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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“

    „Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“

    Russland liefert derzeit deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, berief sich zwischenzeitlich auf „höhere Gewalt“ und mehrmals auf Wartungsarbeiten. Zahlreiche europäische Politiker halten das für Vorwände und Taktik mit dem Kalkül: Der Westen solle gezwungen werden, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen, um im Gegenzug im nächsten Winter nicht zu frieren. Seit diesem Dienstag gilt ein Notfallplan der EU, um Gas sorgsamer zu verbrauchen und für den Fall eventueller Lieferstopps vorzusorgen.

    Besonders abhängig vom russischen Gas ist und bleibt Deutschland. Entgegen der erhitzten deutschen Debatte, lässt sich eine schwere Gaskrise laut Experten für diesen Winter – jedenfalls mit rechtzeitigen Sparmaßnahmen – noch abwenden. Deutsche Gasspeicher sind im Moment mehr als 70 Prozent gefüllt, 90 sollten es werden, so das angestrebte Ziel.  

    Was auf der anderen Seite das Erdöl angeht: Die Preise sind schon massiv gestiegen, die EU will ihre russischen Importe bis Jahresende um rund 90 Prozent reduzieren. 

    Doch welche Folgen haben Sanktionen und Gas-Lieferstopps eigentlich für Russland selbst? Immerhin speist sich der russische Staatshaushalt größtenteils aus Rohstoffexporten, die wiederum größtenteils nach Westeuropa gehen. Wird diese Geldquelle wirklich versiegen? Verfolgt Russland Pläne, um das zu kompensieren? Wenn ja, wie erfolgversprechend sind diese Ansätze? Und woher kommt das Geld für den Krieg gegen die Ukraine?

    Darüber hat The New Times-Chefredakteurin Yevgenia Albats mit dem Öl- und Gasmarkt-Experten Michail Krutichin und dem Wirtschaftsjournalisten Wladimir Gurewitsch gesprochen. 

    Yevgenia Albats: Wie stark sinken die Staatseinnahmen durch das europäische Embargo auf russisches Erdöl?

    Wladimir Gurewitsch: Im Moment kommen etwas mehr als 50,3 Prozent unserer Haushaltseinnahmen aus dem Erdgas- oder Erdölgeschäft. Dieser Anteil ändert sich ständig durch Ölpreisschwankungen. Das ist ein wichtiger, doch nicht der einzige Indikator. Die Erdöl- und Erdgasindustrie hat eine viel größere Bedeutung für unsere Wirtschaft. Denn aus den Gewinnen der Erdöl- und Erdgasunternehmen und der erdölverarbeitenden Industrie (die Gewinnsteuer liegt bei 20 Prozent) fließen 17 Prozent in die Haushalte der Regionen. Wenn diese Unternehmen plötzlich weniger produzieren, dann ist klar, wohin das führt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Das sind Unternehmen, in denen die Menschen, selbst die einfachen Arbeiter, ganz gut verdienen. In diesen Unternehmen arbeiten hunderttausende Menschen. Wenn ihre Löhne sinken oder ein Teil entlassen werden muss, führt auch das zu geringeren Einnahmen in den Haushalten der Regionen. Zudem gehen weniger Sozialversicherungsbeiträge ein.

    Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie

    Punkt drei: Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie – Metallverarbeitung, Maschinenbau, Transportwesen, Baugewerbe. Wenn sie da, mal angenommen, 150 Millionen Tonnen im Jahr weniger fördern, dann stagnieren auch die Aufträge in all diesen Branchen. Insofern geht es also bei weitem nicht nur um die Mindereinnahmen im föderalen Haushalt.

    Können wir diese Mindereinnahmen nicht wenigstens teilweise kompensieren? Der Export nach Indien soll sich um das Vierfache erhöht haben …

    Michail Krutichin: Indien reduziert die Importe aktuell bereits wieder.

    W.G.: China ebenfalls.

    M.K.: Und zwar gravierend, die Hoffnungen waren wohl nicht ganz gerechtfertigt. Daher sollten wir uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht. Das Erdöl aus Russland zu exportieren, zumal mit dem riesigen Rabatt von 30 Prozent, das bedeutet kolossale Anstrengungen, Aufwendungen, Ausgaben für Transport und so weiter. Auch besteht die Gefahr, dass das russische Erdöl und andere Flüssigtransporte aufgrund der Sanktionen nicht mehr versicherbar sind. Daher ist Indien so zurückhaltend bei Erhöhungen der Erdölimporte aus Russland. 

    Wir sollten uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht

    Für den Staatshaushalt gibt es verschiedene Überlegungen. Wenn die Erdölförderung um 56 Prozent fällt – die Förderung lag im vergangenen Jahr bei 524 bis 526 Millionen Tonnen, wenn also 250 bis 260 oder gar 300 Millionen verschwinden, dann ist das ein schwerer Schlag für die Einnahmen. Wenn wir sagen, dass 50 Prozent aus Erdöl- und Erdgaseinnahmen in den Staatshaushalt fließen, dann bezieht sich das auf drei Steuerarten: die Abbausteuer für Bodenschätze, die Ausfuhrsteuer und die Energiesteuer für Kraftstoffe. Und was ist mit den [Staatseinnahmen – dek] durch die Gewinnausschüttungen der Erdölunternehmen? Und mit dem erwähnten Einnahmerückgang  der Regionalhaushalte und mit dem sinkenden Steueraufkommen durch Rückgang der Lohnsteuereinnahmen? Und das ist noch nicht alles. Tatsächlich sprechen wir insgesamt von 70 Prozent des Staatshaushalts. Wenn wir die Erdölförderung also halbieren, was bleibt dann noch vom Staatshaushalt?

    Das genau zu beziffern ist unmöglich, weil wir weder die künftigen Preise kennen noch konkrete Zahlen, wie die Sanktionen wirklich umgesetzt werden und wie stark Russland die Erdölförderung zurückfährt. Aber es wird auf jeden Fall sehr viel.

    Und was geschieht mit den Erdölanlagen, wenn die Förderung derart stark reduziert werden muss?

    M.K.: Ja, das ist den Erdölunternehmen sehr wohl bewusst. Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen oder welche antasten, die erst kürzlich erschlossen wurden. Wer wird heute investieren, wenn der Gewinn erst in 10 bis 15 Jahren zu erwarten ist? Und wer weiß schon, was in diesen 10 bis 15 Jahren noch alles passiert? 

    Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen

    Erfahrung mit der Stilllegung von Bohrlöchern haben wir schon aus der Zeit, als die Förderung durch Vorgaben der OPEC+ eingeschränkt werden musste. Damals wurde vor allem die Förderung aus Quellen mit niedrigem Ertrag gedrosselt, also es wurden die ineffektivsten Bohrlöcher stillgelegt. Jetzt muss man aber weitergehen, sie schließen oder konservieren. Unter russischen Bedingungen ist das schwierig, denn ein Teil der Ölquellen befindet sich im hohen Norden. Dort sind die Bohrlöcher anderthalb bis zwei Kilometer tief. Wenn dieser Flüssigkeitspfahl einfriert, bilden sich gigantische Pfropfen, die man später nur unter Aufwendung hoher Kosten wieder entkonservieren kann, gegebenenfalls muss man komplett neu bohren.  

    Halten wir also fest, der Einnahmeausfall im Staatshaushalt durch das Öl-Embargo kann etwa 30 Prozent betragen – liege ich richtig?

    M.K.: Sogar mehr.

    Gut, also 30 bis 40 Prozent. Gleichzeitig lese ich letzte Woche in der Financial Times und im Economist, dass Gazprom die Gaslieferungen nach Europa reduziert, dass Europa in Panik aufkommt, weil es zu erfrieren fürchtet. Gibt es denn auf russisches Gas noch keine Sanktionen?

    M.K.: Auf Gas gibt es keine Sanktionen. Selbst im 7. Sanktionspaket, das die EU gerade vorbereitet, ist keine Rede von Gas. Der Gazprom-Konzern hat aber gegenüber vier europäischen Abnehmern höhere Gewalt geltend gemacht. Aus Gründen, auf die man keinen Einfluss habe, könne man die Verpflichtungen gegenüber den Kunden nicht erfüllen. 

    Europa wurde der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa unabhängig von russischem Gas zu sein plant

    Was bedeutet das? Ich habe versucht zu verstehen, ob es für solche außergewöhnlichen Umstände irgendwelche unüberwindbaren Faktoren im technischen oder wirtschaftlichen Bereich gibt. Ich habe keine gefunden.

    Europa wurde also der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa in zwei bis fünf Jahren unabhängig von russischem Gas zu sein plant. Nun läuft eine Art Wettlauf. Die russische Regierung meint: ‚Wenn ihr so mit uns umgeht, zeigen wir euch mal, wie es ohne russisches Gas aussieht. Und so drehen wir euch unter einem passenden Vorwand – in unserem Fall höhere Gewalt – den Gashahn zu.‘

    Wenn ich Sie richtig verstehe, dann zeigt Russland Europa den Mittelfinger: Ihr wollt uns drohen? Hier hast du die Granate, Faschist – wie wir in der Kindheit sagten. Dennoch berührt all das unsere Staatseinnahmen. Wenn wir Europa geißeln, ist das vermutlich schmerzhaft für Europa, doch was wird aus unserem Haushalt? Das Erdöl fließt nicht, und da begrenzen wir auch noch selbst den Gasexport? Und wohin soll all das Gas gepumpt werden, das durch alle diese unendlichen Pipelines fließt, Jamal, TurkStream und wie sie alle heißen. 

    M.K.: Das kommt dem Mord an Gazprom gleich: Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur. Es bleibt nur eine kleine Pipeline über die Türkei auf den Balkan, die aus politischen Gründen ebenfalls geschlossen werden kann. Nach China haben wir eine Rohrleitung, durch die vergangenes Jahr 10 Milliarden Kubikmeter Gas geflossen sind. Das ist die Sila Sibiri, die bis 2025 ihr Maximum erreichen und bis zu 38 Milliarden Kubikmeter liefern soll. Die Chinesen haben einer Mehrabnahme von 10 Milliarden Kubikmetern zugestimmt. Was mit den restlichen fast 20 Milliarden ist, ist unklar.

    Das kommt dem Mord an Gazprom gleich. Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur

    Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat. Nach dem Motto: Ich hab das alles durchkalkuliert. Er sagte, wir würden die Gasleitungen in den Westen mit denen im Osten verbinden und den Gasstrom von Asien Richtung Europa und von Europa Richtung Asien beliebig umschalten, je nachdem, was für uns vom Preis her gerade günstiger ist. Doch das funktioniert so nicht. Alle Rohre führen nach Europa, so viele Rohre, mehr als Europa benötigt. Es gibt aber keine Pipeline, die das Gazprom-Gas von der Jamal-Halbinsel, wo es neue Vorkommen und gute Fördermengen gibt, nach Asien transportieren kann. 

    Um diese Lagerstätten mit China zu verbinden, um eine Pipeline mit einer Kapazität von 100 Milliarden Kubikmetern im Jahr zu bauen, braucht es 10 bis 15 Jahre. Der Präsident denkt aber, wie es mir scheint, dass er das gleich morgen erledigen kann. Er hat Gazprom öffentlich angewiesen: ‚Ich habe Gazprom den Auftrag erteilt, umgehend die Infrastruktur für den Transport von Gas in die asiatische Richtung zu organisieren.‘ Wie soll das umgehend möglich sein? Wie lange wird ein solcher Bau dauern?

    Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat

    Zudem werden die Chinesen nicht so viel Gas abnehmen. Es hat so viele Gespräche mit den Chinesen gekostet, um sie von Sila Sibiri zu überzeugen und von den 10 Milliarden Kubikmetern aus den Förderstätten im Fernen Osten. Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht aber in keinem chinesischen Plan. In keiner Berechnung, in keinem staatlichen oder nichtstaatlichen chinesischen Plan gibt es diese Pipeline. Deshalb richtet seine Illusion großen Schaden an: Kommt, jetzt wischen wir Europa eins aus. Da geht dann allerdings auch Gazprom bei drauf  …

    W.G.: Wenn es keine Lieferungen mehr nach Europa gibt, dann bliebe letztlich nur China als Abnehmer von Pipeline-Gas, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Eine weitere theoretische Variante ist die Umwandlung in Flüssigerdgas und die Verschiffung über den Arktischen Ozean. Dazu müsste man, ähnlich wie der Erdgasförderer Nowatek, eine große Menge an Flüssigerdgas-Fabriken wie Jamal LNG oder Arctic LNG 2 bauen. Und Absatzmärkte finden.

    Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht in keinem chinesischen Plan

    Allerdings ist es ein großes Problem, für solche Mengen an Flüssigerdgas Abnehmer zu finden. Zudem haben die bestehenden LNG -Terminals Probleme bei der Produktion. Das sind sehr große, komplexe und teure Anlagen, und das alles unter arktischen Bedingungen. Nach dem [sanktionsbedingten –  dek] Weggang der wichtigsten Zulieferer und vieler Beteiligter gibt es bereits heute Probleme mit der Fertigstellung des von Nowatek begonnenen Arctic LNG 2. Eine klare Antwort auf die Frage, wie die nicht gelieferte Technologie ersetzt und wie der technische Betrieb laufen soll, gibt es nicht. Das gesamte Gas aus den Pipelines in Flüssigerdgas umzuwandeln, ist also sehr problematisch, und ich sehe keine Lösung dafür. 

    Deshalb denke ich, man setzt letztlich die Hoffnung darauf, dass die Europäer einknicken. Wenn sie mit ihrer spärlichen Ration dasitzen und der Winter nicht so mild wird wie der letzte – dann werden sie bestimmt um Lieferungen bitten. Ich denke, das ist das Kalkül.

    Herr Gurewitsch, noch einmal: Putin geißelt Europa, gleichzeitig aber den russischen Staatshaushalt. Wie stark werden die Einnahmen im russischen Staatsbudget sinken, wenn neben Erdöl auch kein Erdgas mehr geliefert wird? Was wird stattdessen geliefert? Wir haben Phosphate, Düngemittel …

    W.G.: Wir haben Landwirtschaft …

    Ja, vielleicht Weizen. Wie stark reduzieren sich die Staatseinnahmen?

    M.K.: Ich kann das nicht zusammenzählen. Sehen Sie, auch auf den Kohleexport in den Westen wird ein Embargo eingeführt. Zwar würde China Kohle kaufen, doch wie soll sie dorthin kommen – mit Zeppelinen? Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons, Transportkapazitäten auf dieser Strecke – nichts … Sie ist komplett ausgelastet, da kann man nichts erhöhen. Irgendjemand sagte, man könne Öl auf der Schiene nach China befördern. Wie soll das gehen? Dort fährt schon Kohle und was sonst noch alles. Es ist völlig dicht.

    Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons oder Transportkapazitäten auf dieser Strecke – gibt es nicht … Sie ist komplett ausgelastet

    W.G.: Das betrifft auch die Getreidewirtschaft. Häfen und Terminals – nicht unproblematisch. 

    M.K.: Richtig, auch die Häfen kommen nicht nach. Und selbst wenn man aus den Häfen im Fernen Osten zusätzlich Erdöl oder Erdölprodukte nach China liefern möchte – wie kommen die in den Hafen? Auch auf der Schiene. Denn die Pipeline, die bis zur Kosmino-Bucht führt, arbeitet am Anschlag, da kann man nicht noch mehr durchleiten. 

    Es ist einfach ein absolut apokalyptisches Szenario. Denken Sie, Russland ist tatsächlich bereit zu einem Lieferstopp, nur um Europa zu bestrafen?

    M.K.: Ich denke das tatsächlich, bislang deutet alles darauf hin. Die Bestrebungen, Gazproms Marktstellung in Europa zu zerstören, gibt es ja nicht erst seit gestern oder vorgestern. Das hat alles viel früher begonnen. Die Ukraine war der größte Abnehmer für russisches Gas. Dieser Markt wurde schrittweise zerstört. Danach wurden weitere europäische Märkte für russisches Gas vernichtet. Und schließlich sind sie da angekommen, wo sie jetzt sind – bei der Berufung auf höhere Gewalt: ‚Wir werden euch überhaupt kein Gas mehr liefern.‘

    Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man sich bei den Bjudshetniki holen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen

    Einen Moment, Herr Gurewitsch, aber auch der Krieg muss doch irgendwie finanziert werden. Laut Daten von Sergej Gurijew verdient die Russische Föderation eine Milliarde Dollar am Tag mit Erdöl, wovon sie die Hälfte für den Krieg ausgibt.

    M.K.: Das ist komplizierter, wie sich gezeigt hat. Wenn wir nämlich in Russland für Öl, Gas, Kohle und Diamanten ausländische Währung bekommen, muss mit dieser Auslandswährung ja etwas geschehen. Unser Import ist aber dermaßen gesunken, dass er nicht mal unter dem Mikroskop zu sehen ist. Wir können also nichts mit den Devisen anfangen. Daher ist die einzige Hoffnung, dass wir noch genug Rubel haben. Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man bei den Bjudshetniki abziehen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen.

    W.G.: Wenn der Rubel fällt, füllt sich automatisch der Staatshaushalt. Denn dann bringt sogar eine geringere Menge an exportiertem Gas und Öl konvertiert in Rubel mehr Einnahmen als jetzt.

    Es gibt also zwei offensichtliche Schlussfolgerungen. Erstens, das russische Sozialsystem, das Gesundheitssystem und überhaupt die Bjudshetniki müssen auf spärliche Einkünfte vorbereitet sein, da nicht nur embargobedingt die Erdöleinnahmen fehlen werden, sondern auch Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Zweitens können wir festhalten, dass Russland Europa den Gaskrieg erklärt hat. 

    M.K.: Außerdem darf nicht vergessen werden, dass nicht nur der Export von Erdgas und Erdöl, sondern auch der von Gold, Diamanten und Kohle den Bach runtergeht.

    Wir müssen also den Gürtel enger schnallen.

    W.G.: Ich würde es so formulieren: Wenn alles so kommt, wie wir es hier beschrieben haben, dann bedeutet das für uns tatsächlich einschneidende finanzielle Verluste und Verluste im Staatshaushalt. Wegen der aktuell anomal hohen Rohstoffpreise gibt es jetzt noch einen Puffer. 

    Das Technologieembargo ist auf lange Sicht, viel bedeutsamer. Da gibt es viel mehr Probleme

    Ein viel größeres Problem [als das mit den Rohstoffexporten – dek] sehe ich im Bereich Technologie [die sanktionsbedingt nicht mehr importiert werden kann – dek]. Das ist auf lange Sicht, auch strategisch, viel bedeutsamer. Und da gibt es viel mehr Probleme.
    Denn: Von den Erdöl- und Erdgasexporten nach China und Indien kann man natürlich leben, nicht im Wohlstand, aber es ist möglich. Wie wir aber mit dem technologischen Embargo überleben sollen, das wird uns in den nächsten Jahren sehr viel mehr beschäftigen.

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  • Ich sehe das, was in meinem Garten ist

    Ich sehe das, was in meinem Garten ist

    Tania Arcimovich, 1984 geboren, gehört im belarussischen Kulturraum zu den bekanntesten Intellektuellen ihrer Generation. Die Autorin und Theaterregisseurin hat zahlreiche Bildungsprojekte und Ausstellungen kuratiert, sie ist Herausgeberin der Kunst- und Kulturzeitschrift pARTisan/pARTisanka. In ihren Arbeiten ist sie immer wieder bestrebt, belarussische Kulturphänomene und gesellschaftspolitische Ereignisse in ihrer Heimat außerhalb der üblichen Grenzen und Fixpunkte zu deuten und zu interpretieren. So auch in diesem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. In diesem Text fragt sich Tania Arcimovich, was in Belarus im Zuge der historischen Proteste im Jahr 2020 eigentlich passiert ist und was diese politische Mobilisierung für eine mögliche Zukunft ihres Landes bedeuten könnte. Dabei setzt sie nicht auf eine kollektivistische Erfahrung, sondern auf die Entwicklung der individuellen Eigenverantwortung.

    Belarussisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Ich möchte von den Geschmeidigen reden. So heißt ein Buch von Nora Bossong, das ich vor einigen Monaten im Buchladen sah, in dem ich blätterte, den Klappentext las und wusste: Das ist mein Buch. Meines, nicht weil es von mir handelt, denn das ist schon wenigstens deshalb unmöglich, weil die Autorin und ich unterschiedliche geografische und kulturelle Ausgangspunkte haben. Doch wir gehören derselben Generation an, sind Kinder des Zerfalls der sozialistischen Systeme – nur der jeweils anderen Seite der Mauer. Rückblickend und analysierend, was in den letzten Jahren geschehen ist, sitzen wir beide scheinbar auf den Ruinen unserer Träume und sortieren Steine. Bossong beginnt mit dem Ende einer Ära, und das ist genau das, was auch ich empfinde, wenngleich unsere „Ären“ und ihre „Enden“ sicher verschiedene sind. Oder nicht?
          Das war meine heimliche Absicht – ich wollte beim Lesen des Buches in mich hineinhören, was um mich herum und mit mir geschehen war, ihr Fragen stellen, widersprechen oder zustimmen. Natürlich geht es nicht um die Ereignisse an sich, sondern um deren Wahrnehmung – basierend auf persönlichen Erfahrungen, Ängsten, Traumata, meinem sozialen und kulturellen Körper, der die für ihn vorherbestimmte Biografie ausführen sollte. Oder kann diese Vorherbestimmung durchbrochen werden? Unabdingbar ist es jedenfalls, die Gründe für die bestehende Asymmetrie der Geografien zu verstehen, die meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft bestimmt. Denn wenngleich ich eine Vergangenheit habe und in einer Gegenwart – wie auch immer sie aussehen mag – stehe, so wird mir doch, wenn ich den westlichen Politikern zuhöre, eine Zukunft verwehrt. Auf der Landkarte gibt es mich nicht mehr. 
          „Bei euch ist es doch still“, sagte eine Frau auf der Straße zu mir. „Genau,“ antworte ich, „wie auf dem Friedhof.“ Und dachte bei mir, wie soll man erklären, dass still nicht nur bedeutet, dass nichts passiert, es bedeutet auch den Wunsch, etwas zu hören. Daraus folgt, dass meine einzige Chance auf eine Zukunft wohl ist, in eine andere Haut zu schlüpfen – in eine weißere, in einen anderen Körper, aufgeben, mich anpassen – eine Europäerin werden? „Sie müssen wohl über einen anderen Beruf nachdenken, Philologen werden hier nicht gebraucht.“ Beim nächsten Mal, denke ich, muss ich mich vorbereiten und mir eine fundierte Antwort auf die Frage überlegen, was ich beruflich mache. 
          Vielleicht Gärtnerin?

          Cyanobacteria

          Ich möchte einen Garten anlegen, in dem sechshundertsiebenundvierzig Pflanzen wachsen. Das habe ich nie getan, ich meine, Pflanzen pflanzen, also eigentlich habe ich welche gepflanzt, aber sie sind immer auf meinem Fensterbrett gestorben. Als mir eines Tages auffiel, dass eine Pflanze zu vertrocknen beginnt, habe ich ihr nur beim Sterben zugesehen. Doch die Pandemie hat meine Einstellung grundlegend verändert. Als der März-Lockdown in den EU-Ländern 2020 meine Pläne komplett umgeworfen hatte, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich saß in Selbstisolation im Dorf fest und begann zu pflanzen – Sträucher, Gemüse, Zierpflanzen, Blumen. In dieser Zeit entdeckte ich auch Lynn Margulis und ihre Theorie der Symbiogenese, mit der sie jahrzehntelang die Neodarwinisten herausgefordert  hatte, doch erst in den letzten Jahren war ihre Stimme in breiteren Kreisen wahrgenommen worden.
          Der Theorie der Symbiogenese zufolge findet Evolution nicht aufgrund von Konkurrenz oder Genmutation statt, sondern als Ergebnis physischer Zusammenarbeit und Interaktion zwischen unterschiedlichen Arten von Organismen. Somit hat die Evolution nicht beim Menschen geendet, er ist nur eine ihrer Etappen. Wenn sich der Mensch also der Natur entgegenstellen möchte – als höchstes, herrschendes Lebewesen – dann ist das naiv. Bakterien leiten das Ökosystem, sie sind die höchsten Lebewesen, sagt Margulis, denn der Abfall der einen ist die Energiequelle der anderen. Ein geschlossener Kreislauf. Davon kann der Mensch nur träumen. Aber gerade weil es zwischen Mensch und Bakterien viel mehr Gemeinsamkeiten gibt, als wir uns vorstellen – auch wir sind ein Ökosystem – haben wir eine Chance.
          Das Gefühl der Veränderung verstärkte sich nicht nur durch meine persönlichen Erfahrungen. Letztlich war die Pandemie für die belarussische Gesellschaft, wie auch für andere periphere Gesellschaften, kein Schock – denn die Menschen hatten sich noch nie in Sicherheit gefühlt. Wie viele andere stellt auch Nora Bossong fest – und zitiert hier die Wissenschaftlerin Hana Gründler – dass die Pandemie insbesondere „die Unverletzlichkeit der westlichen Welt“ in Frage gestellt habe. Es sei die erste „kollektive Krise“ für ihre Generation gewesen, schreibt Bossong, begleitet vom Verlust des Kontrollgefühls. Doch während in den EU-Staaten die Nachrichten aus anderen Breitengraden ihre Bedeutung verloren – „die Grenzen im Kopf wurden so hoch gezogen wie die der Nationalstaaten“ – las ich sogar in meinem Garten in der tiefsten Provinz sorgsam die Nachrichten aus aller Welt. Die Welt muss sich grundlegend verändern, dachte ich, war allerdings unsicher, ob dies schnell und unter Berücksichtigung der jeweiligen Geografien geschehen würde. Deshalb müssen die, die am Rande sind, wissen, was in der großen Welt vor sich geht. Es gibt die Hoffnung einer echten Wende  – dass diese Zwangspause zum Trigger für eine wirklich radikale Revision der bestehenden sozialen und politischen Systeme und ethischen Normen wird. Daran glaubte ich wirklich, denn die Entledigung von gewohnten Existenzmustern, das Pausieren von allem, – ist das nicht ein Momentum, in dem man sich der wirklichen Bedürfnisse bewusst wird? 
          Das hätte das Ende für Neoliberalismus und Kapitalismus bedeuten müssen, die zwar nicht Teil meiner Erfahrungswelt waren, von denen ich aber wünschte, sie blieben nicht der einzige Ausweg aus dem Autoritarismus, in dem ich lebe. 
          In Belarus begann derweil die Wahlkampagne.

          Wir-Sätze

          Als Jugendliche las ich weder Marx noch Engels, wir sprachen nicht über Politik und gingen nicht zu Demonstrationen. Die Welt endete mit der Grenze des Stadtteils, das Schulwissen war abstrakter Natur. Auch wenn die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion zerbrach, real war das, was vor dem Fenster geschah. Warst du in einer Arbeiterfamilie an der Peripherie geboren, war deine Biografie schon geschrieben. Du musstest sie nur noch still und leise leben. Tschernobyl „gab es nicht“, Umweltkatastrophen „gab es nicht“. Von Konsum wussten wir auch nichts, denn es gab nichts, das in kapitalistischem Sinne hätte konsumiert werden können. Die Generation der Schlüsselkinder und der Tüten in einer Tüte – so nennen uns die Soziologen manchmal. Damit die kleinen Kinder den Schlüssel für die Wohnung nicht verloren, in die sie nach der Schule allein zurückkehrten und bis zum Abend auf die Eltern warteten, hing der Schlüssel an einer Schnur um den Hals. Und Plastiktüten waren immer Mangelware, deshalb wusch und trocknete man sie, um sie sorgfältig zusammengefaltet in einer Plastiktüte aufzubewahren.
          Die Frage der Freiheit stellte sich uns, doch sie war eher universell, es ging um eine innere Freiheit, die geeignet war, die eigene Biografie zu durchbrechen. Teil der großen Welt zu werden, deren Bild sich aus Büchern und Fernsehsendungen speiste, davon träumten wir. Die Ereignisse dieser Zeit – Krieg in Jugoslawien, Putsch in Moskau, Krieg in Tschetschenien, Referendum in Minsk 1996 – all das war unwirklich, jenseits unseres Einflusses, es existierte einfach für sich. Freiheit und Politik gingen getrennt, liefen einzeln nebeneinander her.
          Ich schreibe über mich als Wir, weil auch ich eine Generation wahrnehme – keine der Geschmeidigen, sondern eine der von der Geschichte Isolierten. Damals gab es noch keine Wir-Sätze, eher eine Wir-Masse. Die Sätze kamen erst später auf, verschafften sich während der Pandemie laut Gehör. Denn während für die Bewohner der westlichen Länder eine Atomisierung stattfand, wurden in Belarus, wo die Mehrheit endlich der Gewaltfunktion des Staates gewahr wurde, gerade wir zum Trigger für die Geburt des politischen Willens. Das Alte begann endlich zu sterben, markierte den Beginn einer riesigen Krise, deren Ausgang etwas Neues sein musste. Etwas Neues?
          Wie auch Bossong schreibe ich hier „wir“ und bin mir dabei der Bedingtheit dieser Wir-Sätze bewusst. Wer ist wir? Diejenigen, die nach langer Zeit der Isolation ihr Recht auf die eigene Geschichte realisierten, gleichzeitig aber begannen, sich in ihrer Heimat wie Fremdkörper zu fühlen, da sie schon nach anderen Maßstäben lebten? Oder diejenigen, die bis zur Pandemie vollkommen entspannt in die bestehende autokratische Normalität integriert waren und dabei bewusst von politischen Freiheiten und Rechten absahen? Oder diejenigen, für die erst die Gewalt im Akreszina-Gefängnis, wo die Mächtigen nach den Wahlen 2020 tausende Menschen folterten, das Fass zum Überlaufen brachte? Oder diejenigen, die auch heute noch verbrecherische Befehle ausführen, die Propaganda mittragen, foltern und Verrat begehen? 
          „Nicht alle wollten Teil dieses Wir sein – eines Wir, das sie selbst nicht bestimmt haben“, schreibt Bossong. Umso mehr, da für Politiker – egal ob Nationalsozialisten oder Linke – der Kampf um dieses Wir, um das Recht, in seinem Namen zu sprechen (das wohlbekannte „Wir sind das Volk“), entscheidend bleibt. Und so geschieht es im Moment der politischen Revolution, dass der Wunsch, dieses Wir zu meiden, als Verrat an der Revolution verstanden werden kann. Aber ist das nicht auch eine Art Manipulation? Wenn die Idee im Raum steht, eine neue soziale und politische Struktur (zum Beispiel ohne Parteien und Anführer) zu schaffen, ist es dann nicht auch an der Zeit für neue Strategien? Ich möchte schon jetzt komplex denken und empfehle das allen um mich herum. Doch darauf erhalte ich nur ablehnende Reaktionen, da es in der aktuellen Abwesenheit einer politischen Landschaft – in dieser Wüste, in die sich Belarus verwandelt hat – nicht möglich zu sein scheint, in solchen Kategorien zu denken: „Erst siegen wir, dann kommt die Zeit für politische Programme.“
          Ich will aber nicht warten. 

          Wenn das Alte stirbt

          Im Verlauf ihres Buches bezieht sich Nora Bossong immer wieder auf Antonio Gramscis Idee von der Krise, die demnach darin besteht, dass das Alte gestorben, das Neue aber noch nicht geboren ist und dieser Zwischenraum von bestimmten Krankheitserscheinungen geprägt ist. Darüber hinaus werden gerade in dieser Periode unterschiedliche Wege des Übergangs zum Neuen gefunden. Die zentrale Frage ist dabei die Zeit, denn eine Krise kann dauern, sich hinziehen, der Übergang aber muss stattfinden, denn das Alte ist tot.
          Nora Bossong stellt die Frage nach der Krise der Demokratie, die nicht mehr als die einzige, beste Option wahrgenommen wird, oder, wie die Autorin feststellt, im steten Prozess der Selbstfindung steckt. Was wie eine Niederlage erscheint, ist nur der nächste Entwicklungsschritt. Es braucht Mut, um diesen Krisen zu begegnen und einen Schritt nach vorn zu machen. Nora wendet sich an ihre Generation als diejenige, die gerade an die Macht kommt – langsam, gegen Widerstände, da die grauhaarigen Herren in blauen Anzügen sie noch immer als „Kinder an der Macht“ bezeichnen. Dennoch geschieht es, und damit geht das einher, was die Autorin als Geschmeidigkeit bezeichnet. Ungeachtet ihrer Jugendträume von radikalen Veränderungen, vor allem in Bezug auf die ökologische Verantwortung, geht die Generation der Geschmeidigen Kompromisse ein (Ökologie aber mit Ökonomie). Weil sie als die Erste Veränderungen doch zu Gunsten von Machtbestrebungen opfert? Haben sie sich angepasst? Sind sie nicht bereit, die Privilegien ihres kleinen bürgerlichen Lebens zu verlieren? Ja, antwortet Bossong, auch wir sind bürgerlich geworden, „vielleicht nicht im klassischen Sinne“, aber doch. Zugleich, führt sie fort, kann eine solche Geschmeidigkeit – ein schnelles und kreatives Reagieren – zuträglich bei der Lösung der Probleme sein, die die Gegenwart aufwirft. In Belarus nennen wir das „Wie Wasser sein“. Doch Wasser füllt nicht einfach bestehende Leere und fügt sich dort ein. Wasser ist eine Naturgewalt, die Raum für das Lebendige erobert und dabei alles zerstören kann, was sich ihr in den Weg stellt.
          „Wir waren freier. Aber Freiheit bedeutet auch die Möglichkeit des freien Falls“, schreibt Nora. Auch wir haben von der Freiheit gekostet und begannen zu fallen. Und ich bin bereit, diese Erfahrung zu machen – auch das Fallen will gelernt sein. Ich frage mich allerdings, wie ich das Gleichgewicht zwischen meinem eigenen Erwachsenwerden und der Brutalität der politischen Wirklichkeit finden kann, deren Zeugin ich bin. Wie kann man darüber nachdenken, dass das Alte gestorben ist, wenn die Gewalt wie ein Gespenst weiterhin in Wellen verschiedene Geografien erfasst? Wie mache ich meinen Frieden mit der Idee, dass die Freiheit ihren Preis hat? Warum muss man für das Recht auf Eintritt in eine andere Zukunft mit Menschenleben bezahlen? Hier meine ich nicht den Eintritt in eine komfortable bürgerliche Welt, sondern in eine radikal andere Zukunft – jene, die der Epoche der Herrschaft, der sozialen Ungleichheit und Ausbeutung ein Ende setzt.
          Und damit meine ich auch die Ausbeutung anderer Lebewesen und Ressourcen durch den Menschen.

          Das Ende einer Ära?

          Eine der schmerzhaften Begleiterscheinungen der Pandemie war für die Bewohner der westlichen Welt die Selbstisolation – die Körper verloren aufgrund der Gefahr, die sie füreinander darstellten, die Möglichkeit einander zu berühren, einander zu spüren und sich zu versammeln. Übrigens ist es strittig, ob das Konzept der Versammlung von Körpern als Äußerung des politischen Willens noch immer ein Merkmal der Demokratisierung ist. Gerade die Anzahl der Körper auf den Straßen der belarussischen Städte 2020 wurde zum Indikator (für wen?) des radikalen Wunsches der belarussischen Gesellschaft nach Veränderung. Diese Gebundenheit an Zahlen war mir schon immer unverständlich. Warum braucht es eine Mehrheit, wenn gleichzeitig in zahlreichen internationalen Organisationen eine einzige Stimme ausreicht, um ein Veto einzulegen? Darin sehen viele heute eine Schwäche der repräsentativen Demokratie.
          Das Gegenteil geschah, als im Verlauf des letzten Jahres immer mehr politische Körper der Belarussen von den Straßen verschwanden. Ein Raum wird von Körpern gesäubert – zeugt das von Zustimmung und Unterordnung? Rückkehr zur „Normalität“? Oder doch von Okkupation durch eine illegitime Regierung? Und hier beginnt der freie Fall der westlichen politischen Theorien, denn es geht ja nicht nur darum, dass sie in autoritären, totalitären Staaten nicht funktionieren. Selbst in demokratischen Staaten verlieren sie ihre Funktion, und die Körper auf der Straße, selbst wenn sie ihren politischen Willen kundtun können, haben keinen realen Einfluss. Das ist das Ende der Agora als schöner Idee. Doch Bossongs Generation kann im Unterschied zu uns wenigstens sagen, dass sie es versucht hat. Und wir? Die Kinder des Zerfalls der sozialistischen Systeme auf der anderen Seite der Mauer? Wir sind nicht weiß genug, nicht schwarz genug, wir haben keinen imperialen Mythos im Rücken, und der koloniale interessiert niemanden. 
          In Lynn Margulis’ Schilderung, wie es ihr als junger Forscherin gelang, eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen, beschreibt sie die Frau als „periphere Visionärin“. Gerade also die Tatsache, dass sie sich „am Rande“ der von Männern dominierten Wissenschaft befand, erlaubte ihr einen anderen Blick auf das Gewöhnliche. In diesem Sinne haben alle, die „zwischen“ verschiedenen Systemen groß geworden sind und isoliert von der großen Geschichte waren, ebenfalls einen Vorteil. Auf Krisen vorbereitet, sehen wir diese Unzulänglichkeiten. Glaubt ihr wirklich, dass eine grüne Wirtschaft durch Verlagerung von Fabriken und Müll in ärmere Länder erreicht werden kann? Oder dass neu errichtete Mauern die Migration stoppen? Ich schaue ein Video, von polnischen Grenzsoldaten durch Stacheldraht hindurch gefilmt, wie belarussische Soldaten auf der belarussischen Seite Migranten misshandeln. Die Polen filmen es als Beweis für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einer von ihnen sagt auf Russisch zu den belarussischen Grenzern: „Helft den Menschen.“ Ich schreie: „Hilf du ihnen doch!“
          Ist nicht die Zeit gekommen, die Niederlage der bestehenden politischen Modelle und die Notwendigkeit wirklicher Reformen einzugestehen? Dafür braucht es Mut. Und zwar nicht den, der durch Armeeuniformen demonstriert wird oder sich hinter Reden über Diplomatie versteckt. Man kann nicht in der einen Situation menschlich handeln und in der nächsten die Augen vor dem verschließen, was beispielsweise noch immer an der belarussisch-polnisch-litauischen Grenze geschieht. Denn wie dick die Mauern auch immer gebaut sind, die Pandemie hat uns gezeigt, dass sie nur eine weitere naive „Erfindung“ des Menschen sind. Wenn Margulis also sagt: „Wir leben in einer symbiotischen Welt“, dann heißt das, dass wir auf unterschiedlichsten Ebenen miteinander verbunden sind. „Irgendwo dort“ gibt es nicht, dieses „dort“ wird immer auch Einfluss auf mein „hier“ haben. 
          Als einen weiteren Schritt in Richtung Zukunft sehe ich die Abkehr von diesem Wir; das ist kompliziert, aber unerlässlich. Einerseits wird dieses Wir immer mehr zur Abstraktion, hinter der man ganz praktisch die eigene Verantwortung verbergen kann. Zudem ist dieses Wir immer häufiger defragmentiert, weil es eben gerade nicht erlaubt, komplex zu denken. Andererseits ist dieses Wir, wie auch die schönen Ideen von Gemeinschaft und Kollektivismus, von politischen und konsumfreudigen Losungen korrumpiert. 
          Daher muss nicht das Wir mobilisiert werden, sondern das Ich, um die Verantwortung für den Garten zu tragen, den ich pflege. Denn ich glaube an den Willen und die Kraft gerade dieses Ich, das die heutigen Politiker ignorieren. 
          Und gerade deshalb stehen sie vor der Niederlage.

          tell them we don’t know
          of the politics
          or the science
          but tell them we see
          what is in our own backyard
                   Kathy Jetn̄il-Kijiner, ‘Tell them’, 2011

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    Yes Future No Future – erfahrungen nichtlinearer ansichten

  • Yes Future No Future – erfahrungen nichtlinearer ansichten

    Yes Future No Future – erfahrungen nichtlinearer ansichten

    Maxim Shbankou, 1958 in Minsk geboren, hat sich unter anderem mit seinen scharfen und scharfsinnigen Polemiken als Kulturkritiker und -forscher einen Namen in seiner Heimat Belarus gemacht. Zudem ist er einer der Organisatoren des Filmfestivals Bulbamovie, das zwischen 2011 und 2015 in Warschau veranstaltet wurde. In einem Essay voller popkultureller Reminiszenzen, den Shbankou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geschrieben hat, vollzieht er den geistigen und kulturellen Aufbruch des unabhängigen Belarus nach, den er sich als junger Mensch in der Sowjetunion ersehnt hatte. Ein Aufbruch, der aber häufig konträr zu dominierenden politischen Entwicklungen und erzkonservativen Geisteshaltungen verlief. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und einer Radikalisierung des politischen Systems in Belarus ergründet er, was das Versprechen der Zukunft überhaupt noch wert ist und bedeuten kann:  „Hier gibt es nicht nur keine Zukunft. Hier gibt es nicht einmal eine wirkliche Gegenwart.“

    Русская Версия

    „Knoten der Hoffnung” / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” / Illustration © Tosla

    Die Zeitrechnung endete 2020 und George Orwell verging vor Neid. Die Endzeitliteratur wurde vom belarussischen Nachrichtenstream auf den Müll verfrachtet. Gleichzeitig schwanden auch alle anderen Gruselschriften – vom Prozess über Einladung zur Enthauptung bis hin zum Archipel GULag. Das Happy End verreckte, der Himmel voller Diamanten erwies sich als schwarzes Loch. Nirgends konnte man hinschauen. Nirgends konnte man abschreiben. Alle Partituren zurück auf Null. Meme der Saison: Bleib stehen! Hab Angst! Alle auf Stopp. Alles auf Stopp. Nein, die Erde dreht sich weiter. Kaffeepausen laut Plan. Und da Winter ist, wird wahrscheinlich auch wieder Sommer. Nur werden an diesem Bahnhof keine Fahrkarten nach Morgen mehr verkauft. Ob es je welche gab, ist unklar. Vielleicht liegt es daran, dass es gar kein Bahnhof ist. Bloß eine Eisbude neben einem Provinzzirkuszelt.

    Wenn ich darüber nachdenke, dann hatte ich niemals eine Zukunft. Wobei – niemals. Das halbe Leben auf jeden Fall. Was sagten sie uns immer? „Schau, wenn du mal groß bist …“ Und dann? Nichts. Dann bist du eben groß. Als ich klein war, verfrachteten sie mich in den Kindergarten, man musste lange fahren, mein Physiker-Vater kam immer zu spät ins Institut. Später die Schule, ich laufe auf die Kreuzung, stürze mit dem Knie aufs Eis, es tut weh, da kommt ein schwarzes Auto. Bremst gerade noch. Uff. Noch mal heil davon gekommen. Ich schaffe es noch zum Unterrichtsbeginn. Weiter – höher. Neue Kurse. Alles fremd. Wozu? Weil es so sein muss. Zwei Jahre Wehrdienst. Uni. Dissertation (war langweilig, daher brauchte ich nur die Hälfte der Zeit). Professur. Hochzeit. All sowas eben.

    Die Zukunft schufen andere: die kommunistischen Zombies von den Paradenporträts, die Chefs in spitzen Schuhen und glänzenden Anzügen, die kühnen Baumeister, die das alte Minsk komplett auskämmten, und die Kulturschmuggler, die pünktlich frische Dosen Rock’n’Roll-Gift ins kommunistische Paradies schmuggelten. Kurz gesagt alle, die wenigstens ein bisschen Einfluss hatten und den globalen Rahmen auf den eigenen Eifer zuschnitten. Sicherlich nicht ich – ein Statist in Jeans in einem Theaterstück unter fremder Regie. Ein frischer Ziegelstein in einer Mauer ungewissen Zwecks. Vielleicht Supermarkt, vielleicht Mausoleum.

    Ich habe die Zukunft nicht bestellt, die Zukunft hat mich bestellt. Und es blieben nur drei Möglichkeiten: sich als Bahnschwelle unter diesen Zug legen, vor der Lok herrennen oder an den Rand zu treten. Für jeden Bewohner des Sowjetreichs der späten 1970er Jahre war in der Zone fremder Geräusche und transzendenter Signale, im Bereich der Kultur, die bis an den Rand gefüllt war mit Produkten der Lebensaktivität ausländischer Programmierer, eine Form der Präsenz normal, in der an erster Stelle und unvermeidlich der Pioniereid stand. Dann folgte – das Anderssein des Teenagers. Und schließlich für die dreistesten – die reife und bewusste Abkehr. Praktiken der Selbstidentifikation außerhalb des Systems. Aus der Trias Sex, Drugs and Rock’n’Roll lag das erste noch im Dunkeln, das zweite war unerreichbar. Dafür haute die dritte Komponente mit voller Wucht rein.

    An die Stelle des „Zeit, voran!“ unter rotem Banner – schon damals völlig entleert vom Heldenpathos der Anfangszeit und eingetauscht gegen gestammelte Gesänge von hohen Tribünen – trat die private kulturelle Gestaltung: Welche helle Zukunft bitteschön sollte da sein? Welcher Kommunismus? Welche Subbotniks? Die Zeit drehte und kurvte herum. Sie zerstob zu den Tracks von Led Zeppelin und den Mantren der Doors. Der einzig wichtige Tagesplan war das Programm des polnischen Radiosenders. Wo seit ihrem Erscheinen Tag für Tag die komplette Pink-Floyd-Platte The Dark Side of the Moon lief. 

    Im Land des feierlichen Auf-der-Stelle-Tretens war uns ein kulturelles Plateau zugeteilt, auf dem alles mit Verspätung ankam. Aber doch, oh Wunder, genau rechtzeitig. Lennon und McCartney begann ich vom Ende an zu hören: mit der Kollage  des Weißen Albums und dem Grand Finale Abbey Road. Sobald wir die Tonbandkopien in die Hände bekamen, ging es los. Und so lief es weiter. Eine gebundene Fotokopie der Nowy-Mir-Ausgabe von Meister und Margarita fand ich auf einer Parkbank im Stadtzentrum. Ein exzellenter Platz, um den teuflischen Kater mit der Browning lieben zu lernen. Meine weißen T-Shirts färbte ich in einer Schüssel in der Küche, zu einem Knoten verschnürt – wie die britischen Hippies in der zerfledderten Zeitschrift Anglia

    Während die irren Planer uns Perspektiven formten, lebten wir in unserem selbstgemachten Heute. Das reichte uns vollkommen zum Glück.

    Hier, in diesem Standbild des Welpendunstes gab es kein Gefühl des Kontrollverlustes. Denn es gab überhaupt keine Kontrolle. Von der Komsomol-Versammlung liefen wir direkt zu den strawberry fields. Dort blieben wir und fingen Käfer und pafften Pusteblumen. Ausflippen im abgekoppelten Waggon.

    Wir erwarteten keine Siege, weil der Sieg schon in unseren zotteligen Köpfchen stattfand. Die schwache Selbstidentifikation sprengte jeden Wunsch, Prozesse zu leiten und in Fünfjahresplänen zu denken. Wichtiger war herauszufinden, was da auf der neuesten Kassette der Stones stand – Family oder Country Joe? Und wer hatte sich eigentlich diesen Jungen namens Bananan ausgedacht?

    Die Manöver der Staatspitze und das Lächeln vom Mausoleum beherrschten die ersten Spalten der Zeitungen. Letztlich bedeuteten sie aber nicht mehr als die Stunde Morgengymnastik im Radioprogramm. Selbst als Gorbatschow kam. Die Perestroika klang wie eine idiotische Rochade der Regierung. Plus die eingeschalteten Abgeordnetenmikrofone in unserem grenzenlosen Neubaugebiet. Die Zeit gewann nicht an Tempo. Sie gaben einfach Solschenizyn zurück, gaben Brodsky heraus und tauschten in Karabach Sowjetmief gegen Bleikugeln. 

    Die Volksfronten? Sie kämpften für ein schlecht retuschiertes Gestern und ein trübes Heute. Eigentlich wie ihre Gegner auch. Der Unterschied lag in der Farbe der Flaggen und dem Heldenportfolio. Wieder keine Zukunft. Es war unklar, wer aufrief und unklar, wozu. In diesen Film wollte ich nicht: Ich hatte schon meinen eigenen. Die Choreografie der Reformierer und der Konservierer erschien wie ein Kampf der Papierdrachen, während ich Jimi Hendrix hörte.

    Und was kam dann? Dann kam das Gestern. Immer dasselbe, nur dass anstelle des rotgebannerten sowjetischen Morgen das belarussische Kolchosen-Retro zu uns kam. Das, was sich heute aktiv als polizeilich-militärischer Triumph hervortut.

    Die große Zeit blieb nicht stehen, sondern begann ihren eigenen Schwanz zu jagen wie ein beklopptes Kätzchen. Erst kamen die Demonstranten. Dann die Gefangenentransporter. Dann wurden Kredite verteilt und die Zinsen wucherten. Danach wieder Demonstranten. Und noch mehr Gefangenentransporter. Und fünfzehn Tage für einen Repost. Und dann durfte selbst die Kartoffel das Land nicht mehr verlassen. Und in der Ukraine sind wieder „Nazis“.

    Damals aber, an der Jahrhundertwende, war in der netten Kulturwelt alles greller und bunter. Wir durchforsteten die Archive und studierten das Verpasste. Der Eiserne Vorhang hatte sich irgendwohin verzogen. Die Zensur war eingetrocknet. Für Rock’n’Roll wurde man nicht mehr verhaftet. Europa kam näher, die Grenzen wurden transparenter. Die Bohème bekam britische Journale, schwarze Jeans und polnische Platten. Vor diesem Hintergrund des popkulturellen Glücks war es den abgesonderten aktiven Bürgern noch gleichgültiger, wohin die Machtspitze uns manövrierte. Gleichgültig und unverändert unklar.

    Die Bewegung im Stil der lässigen beautiful People blieb die beste Technik des psychischen Wohlbefindens und ein sicherer Selbstschutz vor den weiteren Mobilisierungen. Die minimalen Karriereoptionen und null Einflussmöglichkeiten auf die bestehende Ordnung wurden vollständig kompensiert durch die Absage des Staates, sich in deine persönlichen Pläne einzumischen. Man konnte weiterhin als Dekor leben, da immer mehr Dekor hinzukam. Der Lebensraum deiner Transitträume erstreckte sich von Porto bis Stockholm.
    Doch hier geht es wieder nicht um die Zukunft. Nicht ums Morgen. Denn all dieser Jazz ertönte hier und jetzt. In unseren unteren Etagen.
    Und wer weiß, was die da oben rauchten? Und ob dort überhaupt noch jemand am Leben war?

    Man kann das leicht als stagnierenden Stupor oder nationale Depression betrachten. Als abgekartetes Spiel der sozialen Stabilität: „Ihr lasst nichts anbrennen – wir üben keinen Druck aus.“ Doch ich würde eine solche Ordnung eher als kulturelle Gleichgültigkeit bezeichnen. Als flackernde Präsenz einzelner Piratensender dort, wo Störsender nicht hin reichen. 
    Ja, das ist ein Spiel mit Metaphern, aber keine verbale Effekthascherei. Einfach nur der Versuch Bedeutungsnuancen mit Wortkonstruktionen zu erfassen. Der hybride Zustand kulturellen Tauchens mit Übergang zum emotionalen Strudel. 

    Dabei haben auch Sinnbrüche einen Sinn. Und in parallelen Sphären findet sich manchmal Licht. So hatte auch unsere nach dem grenzwertigen Präsidenten benannte Provinzdiktatur ihre samtene Periode. Irgendwo in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts ergab sich eine inoffizielle Parität zweier Unabhängigkeiten – derjenigen der Basis und derjenigen der Spitze. Die stille Anerkennung der gegenseitigen Unvereinbarkeit des Old-School-Regimes und der neuen kreativen Klasse. Wir können so gut ohneeinander, dass wir einander nicht auf die Mokassins treten. 
    Nahe, aber nicht zusammen. Eine scheinbar integrierte Nation. Bis zum ersten Protest. Bis zur ersten Verhaftung.

    Es war eine wunderbare Welt an der Welt vorbei. Ein choreografierter, ineinandergreifender Übergang von Hochtechnologie und Machtbalett. Hi-Tech-Dancing im Affenhaus. Die Außerirdischen sind schon angekommen und lassen sich bereitwillig als Minderheit und rein dekorative Rasse halten. 

    No News from Belarus / Foto  © Alexander Komarov, 2010
    No News from Belarus / Foto © Alexander Komarov, 2010

    No News from Belarus – wie ein belarussischer Künstler melancholisch konstatierte. Wieder Sowjetunion, nur durchtrainiert. Zwei ausgebremste Realitäten – den administrativen Wahnsinn und das kreative Hub – nähten Staatssicherheit und Venediger Biennale periodisch aneinander. 
    Auf die Schnelle. Situativ. Notdürftig. Thema hinbiegen und Problem abhaken, solange niemandem Leid zugefügt werden musste.

    Was geschah im stürmischen Jahr 2020? Bruch der Konventionen. Die oberste Etage krachte unter Schreien, Schimpfen und Schüssen runter. Wahrscheinlich bildeten sie sich ein, dass der Keller den Umsturz angezettelt hatte, um zum Penthouse zu werden. Vielleicht war es an einem gewissen Punkt auch so. Wirklich, wie kann man nicht das Penthouse sein wollen? Das wollen doch alle.

    Der aufgebrachten Vertikale der trüben Macht waren zwei einfache Ideen nicht zugänglich. Erstens: Es gibt nichts Schlechtes an der Horizontalen. Und zweitens: Der größte Feind der Vertikalen ist die Vertikale selbst. Eine aggressive Gopnik-Band hat die Führung des Landes ruiniert, schuld aber sollten die sein, die Mandarinen schälen oder einfach das Kinderzimmer neu tapezieren wollten.
    In der Folge wurde nicht darüber gestritten, wo man leben wollte, sondern mit wem man sein will. Alles ist ganz einfach: Sie können uns nicht vergeben, dass wir ohne sie zurechtkommen. 

    Die Kolchos-Elite wird von ihrer eigenen Geistesarmut, ihrer aggressiven Selbstverliebtheit und der völligen Phantasielosigkeit erstickt. Daher der Wille, alles zurückzudrehen. Wo es noch verständlich war. Aufzeigen, dass die horizontalen Menschen ein statistischer Fehler sind. Alles, was in diesen unglücklichen, vom Fernseher ramponierten Köpfen ankommt: „Sie lieben uns nicht, weil sie gekauft wurden“. Hier gibt es nicht nur keine Zukunft. Hier gibt es nicht einmal eine wirkliche Gegenwart.

    Worin liegt also der Sinn einer belarussischen Perspektive? Darin, dass hier keine für alle gültige Version entstanden ist. Die Nation lebt dauerhaft im dauerhaften Ungleichtakt. Tür an Tür, aber in verschiedene Richtungen.

    Fast wie die Konstellation in Berlin: S-Bahn versus U-Bahn. Verkehr auf verschiedenen Ebenen. Oben der Versuch zu regieren – eine (scheinbar) pragmatische Polit-Choreografie und/oder ein hysterischer Tanz kriegspropagandistischen Vokabulars. Unten – das private Mosaik aus Bruchstücken des vergangenen Lebens. 
    Die Züge fahren nicht nur auf verschiedenen Ebenen. Sie fahren in verschiedene Richtungen und mit unterschiedlichen Passagierzahlen. Es gibt grundsätzlich nie einen Zug für alle. Auch die Waggons sind verschieden. Und dabei geht es nicht um besser oder schlechter. Es sind verschiedene Systeme von Organismen. Verschiedene Lebensformen. Wie Fische und Kaninchen. 
    Die Zukunft wächst gleichzeitig in alle Richtungen. Es kann nie nur eine geben. Zum Glück. 

    Und nun kommt das Wichtigste: Die Zukunft gibt es nicht deshalb, weil jemand sie besser als ein anderer erdacht hat. Sie ist kein Plan und kein Szenario. Sie ist ein gegebener Verlauf jenseits toter Konzepte. Ein anderes Leben, das keine Angst hat sich zu verändern. Die natürliche Erfahrung eines vorübergehenden Bewohners instabiler sozialer Verschiebungen. Ihr Sinn ist die Unschärfe der Route und ein nicht offensichtlicher Bedeutungshorizont. Der Zustand der offenen Suche und der permanenten Degustation von Optionen.

    Sie kann nicht regiert werden, und sie hat keinen Chef. Sie ist eine unumkehrbare Abfolge von Dias und ein permanentes Upgrade von Inspirationsquellen und Energieressourcen. Die echte Zukunft killt unsere Illusionen. Und sie gelingt niemals hundertprozentig. Die Zukunft ist der Anstieg von Problemen und Katastrophen. Ein Training am Komplizierten. Oder Dramedy Non-Stop.    

    Die Zukunft gibt es nicht, weil sie schon da ist. Und unser allgemeines Theater bleibt Theater, nur kann man die Show jetzt anschauen, ohne die Angst kotzen zu müssen. Was rettet? Wir haben das Recht auf eine Stimme, Bewegungsfreiheit und Zutritt zur Bühne. Was stört? Genau dasselbe.
    Gut daran – regelmäßiger Spielerwechsel, die Freiheit abzuhauen, der Effekt der Mitleidenschaft und die ständige Wahl der Helden der Saison. Schlecht ist, dass ständig jemand den Einsatz verpasst, in den Saal platzt, die Rolle verwechselt und scharf drauf ist rumzuballern.

    Heute lebt jeder sein Morgen – so gut er kann – für sich. Die Nation ist keine Paradeabordnung, sondern einfach ein gut ausgestattetes Feld für gemeinsamen Jazz. Statt einer verängstigten Kaserne – ein zerfranster Stapel bunter Identitäten. Postkino. Telegram-Style für die posttotalitäre Gesellschaft.
    Apokryphen sind unvermeidlich. Mutationen erwünscht. Dezentralisierung garantiert.

    Das totalitäre Theater brennt – aber im Großen und Ganzen gibt es niemanden, der ihm nachweinen würde. Außer Feuerwehrleuten, Platzanweiserinnen und Jongleuren ballistischer Raketen.
    Die Matrix ist zerlegt. Die Kreativität ist geblieben. Sie haben nichts mehr miteinander zu schaffen.

    Stellt euch die Titanic vor, deren Decks wie ein Strandhaus im Hurricane auseinanderfliegen. Welche gemeinsame Zukunft sollten sie haben? Sie haben nichts gemeinsam: Ozean, Sturm, Eisberg. Und eine absolut vorhersehbare Scheiße. Deren Fahrplan wiederum für jedes Deck ein anderer ist. Die Bedeutung dieser Zukunftsversion liegt am Ende einer gemeinsamen Route und eines gemeinsamen Märchens. Und auch im gemeinsamen Unglauben an Märchen und Märchenerzähler. Nein, die Bullshit User werden bleiben. Aber die Realität wird sie schnell korrigieren.

    Sie kommt auf Putins Panzern angefahren und bringt die nächste Brigade derer, die mit einer ausgedachten Vergangenheit vergiftet wurden. Um sie in kalten ukrainischen Feldern zu vergraben. Oder sie führt dich in der Geschützpause raus zum Rauchen. Damit du die Sterne am Himmel zählst – Gold auf Blau. Und dich freust, dass du die Morgendämmerung noch erlebst.

    Was eint? Was verbindet uns alle in diesen Erschießungsstürmen? Keine neue Ganzheit, sondern ein neuer Schwall von Brüchen. Die Stabilität der Instabilität. Wir sind schon morgen. Weiter zu denken ist unmöglich.

    Die Bewohner der Gegenwart wurden in eine unerwartete, katastrophal schöne Konstellation geworfen – Flüchtlinge und politische Gefangene, Schützen und Poeten, Performer und Cyber-Partisanen, IT-Jedi und Straßencellisten, rebellische Gastronomen und Underground-Künstler – sie alle werden nicht durch ein neues Zirkuszelt gerettet, sondern durch seine glänzende Abwesenheit.
    Zeit für aufrechten Aufbau und messerscharfe Wahl. Die Möglichkeit für seltsame Reime und spontane Konsonanzen. Ein mosaikhaftes Draußen. Raum der situativen Kollaborationen. Logik der Easy Riders.

    Nächster Orientierungspunkt? Zugluft und Mangel als Zone des persönlichen Antriebs und der privaten Obsessionen verstehen und lieben.
    Der grundlegende Sinn? Kontrolle über die eigene private Situation. Einrichtung der Selbstbestimmung. Der persönlichen – also der öffentlichen.
    „Imagine there’s no heaven …“ Der bebrillte Beatle Johnny-John wusste, was er sagen sollte. 
    Es ist einfacher, in einen leeren Himmel zu fliegen.

    Wie also existieren? Leben nach der verbrannten Show. Sich schärfen für eine neue Welt. Schusswaffen und Messer verbinden. Asche kosten. Hülsen aufsammeln und Matrizen begraben.
    Es gibt keine Kanons, es gibt einen Baukasten der Bedeutungen. Einen Garten sich gabelnder Pfade. Jeder ist sein eigener Borges. Jeder ist sein eigener Buddha.
    Danke, Chaos. Die Ordnung tötet sich selbst.

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  • „Der Krieg mit uns selbst“

    „Der Krieg mit uns selbst“

    Laut des russischen Verteidigungsministeriums sollen die „militärischen Aktivitäten“ in der Ukraine bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduziert werden. Man wolle sich vor allem auf den Donbass konzentrieren. Allerdings gingen die Angriffe von russischer Seite auch nach dieser Ankündigung weiter. Es gab auch das erste Treffen seit Wochen zwischen Vertretern der Ukraine und Russland in Präsenz. Doch ob die Verhandlungen wirklich eine Annäherung gebracht haben, wird sich erst zeigen müssen. Bisher wird das eher skeptisch gesehen.

    Belarussische Medien wie Zerkalo berichteten am Dienstag von einem Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine nach Belarus, das der Kreml von Anfang an als Aufmarschgebiet für den Angriffskrieg genutzt hat. Immer wieder gab und gibt es Hinweise, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko eigene Truppen in den Krieg schicken könnte, was bis heute allerdings nicht passiert ist. Ein Grund könnte sein, dass Lukaschenko die innenpolitischen Folgen eines solchen Schritts fürchtet. Denn die große Mehrheit der Belarussen scheint gegen den Krieg zu sein. Mittlerweile kämpfen mehrere Gruppen mit belarussischen Freiwilligen auf Seiten der Ukraine. Und im Land selbst haben Belarussen durch diverse Protestaktionen oder Sabotageakte beispielsweise an den Eisenbahnstrecken, über die russisches Gerät transportiert wird, ihren Unmut gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Grund: Der Widerstand innerhalb der belarussischen Armee gegen den Kriegseinsatz ist einfach zu groß.

    Die Belarussen befänden sich in einer komplexen moralischen und emotionalen Zwickmühle, meint der belarussische Autor Maksim Shbankou. Nach einer begonnenen friedlichen Revolution im Jahr 2020, die aber nicht zu einem Wechsel der Regierung geführt hat, seien sie nun Teil einer Gemengelage, die durch Lukaschenkos fatale Abhängigkeit vom Kreml entstanden ist. In dieser unheilvollen Situation würden sich auch bekannte Komplexe und Schuldgefühle bemerkbar machen und altbekannte Unsicherheiten in Bezug auf das kollektive Ich der Belarussen. In einem Stück für das belarussische Online-Portal SN Plus seziert der in Vilnius lebende Shbankou die momentanen Selbstvergewisserungsversuche und -möglichkeiten der Belarussen.

    Belarussischer Protest gegen Russlands Krieg in der Ukraine / © Belarusian Canadian Alliance
    Belarussischer Protest gegen Russlands Krieg in der Ukraine / © Belarusian Canadian Alliance

    Der Krieg arbeitet in zwei Richtungen: Er pustet die Hirne durch und erhöht den Grad des Wahnsinns. Klar, die Führung des Landes liegt im Koma. Unangenehm, wenn du selbst nicht im Land bist. Plötzlich schämst du dich, dass hier nicht geschossen wird und du nicht schießt. In die richtige Richtung. Irgendwie peinlich, jetzt shoppen zu gehen. Den Newsfeed zu scrollen – ist eine billige Ausrede: Scheinbar auf dem Laufenden zu sein, aber doch dran vorbei. Du wartest auf eine Invasion oder Raketen. Du weißt nicht mehr genau: Ist es gut oder schlecht, dass Vilnius so nah an Minsk liegt? Seltsam, Filme anzuschauen. Keine Filme zu schauen ist noch seltsamer. Uncool, Russisch zu sprechen. Und du weißt nicht, wo man eine kugelsichere Weste kauft. Unser Film hat Schnellvorlauf integriert. Der Plot schwimmt und schmilzt. Es bleiben nur die einfachen Dinge. Ohne Angst aufwachen. Rausgehen. Die Katze füttern. Sich selbst für schuldig an allem erklären. 

    Die beste Frage des russisch-ukrainischen Krieges: Wie hält man es mit den Belarussen? Am häufigsten hört man das von den Belarussen. Alle anderen kümmert es nur schwach – im Zusammenhang mit Alltagsgeopolitik oder öffentlicher Rhetorik. Sie leben von anderem. Aber wir haben ja nur uns. Unsere Firmenstrategie ist die aggressive Selbstaufopferung: Wir verhören uns selbst, wir richten und verurteilen uns, wir nageln uns selbst ans Kreuz. Wenn man es durchschaut hat, tatsächlich eine hervorragende Form der traumatischen Eigenwerbung. 

    Vielleicht nimmt man uns so wenigstens wahr. 

    Wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben

    Die erste ukrainische Front ist dort, wo Kiew belagert wird, Iskander in Geburtskliniken einschlagen, ausgebrannte russische Panzer liegen und Wohngebiete flächenbombardiert werden. Die zweite ist in den Köpfen einzelner belarussischer Klugscheißer. Die sich nicht entscheiden können, was sie tun sollen: Reue zeigen oder gekränkt sein. Für alle Fälle wählen sie einfach beides.

    Was hat uns gekränkt? Dass wir im Sandkasten vergessen wurden. Dass wir so großartig sind – aber nur schwach geliebt werden. Prag macht dicht, London will uns nicht, die Grenzer lächeln nicht.

    Dass Europa uns einen Kampf schuldig ist – aber diese Schuld nicht einlöst. Dass Schengenvisa zu kurz sind und die Überweisungen zu lange dauern. Dass die Belarussen nicht im Trend und überhaupt kaum auf der Agenda sind – dabei war das Thema noch gar nicht durch. Dass sie uns blöde mit Lukaschenko verwechseln – und jetzt auch noch mit Putin.

    Plus, wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben. Und jetzt auch noch Putin.
    Ein triumphales Tribunal. Humanitäre Selbstverstümmelung. Und was nun? Wir wurden so gemacht. Wir haben uns so gemacht. Vermeintliche Papierschiffkapitäne. 

    In einer Situation, in der Dächer einstürzen und Züge brennen, fliegt unser kulturelles Gepäck wie der Koffer eines überstürzt Flüchtenden in alle Winde und legt intime Details grundlegender geistiger Übungen dem zufälligen Betrachter zum Urteil vor. Geistige Klammer namens postsowjetischer Intellektualismus.

    Alles hier besteht aus populären Illusionen, ausgebremstem Transitiv und emotionalen Rückschlägen. In einer solchen nach fremden Vorbildern zusammengebauten Welt bewegen Klugscheißer die Massen und säen das ewig Gute, diktieren Bücher die Regeln, erhalten die Beleidigten Blümchen, triumphiert die Vernunft, herrschen höhere Werte. Und das klangvolle Wort eines Nobelpreisträgers wiegt mehr als eine Ladung Marschflugkörper aufs nächste heiße Ziel.

    Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe

    Hier laufen zwei im postsowjetischen Raum populäre Legenden in einem gemeinsamen Schwung zusammen: intellektuelle Selbstverliebtheit und provinzielle Unterlegenheit. Erstere erlaubt es jedem beliebigen Individuum, das halbwegs „Habermas“ aussprechen kann, im Namen des besten Teils der Nation auf Sendung zu gehen. Letztere bringt einen dazu, sich beleidigt und minderwertig zu fühlen, selbst wenn man es in die höchste Liga geschafft hat. Der traumatische Messianismus bringt komplexbehaftete Helden zum Vorschein und fordert im Gegenzug obligatorische Knickse und regelmäßige Reue. Aber muss man überhaupt sagen, dass beide oben beschriebenen Märchen ausschließlich in unserer Fantasie existieren?

    Die Nation ist eine Abstraktion. Das Volk eine Verallgemeinerung. Ein Konzept. Ein rhetorisches Mittel. Wollen die Russen Krieg? Eine inhaltslose Frage, die nach Konkretisierung schreit. Ist der Dichter schuld, dass er Schriftsteller und nicht Scharfschütze ist? Selbes Spiel. Oder: Ist Belarusse ein Makel oder ein Qualitätsmerkmal? Ebenso. Frag gefälligst konkreter.

    Sich für die Hölle zu entschuldigen ist ausschließlich dann sinnvoll, wenn du – und zwar genau Du und nicht eine angenommene „Nation“ oder ein „Volk“ – irgendwie in der Lage warst, die Geschehnisse zu beeinflussen. Und das nicht getan hast. Mit anderen Worten, Reue erfordert Beteiligtsein.

    Ein in Asphalt gewalztes Land möchte bestimmt nicht an einem Panzertango teilnehmen. Und ohne den verlieren alle Reueakte und weitere Wortakrobatik sofort ihren Wert, wenn wir den Mund aufmachen.
    Noch eine Videoansprache. Noch eine Petition. Ein neues Wortpaket. Eine frische Geste. Und noch ein Kommentar hinterher. Wer hat denn gesagt, dass unsere Konzepte etwas wert sind? Wer hat entschieden, dass die Orks Partituren brauchen?

    Wir sind schön, laut, leicht verbeult – und stehen noch auf einem leeren Bahnsteig. Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe. Wir senden im Namen derer, denen das scheißegal ist. Wir sind bereit, fremde Schuld auf uns zu nehmen, die wir niemals begleichen können. Noch immer zu wenig Liebe? Stellt euch drauf ein, es wird schlimmer.

    Es hat uns alle zugedeckt. So leben wir weiter.

    Die zweite ukrainische Front – das ist der Krieg mit uns selbst. Mit der erdachten Mission und dem erträumten Status. Mit der Facebook-Brunft und der Youtube-Extase. Mit der ewigen Promo-Aktion der eigenen Minderwertigkeit und dem Pseudo-Partisanentum.

    Ein jeder hat sein Gewicht. Seine Geschichte. Und seine Front. Wir brennen wie wir können.

    Alles Weitere ist Agitation und Propaganda.
     

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  • Von Fischen und Menschen

    Von Fischen und Menschen

    Der belarussische Lyriker und Philosoph Ihar Babkou, geboren 1964 in der belarussischen Stadt Homel im Südosten des Landes, ist einer der prägendsten Denker und Intellektuellen der jüngeren Ideen- und Geistesgeschichte seiner Heimat. Für seine Lyrik und Essays wurde Babkou vielfach ausgezeichnet. Er hat sich eingehend beschäftigt mit der Bedeutung des belarussischen Kulturraums als europäischer Grenzregion und als Raum, der zwischen oder am Rande von Imperien lag und liegt. Dabei geht es ihm immer wieder um die Bedeutung für die Ausformung einer nationalen Identität und kulturellen Selbstverortung. Vor dem Hintergrund des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, erörtert Babkou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft in seinem Essay die ideengeschichtliche Einordnung dieser Zeitenwende, die Europa erschüttert. Es gehe vor allem um die Verteidigung der Diversität, schreibt er. Es sei „ein Krieg für die Diversität. Ein Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa“.

    Belarussisches Original

    Русская Версия

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    1. Krieg und Frieden

    Es existiert die Ansicht, dass die Philosophie die Dinge komplizierter macht, als sie wirklich sind. Aber auch so etwas gibt es: Die Dinge an sich sind uns unbekannt, und die Philosophie zeigt sie komplizierter, als sie dem gewöhnlichen Menschen erscheinen.

    Es gibt jedoch Kontexte, in denen möchte man klar und deutlich sein. Daher beginne ich mit Definitionen. 

    Wenn wir über die „Russische Welt“  sprechen, meinen wir eine bestimmte ideologische Doktrin und die ihr entsprechenden Praktiken des russischen Staates, die bereits seit einigen Jahrzehnten in latenter Form im politischen und kulturellen Bereich präsent sind, aber erst 2014/2015 vollständig zum Vorschein gekommen sind. Üblicherweise setzen wir diese neue „Russische Welt“ in Anführungszeichen und markieren damit die Abgrenzung zur ideologischen Bedeutung des Begriffs in der Zeit davor, in der er die „kulturelle und wirtschaftliche Unterstützung der Russen im Ausland“ bezeichnete, ebenso wie die allgemeine Bedeutung dieser Wortgruppe, die tatsächlich alles Mögliche heißen kann (darunter auch die schöne Utopie der russischen Kultur jenseits von Barrieren, Grenzen und Mächten).

    Die heutige „Russische Welt“ umfasst Praktiken des brutalen und aggressiven Neoimperialismus, die vor allem gegen die direkten Nachbarstaaten gerichtet sind. Sie trägt aber auch eine allgemeine „geopolitische“ Vision von der ganzen Welt in sich. Die Vorstellung von einer Zukunft der Menschheit, in der starke Herrscher effektiv und straffrei Ressourcen und Territorien unter sich aufteilen. Die wichtigste konzeptionelle Emotion, die der „Russischen Welt“ zugrunde liegt, ist die postkoloniale Haltung eines Beleidigten, die an die Oberfläche tritt als ein „Warum mag man Russland nicht“, „Warum werden Russlands Interessen nicht berücksichtigt“ und „Warum haben sie Russland vergessen“. Daher sind die Kriege an der Peripherie und die Destabilisierungsversuche der globalen Ordnung nur als Instrumente von Bedeutung, um Russlands Eintritt in die schöne neue Welt zu ebnen, in der es auch „Rechte haben“ wird. Recht auf Krieg. Auf Lügen. Auf Mord und Inhaftierung kritischer Stimmen. Auf zynisches Ignorieren der öffentlichen Meinung. Auf eine Welt, in der mit Russland „gerechnet werden“ muss. 

    Diese postkoloniale Kränkung reift schon seit Längerem heran. Entsprechende Symptome findet man seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Doch der Übergang zur brutalen und aggressiven Phase geschah so abrupt und unerwartet, dass es ein wirklicher Schock für Intellektuelle war – sowohl in Russland als auch in Europa. Selbst heute kann ich nicht eine richtungsweisende Arbeit nennen, ob nun auf Deutsch oder Französisch, die über den Versuch der situativen Beschreibung der Ereignisse und Schuldzuweisungen hinausgeht und hinter dem ideologischen Konzept eine bestimmte Denkweise erkennt und ihre Funktionsweise versteht.

    Beschreibt doch bitte Grundlagen und Konzepte und stellt dann endlich die Frage nach der neuen Epoche, in die wir aus unseren fröhlichen Postmodernismen und bedeutend weniger fröhlichen Postkommunismen nun hineingeraten sind. 

    Einen Text, der die Praktiken imperialen Denkens kritisch reflektiert oder gar dekonstruiert, anstatt nur Risiken und Folgen zu kalkulieren. Das Imperium findet zuallererst im Geiste, in den Köpfen und Texten statt, erst danach beginnt es sein Wirken in der politischen und wirtschaftlichen Realität. Das Imperium, das sind nicht nur Armee, Geheimdienste und Kolonialverwaltung. Es sind auch Werte, Emotionen und kulturelle Codes. Ein Weltbild, das als universell aufgedrückt wird.

    Noch bedeutsamer ist, dass in der aktuellen intellektuellen Sphäre Europas nicht nur reflektierende Texte fehlen. Es fehlt auch der Ort, von dem eine solche Reflexion ausgehen könnte. Und eine Sprache, in der diese kritische Reflexion stattfinden könnte.

    Es mutet seltsam an, denn im gesamten 20. Jahrhundert war in Europa eine Überproduktion kritischer Theorie zu beobachten. Heute verstehen wir jedoch auch ohne weitere Argumente: die Hegemonie der Neomarxisten, die Frankfurter, die Baudrillardschen Simulacren, selbst Sloterdijks zynische Vernunft und Žižeks Glanznummern zu Lacan, sie alle sind nicht in der Lage, die neue Realität zu beschreiben, die der russisch-ukrainische Krieg und die belarussische Revolution freigelegt haben. 

    Und nun sind wir bereit, die Wahrheit auszusprechen: Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht, welche Epoche wir betreten haben.

    ***

    Hier entsteht die Verlockung zu sagen: Einer der Denkorte, von dem aus die Zukunft sichtbar wird, ist heute die osteuropäische Grenzregion. 

    Und die Sprache, in der man konzeptuell über die neue Epoche sprechen kann, kann die Sprache der belarussischen und ukrainischen (postkolonialen) Theorie sein, ihre formalisierende und konzeptualisierende Erfahrung in der Konfrontation mit dem Imperium. Das Überleben dieser Kollision. Die Verteidigung der eigenen Subjektivität und Andersartigkeit.

    Denn gerade das ist das Erstaunlichste: Ungeachtet zweier Jahrhunderte permanenter Arbeit des Imperiums ist die osteuropäische Grenzregion nicht nur nicht verschwunden, nicht im Schmelztiegel des Imperiums und der sowjetischen Nation aufgegangen, sondern hat sogar ihre paradigmatische Andersartigkeit gestärkt.

    So zeichnet sie sich heute weniger durch Regionalität, sondern als wirkliches Alternativkonzept zur „Russischen Welt“ aus. 

    In einem klassischen Text über die Tragödie Mitteleuropas stellte Milan Kundera das Paradigma der „maximalen Vielfalt auf geringstem Raum“, das er das mitteleuropäische nannte, dem Paradigma der „geringsten Vielfalt auf größtmöglichem Raum“ gegenüber, das er auf die damalige UdSSR bezog. 

    Wir könnten also sagen, dass das osteuropäische Grenzgebiet nicht nur für die Verteidigung der Ukraine bestimmt ist. Oder für die Unterstützung der belarussischen Revolution. Es geht vor allem um die Verteidigung der Diversität. Um einen Krieg für die Diversität. Einen Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa.

    *** 

    In Belarus hat die kritische Dekonstruktion des östlichen Nachbarn eine lange intellektuelle Tradition, chiffriert in grundlegenden Mythen der Identität, sie beginnt letztlich mit dem belarussischen Projekt an sich. Letzteres ist nicht einfach ein Standardprojekt des Nation Building mit zentralem Fokus auf dem sozialen Aspekt (soziale Befreiung des belarussischen Dorfes), sondern auch ein explizit antikoloniales Projekt (diese Befreiung ist nicht möglich ohne die Strukturen des imperialen Jochs zu demontieren).

    Begonnen bei Adam Mickiewicz, der als erster in der hiesigen Tradition das Imperium kritisiert (vor allem in der Ahnenfeier (Dziady), aber auch in den Büchern des polnischen Volkes und seiner Publizistik der 1830er Jahre), später Janka Kupala, dessen Tuteischyja (Die Hiesigen) ein klassisches Beispiel für Literatur ist, die ein koloniales Trauma bearbeitet, Ihnat Abdsiralowitsch und Uladsimir Samojla, die eine entsprechende Metaphysik der belarussischen anti- und postkolonialen Handlungsmacht erarbeitet haben, bis hin zu Sjanon Pasnjaks klassischem Text Über den russischen Imperialismus und seine Gefahren und eine ganze Reihe postkolonialer Analytik vom Ende der 1990er Jahre, – die belarussischen Intellektuellen stellen wieder und wieder die passenden Fragen und geben immer neue Antworten.

    Hin und wieder glaubt man schon, dass es davon zu viel in der Kultur gäbe. Dass die zentrale Aufgabe sei, „das Imperium zu vergessen“, endlich zur Normalität überzugehen und zu erinnern, dass wir „alle gemeinsam zu den Sternen fliegen“.

    Doch jedes Mal, wenn die Intellektuellen sich an die Umsetzung dieser Aufgabe machen, wendet sich die Geschichte erneut, und wie am Murmeltiertag wachen wir auf, im Bett mit dem Imperium, erinnern uns qualvoll an den Vortag und versuchen zu begreifen, wie all das noch enden wird.

    *** 

    Vorreiter bei der Adaption der westlichen postkolonialen Theorie für die osteuropäische Grenzregion war die ukrainische Diaspora. Der Australier Marko Pavlyshyn, die Amerikanerin Oksana Grabowicz und andere verfassten zu Beginn der 1990er Jahre erste Texte, in denen sie aufzeigten, dass Frantz Fanon, Edward Said und sogar Homi K. Bhabha, dass all das auch um uns geht. Die Entstehung einer ukrainischen Theorie verdanken wir zwei Kiewer Intellektuellen: Oksana Sabuschko und Mykola Rjabtschuk. Sie waren es, die die postkolonialen Studien aus dem akademischen Ghetto befreit und in eine Logik und Strategie für die Kultur verwandelt haben, in eine Kulturpolitik. Konzeptuell war die Ukraine seit dem Ende der 1990er Jahre bereit für die Situation „nach dem Imperium“.

    In der russischen Intellektuellenszene ist die Situation weniger erfreulich. Nur drei Beispiele möchte ich anführen. 

    2006 erschien in Moskau die russische Übersetzung von Edward Saids Orientalismus in einem Verlag namens Russkij Mir (dt. Russische Welt). Im Vorwort wurde darauf hingewiesen, dass Said Palästinenser sei, den Westen kritisiert und daher, wenn nicht Verbündeter, so doch sicher „Weggefährte“ unseres Imperiums sei. Unerwähnt blieb an dieser Stelle jedoch, dass Saids Buch die Entstehung eines der stärksten und effektvollsten Diskurse befördert hatte, in dem das Imperium (alle Imperien) kritisiert und dekonstruiert wird. 

    Im selben Jahr, 2006, inszenierte das Bolschoi Dramatitscheski Teatr (BDT) in Sankt Petersburg das Stück Translations von Brian Friel. Der Autor der russischen Version, Michail Stronin, gab dem Stück den Titel Nushen perewod (dt. etwa Es braucht (eine) Übersetzung). Friels Stück wird an Universitäten schon lange als Klassiker postkolonialer Literatur behandelt. Es zeigt, wie die imperiale Macht gewaltsam den Raum überschreibt, indem sie nicht nur die Geografie und kulturelle Tradition zerbricht, sondern auch die Lebenswelten der Bewohner. Insofern kann seine Botschaft nicht unpassender verstanden werden als mit „Perewod nushen“.

    Und das letzte Beispiel: 2011 erschien in Cambridge Alexander Etkinds Buch Internal Colonization: Russia’s Imperial Experience, in dem der Autor anstrebt, den intellektuellen Apparat der postkolonialen Studien an die intellektuelle Geschichte des Russischen Imperiums anzupassen. Ich sage es gleich: Bei aller Sympathie für den Autor und die Verdienste des Buches an anderen Stellen – sein postkolonialer Teil ist ein komplettes Fiasko. Der Autor steigt direkt mit der kolonialen Annahme ein, „ganz Russland kolonisiere sich selbst“, wodurch er nicht nur andere konzeptuelle Perspektiven marginalisiert und verdrängt, sondern auch alle Völker und Gebiete, die das „Glück“ hatten, sich innerhalb Russlands zu befinden.

    Diese drei Geschichten sind bezeichnend für das Verständnis der russischen intellektuellen Szene der letzten Dekaden. In meinen Augen sind sie Teile einer Kette, zeigen ein und dieselbe kulturelle Logik und denselben Denktypus.

    Und alle drei Geschichten zeugen von Nichtbegegnung. Nicht nur mit Said, Friel und den akademischen postkolonialen Studien. Sondern vor allem den nächsten Nachbarn – Belarus und der Ukraine.

    2. Fische und Menschen

    „Ich bin kein Fisch, ich bin Ichthyologe“, sagte der Redner.

    Das war ein Scherz unter Profis. Wir saßen in einer geschlossenen Zoom-Konferenz, einem Seminar, und diskutierten einen Vortrag über die belarussische Revolution. Er war relativ kurz. Die erste halbe Stunde zur Kultursoziologie (um die Instrumente festzulegen). Danach zehn Minuten über den August 2020 (um den Kontext herzustellen). Zum Schluss wurde es konzeptuell: Es war eine Revolution des Visuellen. Sie hatte keinen sozialen oder politischen Inhalt außer der eigenen phänomenalen Performativität. Das Volk zeigte sich einfach selbst. Trat auf die Bühne der Geschichte. Spazierte durch ihre Straßen und Gassen.

    Mir verschlug es die Sprache. Dann folgte ein Anflug von Hysterie. Nicht nur, weil das alles der Wahrheit entsprach – genauso hatten wir es gemacht. Sondern auch, weil dies eine These war, die ein guter Ausgangspunkt für weitere Überlegungen gewesen wäre. Für Fragestellungen. Aber der Redner beendete damit seinen Vortrag und seine weiterführenden Gedanken galten lediglich den Veröffentlichungsmöglichkeiten seiner Erkenntnisse.

    Zweifel konnte es ohnehin nicht geben. Der Redner war ja ein Ichthyologe.

    ***

    Für die hiesigen Ichthyologen brach eine wunderbare Zeit an. Und sie hatten sie verdient. Jahrzehntelang hatten sie weder Aufmerksamkeit noch Wertschätzung erfahren. Die letzte Diktatur, die entnationalisierte Nation. Seltsam, dass ihr überhaupt noch lebt. Dann kam 2020 und rückte alles wieder an seinen Platz. 

    Jetzt konnten sie Vorträge und Mitteilungen schreiben, Konferenzen organisieren, Sammelbände herausgeben. Die Revolution wurde zum Modethema. Vorher war sie offensichtlich vorbei, zu Ende, ein totes Objekt. Man konnte Monographien schreiben, ohne zu befürchten, dass das Finale die Erkenntnisse in Frage stellen wird.

    Mit den Fischen war es schon schwieriger. Wir fühlten uns gar nicht so optimistisch.

    ***

    Vor unseren Augen zerfielen alle Versuche zu verstehen, was mit uns passiert. Wir hatten das Seminar von Anfang an geleitet und hatten alle Stadien durchlaufen. Von Euphorie und Erhabenheit der ersten Treffen, über den Willen zum Wissen während der Kulmination, bis zur Sorge und Depression während der Pogrome.

    Am Anfang standen Ideen und Muster für jeden, es schien, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. Dann begannen die exklusiven Spiele. Alle wollten ihr Stück von der Ruhmestorte abbeißen.

    Die Feministinnen schrieben, es sei eine weibliche Revolution. Und verließen das Land.

    Die progressiven Liberalen schrieben, das sei ihre Revolution, sie habe alle befreit und nun seien alle frei. Die Konservativen waren misstrauischer. Sie bezweifelten zwar den Heldenmut des Volkes nicht, doch die Anführer und deren Richtung passten ihnen nicht. Und so schwankten sie: Mal lobten sie das Volk, mal schimpften sie auf die „zufälligen Anführer“.

    Es gab noch die Kreativen. Die hatten eigene Versionen.

    Das Tragikomische an der Situation war, dass alle recht hatten. Die Feministinnen, die Progressiven, die Konservativen, selbst die Poeten.
    Die Revolution gab allen mehr als möglich. Aber nur für eine gewisse Zeit.

    Diese Zeit ist nun offensichtlich vorbei. Und das war furchtbar. Dass die Dinge, die auf der Bühne der Revolution wie Gold und Glitter aussahen, im Licht der neuen Epoche nur Tand und Blendwerk sind.

    ***

    Das alles kulminierte, und sank dann sanft wieder ab in den Bereich des Gewöhnlichen, Alltäglichen. Alles kehrte an seinen Platz zurück. Man konnte sich umschauen und Bilanzen ziehen. Es war kein Anblick für schwache Nerven.

    Wir waren am Boden. Über den Asphalt malmten russische Panzer. Es war unklar, ob die Okkupation lange dauern würde oder ob es noch eine Chance gab.

    Die exklusiven Spiele kamen zur Ruhe. Niemand schrieb mehr, dass „wir“ das waren. Wirklich. In den Gefängnissen saßen über tausend Häftlinge. Die eine Hälfte des Landes hasste die andere Hälfte aufrichtig. Von Emotionen überwältigte Journalisten schrieben vom Krieg.

    Wie sind wir dahingekommen? Nach den Rosen und Umarmungen, den Teepartys in den Innenhöfen und den süßen Träumen vom Sieg. Und noch eins. Eine Frage, die wir uns kaum zu flüstern trauten.

    Wer übernimmt die Verantwortung für all das?      

    ***

    Der Fischwitz ist gut, schrieb ich in den Chat.
    Nur bin ich kein Ichthyologe. Ich bin ein Fisch.
    Und es scheint höchste Zeit zu sein, sich in die Tiefe zu verdrücken.

    ***

    Noch gestern erinnerte Minsk an das Paris der Zwischenkriegszeit: Cafés eröffneten und schlossen wieder, Bücher und Performances sprudelten förmlich, IT-Leute halfen Katzen und Hunden, die Mittelklasse kaufte Wohneigentum und reiste durch die Welt.

    Wie und warum ist all das verschwunden?

    Wie und warum konnte eine Macht, die schon fast gewonnen, alle Formen des Widerstands in sich vereint hatte, plötzlich das eigene Projekt zerstören und mutigen Schrittes in den Selbstmord gehen und nebenbei noch alle ins Giorgio-Agamben-Konzentrationslager schicken?

    Das liegt alles an ihm, sagt A. Dem Chef der Gazprombank. Man muss ein völliger Idiot sein, um zu glauben, dass er wirklich gewinnen wollte. Von der Revolution ganz zu schweigen. Bestenfalls, wenn wir optimistisch sind, hätte er zehn Prozent geholt und einen Sitz im Parlament. Mit weißen Bändern und Russlands Unterstützung.

    Das Schlimmste wäre, wenn es ihm gelungen wäre. Dann hätten wir nicht mehr zwei Seiten im Land, wie jetzt, sondern nur noch eine. Die Gefängnisse wären auch voll, aber dort würden „eure ganzen Nationalisten“ sitzen.

    Das ist alles Verschwörungstheorie, sagt B. Das kann nicht sein.

    Ja, Verschwörung, stimmt A. zu. Aber das kommt vor.

    ***

    Der Postkommunismus ist halt vorbei, sagt C.

    Jahrzehntelang Katastrophen und Enttäuschungen, die wir mit Süßigkeiten kompensiert haben. Fast dreißig Jahre haben sie uns angefüttert. Emotionen, Erwartungen. Noch ein bisschen, dann siegen wir. Die Macht wird unsere sein.

    All das war verlockend. Wenngleich von Beginn an klar war: Dieses „wir“, das siegen wird, gibt es nicht. Und die Macht wird niemals „unsere“ sein. Sobald „Unsere“ dahingelangen, passiert etwas Seltsames mit ihnen, das sie sofort zu „Nicht Unsrigen“ macht. 

    Es begann mit dem Gefühl der Freude. Die Zukunft ist ganz nah, bei unseren Nachbarn ist sie schon angelangt. Man musste nur die Hausaufgaben gut machen. So sein wie alle.

    Dann schreiben die Historiker, dass die Mittelklasse im Westen seit 1972 im Niedergang begriffen sei. Dass hinter den Fassaden Ungleichheit und Ungerechtigkeit herrscht. Dass alles modert. Und seit 2008/09 bröckelt es in aller Öffentlichkeit. Dass Osteuropa sich zu früh gefreut hat, als es mit der altersschwachen Barkasse den Luxusliner erreichte, auf dessen Oberdeck ein Orchester spielt. Denn das sei die Titanic.

    Das Böse erkennt man nur mit dem Mikroskop, sagt C., das ist die Hauptsache. Das ist die wichtigste Erkenntnis, für uns und die ganze Welt. Plötzlich veränderten sich die Dioptrien und alle konnten es in seiner ganzen Widerwärtigkeit sehen: Auf der Welt herrscht das Böse. 

    ***

    Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil jemand sie sich ausgedacht hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.

    Was auch immer die Ichthyologen schreiben, ich kenne das Geheimnis der belarussischen Revolution. Doch davon spricht man nicht einmal im Flüsterton. Denn ausgesprochene Worte verändern sofort ihre Bedeutung. Und Geschriebenes trifft es erst recht nicht. Und dennoch.

    Es war ein Aufstand der Fische. Die Revolution der Antipolitik.

    Kein Sturm, keine Machtübernahme. Sondern ein erfolgreicher Auszug aus der Festung. Eine Flucht in die Zukunft.

    Die Vergangenheit ist immer ein soziales Projekt. Eine kollektive Erinnerung, leicht zu manipulieren. Mit der Zukunft ist es komplizierter. Die Zukunft ist eine Hoffnung. Eine Bestrebung. Und vielleicht ein Glaube.

    Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil  sie sich jemand ausgedacht hat oder konstruiert hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.

    In diesem Lichte ist das ziellose und sinnlose Durch die Straßen Gehen gar keine so dumme Beschäftigung: Sich die Zukunft zurückholen – das war der wahre Inhalt des revolutionären Laufs.

    Wer da hinausgegangen ist, kehrt nicht wieder zurück.  

    ***

    Nur das hat wirklich Sinn, in jeder Revolution: das Unmögliche zu fordern. 

    Gemeinsam mit dem Wind auf den Höhen sein, gemeinsam mit der Welle die Mauern abtragen, gemeinsam mit den Wolken die Freiheit üben.

    Mit nichts übereinstimmen, losgelöst gehen. Stets aufgeschlossen sein, nie dagegen.

    Sich den Naturgewalten nicht entgegenstellen, sondern ihre Stärke nutzen.

    Neue Regeln schreiben, um mit Vernunft zu leiten.

    Geopolitik und Post-Wahrheit verbieten.

    Journalisten einen Pflichtkurs in Mediation verpassen, wenn sie mit Emotionen handeln.

    Im Grundschulunterricht immer wiederholen:

    Wir sind keine Ichthyologen. Wir sind Fische.

    3. Untergegangen

    – Herr Präsident, was ist mit Russland geschehen?
    – Es ist untergegangen.

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  • Brief an die Ukraine

    Brief an die Ukraine

    Seit Alexander Lukaschenko das Territorium von Belarus als Aufmarschgebiet für den Krieg Russlands gegen die Ukrainer zur Verfügung gestellt hat, toben auch in den sozialen Medien scharfe Auseinandersetzungen. Von der ukrainischen Seite wird den Belarussen vorgeworfen, sie müssten kollektive Verantwortung für diesen Krieg übernehmen. Die Anfeindungen zeigen mitunter, dass das Wissen bei den Nachbarländern über die jeweiligen politischen Systeme nicht sonderlich ausgeprägt ist. Der litauische Politologe Vitis Jurkonis beispielsweise sagt: „Man muss das Regime in Belarus und sein Volk auseinander halten.“ Denn es waren Belarussen, die sich bereits früh ab Ende 2013 den Maidan-Protesten in der Ukraine angeschlossen haben und auch teilweise in den Krieg in der Ostukraine gezogen sind. Auch aktuell gibt es Freiwillige, die sich für den Einsatz in der Ukraine melden, sowie zahlreiche Solidaritätsaktionen, die Belarussen für die Ukraine organisieren. Nach den Protesten im Jahr 2020 sind mehr als 100.000 Belarussen vor den Repressionen in ihrem Land in die Ukraine geflohen. Nun müssen sie wieder fliehen.

    Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič wendet sich in einem offenen Brief, der auf der Webseite der ukrainischen Zeitschrift Ukrajinsky Tyshden (dt. Die Ukrainische Woche) veröffentlicht wurde, an die Ukrainer. Darin erklärt er nicht nur seinen persönlichen Schmerz über den und seine persönliche Schuld an dem Krieg, sondern auch die seiner Landsleute, dazu die zahlreichen Beziehungen, die sich zwischen Ukrainern und Belarussen entwickelt haben und die Bedeutung der Proteste in Belarus. Er wendet sich gegen den Vorwurf, dass seine Heimat nun grundsätzlich als „Fleck der Schande“ angesehen werden soll.

    Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer! Meine Helden, meine Freunde.
    Ihr Menschen, um die es uns allen heute weh ist. 

    Ich will nicht, dass dieser Text als Beschönigung oder Entschuldigung gelesen wird. Für Entschuldigungen ist es schon zu spät – und es hat auch keinen Sinn. Die Kriegsmaschinerie läuft, der Tod kommt gleichzeitig aus mehreren Richtungen, darunter auch vom Staatsgebiet meiner Heimat, und mit Entschuldigungen hält man sie nicht auf. Ich will auch nicht, dass mein Text als Buße verstanden wird. Buße tun sollen die, die Blut an ihren Händen haben. Ihr seid im Krieg, Ihr verteidigt euer Land – und wir sind nicht in der Kirche. Wir alle stehen vor dem Gericht der Geschichte, auf unterschiedlichen Seiten einer Zivilisationsgrenze, die nicht wir gezogen haben. In hässlichen Tagen, vor allem für die Ukraine, aber auch für ganz Europa, das in der Falle seines Strebens nach „Frieden um jeden Preis“ gefangen ist. Das ist das Europa, an das ich noch glaube und auf das ich hoffe. Dessen Hoffnung Ihr jetzt seid. Ich will so sehr, dass Ihr diesen Text bis zum Ende lest. Danach könnt ihr uns Belarussen hassen, ihr könnt uns verachten – oder doch nachdenken, wer euer Gegner ist, ob mein Belarus wirklich euer Gegner ist. 

    „Wir Belarussen sind friedliche Menschen …“
    So beginnt die Nationalhymne der Republik Belarus. Die Musik stammt noch aus sowjetischen Zeiten, nur der Text ist neu. Irgendwann klang an dieser Stelle ein sklavisches: „Wir Belarussen, verbrüdert mit Russland …“ Aber weder die alte noch die neue Hymne hat mein wahres Belarus anerkannt. Diese Hymne ist für uns ebenso Symbol der Diktatur wie die rot-grüne Fahne und das sowjetische Wappen. Doch das interessiert die Welt bereits nicht mehr. 
    „Wir Belarussen sind friedliche Menschen …“ Lange Zeit befriedigte diese Formel alle Seiten. Sowohl die staatliche Propaganda als auch die Gegner des Regimes verwendeten sie gern. Wir sind friedliche Menschen. Das war eine Erklärung, der alle gern zustimmten, ob nun Machthaber oder Opposition. 

    Belarus ist jetzt der Aggressor und reiht sich damit in die Liste der finstersten Länder der Weltgeschichte

    Jetzt ist es eine Lüge. Die schöne alte Erzählung von den friedliebenden Menschen und ihren guten Nachbarn wurde von einem Augenblick zum anderen zum heuchlerischen und blutigen Lügenmärchen. Zusammen mit dem „verbrüderten Russland“ ist Belarus zum Aufmarschgelände für den Angriff auf die Ukraine geworden. Belarus ist jetzt der Aggressor und reiht sich damit in die Liste der finstersten Länder der Weltgeschichte. Das Bild vom „friedlichen Menschen“ ist im Nu zerstoben – für immer. Auch das Bild, das uns als Opfer zeigt, die jahrhundertelang unterdrückt und vernichtet wurden, aber überlebten und dafür respektiert werden sollten. Lukaschenka hat Belarus und sein Volk endlich in die letzte Sackgasse geführt, aus der nun alle herausklettern müssen, auch die, die sich „für Politik nie interessiert haben“. Niemand kann es aussitzen und wegschweigen. Niemand wird mehr sagen können: „Ich bin ein kleiner Mensch, ich habe damit nichts zu tun“. Aber das Entsetzlichste ist: Für diese hässliche Rolle, die Belarus jetzt spielt, werden auch die nächsten Generationen zahlen. Beim Wort „Belarus“ werden im Bewusstsein der Welt noch sehr lange die Bilder des Krieges auftauchen: die Bilder jenes Krieges, in dem Belarus zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht Opfer oder Verteidiger ist, sondern der getreue Handlanger von Putins Faschismus. 

    Noch vor Kurzem waren wir so stolz, dass wir in den Augen der Welt endlich ein schönes, starkes Antlitz haben: das Bild der mutigen Frauen und Männer, die 2020 ohne Waffen, nur mit ihrem Freiheitswillen und Protestworten auf die Straßen gingen und sich gegen die bis zu den Zähnen bewaffneten Militäreinheiten stellten, die sich selbst als „Miliz“ und „Armee“ bezeichneten. Jetzt ist dieses Bild durchgestrichen und verschmiert. So überpinselt man in meiner Heimatstadt Minsk bis heute die Revolutionsgraffitis. Doch jetzt wird es mit ukrainischem Blut verschmiert – von Menschen, die sich – wie auch ich – Belarussen nennen. Aber wir, die wir von einem anderen Belarus träumen und seit Jahren versuchen, diese Träume wahrzumachen – wir fühlen uns stärker mit Euch Ukrainern verbunden als mit unseren Generälen und Soldaten, die in Euer Land einmarschieren. 
    Deshalb bin ich, der belarussische Schriftsteller Bacharevič, bereit, meinen Teil der belarussischen Verantwortung auf mich zu nehmen. Ich bin bereit, die belarussische Schuld und die belarussische Schande auf mich zu nehmen, wie es seinerzeit während des Zweiten Weltkriegs auch die deutschen Literaten in der Emigration taten. Das ist eine der Aufgaben der Literatur heute. Schuld und Schande anzuerkennen. 

    Aber ich bin dagegen, dass mein Belarus heute ausschließlich ein Fleck der Schande und des Hasses für die Welt sein soll. 

    Ihr, die Ukrainer, verteidigt Euer Land. Eure Armee, eure Territorialverteidigung, jeder Ukrainer und jede Ukrainerin widersetzen sich dem Aggressor. Euer Krieg ist ein Verteidigungskrieg, ein Krieg für die Freiheit. Ihr seid schon einen so langen Weg zur Freiheit gegangen, dass Putins Imperium Euch nie wieder in sein Gefängnis zurückholen kann. Die Ukraine hat sich für immer verändert. 

    2020 haben wir, die Belarussen, uns davon überzeugt, dass wir keine belarussische Armee haben. Die Einheiten, die uns verteidigen sollten, führten Krieg gegen unbewaffnete Menschen. Die Belarussen haben gesehen, wie die, die dem Volk ihre Treue geschworen hatten, dieses Volk ohne mit der Wimper zu zucken verrieten, wie sie aktiv an Massenrepressionen gegen die eigenen Mitbürger teilnahmen. Seitdem hält niemand im Land die belarussische Armee mehr für wirklich belarussisch. Belarus hat keine Armee. Es hat nur Lukaschenkas Generäle, die von Putins Medaillen träumen. Es hat diejenigen, die deren verbrecherische Befehle ausführen. Und es hat Menschen – die jetzt als Kanonenfutter in einem verbrecherischen Krieg benutzt werden. 

    Ich glaube an Worte als die letzte Waffe des Menschen

    Man sagt mir wieder und wieder, das seien nur Worte. Die Ukraine erwarte von uns Belarussen entschlossenes Handeln. Doch das, was ich kann, sind eben nur Worte. Worte, für die ich mich verantworte. Ich glaube an Worte als die letzte Waffe des Menschen. Ich schreibe euch aus der Emigration – aus dem Europa, in dem noch Frieden herrscht, ein sehr wackeliger Frieden. Ich schreibe aus dem Europa, das heute unglaubliche Einigkeit demonstriert, aus dem Europa, das für euch einsteht. Und was die Entschlossenheit angeht: Im Jahr 2020 gingen Hunderttausende Belarussen gegen dieses Regime auf die Straße, das heute die Ukraine überfallen hat. Darunter war ich, waren meine Freunde und Kollegen. Zehntausende wurden in Gefängnisse gesteckt, wo sie gefoltert wurden und weiterhin gefoltert werden. Zehntausende emigrierten. Und Tausende, die in der Heimat geblieben sind, führen den Widerstand im Untergrund fort. 

    Dort, in der Heimat, ist alles vernichtet. Selbst das kleinste bisschen, das zuvor hartnäckig, der Macht zum Trotz, in den letzten zehn Jahren herangewachsen war. Nicht einmal diese minimale Freiheit, die uns früher kritisches Denken und produktives Schaffen erlaubte, ist geblieben. Es gibt keine freien Informationsplattformen mehr, die die Wahrheit über die Ereignisse in der Ukraine erzählen könnten und helfen könnten, den Krieg mit ukrainischen und belarussischen Augen zu sehen. Sie alle sind blockiert, als „extremistisch“ und „staatswidrig“ abgestempelt, die Journalisten sitzen im Gefängnis oder arbeiten im Ausland. In Belarus herrschen nach dem August 2020 Schmerz und Furcht. Belarus ist eine einzige, große Wunde. Ich weiß nicht, ob es noch Familien gibt, die nicht von den Repressionen betroffen sind. Belarus konnte seit der Zerschlagung der Proteste kaum einatmen, da wurde es schon in einen blutigen Krieg gezogen. Für mich sieht es so aus: Man hebt einen schwer Verletzten auf und beginnt, mit seinem Kopf die Tür des Nachbarn einzuschlagen. Wer trägt die Schuld? Natürlich der Verletzte. Es ist ja sein Kopf.

    Damals, 2020, unterstützten uns die UkrainerInnen sehr stark in unserem Kampf. Sie unterstützten uns vor allem mit Worten – und es waren sehr wichtige Worte, die wir nie vergessen werden. Ist es wirklich die Schuld der Belarussen, dass wir die Mauer nicht zerstören konnten? Dass wir Putin unser Land besetzen ließen? Dass wir dem russischen Faschismus erlaubten, unser Land zu benutzen? In historischer Perspektive – ja, vielleicht. Aber wir leben hier und jetzt. Zehntausende Belarussen sind Repressionen ausgesetzt und sitzen im Gefängnis. Und ich werde nie zustimmen, dass sie Hass und Verachtung verdienen. Was sie getan haben, war nicht umsonst. Wenn auch sehr langsam, so ist Belarus doch aus dem süßen Lukaschenkaschlaf erwacht. Geschichte wird nicht an einem Tag gemacht. Die Belarussen, die für Freiheit waren, werden sie vielleicht niemals sehen. Aber bedeutet das wirklich, dass alles, was sie taten, umsonst war? 

    Ist wirklich alles, was die ukrainischen Medien 2020 über Belarus berichteten, so rasch vergessen worden? Vielleicht schon lange vor dem Krieg? Wenn ich heute lese, was die ukrainischen Medien über das sogenannte Referendum schreiben, das am Sonntag in Belarus abgehalten wurde, traue ich meinen Augen kaum. Diese weitere Farce, von der Diktatur organisiert, um das Land unter totale Kontrolle zu bringen und endgültig Russland auszuliefern, wird als antiukrainische „Willensäußerung des belarussischen Volkes“ dargestellt. Ich verstehe, dass der Informationskrieg in vollem Gang ist. Dass der Hass auf den Feind eine heilige Sache ist. Aber es war keine „Willensäußerung“. Es war nur eine weitere absurde Inszenierung in Lukaschenkas Staatstheater, ein weiterer „eleganter Sieg“, wie Lukaschenka es gern nennt. 

    Belarus lebt jetzt in einer Situation, die man als Bürgerkrieg unter ausländischer Okkupation beschreiben kann. Belarus ist nicht die Ukraine. In Belarus gibt es keine belarussische Regierung, keine belarussische Armee, keine belarussische Miliz, keine belarussische Politik, keine belarussischen freien Medien. Belarus ist verstümmelt, Belarus ist gespalten, Belarus weiß nicht, was es mit sich selbst anfangen soll, wie es überleben und nicht von der Weltkarte und aus dem Territorium der Moral verschwinden kann. Mein Belarus existiert jetzt als über das Land und darüber hinaus verstreute Widerstandsherde, die nur eine Aufgabe haben: überleben und Kräfte sammeln. Die Hoffnung, dass sie heute in der Lage sein könnten, sich zu vereinen, die Regierung zu stürzen und den Krieg zu beenden, habe ich nicht. Aber diese Widerstandsherde sind die Grundlage des zukünftigen friedlichen Staates, der freien Nachbarin der freien Ukraine. Diese Widerstandsherde unterstützen heute die Ukraine, sie machen für euch alles was in ihrer Macht steht. Ist es wirklich richtig, diese Bemühungen zu ignorieren, wenn sie doch euch gelten – euch, genau wie dem zukünftigen Belarus? 

    Belarussen leben jetzt in einer Leere – zwischen Licht und Dunkelheit

    Irgendwann im Jahre 1968 schrieben die Tschechen über sieben (nur sieben) sowjetische Dissidenten, die auf dem Roten Platz in Moskau gegen die Invasion in der Tschechoslowakei protestierten: Diese sieben Menschen seien sieben Gründe, warum wir Russland nicht hassen können. Nur am Sonntag und am Montag wurden in Belarus etwa eintausend Menschen dafür verhaftet, dass sie gegen den Krieg in der Ukraine protestierten. Und ich wage zu hoffen, dass diese Menschen ebenfalls eintausend Gründe sind, Belarus nicht zu hassen. 

    Ich will nicht, dass dieser Text wie Weinen oder Jammern wirkt. Als würde ich vor Euch auf die Knie gehen. Wenn ich, wie viele andere Belarussen, meine Honorare an die ukrainische Armee und für humanitäre Hilfe spende, wenn meine Frau und ich Sachen für ukrainische Flüchtlinge bringen – dann bin ich kategorisch dagegen, dass dies als Freikaufen von Schuld verstanden wird. Ich tue das als Gleicher für Gleiche, vor allem als Mensch, aber auch als Belarusse, der helfen will. Wenn meine Frau und ich zu Unterstützungsdemonstrationen für die Ukraine gehen, dann tun wir das nicht, weil wir ein schlechtes Gewissen haben, sondern um Einfluss auf die Politiker im Westen auszuüben, die noch darauf hören, was das Volk ihnen sagt. Wenn ich, ein Emigrant in Graz, diesen Text schreibe, dann tue ich das nicht, um Vergebung zu erhalten, sondern weil ich nicht schweigen kann und will. Als ich meine Bücher schrieb, als ich in meinem Roman Die Hunde Europas vor der Gefahr des Putinschen Imperiums warnte, las die Mehrheit das als Phantasmagorie und Dystopie. Jetzt leben wir alle in dieser Dystopie. Habe ich alles getan, was ich konnte? Diese Frage richtet sich nicht an euch, ich muss sie selbst beantworten. Wie alle Belarussen. 

    Und doch kann ich nicht ruhig und verständnisvoll zusehen, wie die Ukrainer uns im Netz immer öfter schreiben: „Ihr, Belarussen, liebt doch euren Putin!“ Sie schreiben es nicht den chronischen Putinoiden, sondern den Belarussen, die jahrelang gegen Putins Faschismus gekämpft haben und Belarus nicht zu Europas Schande werden ließen. Ich kann nicht ohne Entsetzen lesen, dass man den Belarussen, die ukrainischen Flüchtlingen helfen, die Autoscheiben zerschlägt – nur, weil das Auto ein belarussisches Kennzeichen hat. Ich kann nicht ertragen, wenn jemand Menschen, die durch Lukaschenkas Repressalien gegangen sind, schreibt: „Ihr Schweinehunde, küsst euren Lukaschenka.“ Ich kann nicht sehen, wie die Belarussen, die in der Ukraine eine Zuflucht vor dem Regime gefunden haben, heute aus ihren Häuser gejagt werden. À la guerre comme à la guerre … Aber was gibt euch dieser Hass? Wenn Ihr überzeugt seid, dass der Hass euch hilft, die Besatzer zu besiegen, werden wir ihn schweigend ertragen. Wir werden euch unterstützen auch wenn ihr uns hasst. Dieser rückhaltlose Hass auf alles Belarussische bringt euch keinen Freund im feindlichen Land mehr als ihr schon habt. Aber Belarus ist kein feindliches Land. Die Belarussen leben jetzt in einer Leere – zwischen Licht und Dunkelheit. Wir schämen uns, wir fürchten uns, und wir sind beleidigt – aber wir sind auf eurer Seite. Mit Worten, mit Gedanken, mit Taten und auch mit Waffen – denn für Euch kämpfen heute auch Belarussen. Und viele meiner Landsleute können nicht einschlafen, sie lesen Nachrichten und verfluchen die zwei Verrückten, die diesen Krieg entfacht haben: Putin und Lukaschenka. 

    Wir haben uns nicht ausgesucht, wo wir geboren sind. Genau wie Ihr. 

    Ein Teil des teuflischen Moskauer Plans ist die Vermehrung des Hasses. Wo immer es geht. Das ist ihre langfristige Aufgabe, mit der sie schon vor langer Zeit begonnen haben. Für den Kreml ist es besonders wichtig, den Hass zwischen seinen Nachbarn zu schüren. Diesen Hass auf ein solches Niveau zu treiben, dass eine Rückkehr zur Normalität in den Beziehungen unmöglich wird.
    Darauf folgt, nach ihrem Plan, das klassische divide et impera

    Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer, wir haben einen gemeinsamen Feind. Er freut sich über jeden Konflikt zwischen uns. Wenn Putin und Lukaschenka sehen, dass der Hass zwischen uns wächst, lächeln sie zufrieden. Das bedeutet, alles geht nach Plan. Wollen wir wirklich, dass sie zufrieden lächeln? 

    Wir haben einen gemeinsamen Feind. Bitte lasst uns das nicht vergessen.

    Wer weiß, vielleicht ist es auch schon zu spät. 


    Alhierd Bacharevič (* 1975, Minsk/Belarus) ist ein belarussischer Schriftsteller und Dichter. Seine Romane und Essaybände sind ins Deutsche, Englische, Französische, Polnische, Russische und Schottische übersetzt. 2017 erschien das Hauptwerk des Autors: Die Hunde Europas. Das Belarus Free Theater inszenierte den Roman in Minsk und in London. Die Neuauflage des Romans wurde im Frühjahr 2021 von Lukaschenkos Behörden konfisziert und als „extremistisch“ und „staatswidrig“ eingestuft. Bacharevič ist für sein Schreiben in Belarus vielfach ausgezeichnet worden. 2021 wurde er mit dem deutschen Erwin-Piscator-Preis geehrt. Auf Deutsch sind aktuell der Roman Die Elster auf dem Galgen sowie die Essay-Sammlungen Berlin, Paris und das Dorf und Sie haben schon verloren erhältlich. Seit Dezember 2020 lebt Alhierd Bacharevič mit Julia Cimafiejeva mit dem Literaturstipendium Writer in Exile in Graz.

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  • Polyphone Zeugen von Ende und Anfang

    Polyphone Zeugen von Ende und Anfang

     „Ich zerstöre und transformiere, um zu retten.“ Die Lyrikerin und Übersetzerin Hanna Komar wurde 1989 in Baranawitschy geboren und ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation in Belarus. In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht sie der Frage nach, mit welchen sprachlichen Mitteln das Geschehen in ihrer Heimat seit Beginn der Proteste im Sommer 2020 beschrieben und adäquat eingefangen werden kann: durch Poesie oder Prosa? Ist es überhaupt möglich, den Schrecken, den Horror, das Unvorstellbare so zu vermitteln, dass der Grundstein für eine Zukunft gelegt werden kann? Eine zutiefst existenzielle und aktuelle Frage, die auch aus dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wie ein Mahnmal herausragt.

    Belarussisches Original
    Russische Version auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung” © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” © Tosla

    Belarus 2020/2021 – als Dokumentarpoesie: Diese literarische Form ist vor langer Zeit entstanden und lebte ihr heimliches Leben, beachtet vor allem von Redakteuren bei Literaturzeitschriften und in Akademikerkreisen bekannt, vornehmlich im Westen; lange war sie eine Randerscheinung und nicht anerkannt, umrankt von endlosen Diskussionen über ihre Herkunft und Verortung. Die amerikanische Dokumentarpoesie wurde beispielsweise in den 1920er-/1930er Jahren politisch, engagierte sich sozial, entwickelte sich vom reinen Lyrismus zu hybriden Formen und wandte sich der Geschichte, Folklore und Reportage zu.1 In Belarus geschah das 2020.

    Um ein neues Dokumentargedicht zu schaffen, müssen Ursprungstext und Ursprungstexte zunächst zerstört werden. Die Syntaktische Kompatibilität muss hinzugewonnen werden, der Sinn auf einer anderen Ebene konkretisiert.

    „Die teilzerstörte poetische Sprache bleibt ein System, sie hält die Verbindungen zusammen, die Objekte und Konzepte, Signifikanten und Signifikante aneinanderbinden, und vereint figurative Systeme verschiedener Spektren, um eine künstlerische Aussage zu schaffen, die dem System der betreffenden Welt angemessen ist.“2

    Ich zerstöre und transformiere, um zu retten.

    Um in die Zukunft von Belarus zu schauen, brauche ich andere Texte Menschen, weil mich schon allein das Wort lähmt – „Zukunft“. Der Ungewissheit und der Angst begegnen, sie durchleben, durch das Sieb der Freiheit seihen, um das ruhige, besonnene, hoffnungsvolle Gefühl der Erdung zurückzuhalten. In diesem Zustand ist es viel leichter zu leben, sich zu verändern und sie zu erschaffen – die Zukunft …


    Montage, Rhythmisierung, Fragmentierung

    „Bald werden wir siegen“, wiederholten wir bei jedem Treffen und planten das Leben für danach. Bücher herausgeben, Stücke inszenieren, tanzen gehen, die Arbeitsstelle wechseln, sich verlieben, ausschlafen … erst werden wir siegen – und dann. Bis zum ersten Marsch, bis Neujahr, bis zum Frühling, bis zum Jahrestag der Proteste …

    Mit diesem „bald werden wir siegen“ haben wir wohl den Moment hinausgezögert, an dem wir eine Entscheidung treffen und endgültig und unwiderruflich Verantwortung übernehmen müssen: Das Land wird uns gehören, und was dann? Dann können wir uns nicht mehr davor verstecken, wie unterschiedlich wir alle sind, wie stark unsere Beziehungen von einer Kultur des Zwangs und der Gewalt durchsetzt und vergiftet sind. Was, wenn wir uns in Friedenszeiten nicht einig sind und unsere Solidarität zur süßen Erinnerung wird, fast zu einem Traum?

    Seite an Seite marschierten Gläubige und Ungläubige, Menschen aus der LGBT-Community und Homophobe, Kinderlose und Abtreibungsgegner, Emigranten und Xenophobe, Feministinnen und Sexisten … Wir wollten auf diesem High bleiben, auf dem reinsten, qualitativ hochwertigsten Zeug. Der Siegesruf erschien uns als der Zauberstab, der mit einem Schlag alle Probleme löst. Doch mir scheint, dass die Mehrheit von uns eigentlich zurück zu den „Bouletten“ wollte – was auch immer hinter diesem Euphemismus steht: Das Kümmern um die Familie, Bücher schreiben, ein Geschäft führen oder viele andere Varianten und Kombinationen. Ist das nicht der Grund, warum so viele über diesen Wunsch empört waren? Diesen Wunsch, der da laut von demjenigen geäußert wurde, auf den wir so viele unserer Projektionen gerichtet hatten? 


    Vertikale Zwischenräume

    Das Gedächtnis ist die Fähigkeit des Gehirns, Informationen willkürlich festzuhalten und wiederzugeben. Mit anderen Worten also die Fähigkeit, die uns erlaubt, Ereignisse, Gedanken, Gefühle und Konzepte sowie die Verknüpfungen zwischen ihnen zu erinnern. 
    Oktober 2021. London, Innenstadt. Ich stehe vor der Universität und unterhalte mich mit einem Studenten aus Moldawien – über die Veränderungen in seinem Land nach 30 Jahren Kampf, über die erste Präsidentin, auf die man wirklich bauen kann, über Belarus. Ich erzähle sehr emotional – wie auf der Bühne, einem Podium – das ein Gewicht hat, das über einen längeren Zeitraum hinweg Stück für Stück in Richtung Abgrund verschoben wird, früher oder später hinunterfällt. Ich beende gerade den Gedanken und drehe mich in Richtung Fahrbahn, als gegenüber eine Reihe großer, dunkelgrau-grüner Autos halten. Mein Atem stockt. Ich weiß, dass hinter mir eine Tür ist und dass ich dorthin fliehen kann. Mir ist klar, dass das keine Gefangenentransporter sind und dass keine Spezialeinheiten herausstürzen werden. Sie sind nicht wegen mir da, sie wollen niemanden holen. „Atme, Liebes, atme, mach bloß kein Drama.“


    Blackouts

    Das kollektive Gedächtnis formt Identität und Handlungen einer Gemeinschaft und gibt ihr die Möglichkeit, in der Zukunft Fehler zu vermeiden.3

    Wir sind so, wie es uns beigebracht wurde: „unglückliche Wichte, naiv, hilflos; unser Kreuz ist schwer und wir müssen es tragen, bis wir das Ende des Regenbogens finden …“ Eine kurze Zusammenfassung des Lehrplans in belarussischer Literatur, einer zielgerichteten Politik zur Austreibung der Freiheit und der Lebenslust. So sind wir aufgewachsen, so lebten wir im Zustand der erlernten Hilflosigkeit, der Unsicherheit bezüglich unserer Fähigkeiten, unseres Rechts, Fragen zu stellen, Nein zu sagen, andere Lösungen zu suchen, etwas Besseres zu fordern. So funktionierte unser kollektives Gedächtnis. 

    Das, was wir jetzt schreiben, und das, was die neuen Menschen lesen werden, wird unser neues kollektives Gedächtnis ausmachen. In dieser neuen Etappe sind die Protagonist:innen reifer und lassen nicht zu, dass ihre Erfahrungen abgewertet werden. Sie haben die Sache zu Ende geführt und können es sich erlauben, den Ton zu diktieren. Diktiert – ich bin bereit, euch durch mich erzählen zu lassen, wie groß eure Angst war und wie ihr sie überwunden habt. 


    Übertragungen, Worttrennungen, Streichung

    Die Zukunft ist ein Bedürfnis höherer Ordnung, das du nicht befriedigst, solange die Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind – zum Beispiel die Vergangenheit. 

    Am 17. September 2020 verließ ich nach 9 Tagen Haft das Gefängnis in Shodsina. Bei der Festnahme hatte ich keine Angst, die Angst kam später – die Angst, wieder ins Gefängnis zu kommen. Am 27. September saß ich eine Stunde lang in Minsk am Fenster und beobachtete durch die Bäume hindurch, was am Platz vor der Stele passiert, las die Nachrichten von den Gefangenentransportern und den Festnahmen auf dem Weg zum Protestmarsch und hatte Angst, aus dem Haus zu gehen. Dann zog ich dunkle Sachen an, eine alte Jacke, um die es nicht schade war, und ging hinaus. Wie eine warme Brise wehte er mir ins Gesicht, der Strom der Menschen, die zur Stele liefen: ruhig und ausgeglichen, selbstbewusst. Menschen, die (noch) wussten, warum sie aus dem Haus gegangen waren – um sich die Zukunft zurückzuholen. 

    Eine Zukunft gibt es nicht ohne die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist wie dein Elternhaus, in dem noch die Tapeten aus deiner Kindheit an den Wänden kleben, wo dein einäugiger Plüschhase sitzt, wo du in den Schubladen deine alten Tagebücher findest, in denen du deine erste Liebe und den ersten Betrug beschrieben hast, in die du Zeitungsausschnitte mit deinen Lieblingsgedichten geklebt hast, und auch die Blütenblätter der ersten Rose, die du geschenkt bekommen hast. An diesen Ort kannst du kommen, ein Stück frisches Weißbrot in Himbeermarmelade tauchen, Kräuter in der alten Emailletasse aufbrühen und dich in den Schnee vor dem Fenster vertiefen, wie er wirbelt, fliegt und taut … An diesem Ort ist es still und sicher. Dorthin kannst du zurückkehren, wenn du das Gefühl hast zu vergessen, wer du bist.

    Wenn du häufig umziehst, weil du kein eigenes Haus hast, bewahrst du keine Dinge auf: Tagebücher, Fotoalben oder Kleider deiner Mutter, Beweise dafür, dass du dir deine Kindheit und deine Erinnerungen nicht ausgedacht hast. Wenn du in deinem eigenen Haus wohnst, bewahrst du solche Dinge auf, stellst sie gut sichtbar auf, voll Stolz. Wer sich in seinem Heimatland als Hausherrin oder Hausherr fühlt, dem können die Geschichte und die Erinnerung nicht gestohlen werden. Aber ich wache auf mit dem Gedanken an die Liste mit hunderten Mitarbeiter:innen von Kultureinrichtungen, die entlassen werden sollen, und denke mit Schrecken: Wer wird dann im Maxim-Bahdanowitsch-Museum arbeiten? … Was, wenn sie alle Archive vernichten? Alle, wirklich alle … Haben die Museumsangestellten daran gedacht, haben sie alles gescannt … alles, wirklich alles …

    Uns wird ständig die Vergangenheit gestohlen, deshalb können wir sie nicht loslassen. Wir binden uns mit Ketten an sie, wie Umweltschützer:innen – wenn ihr unseren Wald roden wollt, dann nur zusammen mit uns. Es ist nicht möglich, das loszulassen, was man nie zur Genüge hatte – du suchst es in anderen Sprachen, Landschaften, in der Sicherheit und den Möglichkeiten, aber die Vergangenheit wird dir immer einen Schritt voraus sein. 


    Lückenlosigkeit

    Einer der Sonntagsmärsche; Menschen mit Flaggen, Musik, Plakaten und Sprechchören bewegen sich flott die zentrale Straße entlang. Ich beneide sie um die treffenden, witzigen und ironischen Plakate. Ihre Poesie, Pointiertheit, Prägnanz. Jemand stimmt einen Sprechchor an – ich stimme ein. Welch Erleichterung, dass man bei dieser Prüfung aus vorgegebenen Varianten wählen kann, anstatt eigene zu schreiben. Ich fühle mich wie ein kleiner, leuchtender Zombie.

    Wofür bin ich auf die Straße gegangen? Zuerst habe ich nicht darüber nachgedacht, es musste einfach sein. Hingehen und sehen, wie es wirklich sein kann – mein Belarus. Einen Beitrag leisten, um ein ideales Projekt Wirklichkeit werden zu lassen. Seitdem sage ich immer zuerst „Belarus“, bevor ich meinen Namen nenne. Weil ich Angst habe, es zu verlieren. Und mich selbst?

    Die Zukunft ist dort, wo ich einen eigenen Namen habe. Wo ich das Recht habe, zu sein. Wo die Welt einfach dadurch besser ist, dass ich mir selbst treu bleibe. Wo ich die Möglichkeit habe, das zu tun.

    Ich konnte mir keine Zukunft vorstellen – aber ich ging auf die Straße für die Möglichkeit eine zu haben. 


    Der polyphone Zeuge

    Ich verstumme. Ich habe viel geredet, aber nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich habe Angst, dass wir es nicht schaffen, das Begonnene zu Ende zu bringen … Das ist es, was ich auszusprechen fürchtete.

    „Die Wahrheit ist immer ein realer Schritt zur Befreiung.“4 Die Wahrheit soll und darf nicht nur mir gehören, und ich bin nicht die Einzige, die etwas zu sagen hat. Die Zukunft ist ein Dokumentargedicht, das wir, die so unterschiedlich sind, gemeinsam geschrieben haben. 

    Ein Land ohne Rudimente 
                                                der menschenverachtenden Sowjetler!
              Männer können händchenhaltend auf dem Prospekt spazieren gehen!
    Alle sprechen Belarussisch!                           Katzen und Hunde werden nicht vernichtet!
               Sozialstaat,                                          Keine Ideologie! 
               Kein paternalistischer Abklatsch!
                                                             Keine Scheuklappen!
    Entscheidungen treffen, die die Mehrheit interessieren!
                                                  Die belarussische Jugend eröffnet für sich die Zivilisation!
    Ohne Massenbesäufnisse und Alkoholismus!
        Das Alphabet kehrt zur lateinischen Schrift zurück und die unierte Kirche steht wieder auf!     
          Hofgemeinschaften!         
                                                        Betriebe – Gemeinschaften der Arbeiter!
               Ökologisches Handeln!
    Die Literatur, die in dieser Zeit entstanden ist, wird zum Symbol und Vorbild in uns
    unbekannten Sprachen für uns unbekannte Menschen !
                                                                                                 Glückliche Omas und Opas!
                                                                           Gesetz!
    Singen, tanzen und umarmen auf allen Straßen und Plätzen!
                                                     Keine Xenophobie in den unabhängigen Medien!
                                                                                        Eine große sonnige Familie!
                                         In Schulen und Universitäten – Vielfalt der Selbstverwaltung!
                             Eine gerechte Gesellschaft!
    Du hast keine Angst vor Blicken, strengst dich nicht an, nicht gesehen oder bemerkt zu werden, an keinem Ort, von niemandem …!             
                                            Soziale und kulturelle Inklusion!
          Wir sind zusammen eine demokratische Familie!
    Die Menschen auf der Straße wundern sich nicht über das freundliche Wort eines Fremden!
                Alle Bereiche werden auf Grundlage der Menschenrechte reformiert und gegründet!

                                 – Man darf es nicht aussprechen, es wird sonst nicht wahr.
                                 – ?
                                 – Das galaktische Imperium.
                                 – ?
                                 – Die Wahrheit, natürlich.

    Die Autorin dankt allen, die ihre Träume und Vorstellungen von Belarus‘ Zukunft mit ihr geteilt haben. 


    1.Nowoje literaturnoje obosrenije: Exponirowanije i issledowanije, ili Tschto proischodit s subektom w nowejschei dokumentalnoi poesii: Mark Nowak i drugije 
    2.Suchowei, Darja (2008): Grafika sowremennoi russkoi poesii, Sankt Petersburg 
    3.Hirst W./Yamashiro JK./Coman A. (2018): Collective Memory from a Psychological Perspective 
    4.Karlas Scherman, „Blukanez“ 

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    Brief an Papa

    Nasta Mancevich, 1983 in der belarussischen Kleinstadt Wilejka geboren, debütierte als Lyrikerin und Autorin im Jahr 2012 mit dem Buch Ptuschki (dt. Vögel), das in Belarus für viel Aufsehen sorgte, weil es unter anderem gleichgeschlechtliche Liebe thematisierte. In diesem Text für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft umkreist sie die schwierige Situation in ihrer Heimat Belarus, die seit den Protesten im Jahr 2020 in einer schweren und lähmenden historischen Krise feststeckt. Dabei verbindet sie persönliche Beobachtungen und Reflexionen mit Erinnerungen an ihren Vater und an schmerzhafte Ereignisse, die man durchstehen muss, um womöglich zu einer lebensbejahenden Zukunft zu gelangen.

    Russisches Original auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla


    Als ich geboren wurde, hast du mir ein Gedicht geschrieben:

    für naszja 

    es ist dezember. schnee fällt dicht,
    der erste schnee, mein kind, 
    auf dein gesicht, 
    dein lachen spielt mit warmem lächeln,
    noch fern dein erstes wort,
    dein erster satz.
    doch jetzt schon wärmt an diesem wintertag
    dein lächeln unsere gesichter.

                                                          12.12.83

    du – der mensch, der mir dieses gedicht geschrieben hat – hebt mich als fünfjährige mit seinen großen händen über seinen kopf und wirft mich mit aller kraft zu boden, weil ich zum rausgehen kein kleid anziehen will

    von deinen schlägen mit dem gürtel oder dem schlauch des staubsaugers bleiben noch lange spuren auf meinem kleinen körper zurück

    du, der in rage alle poster von den wänden meines zimmers reißt – ich weiß den grund nicht mehr – 

    und du, der mich nun(mehr) 38-jährige nach mutters geburtstag zum bahnhof begleitet, leicht betrunken, und meinen rucksack auf den gepäckträger des fahrrads legt, das du neben dir her schiebst

    ich sage: „komm papa, ich trag ihn selbst, er ist nicht schwer“, aber du glaubst mir nicht. dir erscheint er schwer, weil all dein schmerz, deine schuld und deine liebe darin liegen.

    Jetzt weiß ich, Papa, was du wohl fühlen musst.

    Ich weiß, wie es ist, einem nahestehenden Menschen Schmerz zuzufügen. Hätte dir jemand am Anfang, als du dieses Gedicht schriebst, von diesem Schmerz erzählt – um nichts in der Welt hättest du es geglaubt. Ich weiß, wie unerträglich groß der Wunsch ist, die Zeit zurückzudrehen, alles wieder an den rechten Platz zu rücken, sich selbst zu betrügen, zu tun, als sei nie etwas geschehen – nur um diesen Schmerz nicht spüren zu müssen.

    Nachdem du mich auf den Boden geworfen hattest, konnte ich einige Minuten lang nicht atmen – offenbar war ich auf den Solarplexus gefallen, sodass mir der Atem stockte – ich weinte aus allen Gründen auf einmal – Schreck, Schmerz, Kränkung, aber allen voran – aus Angst, nicht mehr atmen zu können. Ich verstand nicht, was vor sich geht, wusste nicht, wann das aufhören würde, wie lange ich aushalten muss, ob meine Zeit dafür reicht, ob meine Kinderlunge groß genug ist, um den Moment noch zu erleben, an dem ich wieder Luft holen kann.

    Auch jetzt schnürt es mir die Luft ab, da ich mich entschließe, endlich darüber zu sprechen, überzieht mich mit eisigem Schauer, als würde ich, wenn ich diese Dinge ausspreche, dich und unsere Familie verraten, und dazu habe ich kein Recht. Und ich weiß nicht, ob meine Luft jetzt ausreichen wird, um weiterzusprechen, aber ich möchte es versuchen, auch wenn es eine zerrissene, verworrene Geschichte wird – ich brauche dich bei mir, um sie durchzustehen, um sie beenden zu können und nicht vor Scham und Angst zu sterben. Ich brauche dich. Bleib stehen. Lauf nicht weg. Bleib stehen und zähle, wie lange ich die Luft anhalten kann. Bleib stehen und zähle, während ich dich erstarrt mit erschrockenen Augen anblicke, während ich allein durch die gepeinigte und unerträglich schöne Herbststadt laufe und laufe, während ich diesen Text schreibe.


    Im Jahr 2000 zog ich nach Minsk, mit 17 Jahren. In eine fremde Stadt, zu der ich keine Geschichten oder Erinnerungen hatte, mit der mich nichts verband. Mein gesamtes Gedächtnis war in Wilejka geblieben, doch jetzt ist auch hier ein Ort für mich gewachsen – ich lebe nun schon 21 Jahre in Minsk, den größeren Teil meines Lebens. Die Fenster meiner Wohnung gehen zur Banja hinaus, aus der im September 1999 Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski traten und seitdem nie wiedergesehen wurden. Ich denke jedes Mal daran, wenn ich aus dem Haus trete, zur Metro oder zum Einkaufen, und an der Banja vorbeilaufe. Ich weiß, wo das passiert ist, weil mein Papa mir diese Geschichte erzählt hat, als ich zum Studium nach Minsk zog – als etwas, das ich wissen sollte. Wir saßen in der Küche und er sagte es genau so: „Du solltest das wissen …“ Vor einem Jahr tauchte an dem Gebäude in der Fabritschnaja Straße 20 in Minsk die Aufschrift auf „Wir werden nicht vergeben, wir werden nicht vergessen …“ Heute prangen an dieser Stelle auf einer weißen Mauer zwei sorgfältig gemalte, blass-beige Quadrate. Ich weiß, was sich darunter befindet.

    Jetzt ist ganz Minsk für mich voll solcher Spuren. Ich fahre mit dem Fahrrad durch die menschenleere Stadt, der Wind verweht die herabgefallenen Blätter, hebt sie mutig und selbstbewusst in die Luft, sie wirbeln vor mir herum, als würden sie mir voll Ergriffenheit alle durcheinander von etwas erzählen wollen – ich fahre über die kleine Brücke über die Swislotsch, die Brücke ist rot-grün angemalt, und ich erinnere mich, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch in anderen Farben gestrichen war – doch jetzt fällt es mir sogar leichter, über diese rot-grüne Brücke zu radeln, als wenn gar keine Spuren geblieben wären. Ich weiß, was diese Spuren bedeuten. Für mich symbolisieren sie unseren Schmerz. Es tut mir weh, über diese Brücke zu fahren. Und das ist besser, als gar nichts zu spüren; als so zu tun, als wäre gar nichts geschehen.

    Wir sitzen in der Küche meiner Minsker Wohnung, und während das Wasser im Kessel aufkocht, beschließe ich, dich zu fragen – warum hast du mich geschlagen? Es ist eine rhetorische Frage, wahrscheinlich steht eher das Bedürfnis nach einer Bestätigung dahinter, dass du dich ebenfalls daran erinnern kannst. Deine Antwort berührt mich, und ich glaube sie dir, ob sie ehrlich war – ich weiß es nicht. Dann stelle ich die zweite Frage – wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, würdest du mich wieder schlagen? Diese Frage ist auch unsinnig, weil die Zeit zurückzudrehen das einzige ist, was wir in unserem Leben nicht tun können. Doch du beantwortest sie. Du sagst – nein. Wir schweigen. In dieser Pause spüre ich, wie etwas Lebendiges auftaucht, wie Bedeutung anwesend ist, die das Schweigen und die Leere ausfüllen, bis Worte herausfließen … Du sagst – ich wurde auch geschlagen. Du bist mein Papa. Ich bin dein Kind. Doch entgegen jeder Logik und allen Gesetzen der vergehenden Zeit erkenne ich deinen Schmerz jetzt, wenn ich in deine mit Tränen gefüllten Augen schaue.


    Man muss lernen zu warten. Das ist das Schwierigste – zu warten ohne die Hoffnung, dass das Warten sich lohnt, man muss Demut lernen, aber nicht resignieren, – nur dann entsteht die Möglichkeit der Verbindung mit etwas Unbekanntem – dem, was man nie im Detail zu betrachten vermag, was immer einen Augenblick eher wegrutscht, als einzelne Eigenschaften für dich sichtbar werden. Mir fällt es unglaublich schwer, diesen Text zu schreiben, ich schlage mich gleichsam bis aufs Blut durch dorniges, dichtes Gestrüpp; und immer, wenn es scheint, als sei irgendwo vor mir ein Licht in Sicht, und die Geschichte beginnt, eine scheue Gestalt anzunehmen – erschrecke ich wieder und erstarre vor Entsetzen. Mein Atem reicht nicht aus, um diesen versprengten Erinnerungen Struktur zu geben, um alles zusammenzufügen. Und dann bitte ich für mich selbst um Geduld und Vertrauen – den Raum und die Zeit.

    Ich habe zwei Familienerinnerungen, die als Bilder in meinem Kopf zum Leben erwachen – in denen wir zusammen sind, zu viert, wie auf einem Foto.

    Das erste dieser Bilder trägt das Datum Mai 1986; Papa läuft aus einem Wäldchen auf uns zu. Als das Atomkraftwerk von Tschernobyl explodierte, war ich fast drei Jahre alt. Mit Mama und der noch ganz kleinen Shenja waren wir für den Sommer zu Oma und Opa, Mamas Eltern, in das Dorf Radkow in die Oblast Gomel gefahren. Nach drei Tagen kam Papa, um uns zurück nach Wilejka zu holen. Selbst kann ich mich an diese Geschichte nicht erinnern, doch aus Mamas Erzählungen kenne ich sie in allen Einzelheiten – es ist eine jener Familiengeschichten, die ich so oft gehört habe, dass es mir scheint, als hätte ich das alles auch gesehen:

    Wir waren ja für den Sommer da, zur Erholung, wir dachten – es ist Sommer, wir sind im Dorf – Gras, frische Luft. In der Stadt waren wir arm, es gab nicht so viel zu essen, aber im Dorf gab es alles, aus den Gärten, überall … Wir wollten den ganzen Sommer bleiben. Aber dann kam es anders – am 26. fuhren wir hin, und drei Tage später schon wieder zurück. Am ersten Mai waren wir dabei, irgendwas auf dem Hof zu graben oder zu pflanzen, vielleicht machten wir die Beete oder verbrannten Abfall … Da schaue ich, und sehe jemanden aus dem Wäldchen zu uns laufen, sieht aus wie Sascha. Dabei weiß ich doch, dass er erst gestern oder vorgestern noch weggefahren ist. Und ich denke – warum ist er zurückgekommen? Und er rennt, da aus dem Wäldchen, ganz sicher ist er es … Das kann er nicht sein, denke ich mir … Warum sollte er? Und er fliegt … Und sieht genau aus wie unser Papa. Da kommt er näher – und er ist es! Als er in Wilejka angekommen war, hatte er Radio Svaboda gehört. Und die sagten was ganz anderes. Und als er genug gehört hatte, ist er noch am selben Tag sofort zu uns gefahren – hat freigenommen und ist los zu uns. Damals gab es ja noch nicht diese Telefone, du konntest nicht Bescheid sagen – am besten bist du selbst hingefahren. Ich war so erschrocken. Warum bist du hier? Was bist du hergekommen? Und er sagt: „Schnell, packt zusammen, wir fahren.“ Er war ja verantwortungsvoll, er kam, um uns zu holen. Wir hatten da noch von nichts gehört. Und er war gekommen und nahm uns mit. Als wir in Minsk ankamen, war dort schon alles voll mit Menschen, riesige Schlangen, und wir standen, alle wurden überprüft – die Schilddrüse, die Kleidung … Alle, die aus dem Zug kamen, wurden überprüft. Ich weiß noch, manche warfen sogar ihre Schuhe weg, die Kleidung musste man auch ausziehen. Bei uns war alles in Ordnung. Der Akzjabrski-Rajon war sauber geblieben. Dort zog es einfach vorbei. Aber Sascha hatte das alles im Radio gehört … Er konnte ja nicht wissen, dass der Akzjabrski sauber ist. Damals dachten alle – je näher, desto schlimmer.“

    Das zweite Erinnerungsbild entstand 20 Jahre später, im März 2006. Wir gingen zum Platz, Papa, Shenja und Lena, das Mädchen, das ich liebte und mit der ich damals zusammen war. Mama und Papa waren nach Minsk gekommen, um an der Wohnungstür zu stehen und meine Schwester und mich nirgendwo hinzulassen. Aber weil das nicht funktionierte, wurde vom Familienrat beschlossen, dass Papa mit uns geht, und Mama zu Hause bleibt und die Nachrichten verfolgt. Ich weiß noch, wie Mama Shenja und mir vorm Hinausgehen half, Zeitschriften in den Hosenbund zu stecken, die die Schläge der Schlagstöcke abmildern sollten. Später erfuhr ich, Lenas Freundin habe erzählt, ihr sei klar gewesen, dass wir uns bald trennen würden, als sie uns beide damals zusammen auf dem Platz sah – weil ich Lena so angesehen hätte, wie sie mich nicht ansah. Manchmal wünschte man sich die Fähigkeit zu haben, in die Zukunft zu schauen, um richtige Entscheidungen zu treffen, um zu wissen, worauf man sich einstellen oder wie lange man noch warten muss; ich hätte sie also damals in Lenas Augen sehen können (ihre Freundin konnte es ja), doch ich habe überhaupt nichts gemerkt. Als könnte man die Zukunft nur erkennen, wenn man in die Vergangenheit schaut. So wie ich jetzt.

    Ein Schneesturm ist aufgezogen. Die unvermittelt niederbrechende Naturgewalt lässt alles leicht irreal erscheinen, es fühlt sich an, als öffne sich eine Art Portal – und wir alle, die jetzt auf dem Platz stehen, sind in eine andere Dimension versetzt, haben die Möglichkeit, uns selbst als andere wahrzunehmen, als die, die wir sein könnten, oder die wir in Gedanken sind, oder die wir vielleicht irgendwo noch sind. Gerade eben war da noch nichts, und mit einem Male ist alles ringsum mit einem weißen Schneeschleier bedeckt, ich schaue jetzt durch ihn hindurch und versuche zu erkennen … Eine meiner Kindheitserinnerungen, die mit Papa verbunden sind, ist wie wir zusammen Fotos entwickeln. Wir schlossen uns in der kleinen Küche unserer Wilejker Wohnung ein, ein zauberhaftes rotes Licht erfüllte den ganzen Raum, durch die Schüssel mit dem Entwickler zogen wir eins nach dem anderen die leeren Blätter des Fotopapiers und begannen zu zählen, bis wir Zeugen des Wunders wurden – wenn aus dem Nichts auf dem weißen Papier das Bild erkennbar wurde … So schaue ich jetzt in mein Gedächtnis und sehe wie aus dem Nebel langsam Silhouetten auftauchen, wie auf einer aus leichten, weißen Körnchen aufgeschütteten Fotografie … Vielleicht ist da Shenja, die auf Papas Schultern sitzt wie in der Kindheit, um weiter als alle anderen sehen zu können. Vielleicht bin da ich, die daneben steht und fragt – Und? Vielleicht antwortet sie mir: „Sehr viele“. Vielleicht ruft Papa plötzlich: „Es lebe Belarus!“, und ich schaue ihn an als würde ich ihn nicht wiedererkennen, oder vielleicht ist es auch umgekehrt – überwältigt vom plötzlichen Erkennen denke ich – warum schreibst du eigentlich keine Gedichte mehr, Papa?


    Im März dieses Jahres habe ich begonnen, Tagebuch zu führen, um mir klar zu werden, wie ich meine Stummheit überwinden kann, wie ich mir selbst das Sprechen erlauben kann, wenn um mich herum so furchtbare Dinge geschehen, wie ich das Unaussprechliche lernen kann auszusprechen? Schreiben ist peinlich. Jedes Wort, das du jetzt in dem Moment schreibst, während um dich herum weiterhin Menschenleben zunichte gemacht werden, erscheint überflüssig und fehl am Platz. Es scheint, als hätten meine inneren, internalisierten Aufseherinnen einen Weg gefunden, mir endlich ganz legal den Mund zu stopfen. Vielleicht muss ich gerade deswegen und genau jetzt versuchen weiterzuschreiben. Seit Beginn meiner Tagebuchaufzeichnungen haben die Jahreszeiten gewechselt – ich habe beobachtet, wie der Frühling kam und alles ringsum mit Leben erfüllt, und wie der Herbst mit der erneuten Mahnung anbrach, dass alles irreparabel endlich ist. Ich erinnere mich gut an diese Verbindung mit den Jahreszeiten, weil in meinem Tagebuch Kerben geblieben sind  …

    Am 29. März waren in Belarus 322 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 12. August waren in Belarus 631 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 29. September waren in Belarus 702 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 28. Oktober waren in Belarus 833 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Gerade ist ein wunderbarer goldener Herbst, seine Schönheit tut fast ein wenig weh, ebenso die Unmöglichkeit, diese Schönheit vollkommen aufzunehmen, sie mit jemandem zu teilen, und das Vorgefühl ihrer Endlichkeit. Ich sage „ein wenig“ nicht, weil dieses Wort den Grad meines Gefühls beschreibt, sondern weil es das Gefühl mildern und mit seiner sachten Anwesenheit umhüllen soll. „Ein wenig weh“ – das sagst du, wenn du nur Wörter zu Hilfe rufen kannst. Es ist unmöglich, zwei Wirklichkeiten gleichzeitig zu fassen – den Frühling, der unausweichlich kommt und alles ringsum mit Leben erfüllt und gleichzeitig den Terror im Land, wenn alles Menschliche und Lebendige weiter vernichtet wird. Man kann dieser Aufspaltung unmöglich entkommen, nur so kann die Psyche sich retten – indem sie Teile von sich abspaltet. Diese Spaltung gibt es auch in mir – das Leben, das aus mir erwächst, trotz allem, und das Konzentrationslager, dem ich nicht entfliehen kann.


    Noch eine mit Papa verbundene Kindheitserinnerung ist, wie er die Sekunden zählt, während ich beim Baden in der Wanne tauche. Das war unser Ritual, das den langweiligen Vorgang des Badens spannend und interessant werden ließ. Papa nahm die Uhr vom Handgelenk, gab mir ein Zeichen, ich holte tief Luft und tauchte unter … Mit aller Kraft versuchte ich, es länger auszuhalten, wollte meine Stärke beweisen – schau, wie lange ich die Luft anhalten kann, wie stark und geübt ich bin, schau, Papa, was ich alles kann. Alle Ungeheuer, alle Monster, alle bösen Menschen verschwanden, wenn ich auf dem Grund des Schaumbads lag, das Zimmer von heißem Dampf erfüllt, und Papa dastand und beobachtete, und ich wusste, dass er auf mich wartet.

    Auch jetzt liege ich wie unter Wasser und halte die Luft an, manchmal scheint mir, dass mir kaum noch Luft geblieben ist, dann stelle ich mir vor, dass du wie in der Kindheit neben mir stehst und weiterzählst – während ich auf dem Grund der von Schmerz und Leid gefluteten Stadt liege, mir Raum zu geben versuche und diesen Text schreibe – ungeschickt, wie es nur einem Kind gelingt, und solange die Kraft und der Platz in meiner Lunge ausreicht – ich weiß, dass du weiterzählst, mir Zeit verschaffst – um hier zu sein, wenn ich endlich auftauchen kann, wenn ich endlich wieder Luft holen kann.

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  • „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    „Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet.“ Das sagt der belarussische Rockmusiker Lavon Volski im ersten Teil des Gesprächs mit dem Online-Medium Kyky. In diesem spricht er über den langjährigen kreativen Widerstand, den er und andere Musiker und Bands gegen Machthaber Alexander Lukaschenko leisteten, über Auftrittsverbote und über die Wandlungen in der Politik der Machthaber gegenüber Kultur und Musik. 

    Im zweiten Teil des Interviews lässt Volski die 2000er Jahre Revue passieren, dann geht es hinein in die Gegenwart und in die Zeit der Ereignisse nach dem 9. August 2020, die das ganze Land,  und so auch die Kulturszene, in eine tiefe Krise gestürzt haben. 

    Marija Meljochina: Welches Fazit ziehen Sie aus den 2000er Jahren?

    Lavon Volski: Für mich war es eine sehr erfüllte Zeit. Einerseits gab es von 2004 bis 2008 durchgehend Verbote, vorher konnten wir aber noch Krambambula gründen und damit das Territorium der ironischen Popmusik entern. Das brachte uns noch größere Bekanntheit und erweiterte unser Publikum. Der Song Hoszi gefiel völlig unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, auch Funktionären. Außerdem begann in den 2000er Jahren die Zeit der Konzerte für Firmen, die es vorher bei uns nicht gegeben hatte. Danach, den Verboten sei Dank, reisten wir ins Ausland. Wir tourten durch ganz Polen, waren in Deutschland und Schweden, ich war einige Male zu Auftritten in den USA. Verbote erhöhen das Interesse.

    2010 kam es dann zu den Demonstrationen nach der Präsidentschaftswahl (ploschtscha) und deren Niederschlagung – danach versank das Land für zehn Jahre förmlich in einer Unzeit. Erzählen Sie uns von dieser Phase.

    Damals war klar, dass das Tauwetter vorbei war. Die dunklen Zeiten begannen wieder. Ich habe N.R.M. damals nicht verlassen, es war ein bisschen anders. Wir hatten einfach eine Pause, es gab keine Konzerte. Die Band traf sich zum Proben ohne mich und ohne mir Bescheid zu geben. Ich erfuhr erst aus der Presse, dass N.R.M. beim Rok-karanazyja-Festival ohne mich auftreten würden. Das war ein ziemlicher Schock, vor allem vor dem Hintergrund der Situation im Land. Ich sagte den Auftritt online ab, aber das hielt die Band nicht davon ab. Kurz; es war, wie es war. Für mich war das alles unerwartet und stressig, es hat noch lange gedauert, das zu verarbeiten. 

    Es gab die Information, dass die Band nach dem Treffen mit Praljaskouski Angebote bekam, bei staatlichen Festivals zu spielen, Sie das aber ablehnten. Das war die Ursache für den Konflikt, und N.R.M. entschied, ohne Sie zu spielen.

    Das ist eine verkehrte Darstellung – es gab keinen Konflikt in dieser Hinsicht. Nach dem Treffen in der Präsidialadministration wurde fast direkt im Anschluss ein staatliches Festival mit dem idiotischen Titel Bela Music initiiert. Dort sollten alle bekannten Rockmusiker auftreten. Und als ich die Anfrage erhielt, lehnte ich ab. Nicht genug, dass wir zu diesem Treffen gegangen waren, jetzt wollten sie uns auch noch dieses staatliche Festival anheften, um zu zeigen, dass in Belarus mit der Rockmusik jetzt alles super läuft. Ich habe die Teilnahme am Festival aus ideologischen Gründen abgesagt, aber niemand verstand das, ehrlich gesagt. Nach dieser Praljaskouski-Sache hatte ich eine so harte Zeit, dass ich 2009 bei N.R.M. eine Pause einlegte. Ich bat alle darum, für eine gewisse Zeit nicht aufzutreten, weil ich das Gefühl hatte, dass wir etwas verraten hatten. Den Musikern gefiel diese Pause natürlich nicht.

    Sie sagten, 2017 gab es eine Entspannung, als die Schwarzen Listen abgeschafft wurden.

    Ja, 2017 begann sich die Situation langsam wieder in Richtung eines leichten Tauwetters zu entwickeln, aber es erreichte nicht das Freiheitsniveau wie in den Jahren 2008/2009. Man konnte in der Prime Hall spielen, aber nicht im Stadtzentrum von Minsk, beim Schwedischen Tag zum Beispiel. 2018 wandte sich die schwedische Botschaft sogar an die Stadtverwaltung mit der Bitte, dass Krambambula auftreten dürfe, erhielt aber eine Absage.

    Wie kam es zu diesem Tauwetter? Was war 2017 passiert?

    Ich denke, da wurden wieder irgendwelche demokratischen Kräfte aktiviert. Einige Leute glaubten, dass es möglich sei, in den Machtstrukturen jemanden zu überzeugen. Damals entstand auch der Minsker Technologiepark und Ähnliches …

    „We are not afraid to dance“: Promotion-Video der Band Krambambula aus dem Jahr 2011

    War dieses Jahrzehnt – 2010  bis 2019 – in Ihren Augen eine Zeit des Stillstands, eine Unzeit für das Land, die Kultur und die Musik?

    Das würde ich nicht sagen. Es passierte immer was, nur wussten nicht viele davon, weil es sich parallel zur Machtstruktur abspielte. Es erschienen neue Alben, neue Musikpreise, es gab die Portale Tuzin Hitou und Experty.by. Zudem gab es auch noch die Musikkritik, zwar sehr begrenzt, aber es gab sie. Das war ziemlich spannend – du hast ein Album rausgebracht, zum Beispiel Drabadzi-drabada, und konntest eine Rezensionen dazu lesen, wenn du Lust hattest. Aber mit dem Album in deinem Land aufzutreten war in diesen Jahren schon nicht mehr möglich. Wir haben alle Alben in Vilnius präsentiert.

    Danach, 2017, kam das Tauwetter, man konnte auftreten, sogar bei großen Konzerten, aber es blieb der Eindruck, dass das nur temporär ist. Und so war es. Die Erfahrung zeigt, dass jedes neue Verbot strikter daherkommt als das vorangegangene. Daher werden die aktuellen Verbote meiner Ansicht nach erst dann verschwinden, wenn dieses Regime weg ist.

    Wie wurde 2020 möglich?

    Indem die Pandemie kam und die Machthaber zeigten, wie weit sie vom Volk entfernt sind. Früher wurde immer gepredigt, dass der einfache Mensch der wichtigste Wert sei. Doch hier zeigte sich nun, dass die Machthaber sich wie Aristokraten gerierten, wie ein Adel neuer Art mit Krönchen. Was, eine Pandemie? Nehmt den Traktor und Schnaps, ha-ha, wie lustig. Aber in den Familien spielten sich Tragödien ab: Hier erkrankte ein Bekannter, dort ein Verwandter. Da begann im ganzen Land die Selbstorganisation, die Freiwilligenbewegung – die totale Mobilisierung der Bevölkerung zum Kampf gegen die Pandemie, die die Regierung nicht ernst nahm. Deshalb ging das Volk  schon selbstorganisiert in diese Wahlen. 

    Nach den Wahlen kam dann ein völlig unerwartetes Ausmaß der Gewalt. Das Volk hatte in den letzten 15 Jahren gelernt, parallel zur Regierung zu existieren, ohne jegliche Berührungspunkte. Man meinte, dass sie uns nicht anrühren, und wir sie nicht anrühren – und gut. Alle bauen sich Wohnungen, Häuser am Stadtrand, erhöhen ihren Wohlstand. Wenn ein Bekannter ohne Grund in einer ominösen Angelegenheit verhaftet wurde, war das blöd, aber was soll’s. Dann wurde noch jemand verhaftet, aber der hatte sich dann womöglich in die Politik eingemischt, was wir natürlich nicht machen, also alles gut. 

    Ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen

    Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen. Viele verstanden, wie es wirklich stand. Einerseits bin ich froh, dass es so gekommen ist, andererseits ist es sehr schade für diese Leute, weil sie jahrzehntelang gelebt haben, ohne zu sehen, was um sie herum geschieht.

    Sie wollten nicht sehen und nicht hören und sagten nur: „Ach hör doch auf damit.“ Aber nun kamen sie praktisch in jedes Haus.

    Das Einzige, was ich absolut nicht erwartet hätte, ist diese Menge an weiß-rot-weißen Fahnen und „Lang lebe Belarus!“. Ich dachte, das sei für immer eine Sache von ein paar Tausend Leuten, die immer die Flagge, das Wappen und das Motto verwenden. Aber plötzlich zeigten hunderttausende Belarussen die Flagge und damit auch, was Sache ist.

    Haben Sie damals im August an den Erfolg der Revolution geglaubt? Oder hatten Sie eine Ahnung, wie alles enden wird?

    Euphorie gab es zweifellos – ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen. Danach waren Pascha Arakeljan und ich mit einer Initiative unterwegs, um die Leute in den Menschenketten zu unterstützen. Wir kamen mit Gitarre und Saxophon, spielten kurze Konzerte, aber es war klar, dass man nur mit Konzerten nicht siegen kann. Man sagt ja nicht einfach „Hau ab“ – und dann packen die ein und hauen ab …

    Ist die Revolution verloren?

    Was soll ich sagen, das ist eine recht komplexe Frage, aber ich würde das nicht so formulieren. Erstens war es kein Spiel, bei dem es ums Gewinnen und Verlieren geht. Es gibt eine Volksmasse, die mit dem gegenwärtigen System unzufrieden ist und eine Minderheit, die alles beim Alten belassen möchte – was aber nicht möglich ist.

    Das war ein Aufbegehren des Volkes 

    Sehen Sie sich als Sänger der Revolution?

    Ich betrachte mein Schaffen in einem weiteren Sinn, aber alle Musiker, die zu dieser Zeit in den Höfen gespielt haben, waren Sänger der Revolution. Aber gibt es Revolutionen ohne Waffen? Das war einfach ein Aufbegehren des Volkes. 

    Sind Sie für radikalere Handlungen?

    Nein, ich bin für friedlichen Protest – das Volk war in keiner Weise für den bewaffneten Widerstand vorbereitet. Das ist eine sehr ernste Sache, ich wünsche mir kein solches Szenario, es wäre sehr tragisch. So etwas muss auch reifen, die Bolschewiki haben sich jahrelang vorbereitet, einige Untergrundnetzwerke aufgebaut und so weiter. Es ist eine Sache von Jahrzehnten, eine wirkliche Revolution vorzubereiten, mit Anwendung von … Das ist nicht unsere Variante, scheint mir. 

    Haben Sie Belarus für immer oder nur temporär verlassen?

    Temporär. Ich bin im Sommer 2021 ausgereist und habe nichts mitgenommen. Nach den Konzerten in Polen kehre ich wahrscheinlich zurück. Aber unter dieser Regierung wird es keine normalen Auftritte in Belarus mehr geben.

    Wie wird sich die Situation in Belarus entwickeln? Müssen wir auf die Generation der Davongekommenen warten, damit sich etwas ändert, oder tritt der Wandel schon früher ein?

    Meine Intuition hat mir immer gesagt – nach den Wahlen 2001, 2006 und 2010 – dass es nicht mehr lange so weitergehen wird. Aber es ist noch über zehn Jahre weitergegangen. Deshalb würde ich meiner Intuition nicht sonderlich trauen. Im Moment denke ich, dass man ein Land nicht über viele Jahre in einem solchen Spannungszustand halten kann. Zum einen, weil es sehr teuer ist. Zum anderen, weil die Menschen den psychologischen Druck nicht aushalten – auch die, die diesen Druck ausüben.

    Lassen Sie uns fantasieren – wann kommt das neue Belarus? Wie stellen Sie sich dieses Land vor?

    Das kann tatsächlich jederzeit passieren – schon morgen. Zuerst einmal müssen in diesem Land absolut alle Grobiane aus allen Machtebenen entfernt werden, die ganze Regelreiterei in allen Bereichen, begonnen mit der Schule. Damit es nicht nur darum geht, einfach ein Häkchen zu setzen, wie man sagt, wenn überall bloß Formulare ausgefüllt werden. Ob das ein Arzt, ein Lehrer, ein Polizist oder ein Ermittlungsbeamter ist – du musst eine ungeheure Menge an Zetteln ausfüllen, aber das Eigentliche wird nicht gemacht, es geht nur um Papierkram. Das muss geändert werden. Alle Behörden müssen durchleuchtet werden, alle Mitarbeiter müssen überprüft werden. All diese Fälschungen, Manipulationen der Statistik, dieser totale Unfug, die übergebührliche Brutalität und Gewalt bei den Festnahmen – das gab es in der gesamten Zeit dieser Regierung. Doch erst jetzt haben die Menschen es gesehen, hat die große Masse es gesehen. Deshalb muss alles grundlegend reformiert werden.

    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat
    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat

    Und zum Schluss: Was möchten Sie den Belarussen noch sagen oder wünschen?

    Zunächst einmal bin ich den Belarussen und meiner Stadt sehr dankbar für das, was ich 2020 erleben durfte – ich hätte nicht geglaubt, das noch einmal sehen zu dürfen. Mein Verhältnis zu Minsk war sehr abgekühlt. Mir schien, die Menschen sitzen nur und schauen zu, wie die Regierung das aufbaut, was einfach nur furchtbar mit anzusehen war. Aber als die Stadt erwachte, fand ich meine Liebe zu Minsk wieder. Ich fand den Glauben an das Volk wieder. Und ich bin sicher, dass man dieses Blatt nicht mehr wird wenden können. Man muss nur ein bisschen warten, wollte ich immer sagen – aber man muss nicht warten, jeder muss einfach das tun, was von ihm abhängt.

    „Warte nicht, es gibt keine Überraschungen“

    Tatsächlich eine widersprüchliche Aussage – für mich war 2020 die Zeit der großen Überraschungen. Ein Musikreporter schrieb mir damals: Wir würden gern euer Konzert aufzeichnen, lasst uns noch die Wahlen abwarten, danach werden die Leute wie immer ein paar Tage in Depressionen sinken, und dann machen wir den Termin. Ich antwortete: „Okay, dann machen wir es wie immer.“ Aber dann kam alles ganz anders: Eine Überraschung folgte der anderen.

    Ich hoffe, uns erwartet in naher Zukunft eine große Überraschung. 

    Höchste Zeit! So viele Menschen denken dasselbe! Vielleicht erfüllt ja der Weihnachtsmann unseren größten Wunsch? In den letzten 27 Jahren hatten die Überraschungen ja immer eher negativen Charakter.

    [Das Interview wurde im November 2021 geführt – dek]

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  • „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    Lavon Volski gehört zu den bekanntesten und wandlungsfähigsten Rockmusikern in Belarus. Viele seiner Lieder sind zu unterschiedlichen Zeiten zu Hymnen einer Protestkultur geworden, die sich den Machthabern um Alexander Lukaschenko widersetzt. Wie viele andere hat auch er sein Land im vergangenen Jahr wegen der massiven Repressionen nach den Protesten infolge des 9. August 2020 verlassen; aktuell wohnt er in Polen.
    Das belarussische Online-Medium KYKY hat mit Volski ein langes Gespräch geführt, in dem er die Rolle der Rockmusik im unabhängigen Belarus reflektiert, die Auftrittsverbote in den vergangenen 20 Jahren, Lukaschenkos Ideologie und eigene Fehltritte. dekoder veröffentlicht das Interview in zwei Teilen.

    Teil 1

    Marija Meljochina: Lukaschenka ist seit 27 Jahren an der Macht, und Sie haben seinen Werdegang miterlebt. Ich würde gerne gemeinsam mit Ihnen den Weg von der relativen Freiheit der 1990er hin zur heutigen Militärdiktatur beleuchten. Beginnen wir 1994, als Belarus seine Staatlichkeit etablierte. Gab es damals Freiheit?

    Lavon Volski: Zu Beginn der 1990er Jahre entstand Freiheit gerade erst, Rockmusik war nicht mehr verboten, alles war erlaubt. Diese Politik währte von 1991 bis 1994, die Zeit der sogenannten Beinahe-Demokratie. Nach Lukaschenkas Machtantritt behielten die Bürokraten die Entscheidungsmuster vom Ende der 1980er Jahre noch eine Weile bei: Musik durfte nicht verboten werden, denn sie war „Arbeit mit der Jugend“: Besser, sie flippen mal bei einem Konzert aus, als dass sie Klebstoff schnüffeln. Aber einige Lokalzaren und -chefs, zum Beispiel im Exekutivkomitee von Mahiljou, führten doch Verbote ein, das war aber eher eine Ausnahme von der Regel. Sicher gab es auch mal Stunk, wenn jemandem etwas gar nicht gefiel. Aber es hatte nicht das Ausmaß, das dann in den 2000er Jahren begann. 

    In einem Interview sagten Sie, dass in den 1980ern niemand an die sowjetische Ideologie geglaubt hat. Letztlich hat sich Lukaschenka aber genau diese Ideologie zu eigen gemacht, und die Menschen glaubten ihm. Wie ist dieses Paradox zu erklären?

    Er hat anfangs mit dem Nostalgiefaktor gespielt. Das war ein sehr riskanter Schachzug, aber er war erfolgreich. Zu Beginn bewies er als Politiker durchaus Talent. Es war natürlich absolut unmöglich, in einem einzelnen Mitgliedstaat die Sowjetunion zu bewahren. Der Großteil der Bevölkerung wollte aber meiner Ansicht nach auf keinen Fall wieder neue Führer vom Typ Kebitsch, die ununterbrochen stehlen. Als die Stimmen also zwischen diesen beiden Kandidaten verteilt wurden, bekam Lukaschenka die Mehrheit, weil die Menschen nach dem Prinzip entschieden: „Ganz egal, Hauptsache nicht das, was vorher war.“ 

    Lukaschenka setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes

    Ich würde auch nicht sagen, dass seine Ideologie sowjetisch war. Seine Rhetorik war, was man „für das einfache Volk“ nennt: „Esst euer Stück Wurst, trinkt eure 150 Gramm Schnaps, geht wählen und stimmt für mich.“ Das war nicht „Sawok“, sondern vielmehr ein Spiel mit einfachen Gefühlen. Die Sowjetideologie war anders: Alle sind Brüder und Schwestern, alle verdienen gleich. Natürlich wurde das nur postuliert und fand in der Realität nicht statt. Lukaschenka dagegen postulierte: Ihr werdet viel verdienen, ihr werdet eine Wohnung haben, ein Auto, eine Datscha – er setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes. Darüber sprach man zu Sowjetzeiten üblicherweise nicht, das war schlechter Ton.

    Lukaschenkas Versprechen „500 für alle“ stammt also schon aus dieser Zeit?

    (lacht) Es gab dieses Versprechen, das Beste aus der Sowjetzeit zurückzubringen. Aber ich denke, dass die Menschen eher an regulären Renten und hohen Einkommen interessiert waren, an einem Anstieg des Lebensniveaus. Sie wollten diese Banditen und kriminellen Businesstypen überall loswerden. Deshalb gefiel ihnen, dass da einer kam und „Ordnung schafft“, einer, der alle das Fürchten lehrt.  

    Was ist Ihnen aus den ersten Amtsjahren Lukaschenkas in Bezug auf den Kulturbereich in Erinnerung?

    Für mich, und auch für viele andere Künstler, war das eine Katastrophe. Es war sofort klar, was für ein Mensch er ist. Und wie das bei uns so läuft, wurden sein Geschmack und seine Ansichten sofort auf das gesamte Land projiziert. Das war eine riesige Tragödie für die Kultur, aber alle hofften, dass es nicht lange dauern würde.

    Wurden die Schrauben sofort angezogen?

    Nein, es gab alles: verschiedenste Künstlervereinigungen, ausländische Galerien, Ausstellungen und Buchläden. Aktuelle Kunst. Es gab Theatervereine, viele ausländische Gäste, auch selbst konnte man zu Festivals ins Ausland fahren. Wen gab es damals? Krama, Ulis, Novae Neba, Mroja, Mjaszowy Tschas aus Nawapolazk. Es gab auch Bands aus Mahiljou und Hrodna, zum Beispiel Deviation oder Kaljan, aus denen später irgendwelche modernen Anarchopunkfolk-Formationen hervorgingen. Informelle Literaturvereinigungen entstanden, gaben Bücher heraus. Es gab alles, ohne Verbote.

    „Radio Svaboda“: der legendäre Song der Band Ulis aus dem Jahr 1990, der den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty besingt.

    In der Bilanz, wie würden Sie Ihre 1990er Jahre kurz zusammenfassen?

    Da muss man trennen: Bis 1994 und nach 1994 – das waren schon zwei völlig verschiedene Zeiten mit komplett unterschiedlichen Werten. Bevor die Epoche des Autoritarismus und der Diktatur begann, gab es in den ersten drei Jahren seit 1991 meiner Ansicht nach eine nicht vollständig ausgeprägte Demokratie. In dieser Zeit arbeitete ich beim Jugendradiosender 101,2, wo auch viele Parteikader unterwegs waren. Sie waren empört über das, was wir machten. Sie hätten alles gern halbwegs neutral gehabt, aber wir sprachen schwierige Themen an, und dann auch noch in der „orthodoxen“ belarussischen Sprache, der Taraschkewiza. Deshalb wurde unser Chef oft irgendwohin einbestellt, und man schrieb uns Briefe, dass der Sender geschlossen werden müsse.

    In den 1990ern saßen auf den Schlüsselpositionen absolute Sowjetmenschen: einheitsgraue Jacketts, „was auch passiert“, „Hauptsache der Plan wird erfüllt“. Damals dachte man, dass sie langsam verschwinden würden. Aber es kam anders. Anrüchige und geistlose Menschen mit nicht mal sowjetischen, sondern stalinschen Ansichten krochen auf die zentralen Positionen.

    1994 begann dann eine neue Zeit, in der zum Beispiel plötzlich seltsame Staatsleute im alten Büro des Schriftstellerverbandes in der Frunse Straße 5 auftauchten, um mitzuteilen, dass sich dieses Gebäude im Besitz der Präsidialverwaltung befindet und man also entweder Miete zahlen oder „den Ort räumen“ müsse. Auch die zu Beginn der 1990er Jahre entstandenen privatwirtschaftlichen Strukturen wurden verfolgt – wer sich nicht schnell neu aufstellte, machte sich zum Feind.

    Das war eine sehr aufwühlende Zeit unter dem Vorzeichen der Katastrophe. Andererseits hat für mich wahrscheinlich gerade um 1994 eine sehr produktive künstlerische Reaktion auf all diese Ereignisse eingesetzt – ich schrieb viele wehmütige Songs, lyrische und Prosatexte. Bis dahin hatte ich – wie in einer verkehrten Welt – irgendwie stillgestanden.

    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.
    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.

    Kommen wir nun zur Epoche der 2000er Jahre, in denen Sie schon im ganzen Land Berühmtheit erlangen und Ihr Album Try tscharapachi (dt. Drei Schildkröten) erscheint.

    Die Epoche der Nullerjahre war vollkommen anders. Seit etwa 1995 oder 1996 waren wir in einer kleinen Minsker Szene bekannt. Ab und zu fuhren wir auch nach Hrodna oder Wizebsk – dort lief es in einem kleinen Kreis auch gut. Als Anfang der 2000er das Album Try tscharapachi erschien, wurden wir sehr bekannt. Das Album war in einem professionellen Studio aufgenommen worden und nicht mehr in der Garage. Darüber hinaus wurde es landesweit vermarktet – in jedem Kiosk konnte man eine Kassette oder CD von N.R.M. kaufen. Die vorangegangenen Alben waren nur im Minsker Laden Kowtschog in der Philharmonie verkauft worden. Wir gingen dann auch zum ersten Mal auf Tour. Deshalb änderte sich in den 2000er Jahren die Situation komplett.

    Die alten Fans haben uns nicht verziehen, dass wir nun für die Massen spielten. Sie schrieben uns im Internet, dass wir früher echten Rock gespielt hätten und jetzt verpoppt seien. Kurz gesagt, es war eine hektische Zeit: ständig Auftritte, Videodrehs, Interviews – ich musste mich förmlich zerteilen.

    Ab wann wuchs der Druck auf die Andersdenkenden? Können Sie sich an den Moment erinnern, als plötzlich Konzerte abgesagt wurden?

    Die ersten Anzeichen gab es schon 1995 – gemeinsam mit anderen Rockbands waren wir zum Festival für geistliche Musik Mahutny Bosha nach Mahiljou eingeladen. Der Vorsitzende des städtischen Exekutivkomitees, Sumarau, war gegen unseren Auftritt. Wir standen praktisch schon auf der Bühne, als er auf den Platz rannte und mitteilte, alles sei abgesagt.

    Ein Songschreiber darf sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden

    Das zweite Mal war im Sommer 2004 nach dem Auftritt einer Reihe von Bands im Hundepark am Bangalore-Platz. Das Konzert war dem zehnjährigen Jubiläum des Regimes gewidmet. Wir spielten alle – und danach ging es los, wohl auf Weisung von ganz oben, es tauchten die Schwarzen Listen auf und eine ganze Reihe von Bands wurde verboten. Damit war mit einem Mal alles vorbei: keine Interviews mehr in staatlichen Medien – in all diesen Teenie-Magazinen und Talkshows. Es blieben nur die unabhängigen Massenmedien, von denen es zu diesem Zeitpunkt noch viele gab. Später kam es dann vor, dass in Maladetschna 200 Leute aus dem Zug stiegen und direkt zum lokalen Klub liefen, wo N.R.M. einen Underground-Gig spielten.

    Hatten Sie Angst, dass Sie für solche Konzerte ins Gefängnis kommen, dass man Sie abholen kommt?

    Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet. Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn. Wir gingen auch zu Kundgebungen, aber das war ja kein bewaffneter Kampf. Ich habe auf alles reagiert, weil ich glaube, dass ein Songschreiber sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden darf. Um für ein Underground-Konzert in den Knast zu kommen, war der Grad der Absurdität damals noch nicht hoch genug. 

    Obwohl ihr auf der Schwarzen Liste standet, habt ihr euch 2007 mit dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung getroffen. Warum?  Zu welchen Erkenntnissen seid ihr nach diesem Treffen gelangt?

    Das war ein total blöder Schritt – das Treffen hätte gut ohne mich stattfinden können. Ich ging nur hin, um einen Blick auf diesen „Hort des Bösen“ zu werfen. Tatsächlich hätten sie mich nicht eingeladen, wenn ihrerseits nicht irgendeine Notwendigkeit bestanden hätte. Damals gab es Prozesse in Richtung einer leichten Demokratisierung, um das Verhältnis zum Westen zu verbessern. Deshalb begannen sie mit dem Einfachsten: die verbotene Musik zurückzuholen.

    Damals kam ein findiger Mitarbeiter auf mich zu, den ich schon mehrfach getroffen hatte. Er arbeitete beim Staatsfernsehen, ein ganz normaler junger Typ. Er rief an und fragte: „Wie würden Sie reagieren, wenn die Verwaltung Ihnen ein Treffen anbietet?“ Ich antwortete, ich sei nicht sicher, aber vielleicht würde ich hingehen. Heute weiß ich, dass ich nicht hätte gehen dürfen. Sie versprachen uns, dass es keine schwarzen Listen mehr geben würde, weil das unzivilisiert sei. Falls wir mit Verboten konfrontiert würden, könnten wir in der Verwaltung anrufen und sie würden das klären.

    Das war 2007, im Jahr 2009 wurde dann Pawel Latuschka Kulturminister. Er setzte sich aktiv gegen die schwarzen Listen ein. Aber wenn ich es recht verstehe, sind die Listen nie verschwunden? Oder gab es doch ein Tauwetter?

    2009, als Latuschka Minister war, gab es diese Listen nicht. Im Prinzip gab es sie aber immer, die Programmdirektoren der staatlichen Radio- und Fernsehsender hatten sie einfach auswendig gelernt. Damit hatten sie richtig gelegen, denn 2010 tauchte die Liste wieder auf, zudem um das Fünffache länger. Ab diesem Moment konnte man nicht einmal mehr Underground-Konzerte geben. Es wurde Druck auf die Leitung und die Besitzer der Einrichtungen ausgeübt, die Konzerte erlaubt hatten. Sie wurden angerufen, erpresst, bedroht, mit Hygienekontrollen überzogen und mit üblen Strafzahlungen belegt. Diese Maßnahmen gab es bis 2017.

    Wenn Lukaschenka Sie heute zu einem persönlichen Treffen einladen würde, würden Sie hingehen?

    Natürlich nicht – man muss sich mit keinem von denen treffen, nie. Wozu auch? Ich habe den Fehler einmal gemacht. Wie ein Kind bin ich in die Präsidialverwaltung gegangen, um etwas Interessantes zu erleben. Aber sie brauchten mich nur, um ein Häkchen zu setzen, um dem Westen zu zeigen, dass alles gut wird.

    Die Fortsetzung des Interviews veröffentlicht dekoder am 11. Januar 2022.

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