Ladengefängnisse. Sie verkünden das Urteil – 10 Jahre. Zusammen mit uns werden zwei Männer verurteilt. Sie protestieren, beginnen einen Kampf, dabei geht die Tür der größten Zelle zu Bruch. „Zum Teufel!“, schreit der Richter. Er wirft sich gegen die Tür, durch die schon die Häftlinge drängen. Schüsse fallen, mehrere Polizisten fallen tot um. Der Richter flüstert uns zu: „Seht ihr, jetzt achtet niemand auf euch.“ Und wir rennen weg. Doch ich lebe weiterhin in Angst. Um sie zu vertreiben, küsse ich im Hauseingang einen Fremden. In der Wohnung sind Gäste – da geht das schlecht. Uns wird klar, dass wir heiraten müssen. Er hat sich verliebt, ich habe ein pragmatisches Ziel. Es wird mich retten. Er ist rothaarig, unrasiert und fühlt sich heiß an. Krank scheint er nicht zu sein, es ist eher seine natürliche amerikanische Temperatur, er ist nämlich Amerikaner, spricht aber gut Russisch. Wir gehen in die Wohnung zurück, treten glücklich auf den Balkon, weil alles beschlossen ist. Wir schauen hinunter. Dort steht die Polizei. Das war’s, denke ich entsetzt, sie haben sich an unsere nächtlichen Streifzüge erinnert. Plötzlich tauchen aus der Dunkelheit weiße Figuren auf. Die roten Scheinwerfer lassen ihre schwarzen Augen wie Blutstropfen leuchten. Es sind Mumins. Es stellt sich heraus, in unserem Hof wird ein Film gedreht. Und die Polizei sichert das Set vor Passanten. Die Gefahr ist vorbei. Wir beschließen zu bleiben. Amerika kann warten.
Mama: „Dshan hatte aus Amerika eine Geige mitgebracht. Immer wenn im Dorf ein Fest war, kam er und spielte, aber erst nach der Hausarbeit. Seine Frau half ihm nie. Alle naselang rief sie: „Dshan! Bring mir die Strohmatte! Ich fall in Ohnmacht!“ Auf den Festen spielte Dshan mit seinen Söhnen, als sie herangewachsen waren. Ihr Ensemble nannten sie Dshandshyki. Wazik (Wazlau) spielte die Zimbel, Stach Klarinette und Ljonka-Streuner (weil er so zottelig war und sich nie kämmte) die Harmonika.“
Die Mundharmonika spielt auch meine Lieblingsfigur aus den Mumin-Geschichten, der Schnupferich, der immer einen alten Staubmantel trägt. Geschrieben hat die Geschichten die bekannte finnlandschwedische Schriftstellerin Tove Jansson. Ich habe fast einen Luftsprung gemacht, als mir auffiel, dass ihr Familienname eine der Varianten unseres Familiennamens ist. Ich fühlte mich Tove sofort verbunden. Ohnehin war sie mir schon lange unendlich nah, durch diesen einen Satz der Muminmutter:
„Die Muminmutter ist eine Mutter, die jedem immer alles erlaubt und niemandem je etwas verbietet.“
Lasst doch zusammen mit den Märchenfiguren die Staatsoberhäupter so denken – die Staatsoberhäupter der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die es nicht gibt. Die es nicht gibt, solange wir auf unserem eigenen Land Fremde sind. Verzeih, Augustinus, dass ich widerspreche.
1. Übersetzung ins Deutsche: Uli Aumüller, Rowohlt Verlag
Anfang September 2020 trafen sich Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, der sich mit der größten Krise seiner Amtszeit konfrontiert sah, in Sotschi. Dort sagte der russische Präsident seinem angeschlagenen belarussischen Kollegen die Unterstützung des Kreml zu, was durch einen Milliardenkredit untermauert wurde. Mit der Rückendeckung durch die russische Führung, die in drei weiteren Treffen manifestiert wurde, gingen die belarussischen Machthaber seit dem mit aller Gewalt gegen die Protestbewegung vor, gegen unabhängige Medien, gegen Kulturschaffende oder gegen die Zivilgesellschaft, um jeglichen Widerstand im Land zu ersticken. Der Repressionsapparat folgt bis heute konsequent seiner Linie, erst vor zwei Wochen wurde der unabhängige belarussische Journalistenverband BAJ von den Behörden liquidiert. Und Anfang dieser Woche wurde Maria Kolesnikowa, eine der führenden Oppositionsfiguren, zu elf Jahren Haft verurteilt. Viele Belarussen haben das Land im Zuge der Erstarkung des Machtapparates verlassen.
Am heutigen 9. September 2021 steht in Moskau das fünfte Treffen der beiden autokratischen Staatsführer seit dem Bündnisschluss am Schwarzen Meer vor einem Jahr an. Dort sollen Medienberichten zufolge unter anderem auch weitere Integrationspläne zwischen Belarus und Russland besprochen werden. Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in seinem Stück für das belarussische Medium Naviny.by, welche Strategien der Kreml in Bezug auf Lukaschenko, der kürzlich Geburtstag hatte, und Belarus verfolgen könnte.
Vor einem Jahr musste Alexander Lukaschenko seinen Geburtstag in kugelsicherer Weste und mit Kalaschnikow in der Hand feiern. Die protestierenden Belarussen brachten beleidigende „Geschenke“ zum Präsidentenpalast (z. B. einen Spielzeughubschrauber mit der Aufschrift „Nach Den Haag“) und riefen wenig schmeichelhafte Wünsche. Und obwohl niemand den Palast zu stürmen gedachte, fühlte es sich für die Führungsriege doch recht ungemütlich an. Dass das Regime in jenen Augusttagen standhielt, verdankt es in großem Maße der Unterstützung des Kreml.
Heute, ein Jahr später, fühlt sich der Führer des Regimes ungleich selbstbewusster. Und Wladimir Putin, der im August 2020 Vertreter der Streitkräfte für den Unterstützungsfall an der belarussischen Grenze zusammengezogen hatte, versicherte in seinem Geburtstagsgruß an Lukaschenko: „Die belarussischen Freunde können immer auf die Unterstützung Russlands zählen.“
Doch wer sind denn Putins Freunde?
Stellt sich die Frage, wer eigentlich zu Putins Freunden gehört. Sicher nicht Swetlana Tichanowskaja oder gar Viktor Babariko (wobei dieser politische Feind Lukaschenkos, der zu 14 Jahren Strafkolonie verurteilt wurde, eine Bank mit Gazprom-Kapital leitete).
Noch im August letzten Jahres ließ Putin verlauten, dass keine in der Verfassung nicht vorgesehenen Organe gegründet werden dürften, vermutlich mit Blick auf den auf Tichanowskajas Initiative hin entstandenen Koordinierungsrat. Im Großen und Ganzen hat Moskau der belarussischen Opposition noch nie vertraut – weder der alten, noch der neuen.
Grundsätzlich hat sich Putin damals klar hinter Lukaschenko gestellt und erklärt, dass es Einflussversuche von außen auf die Prozesse in Belarus gäbe (sprich: westliche Puppenspieler). Damit unterstützte er letztlich die Interpretation der Ereignisse, die die belarussischen Machthaber und ihre Propaganda vertraten.
Putin und Lukaschenko hatten nicht nur einmal Meinungsverschiedenheiten (und sie werden sie wohl auch in Zukunft haben), doch in diesem kritischen Moment überwog die Klassensolidarität. Für den russischen Präsidenten war das Wichtigste, dass der autoritäre Amtsbruder im Nachbarland (das zudem noch als Aufmarschgebiet von Bedeutung gilt) nicht von der aufbegehrenden Straße gestürzt wird. Zumal dies ein schlechter Präzedenzfall wäre, dessen Beispiel die Russen anstecken könnten.
Die Oberhäupter beider Regime fürchten das politische Erwachen des Volkes, wenn es in Massen den Wunsch zum Ausdruck bringt – um mit Janka Kupala zu sprechen – „sich Menschen zu nennen“.
Gab es einen Putin-Patruschew-Plan?
Man sollte nicht vergessen, dass zu Beginn der belarussischen innenpolitischen Krise Putin und andere Moskauer Politiker sofort die Bedeutung von Verfassungsreformen und dem gesellschaftlichen Dialog bekräftigten.
Einige Kommentatoren sprachen damals von einem Putin-Patruschew-Plan (Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, war angeblich nach Minsk geflogen, um Lukaschenko mit dem Plan vertraut zu machen.)
Dieser Version zufolge bestand Moskau auf einem sanften Machttransit in Belarus im Anschluss an eine Verfassungsreform. Einfacher gesagt, Lukaschenko sollte abgelöst werden, indem er nicht bei vorgezogenen Neuwahlen antritt, sondern durch einen beliebteren Kandidaten ersetzt wird, der dem Kreml zusagt und dem Westen nicht aufstößt. Zusätzlich sollte zu einer parlamentarisch-präsidentiellen Regierungsform übergegangen, politische Gefangene befreit und ein Dialog mit den Gegnern, inklusive Tichanowskaja, geführt werden.
Wir wissen nicht, ob es diesen Plan tatsächlich gegeben hat. Doch wenn es ihn gab, so liegt er heute schon in Schutt und Asche. Lukaschenko wird keinen Dialog mit politischen Gegnern führen. Sie kommen hinter Gitter, werden in die Emigration gedrängt, als Terroristen und Faschisten dargestellt. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind unters Messer gekommen, unabhängige Medien werden mit Napalm weggeätzt. Der Führer des Regimes hat entschieden, die Situation mit Gewalt und Verbreitung totaler Angst zu zementieren.
Die neue Verfassung wird voraussichtlich keine Voraussetzungen für eine Demokratisierung des Landes schaffen. Ganz im Gegenteil, sie sieht sogar ein Organ mit Sonderstatus vor, das als zusätzliche Absicherung der gegenwärtigen Machtriege vor unerwünschten Veränderungen dient: die Allbelarussische Volksversammlung.
Auch eine Freilassung der politischen Gefangenen ist derzeit nicht in Sicht. Zwar wird ab und zu jemand aus der Haft entlassen. Doch erstens kann nicht von voller Freiheit gesprochen werden (der ehemalige Diplomat Igor Leschtschenja teilte mit, dass er weiterhin als Verdächtigter in einem Strafverfahren gilt und ist damit kein Einzelfall). Zweitens werden vornehmlich jene freigelassen, die Gnadengesuche geschrieben haben oder auferlegte Geldstrafen beglichen haben (wie im Fall des Press Club Belarus).
Die Behörden spielen also mit den politischen Häftlingen Katz und Maus. Ein Schuldeingeständnis, dass die Menschen unschuldig gelitten haben, die Freilassung aller oder gar die Bestrafung ihrer Peiniger kommt für das Regime nicht in Frage.
Absolut nichts äußert Lukaschenko über Termine für Neuwahlen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er darauf zählt, bis zum Ende der Amtszeit – also 2025 – auf seinem Thron zu bleiben.
Lukaschenko tut, was Moskau dient
Seit August 2020 kam unter Politologen die Mode auf, Lukaschenko als zu „toxisch“ für den Kreml zu bezeichnen. Sind denn Baschar al-Assad oder Nicolas Maduro nicht toxisch? Moskau unterstützt bereitwillig die fragwürdigsten Machthaber auf der ganzen Welt, besonders, wenn es dabei Washington eins auswischen kann.
Ja, vermutlich hätte der Kreml im Idealfall nichts dagegen, Lukaschenko mit einer eigenen Kreatur zu ersetzen, einem weniger schwierigen und skandalösen Menschen.
Doch das ist nicht so einfach, solange Lukaschenko kein Interesse hat abzutreten. Und im Moment hat er ein starkes Gegenargument: Die Proteste sind niedergeschlagen, die Gewalt wirkt, er ist wieder Herr der Lage. Kein Grund also, die Pferde scheu zu machen und das System zu zerschlagen.
Schließlich spielt Moskau in die Hände, dass Lukaschenko selbst Belarus in noch größere Abhängigkeit von Russland treibt. Er setzt die Konfrontation mit dem Westen fort und nimmt sich so die Möglichkeit, zwischen den Machtzentren zu manövrieren, wie das vormals der Fall war. Minsk drohen neue Sanktionen, die den Bedarf der belarussischen Wirtschaft an russischer Unterstützung verschärfen. Die Zerstörung einer nationalbewussten Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien erleichtert es dem Kreml zudem, seine Großmachtsbestrebungen in Richtung Belarus zu expandieren.
In Moskau erkennt man vermutlich, dass es einen so antiwestlichen Führer mit solcher Leidenschaft für die Unterdrückung der nationalen Idee in Belarus so bald nicht mehr geben wird.
Des Weiteren hat die belarussische Führung angestrebt, das Neutralitätsgebot aus der Verfassung zu streichen und mit dem Leitsatz der kollektiven Verteidigung (also dem militärischen Bündnis mit Russland) zu ersetzen.
Wichtig ist zudem, dass Lukaschenko faktisch bereits zugesagt hat, bis Jahresende ein Paket von Bündnisprogrammen zu unterzeichnen – diese Road Maps zur Vertiefung der Integration hatte er im Dezember 2019 noch abgelehnt. Ende August wurde bekanntgegeben, dass bei dem für den 9. September angesetzten Treffen zwischen Lukaschenko und Putin in Moskau die Bündnispläne zu den zentralen Punkten auf der Agenda gehören werden.
Der belarussische Führer sträubt sich mittlerweile also weniger, und tut, was dem Kreml dient. Warum sollte man sich also damit beeilen, ihn abzusetzen? Zumal jeder Machtwechsel, vor allem in einem so überausgeprägt personalistischen Regime, auch ein Risiko birgt.
Der Kreml treibt seine Interessen voran
All das heißt natürlich nicht, dass im Verhältnis zwischen Lukaschenko und Putin Idylle herrscht. Das belarussische Regime braucht Geld und erschwingliche Rohstoffpreise, Moskau zeichnet sich nicht durch besondere Großzügigkeit aus.
Lukaschenko gab kürzlich zu, dass die Frage des Gaspreises im Rahmen der Abstimmung des Unionsprogramms weiter für Diskussion sorge. Den durch das eigene Steuermanöver verursachten Anstieg des Ölpreises ist Russland gegenüber Minsk nur bereit, in Form von Krediten auszugleichen, nicht durch Abstandszahlungen, wie die belarussische Seite es wünscht.
Geheimnisvoll bleiben die stundenlangen bilateralen Gespräche zwischen Putin und Lukaschenko. Unwahrscheinlich, dass sie verbissen um den Gaspreis streiten. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml doch die Idee einer gewissen Modernisierung des belarussischen politischen Systems in Gang bringen möchte, um mit einem weniger selbstherrlichen Präsidenten und mehr Machtverteilung zwischen einzelnen Organen die Möglichkeit zu haben, prorussische Parteien zu installieren und so in Parlament und Regierung mitspielen zu können.
Interessant wird sein, ob Lukaschenko vor seinem Besuch bei Putin einen eigenen Vorschlag für die Verfassungsänderung vorstellen wird (ein Entwurf soll am 1. September auf seinem Schreibtisch liegen). Wenn er sich weiter bedeckt hält und Zeit schindet, deutet das mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass mit dem Kreml noch bei Weitem nicht alles abgestimmt ist.
Auf jeden Fall versteht man in Moskau, dass Lukaschenko nicht ewig ist und steckt die eigenen Positionen in Belarus mit Weitblick ab, um auch in Zukunft die eigenen Interessen gesichert zu wissen. Und für diese Aufgabe benötigt Moskau Lukaschenko noch.
Dabei scheint der Kreml aber nicht gewillt, den aktuellen Präsidenten um jeden Preis und in kürzester Zeit loszuwerden. Ebenso offensichtlich ist, dass Putin keine tatsächliche Demokratisierung von Belarus gebrauchen kann.
Gleichwohl kann man kaum von echtem Vertrauen zwischen Putin und Lukaschenko sprechen. Letzterer versteht sehr gut, dass der Familienname des Herrschers von Belarus für den Kreml nicht von Belang ist – die Hauptsache ist die Kontrolle über dieses strategisch wichtige Territorium. Und deshalb kann irgendwann der Moment kommen, in dem auf einen anderen Spieler gesetzt wird.
Auch Künstler, Musiker, Schriftsteller oder Kulturmanager sind seit dem 9. August 2020 Ziel staatlicher Repressionen in Belarus. Bei den sogenannten Hinterhofkonzerten im Herbst 2020 wurden dutzende Musiker festgenommen. Uladzimir Liankevich, der ehemalige Frontmann der Band TonqiXod, landete sogar zweimal im Gefängnis. Auch überprüfen staatliche Stellen aktuell, ob der Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevich als „extremistisch“ eingestuft und damit verboten wird. Zum Jahrestag des Beginns der Proteste haben bekannte Vertreter und Vertreterinnen dieser alternativen Kultur in einem dekoder-Special von der Erschütterung erzählt, die Belarus mit der Eskalation der Gewalt erfahren hat. In einer Erhebung stellt der unabhängige Schriftstellerverband Belarussisches Pen-Zentrum, der wie über 100 NGOs von den Behörden liqudiert wurde, 621 Fälle fest, bei denen die Rechte von Kulturschaffenden verletzt wurden – und zwar allein für das Jahr 2021. Ist das ein Zeichen dafür, wie machtvoll die neue Kultur tatsächlich ist?
Warum es die belarussischen Machthaber auf die sogenannte alternative Kultur abgesehen haben und was die aktuellen Entwicklungen für die Kulturszene bedeuten, analysiert der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Medienanalytiker Maxim Shbankou in einem Beitrag für das belarussische Medium Belorusy i rynok.
Störung des Wertegleichgewichts
Es ist kein Geheimnis, dass bei uns – schon seit langer Zeit – nicht nur die eine Kultur existiert, sondern kulturelle Strömungen unterschiedlicher Qualität, Ausrichtung, ideeller Basis und Prinzipien. Wenn wir über die staatliche Kultur sprechen, so ist das stets, und in letzter Zeit verstärkt, eine Kultur der Loyalität, eine patriotismusgeleitete Kultur. Ihr zentrales Ziel war nicht die Entwicklung oder Suche nach neuen Formen, sondern vielmehr die Aufrechterhaltung quasisowjetischer Traditionen. Es ist also eine Kultur, und das sage ich auf Russisch, des „Bestandsschutzes“. Die auf staatlicher Ebene oft beschworene Stabilität wird im Kulturbereich durch eben diese Einförmigkeit sichergestellt, durch die Erziehung zu Staatsloyalität und zur Einsicht, dass Staat und Gesellschaft praktisch eins sind und all das geschützt werden muss, da das unser Schicksal ist, unser Land und so weiter und so fort.
Auf der anderen Seite entwickelte sich auf der Ebene der, sagen wir, nichtstaatlichen oder alternativen Kultur viel Interessanteres und Komplexeres. Dort gab es kreatives Suchen, Experimente, Versuche, neue Beziehungen zur Vergangenheit herzustellen, zu kulturellen Traditionen, zum globalen Kontext – als nichtlineare Entwicklung. Die staatliche Kultur war stets einer konventionellen ideologischen Linie unterworfen (da unser System aber nie eine eigene Ideologie hatte und sie auch jetzt nicht hat, gibt es lediglich sekundäre, aus der Sowjetzeit entliehene Prioritäten und Werte). Die andere Kultur hingegen zeichnete sich gerade durch ihre Vielfältigkeit aus, durch Buntheit, Patchwork, Mosaik, eine viel breiter gefasste und interessantere schöpferische Bandbreite – und selbstverständlich auch durch den Charakter aller am Prozess Beteiligten und natürlich die Ergebnisse. Ich kann mit vollem Ernst und Verantwortungsgefühl sagen, dass die wertvollsten und interessantesten Ereignisse im Kulturbetrieb der vergangenen 20 Jahre in der freien, nichtstaatlichen Sphäre verortet sind, in einer Kultur, die nicht auf das Züchten von Loyalität, sondern, im Gegenteil, auf die Herausbildung einer gewissen kulturellen Freiheit abzielt, und dabei die unterschiedlichsten kulturellen Strömungen und Traditionen umfasst.
Die politische Krise, in die wir im Sommer des vergangenen Jahres geraten sind, offenbarte die Stärke der unabhängigen Kultur, denn eben da begann ein sehr kraftvoller, explosiver kultureller Aktivismus, es entstanden unzählige neue visuelle Arbeiten, eine neue Street Art, eine neue literarische samt poetischer Lexik, neue musikalische Werke und vieles mehr. Es gab viele spontane Reaktionen auf die Situation, die eine für die stagnierende staatliche Kultur ungewöhnliche und komplett andere Dimension unserer Kunst bedeuteten. Es ist klar, dass in der Situation der politischen Konfrontation, in der der Staat sehr gewaltsam und energisch sein Recht zur Lenkung der Bevölkerung verteidigt, die kreative, „andere“ Kultur natürlicherweise zu einer Kultur des Dissens wird, einer Kultur der Unruhe, einer Kultur des intellektuellen Nonkonformismus und ideologischen Widerstandes. Und ebenso klar ist, dass eine solche Kultur des Dissens, eine Schule des freien Denkens und der unabhängigen Realitätsdeutung – in diesem Moment, meines Erachtens vollkommen angebracht, vom Staat als Problemquelle angesehen wird.
Wobei sich die staatliche Kultur in dieser Situation zusehends selbst eliminierte. Gefragt waren starke Slogans und frische Ideen, doch die staatliche Kultur vermochte nur eine Sammlung vermoderter Schablonen und banaler Verweise auf sowjetische Heldensprüche hervorzubringen. Das System der staatlichen Kulturindustrie stand also völlig hilflos vor den Herausforderungen einer neuen Epoche. Und diese Selbsteliminierung parallel zur Kulturrevolution, die meiner Ansicht nach im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres stattfand, führten in der Summe zu einer Störung des Wertegleichgewichts. Oder dem, was die Machthaber für ein Wertegleichgewicht hielten.
Es zeigte sich, dass die ideologisch stabile Propaganda die Energie des Dissens, die zu jener Zeit im Umfeld der unabhängigen Kultur ausbrach, nicht blockieren konnte. Das Gefühl der Bedrohung, das mit der massenhaften Veränderung der grundlegenden Weltanschauung einherging, als ein beträchtlicher Teil der Nation plötzlich auf einer anderen Welle unterwegs war, führte daher tatsächlich zu einem Krieg der Kulturen, zu einer Konfrontation mit einer für den Staat völlig unverständlichen, feindlichen und verstörenden Sicht auf die Dinge.
Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld
Doch für einen Krieg der Kulturen braucht es einen angemessenen Gegner. In unserer Situation stand auf Seiten der offiziellen Kultur eine glatte Null: ein absolutes Kreativitätsdefizit, absolut unflexibles Schablonendenken und das Fehlen von energischen, markanten und überzeugenden Ausdrucksformen. Demgegenüber stand diese Kulturexplosion, die als ideologische Herausforderung, weltanschauliche Sabotage verstanden wurde. Aus ideologischer Konfrontation wurde Gewalt. Wenn ein Künstler nicht nur als Künstler, sondern auch als ideeller Gegner begriffen wird, wenn ein Musiker, ein Journalist oder wer auch immer aus dem kreativen Bereich nicht nur als anders, sondern als Feind aufgefasst wird, greifen plötzlich grundlegende Prinzipien des Selbstschutzes: Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld. Andere Mittel als die der Repression haben die Machthaber nicht gefunden. Das Standardvorgehen des bürokratischen Apparates wurde in Gang gesetzt: „Wer ist der Anstifter? Wer hat das genehmigt? Wer hat das losgetreten?“ Ein bürokratisches System, das ausschließlich auf Befehlen und Direktiven beruht, kann sich nicht vorstellen, dass die Gesellschaft in der Lage ist, eigenständig etwas umzusetzen. Der Dissens muss stets einen Regisseur haben, der Dissens braucht immer einen Strippenzieher. Und wen kann man am einfachsten als Strippenzieher abstempeln? Klare Sache: diejenigen, die herausstechen, diejenigen, die laut schreien, diejenigen, die sichtbare und markante künstlerische Zeichen setzen.
Trauer über die Ausreisewelle? Das wäre falsch
Was die Frage der Emigration der Kulturschaffenden angeht, ob sie nun temporär ist oder nicht, so sei vorangestellt, dass jeder Mensch ein Recht auf die eigene Unversehrtheit hat. Jeder Mensch hat das Recht, sich und seine Nächsten zu schützen und zu verteidigen. Daher werde ich nie etwas Schlechtes über diejenigen sagen, die das Land verlassen. Der Mensch hat das Recht auf freie Entscheidung, Mobilität und Selbstschutz.
Zweitens scheint mir, dass unsere Überlegungen darüber, dass jemand das Land verlassen und uns hier im Stich gelassen hat, dass wir hier zurückbleiben und sie nicht bei uns sind und so weiter, auf Vorstellungen aus dem vorvergangenen Jahrhundert beruhen. Denn damals war es ein unglaublicher Verlust, wenn ein Mensch nicht mehr an deiner Seite war, da es nur minimale Möglichkeiten des Kontakts, geschweige denn der ideellen oder ästhetischen Kommunikation gab. Damals hatte eine Änderung deines geografischen Aufenthaltsortes mitunter tragische Folgen. Wie für so viele im Emigrantenmilieu kam ein Verlassen der Heimat faktisch einer Lebenskatastrophe, einem existenziellen Debakel gleich.
Heute bewegen wir uns jedoch in einem offenen, globalen Informationsraum. Heute ist die digitale Anwesenheit bedeutender und stärker als die physische Anwesenheit in einem konkreten Raum, vor allem im Bereich der Kultur. Darüber hinaus kann die physische Abwesenheit in einem Territorium der Gefahr und der zeitweise katastrophalen Ereignisse für Kulturschaffende durchaus zuträglich sein. Distanz schafft Reflexionsräume. Wenn du im Zentrum der Ereignisse stehst, bist du eine Geisel deiner Emotionen, eine Geisel der Gefühle. Um all das aber in Text, Musik, Bild, Film oder Ähnlichem abzubilden, braucht es eine gewisse Distanz. Deshalb können diese Distanzen und Grenzen dem kreativen Ausdruck seltsamerweise doch zum Vorteil gereichen.
Von allen Politikern, die im Zuge von Gorbatschows Perestroika und dem Zerfall der Sowjetunion ins öffentliche Leben von Belarus traten, ist Sjanon Pasnjak zweifellos die schillerndste Figur.
Nach der Krise und dem Zusammenbruch des totalitären kommunistischen Systems entstand die Nachfrage nach einem neuen, in der Sowjetunion bis dahin unbekannten Beruf: dem des öffentlichen Politikers. Pasnjak wurde dieser Nachfrage in vollem Umfang gerecht. Als kompromissloser Kämpfer für ein unabhängiges Belarus ist er in die Geschichte eingegangen. Wer ist dieser radikale Politiker? Was hat ihn geprägt? Welche Rolle spielt er im heutigen Belarus?
Sjanon Pasnjak wurde 1944 in einer katholischen Familie im Gebiet Hrodna geboren. Sein Großvater, Jan Pasnjak, war einer der Anführer der christlich-demokratischen Bewegung in West-Belarus, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte. Pasnjaks Vater fiel im Zweiten Weltkrieg.
Bereits in jungen Jahren tat sich Pasnjak als Dissident hervor. Hier setzte sich offenbar die Familientradition des Großvaters fort, die der nationalen Wiedergeburt eine große Bedeutung beimaß und damit im Widerspruch zur offiziellen sowjetischen Politik der Verschmelzung aller Nationen um das russische Volk stand. Nach dem Schulabschluss studierte Pasnjak an der Minsker Hochschule für Theater und Kunst, von der er zwei Mal aufgrund „politischer Unzuverlässigkeit“ ausgeschlossen wurde. Er arbeitete als Fotograf und Archäologe, promovierte trotz allem in Kunstgeschichte. Nebenbei gab er Texte im Samisdat heraus. Seit den 1960er Jahren setzte er sich aktiv für den Erhalt der historischen Bausubstanz in Minsk ein, dessen Altstadt von der Sowjetmacht Stück für Stück zerstört wurde.
Der Erneuerer der belarussischen Nationalbewegung
Pasnjaks Sternstunde kam mit Gorbatschows Perestroika. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sein Name zum ersten Mal bekannt, als er am 3. Juni 1988 in der Zeitschrift Litaratura i mastaztwa [dt. Literatur und Kunst] den Artikel Kurapaty – Daroha smerci [dt. Kurapaty – Straße des Todes] veröffentlichte, in dem es um die Erschießung tausender Bürger in einem Minsker Vorort während der Stalinära ging.
Zur Zeit der Perestroika war die Enthüllung der stalinistischen Verbrechen zur ideologischen Grundlage für die Diskreditierung des sowjetischen Systems überhaupt geworden. Die Befürworter von demokratischen Reformen nutzten die Tatbestände aktiv, um die Notwendigkeit eines Wandels zu begründen. Pasnjak verstand, dass seine Zeit gekommen war und es eine reelle Chance gab, seine Ideen in die Praxis umzusetzen. Also trat er aktiv in den politischen Kampf ein. Er wurde zu einem der Organisatoren der Belarussischen Volksfront (BNF), der wichtigsten Oppositionskraft in Belarus Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre. Gorbatschows Perestroika eröffnete die Möglichkeit, verhältnismäßig freie Wahlen durchzuführen. Die Unionsrepubliken der UdSSR erhielten mehr und mehr Souveränität. Die reale Macht ging auf die Parlamente der Republiken über, die Obersten Sowjets. 1990 fanden in Belarus die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet der BSSR statt, erstmals unter den neuen Bedingungen. Die BNF konnte mit rund 30 Abgeordneten ins Parlament einziehen, darunter auch Pasnjak, der in seinem Wahlkreis in Minsk gesiegt hatte. Er übernahm den Vorsitz der Oppositionsfraktion der BNF im Obersten Sowjet der BSSR. Die Fraktion setzte sich nicht nur für die rasche Umsetzung demokratischer Reformen ein, sondern auch für den Austritt aus der Sowjetunion und damit für die vollkommene Unabhängigkeit von Belarus.
Im Rahmen der von Michail Gorbatschow ausgerufenen Politik der Glasnost wurden damals die Parlamentsdebatten live im Fernsehen übertragen, wodurch Pasnjaks Name in Belarus weite Bekanntheit erlangte. Mehrere Jahre lang war er der unbestrittene Führer der Opposition, Symbol der antikommunistischen Bewegung und der nationalen Wiedergeburt.
Unter den Bedingungen der akuten politischen Krise und der Ratlosigkeit der kommunistischen Nomenklatura, die Belarus regierte, konnte die kleine Fraktion der BNF die Tagesordnung im Obersten Sowjet bestimmen und initiierte immer neue Schritte in Richtung Demokratisierung der Republik und der Unabhängigkeit von der UdSSR. Die Rolle der BNF und Pasnjaks bei der Demontage des totalitären Systems und der Proklamierung der belarussischen Souveränität kann nicht hoch genug bewertet werden. Als begabter Redner und Publizist erschuf er sich ein Image des kompromisslosen Kämpfers für ein unabhängiges Belarus. Er formulierte das Konzept des belarussischen Nationalismus und der belarussischen Staatlichkeit. Der bekannte belarussische Schriftsteller Wassil Bykau sagte auf dem 3. Parteitag der BNF: „Die Nation kann sich glücklich schätzen, dass Gott ihr Sjanon Stanislawowitsch Pasnjak als Anführer gesandt hat.“
Nach dem Zerfall der UdSSR und der Ausrufung der Unabhängigkeit von Belarus blieb die Macht in den Händen der alten Nomenklatura. Die BNF blieb in der Opposition. Wie alle neu entstandenen Staaten im postsowjetischen Raum steckte auch Belarus in einer tiefen sozialen Krise. Unter diesem Vorzeichen fanden 1994 die Präsidentschaftswahlen statt. Sechs Personen kandidierten damals für das Amt des Präsidenten, darunter auch Sjanon Pasnjak. Er erhielt 12,82 Prozent der Stimmen. Die Wahl gewann Alexander Lukaschenko.
Im Kampf gegen die Rückkehr der Diktatur
Nach seinem Amtsantritt begann Lukaschenko, die demokratischen Institutionen, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems geschaffen worden waren, wieder zu demontieren und den Übergang zur Diktatur, dem Regime der persönlichen Macht, zu vollziehen. Am 11. April 1995 trat Sjanon Pasnjak gemeinsam mit 18 weiteren Abgeordneten der oppositionellen BNF in den Hungerstreik, um gegen das von Lukaschenko initiierte Referendum zu protestieren, das die Wiedereinführung des Russischen als zweite Staatssprache und die Wiederkehr der sowjetischen Staatssymbolik vorsah. Die Protestierenden sahen darin einen Gesetzesbruch und blieben nach Ende des Arbeitstages im Parlamentsgebäude. Nachts kamen Spezialeinheiten der Miliz und Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten ins Gebäude. Sie schlugen die Abgeordneten und zerrten sie mit Gewalt hinaus. Dabei versuchten sie, Pasnjak die Augen auszustechen, traten ihm vor die Brust und schlugen seinen Kopf gegen die Wand. So erfuhren die Abgeordneten der Opposition am eigenen Leibe, wie die Diktatur Form annahm.
1995 fanden die Wahlen zum 13. Obersten Sowjet statt. Kein einziger Abgeordneter der BNF schaffte es ins Parlament. Obwohl Pasnjak in seinem Wahlkreis 47 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, während sein Gegner 40 Prozent holte und 13 Prozent gegen beide Kandidaten stimmten. Nach dem Gesetz ist derjenige gewählt, der mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält. Später stellte sich heraus, dass die Wahlergebnisse gefälscht wurden, wie die Zentrale Wahlkommission auch zugab. Dass eine so große Zahl von Wählern gegen beide Kandidaten stimmte, war zu auffällig. Normalerweise stimmen ein bis zwei Prozent gegen beide Kandidaten. Der Einzug von Pasnjak in den Sowjet sollte also verhindert werden.
Nachdem sie den Rückhalt im Parlament verloren hatte, rief die BNF das Volk zu Protestaktionen auf den Straßen auf. Pasnjak war einer der Hauptorganisatoren dieser Proteste. Der Frühling 1996 wurde sehr turbulent, es gab ernsthafte Zusammenstöße zwischen den Demonstranten und der Miliz. Eine ernste politische Krise zeichnete sich ab, die von Lukaschenkos Bestrebungen, ein autoritäres Regime zu errichten, nur noch verschärft wurde. Er fürchtete die organisierte politische Kraft, die die BNF damals darstellte, und ihren beliebten charismatischen Anführer. Lukaschenkos Antwort darauf waren politische Repressionen.
Pasnjak sollte für die Organisation „gesetzwidriger“ Kundgebungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Um einer Verhaftung zu entgehen, musste Pasnjak im Frühjahr 1996 Belarus verlassen und erhielt schließlich gemeinsam mit seinem Oppositionskollegen Sjarhei Nawumtschyk politisches Asyl in den USA. Es war das erste Mal seit dem Zerfall der UdSSR, dass Staatsangehörige aus dem postsowjetischen Raum diesen Status aus politischen Gründen erhielten. Seitdem lebt Sjanon Pasnjak im Exil.
Insgesamt bedeuteten die Präsidentschaftswahlen 1994 und die Parlamentswahlen 1995 eine schwere Niederlage für die Belarussische Volksfront. Die belarussische Gesellschaft der 1990er Jahre war nicht bereit, die Ideologie des ethnokulturellen Nationalismus anzunehmen, den die BNF vertrat, sondern hing nostalgisch der Sowjetzeit nach. Parallel dazu hatten einige Besonderheiten in Pasnjaks Charakter – als Mensch wie als Politiker – eine negative Rolle gespielt. Der Vorsitzende der BNF war ein klassischer Idealist, ein Ideenfanatiker, ein Prophet, aber kein pragmatischer Politiker. Er war eher zum Vorsteher einer orthodoxen religiösen Sekte geeignet als zum Anführer einer politischen Partei. Der Glaube an die eigene Messiasrolle und Unfehlbarkeit, die Nichtakzeptanz von Andersdenkenden, das Kategorische gegenüber seinen Opponenten stießen viele Menschen ab. Alle, die nicht seiner Meinung waren, betrachtete Pasnjak als Agenten des belarussischen KGB oder des russischen FSB. Seine Unfähigkeit zu Kompromissen verhinderte die Bildung breiter Allianzen.
Charakteristisch für Pasnjaks Ideologie ist die Fetischisierung, die Absolutsetzung der nationalen Idee, ihre Erhebung zum Kult. Er stellt eine direkte Verbindung zwischen der belarussischen Wiedergeburt und dem Grad der gesellschaftlichen Moral her („Wo man Belarussisch spricht, gibt es keine Halunken“1). Pasnjak ist zudem für seine schroff ablehnende Haltung gegenüber Russland bekannt. 1994 schrieb er seinen bekannten ArtikelÜber den russischen Imperialismus und seine Gefahren, in dem er Russland als das absolut Böse zeichnete. Seiner Meinung nach gingen alle Nöte und Leiden von Belarus, vom Bolschewismus bis zur Inflation [der 1990er Jahre – Anm. dek], von der Russischen Föderation aus. Pasnjak zufolge habe der „verkommene, zerstörerische imperiale Osten“ negative Eigenschaften wie „Rüpelei, Unzucht, Sauferei, russische Fäkalsprache, Faulheit, Hass und Lüge“2 nach Belarus gebracht. In seiner Charakterisierung der russischen Politik als der eines „feindlichen Staates, der sich im Kriegszustand mit Belarus befindet“, nahm Pasnjak kein Blatt vor den Mund und bezeichnete Russland als „blutige Bestie“3. Weil jedoch in Belarus prorussische Einstellungen überwogen, wurde eine derart harte antirussische Position von der Mehrheit der Belarussen schlecht aufgenommen.
Der radikale Oppositionelle im Exil
Aber Pasnjak war nicht nur Russland gegenüber negativ eingestellt, sondern auch dem Westen und seinen Werten gegenüber, vor allem dem Liberalismus. Er lehnte das Prinzip des Vorrangs der Menschenrechte vor den Rechten der Nation ab und vertrat die Meinung, das habe den westlichen Staaten geschadet. Sein radikaler Konservatismus erlaubte auch keine Toleranz gegenüber der LGBT-Bewegung. „In einer normalen, zivilisierten Gesellschaft kann und wird es keine Erotik geben“, konstatierte Pasnjak. Im belarussischen patriarchal geprägten Dorf habe sich der Mann nachts mit der Frau „mit der natürlichen Fortführung des Menschengeschlechts beschäftigt, ohne irgendwelche Erotik“, all das sei „Teufelszeug“.4 Auch in der Außenpolitik der USA und der EU-Staaten erkannte er eigennützige Motive. Er sah eine „Ruchlosigkeit der Politik, wie im Osten, so auch im Westen“5 gegenüber Belarus. Konfrontiert mit der Ablehnung seiner Ansichten in der Gesellschaft, bezeichnete Pasnjak die Belarussen schließlich selbst als „ein krankes Volk“6.
Den größten Teil seiner Zeit im Exil verbrachte Pasnjak in Polen. Nach seiner Ausreise schrumpfte sein politischer Einfluss sehr schnell. Lediglich in einer kleinen Gruppe von Unterstützern konnte er seine Popularität aufrechterhalten. Die vielen politischen Niederlagen und die Emigration ihres Vorsitzenden riefen in der BNF eine Krise hervor. 1999 kam es zur Spaltung der Partei. Pasnjak wurde von seinen früheren Mitstreitern Autoritarismus vorgeworfen. Gemeinsam mit einem Teil der BNF-Mitglieder gründete er die Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF) und übernahm deren Vorsitz.
In den vergangenen 20 Jahren boykottierten Pasnjak und seine Partei so gut wie alle Wahlen, die in Belarus stattfanden. Die KChP-BNF lehnte jegliche Bündnisse und Koalitionen ab. Pasnjaks Treffen mit europäischen Politikern reduzierten sich auf ein Minimum. Man kann von einer Selbstisolation der Partei und ihres Vorsitzenden sprechen. Pasnjaks gesamte politische Tätigkeit im Exil bestand im Grunde aus Artikeln, Erklärungen und Kommentaren auf der Internetseite der Partei. Er erinnerte mehr an einen politischen Beobachter als an einen Politiker. Nebenbei veröffentlichte er eine Sammlung publizistischer Texte sowie Gedicht- und Fotobände.
Den Ausbruch der nationalen Proteste im Jahr 2020 bewertete Pasnjak widersprüchlich. Lukaschenkos wichtigsten Gegner zu Beginn der Präsidentschaftswahlkampagne, den Chef der Belgazprombank Viktor Babariko, bezeichnete er als russischen Agenten und postulierte: „Babariko ist heute ein potentiell gefährlicherer Feind für die belarussische Nation als Lukaschenko“7. Swetlana Tichanowskaja erhielt zunächst positive Beurteilungen von Pasnjak, er nannte sie den „einzigen positiven Menschen“ unter den Kandidaten. Er rief sie dazu auf, die Wahlen zu boykottieren. Später machte Pasnjak Tichanowskaja für alles Mögliche verantwortlich. Im Interview mit dem Portal Zerkalo am 26. April 2023 äußerte er sich beispielsweise folgendermaßen: „Was Swetlana Tichanowskaja angeht, so ist das zunächst einmal ein Moskauer Projekt“; „sie wurde von Spezialkräften angeworben“; „Tichanowskaja hat damals die Wahlen durch Tricksereien gefälscht“; „ihr Handeln verursacht nicht nur politischen Schaden, sondern stellt eine kriminelle Ansammlung von Verbrechen dar“; „sie ist Belarus feindlich gesinnt“; „die politischen Gefangenen haben ihre Haft größtenteils Swetlana Tichanowskaja und ihren Leuten zu verdanken“.8
Pasnjak bezieht andererseits entschieden Position gegen die westlichen Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime, da sie seiner Ansicht nach Belarus in Russlands Arme drängen. Zuletzt interessierte sich die demokratische Bewegung in Belarus wieder stärker für Pasnjak. Einige bekannte Persönlichkeiten schüttelten ihm medienwirksam die Hand. Das hängt damit zusammen, dass die Niederschlagung der Proteste, die Festigung des Lukaschenko-Regimes und die Ausweitung der massenhaften Repressionen ein Interesse an Radikalisierung in der Gesellschaft wachgerufen haben; die friedlichen Methoden des Kampfes werden zunehmend in Frage gestellt und Pasnjaks Radikalität ist wieder gefragt. Doch dabei handelt es sich um ein temporäres Phänomen. Denn Sjanon Pasnjak ist für Belarus eher eine Person der Geschichte als der zeitgenössischen Politik.
Posnjak. Ein politisches Porträt. – Jewropeiskoje wremja, 6/1994 ↩︎