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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kommt es in Belarus zu einem neuen Aufstand?

    Kommt es in Belarus zu einem neuen Aufstand?

    „Ich will dieses Regime brechen!” – Nach seiner überraschenden Freilassung gibt sich der belarussische Oppositionspolitiker Siarhej Zichanouski kämpferisch, so auch im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit.  

    Ist der Ehemann von Swjatlana Zichanouskaja, Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung im Exil, in seiner Haltung zu optimistisch? Oder verschafft seine Freilassung der Opposition tatsächlich eine neue Dynamik, vielleicht sogar die Chance auf einen neuen Aufstand in Belarus? Und wie groß sind die Chancen, dass sich die EU und die USA auf eine Annäherung mit dem Lukaschenko-Regime einlassen, auch um die Befreiung der in Haft verbliebenen über 1200 politischen Gefangenen zu erwirken?  

    Für das Online-Portal von Radio Svaboda hat der Journalist Yury Drakakhrust mit dem Politologen Andrei Kasakewitsch gesprochen.

    Siarhej Zichanouski (m.) bei einer Kundgebung in Vilnius zusammen mit seiner Frau Swjatlana Zichanouskaja, der Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung. / Foto © Radio Svaboda
    Siarhej Zichanouski (m.) bei einer Kundgebung in Vilnius zusammen mit seiner Frau Swjatlana Zichanouskaja, der Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung. / Foto © Radio Svaboda

    Svaboda: Sjarhej Zichanouski ist aus dem Gefängnis frei und mit einigen entschlossenen Statements faktisch in die belarussische Politik zurückgekehrt. Was können Sie über die Reaktion der belarussischen Gesellschaft darauf sagen: die Klickzahlen seiner Youtube-Videos, Spendeneinnahmen, wie wurde in den sozialen Netzwerken und in den Medien darüber berichtet, wie reagierte die Staatspropaganda? Und was sagt uns das? 

    Andrei Kasakewitsch: Zichanouskis Auftauchen brachte in alle politischen Prozesse eine neue Dynamik, es veränderte die Kommunikation innerhalb der demokratischen Kräfte. Wir beobachten teils ein großes Interesse an seinen Interviews und Äußerungen. Die Reaktion innerhalb von Belarus lässt sich aber nur schwer erfassen. Wir können das weder an den Reaktionen auf Social Media festmachen noch an anderen Parametern. Allerdings hat er dort durchaus ein Publikum. Andere Aktivitäten, wie die Organisation von Kundgebungen, blieben aber eher erfolglos. Dass das Auftauchen eines Anführers in der belarussischen Gesellschaft etwas Nennenswertes auslöst, ist heute ganz klar beschränkt. Ich würde es eher einen neuen Impuls nennen. Dieser kann in einigen Wochen oder Monaten enden, oder zu einer stabilen Kommunikationsbasis werden. Das ist gerade noch nicht absehbar.  

    Kann eine einzige Person einen neuen gesellschaftlichen Aufstand auslösen? Kann das Auftauchen eines einzelnen Menschen einen neuen Aufstand ankündigen? 

    Das ist nur möglich, wenn diese Person über gewisse Ressourcen verfügt, über belastbare Kommunikationskanäle zur Bevölkerung. Die Zichanouskis hatten 2020 eigene Ressourcen. Wir Analytiker haben das damals nicht erkannt, aber Zichanouski hatte sich durchaus ein gewisses Netzwerk von Mitstreitern aufgebaut. Das Onlineportal Tut.by war damals sehr einflussreich, die unabhängigen Medien verfügten in Belarus über ziemliche Freiheiten. Der Zugang zu diesen Ressourcen erlaubte es, direkt mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Heute ist der Medienbereich sehr stark umgestaltet, die Verbindung zu einem großen Teil des belarussischen Publikums ist verloren gegangen. Ob man sie erneuern kann? Bislang sehen wir das nicht.  

    Was Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. 

    Ein wichtiger Faktor war auch: Die Menschen spürten damals, dass Veränderungen möglich waren. Sie hatten keine Angst, und vor allem diejenigen, die neu zur Bewegung gestoßen waren, vertrauten darauf, dass der Staat nicht zu brutaler Gewalt greifen würde, dass der Sieg nicht gestohlen werden könne, dass die Massenproteste auf den Straßen automatisch zu Veränderungen führen würden. Jetzt gibt es das alles nicht mehr. Ich denke, die Mehrheit glaubt nicht daran, dass es in nächster Zeit irgendwelche Veränderungen geben könnte, beziehungsweise, dass dafür irgendwelche Hebel existieren.  

    Was  Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. Ich denke nicht, dass im Moment irgendwelche Aktionsaufrufe bei der belarussischen Gesellschaft auf Resonanz treffen. Doch Zichanouski kann durchaus wieder Einfluss im Informationsbereich erlangen und eine eigene Zuhörerschaft finden. Hier könnte es eine Nische für ihn geben und er könnte durchaus erfolgreicher als Swjatlana Zichanouskaja werden. Allerdings ist die Gesellschaft jetzt größtenteils demobilisiert. In der Soziologie verwendet man diesen Begriff, um den Zustand nach einem gewissen Aufbruch zu beschreiben, nach einer Periode, in der die Menschen bereit waren, Risiken einzugehen und entschlossen zu handeln.  

    Viele Beobachter und Analytiker sprechen eher von Angst, von den Folgen der Einschüchterung, Sie reden über Demobilisierung. 

    Demobilisierung ist nicht einfach nur Angst. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass die Bevölkerung nach einer Revolution ermüdet ist. Das passiert sowohl, wenn die Revolution erfolgreich war, als auch im Falle einer Niederlage, egal, ob es Repressionen gibt, oder nicht. Menschen können nicht lange im Zustand der Mobilisierung bleiben, jahre- oder jahrzehntelang. Nach dem Aufstand wenden sie sich schlicht wieder anderen Dingen zu, interessieren sich nicht mehr für Politik und zivilgesellschaftliches Engagement. Das ist ein unvermeidlicher Prozess und wäre in jedem Fall passiert, auch ohne die einschneidenden Repressionen. 

    Ein Teil der Gesellschaft ist verängstigt, das ist klar. Besonders betrifft das ein Cluster, das wir unabhängige zivilgesellschaftliche Gemeinschaft nennen, sie existierte in Belarus bis 2020. Die Repressionen gegen diese Gruppe waren besonders stark. Es gibt auch Personengruppen, in denen der Repressionsdruck weniger stark wahrgenommen wird, etwa wenn die Menschen nur unregelmäßig unabhängige belarussische Staatsmedien konsumieren. Für die meisten Menschen sind Ereignisse wie die Massenproteste 2020 etwas Außergewöhnliches, so oder so kehren sie nach einiger Zeit zum gewohnten beruflichen und familiären Alltag zurück, und das ist in Belarus im Grunde in den letzten Jahren passiert. 

    Können Zichanouskis Aktivitäten zu verstärkten Reaktionen im Land führen, etwa einer Verschärfung der Repressionen? 

    Was kann da schon noch groß verschärft werden?! Die Gruppen der traditionellen Opposition wurden schon sehr intensiv bearbeitet. Natürlich könnte man dazu übergehen, sich Leute für regierungskritische Äußerungen auch in der Raucherecke zu angeln. Aber das hätte einen negativen Nebeneffekt. Das Ausmaß an Repressionen ist in Belarus schon immer mit der außenpolitischen Situation verbunden, wobei der zentrale Faktor die Beziehung zum Westen ist: Besteht die Notwendigkeit, dieses Verhältnis zu verbessern, könnten die Repressionen entschärft werden. Schlechte Beziehungen zum Westen bringen bedeutende Einbußen – wirtschaftlich wie politisch – für die herrschende Macht und bedrohen auf lange Sicht ihre Stabilität. Der Versuch, diese Beziehungen zu verbessern, ist unvereinbar mit einer Verschärfung der Repressionen. Auf einem gewissen Niveau werden sie aber bestehen bleiben, ich sehe in nächster Zeit keine Optionen, die den Machthabern einen völligen Verzicht auf repressive Praktiken erlauben würden. Das Ausmaß kann aber abnehmen. 

    Ein wichtiges Ereignis in letzter Zeit war Swjatlana Zichanouskajas Interview mit dem Magazin POLITICO, in dem sie Trump rät, Lukaschenka zu bestrafen, statt zu besänftigen. Die Veröffentlichung führte zu einer hitzigen Diskussion innerhalb der demokratischen Kräfte. Kann man Ihrer Meinung nach erreichen, dass nach Aufhebung der Sanktionen und der Freilassung aller politischen Gefangenen neuerliche Verhaftungen in großem Umfang verhindert werden können? 

    Leider gibt es hier nur einen einzigen Mechanismus: die erzwungene Verbesserung der Beziehungen zum Westen. Einen innenpolitischen Impuls gibt es dafür nicht. Allein die wirtschaftliche Situation und die Notwendigkeit, den Einfluss Russlands auszubalancieren, zwingen dazu. Das ist ein altes Problem aller belarussischen Regierungen, das nie wirklich verschwunden ist. Diese erzwungene Reaktivierung der Beziehung zum Westen kann dazu führen, dass die Regierung die Repressionen auf ein Minimum reduzieren muss. So war es auch in der letzten Periode der normalisierten Beziehungen von 2015 bis 2020. 

    Anders als jemals zuvor ist der Grund für die hauptsächlichen Sanktionen, für den größten Druck nicht in den politischen Repressionen zu suchen, sondern in der Beteiligung am Krieg gegen die Ukraine und in Entscheidungen, die sich spürbar auf die Sicherheit der angrenzenden Staaten auswirken. Dazu zählen die „Migrationskrise“, das Auftauchen der Wagner-Truppe in Belarus sowie die Stationierung von Atomwaffen sowie der neuen Mittelstreckenwaffe Oreschnik. Belarus ist zu einer Bedrohung für die Sicherheit in der Region geworden. Genauer gesagt, es wird als Bedrohung der regionalen Sicherheit wahrgenommen, nämlich von Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine. Dieses Problem ist nicht einfach durch innenpolitische Deeskalation zu beheben. Wenn sich in diesen Fragen nichts bewegt, wird es keine merkliche Reduzierung der Sanktionen geben.  

    An dieser Stelle stecken die Verhandlungen zwischen der belarussischen Führung und dem Westen in einer Sackgasse. Der einzige Faktor, der wirklich gegen die belarussische Führung spielt, ist die Zeit. Denn das Interesse an den belarussischen politischen Häftlingen wird mit der Zeit sinken, und dann sinkt auch ihr Wert als Ressource im politischen Handel mit dem Westen. 

    Im Verlauf des letzten Jahres kamen über dreihundert politische Gefangene frei – ist das ein Ergebnis des politischen Drucks oder der Verhandlungen? 

    Das ist natürlich ein Ergebnis des Drucks, allerdings eher ein Ergebnis des Zeitdrucks. Der hauptsächliche Faktor für die Befreiung der Häftlinge ist, dass ihre Haftzeiten enden. Die Zeit reduziert also die Anzahl der Häftlinge. Ein bedeutender Anteil der Begnadigten wäre wenige Monate später freigekommen. Die Logik ist also: Wir müssen sie ohnehin freilassen, also lasst sie uns früher rauslassen und das dann als Begnadigung verkaufen.  

    Darüber hinaus ist das Interesse an den belarussischen politischen Gefangenen in den westlichen Staaten zwar nicht gesunken, aber es wächst auch nicht sonderlich. Der Westen ist für ihre Freilassung nicht zu großen strategischen Zugeständnissen bereit. Denn es besteht immer noch das Problem des Krieges und der Sicherheit. Diese Probleme sind dem Westen wichtiger als die Frage nach der Befreiung der belarussischen politischen Gefangenen. Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Man muss auch sagen, dass die Freilassung nicht möglich wäre ohne Verhandlungen, ohne die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der belarussischen Führung und der westlichen Regierungen. Sowohl Druck als auch Verhandlungen haben also ihren Anteil. Der entscheidende Faktor ist jedoch die Zeit. 

    Es sieht so aus, als entfernten sich USA und EU in ihrem Ansatz gegenüber Belarus immer mehr voneinander. Gibt es Chancen auf eine Annäherung der Positionen? Kann Trump Vilnius überzeugen, den Transit für belarussisches Kali zu ermöglichen? Oder wird Trump, wie Zichanouski hofft, dass ersehnte Wort sprechen und Lukaschenka daraufhin alle politischen Häftlinge entlassen? 

    Ich wiederhole noch einmal – die schmerzhaftesten Sanktionen wurden aufgrund der Beteiligung am Krieg und der Bedrohung der Sicherheitslage erlassen. Diese Probleme bleiben für die europäischen Staaten brennend, in erster Linie für die belarussischen Nachbarn: Polen, Litauen, Lettland, Ukraine. Die USA können davor die Augen verschließen. Trump nimmt sogar den Krieg in der Ukraine nicht als bedeutsam für die Vereinigten Staaten wahr. Deshalb können sie auch leicht Kontakte zur belarussischen Führung herstellen und Verhandlungen zu einem breiten Themenspektrum führen. Dass sich die europäische Position entscheidend verändert, sehe ich allerdings nur dann, wenn es Fortschritte gibt, die den Krieg und der Sicherheit betreffen. Allein die Freilassung aller politischen Gefangenen würde den Europäern nicht genügen.  

    Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Aber werden sie die wahrnehmen? 

    Für die Europäer ist Belarus ein Nachbarland, von dem sehr konkrete Bedrohungen ausgehen. Vielleicht sind viele dieser Bedrohungen gar nicht real, nur imaginiert, und vielleicht haben die europäischen Eliten sie sich ausgedacht. Aber für sie ist das nun mal die Realität, und es ist die Realität für ihre Wähler. Deshalb können sie hier nicht so einfach Zugeständnisse machen, nur damit alle politischen Gefangenen freigelassen werden. Jedenfalls in nächster Zeit, solange keine anderen einschneidenden Veränderungen geschehen. Kann Trump sie überzeugen oder zwingen? Überzeugen kann er sie sicher nicht, weil die USA einen Großteil ihrer moralischen Autorität auf dem internationalen Parkett verloren haben. Früher konnten amerikanische Präsidenten auf dieser Grundlage in Europa noch etwas erreichen.  

    Kann Trump sie zwingen? Die Erfahrung zeigt, dass er Druck ausübt, bis er starken Widerstand spürt. Wenn Polen und Litauen eine konsequente Haltung einnehmen, glaube ich nicht, dass die Amerikaner sie wegen dieser belarussischen Frage stark unter Druck setzen werden. Denn für die Amerikaner ist diese Frage völlig nebensächlich. Die Position der europäischen Staaten wird wichtiger sein als jene der USA, weil sie viel stärker motiviert sind und sich von Belarus viel stärker bedroht fühlen als die USA.  

    Bei einer Kundgebung in Warschau erklärte Zichanouski, dass Trump die belarussischen politischen Gefangenen mit einem Wort befreien könne. Zichanouski meint, dass Trump gemeinsam mit Europa Lukaschenka so in die Enge treiben könne, dass letzterer Angst bekommt und alle freilässt. Könnte Trump das wirklich? Im Iran hat er kürzlich gezeigt, dass er auch zu entschiedenen Worten und entschlossenen Taten fähig ist. 

    Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Ich denke, würden sie all diese Instrumente nutzen, könnten sie erreichen, dass die belarussische Führung alle politischen Gefangenen freilässt, die noch hinter Gittern sind. Allerdings sehe ich bei den Amerikanern keine Motivation, das zu tun. Diese Instrumente einzusetzen, würde für die Vereinigten Staaten nämlich auch Kosten bedeuten. Es kann die Beziehungen zwischen USA und Russland belasten, das Image der USA in der Welt beschädigen. Die Vereinigten Staaten sind wirklich ein riesiges Land mit riesigen Möglichkeiten, auf jedes Land der Welt Druck auszuüben. Aber werden sie es tun? 

    Mir fiel dazu eine Metapher ein: Beim Schach können Dame, Springer, Türme und Läufer einen Bauern am Rande des Spielfelds jederzeit „fressen“ – weil sie viel stärker sind. Aber der Sinn des Spieles besteht nicht darin, irgendeinen Bauern am Brettrand zu schlagen. Und deshalb kann dieser Bauer auch bis zum Ende des Spiels überleben – weil er eben nicht die wichtigste Figur in diesem Spiel ist. 

    Ja, ich stimme völlig zu, das ist eine Fortführung meines Gedankens. Es ist wenig wahrscheinlich, dass eine Gewinn-Verlust-Rechnung die Amerikaner auf die Idee bringt, die ganze Macht der USA einzusetzen, um die belarussischen Gefangenen zu befreien. Belarus ist für die USA, besonders für die Leute, die dort jetzt an die Macht gekommen sind, ein Land der Peripherie. Selbst die EU und Ukraine sind für sie nicht sonderlich bedeutend und freundschaftlich konnotiert. Was soll man da bitte schön über Belarus sagen? 

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    Die Zeit im Gefängnis hat Ihar Karnei schwer gezeichnet. Aschfahle Haut, knochige Gestalt. 18 Kilogramm Gewicht habe er in der Haft verloren, sagte er nach seiner Freilassung. Der belarussische Journalist – 2024 zu fast vier Jahren Haft verurteilt – war unter den 14 Personen, die am 21. Juni 2025 infolge eines Besuches des US-Sonderbeauftragten Keith Kellogg in Minsk freigelassen wurden.  

    Der Journalist Ihar Karnei nach seiner Freilassung mit einem Foto, das ihn vor der Haft zeigt. / Foto © Iva Sidash/ Belarusian Association of Journalists (BAJ) 

    Seit den Protesten von 2020 verfolgt das Lukaschenko-Regime Journalisten und Medien mit scharfen Repressionen und kriminalisiert Leser und User, wenn sie Telegram-Kanäle abonnieren oder Beiträge in Sozialen Medien teilen. Der unabhängige Journalismus wurde nahezu vollständig ins Exil getrieben. Nun berichten Medien wie Pozirk oder Zerkalo aus Polen oder Litauen und versorgen die belarussische Gesellschaft im Land weiterhin mit Informationen.  

    Ihre Existenz ist prekär und sie ist noch prekärer geworden, nachdem die Trump-Regierung seit Anfang 2025 diverse Förderprogramme gestoppt hat. „Quasi über Nacht brach den belarussischen Medien die Hälfte ihres Budgets weg“, heißt es in einer Studie des Press Club Belarus. Aber ein Aus der belarussischen Medien wäre ein herber Schlag für die europäische Sicherheit, heißt es in dem Papier weiter. In einem aktuellen Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung greift der Historiker Felix Ackermann diese Studie auf und fordert eine bessere Unterstützung belarussischer Medien durch die Bundesregierung – auch im eigenen Sicherheitsinteresse.  

    Für dekoder hat die belarussische Journalistin Anna Wolynez mit Natalia Belikova vom Press Club Belarus über die Lage der belarussischen Medien und ihre Überlebenschancen gesprochen. 

     

    Die deutlichste Tendenz, die wir 2025 im Zusammenhang mit dem Stopp der US-amerikanischen Medienhilfen beobachten, ist, dass die belarussischen Medien begonnen haben, stärker mit ihren Finanzierungsmodellen zu experimentieren und sie zu diversifizieren. „Sie versuchen Aktivitäten auszubauen, die sich an die Belarussen im Ausland richten: Spendeneinwerbung, Entwicklung lokaler Communities, Clubtreffen mit Eintrittsgeld … Aber auch in den erfolgreichsten Fällen deckt das höchstens zehn Prozent des Jahresbudgets“, sagt Natalia Belikova vom Press Club Belarus

    Auch in Zukunft werden diese zusätzlichen Aktivitäten kaum ausreichen, um ohne unterstützende Fördermittel zu überleben und langfristig resilient zu werden. Der Press Club Belarus hat daher für alle, die den unabhängigen Medienunternehmen helfen wollen, eine Unterstützungsplattform gestartet: Save Belarus Media

    Werbung scheitert an Desinteresse und Repressionen 

    Ein werbebasiertes Finanzierungsmodell ist für belarussische Medien keine Option: Für ausländische Unternehmen ist Werbung, die sich an Menschen in Belarus richtet, uninteressant, weil diese keine potentiellen Kunden darstellen. Und für die belarussische Wirtschaft ist es gefährlich, mit den unabhängigen Medien in Verbindung gebracht zu werden, die das Lukaschenko-Regime fast ohne Ausnahme für „extremistisch“ erklärt hat.  

    Den härtesten Schlag müsse aber die riesige Zahl von Freiberuflern aushalten, sagt Natalia Belikova. Die Anzahl der Aufträge gehe zurück und verschärfe ihre auch zuvor schon verletzliche Situation. Die Redaktionen kürzen merklich im Bereich Social Media Marketing, reduzieren die Ausgaben für Fotos und Layout, aber auch für die Textproduktion an sich. In der Folge wird weniger Material, darunter auch Exklusivmaterial, veröffentlicht, wodurch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein Teil des Publikums verloren gehen wird, prognostiziert die Medien-Expertin im dekoder-Gespräch. 

    „Wie ein Medienangebot ein Publikum erreicht, hängt sehr stark von den großen Tech-Konzernen wie Meta, Google, TikTok und YouTube ab. Für deren Algorithmen ist die Quantität der publizierten Inhalte relevant. Werden es weniger, sinkt mittel- bis langfristig auch der Einfluss des Mediums.” 

    Dennoch hat laut Belikova bisher kein einziges Medium seine Arbeit komplett eingestellt. In der Regel werden zuerst sogenannte Subbrands geopfert – kleinere Projekte, die nicht direkt mit dem zentralen Produkt assoziiert werden. „Alle sind darauf ausgerichtet, die Dachmarke zu erhalten. Aber die Anzahl der Submarken und die Menge der Inhalte schrumpft“, meint die Leiterin der Abteilung für Internationale Kooperationen des Press Club Belarus. „Bis Jahresende werden wir die Folgen für die gesamte Branche messen können.“ 

    Die belarussischen Medien behalten hohe Reichweite 

    Die US-amerikanischen Geldgeber sahen in den Medien mehr als nur nichtkommerzielle Unternehmen, die für die Zivilgesellschaft arbeiten, nämlich Institutionen, deren Tätigkeit man nicht einfach einstellen und nach einiger Zeit wieder aufnehmen kann. Die europäischen Fördermittelgeber hingegen arbeiten häufiger nach einer Projektlogik, die nach Projektende konkrete Kennzahlen erwartet, die die erreichten Veränderungen darstellen – doch das wiederum ist für Medianarbeit nicht unbedingt relevant. 

    „Mit diesem Problem sind nicht nur die belarussischen Redaktionen konfrontiert, sondern auch Medien aus anderen osteuropäischen Staaten, aus Afrika und Asien“, sagt Belikova. „Deshalb wird unter Medienunternehmern und -entwicklern aktuell diese Besonderheit diskutiert, und wie man die klassischen europäischen Fördermittelgeber überzeugen könnte, ihren Projektansatz zu überdenken.“

    Natalia Belikova vom Press Club Belarus / Foto © privat  

     

    Natalia Belikova betont, dass man im Bereich der Advocacy-Arbeit für die Medien, also für Schutz und Förderung ihrer Interessen (gegenüber Geldgebern, internationalen Organisationen und ausländischen Regierungen), unabhängig vom Kontext mehr über ihre Stärken und Erfolge sprechen sollte. Der Press Club Belarus beruft sich bei der Interessenvertretung der belarussischen Medien stets auf deren Fähigkeit, wie ein Ökosystem zusammenzuarbeiten, in dem landesweite und thematische Medienangebote, Nischenausgaben und Nachrichtenagenturen einander in guter Nachbarschaft unterstützen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die belarussischen Medien weiterhin hohe Reichweiten erzielen, meint Belikova: „Darin liegt ihre Stärke: Ein Ökosystem ist schwerer zu unterdrücken, und dadurch wird Wirkung erzielt: Die unabhängigen Medien können weiterhin ihr Publikum erreichen.“   

    Trotz Repressionen versuchen etwa 15 Prozent des Publikums in Belarus, Informationen aus verschiedenen Quellen zu beziehen 

    Die zweite Besonderheit und auch eine weitere Stärke der belarussischen Medien liegt in ihrer Nähe zu Belarus – in jeder Hinsicht: Die wichtigsten Mediahubs befinden sich in Vilnius, Warschau und Białystok. Dort finden ihre Redaktionen Büroräume, Studios, Fachkräfte und technische Ausstattung, die man beispielsweise braucht, damit Nutzerinnen und Nutzern ohne VPN-Einsatz die staatliche Blockierung der Webseiten umgehen können.  

    Die Situation der belarussischen Medien im Exil unterscheidet sich auch dadurch von derjenigen aus anderen Ländern, dass man sich nach wie vor auf das Publikum im Land orientiert, meint Belikova. Und das obwohl aufgrund der Kriminalisierung der gesamten unabhängigen Branche im Grunde kein wirklicher Markt für sie existiert: Viele Medien haben den Status „extremistische Vereinigung“ bekommen, ein Teil ihrer Veröffentlichungen steht auf einer Liste „extremistischer Materialien“. Das bedeutet faktisch, dass jedes Like unter diesen Publikationen auf Social Media als Verbrechen gewertet wird.  

    All diesen Hindernissen zum Trotz signalisiert das Publikum Nachfrage: „Auch wenn in der Gesellschaft viel Angst herrscht, versucht ein großer Anteil [des Publikums] – einer Studie des Forschungszentrums iSANS zufolge etwa 15 Prozent – Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu beziehen. Berücksichtigt man den Grad der Repressionen, so ist das ein recht hoher Anteil von Menschen, die sich um ein komplexeres Weltbild bemühen, als es die Propaganda anbietet. Das zeugt wiederum davon, dass die Gesellschaft in gewissem Maße gesund geblieben ist“, resümiert Belikova. 

    Und das sei es auch, was den belarussischen Medien helfen kann, mit Geldgebern in einer Sprache der Erfolge zu sprechen: Man müsse davon erzählen, welches einzigartige, wertvolle Angebot man dem Publikum macht, um so den sinnvollen Einsatz der Mittel hervorzuheben.  

    Überleben als Alltagsgeschäft  

    Die belarussischen Medien im Exil werden häufig mit den russischen verglichen, doch Belikova hält diese Analogie für unzutreffend: „Gerade im Hinblick auf den Einfluss auf die Menschen im Land kann man sie nicht vergleichen: In Belarus erreichen unabhängige Medien einen viel höheren Anteil der Bevölkerung, 25 bis 30 Prozent, während die Medien, die Russland verlassen mussten, nur noch eine Reichweite von sechs bis sieben Prozent im Land haben.“ Zieht man Parallelen zu Exil-Medien anderer Länder, dann seien die Kollegen aus Nicaragua den Belarussen am ähnlichsten. Eine Protestbewegung, wie sie in Belarus 2020 stattfand, gab es in Nicaragua 2018. Seitdem setzen die unabhängigen Redaktionen ihre Arbeit von Costa Rica aus fort.  

    „Bei ihnen gab es auch zuerst eine Zeit der Liberalisierung, und dann verbot der Präsident nach den Wahlen mit einem Mal alle unabhängigen Medien“, berichtet Belikova. „Die Journalisten wurden mit Flugzeugen außer Landes gebracht, ihnen wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, aber, wie auch bei uns, besitzen die unabhängigen Medien in der Gesellschaft ein hohes Vertrauen.“ 

    Eine weitere Besonderheit der belarussischen Medien sei schließlich die durch jahrelange Arbeit unter schwierigen Bedingungen erlangte Standhaftigkeit. Genau genommen haben sie noch nie unter „normalen“ Bedingungen von Demokratie und Marktwirtschaft gearbeitet. Überleben ist gewissenmaßen ihr Alltagsgeschäft: Seit den 1990er Jahren gab es nur wenige Jahre, in denen Journalisten in Belarus nicht verfolgt wurden oder um ihre legale Arbeitsmöglichkeit fürchten mussten.  

    Stand Juli 2025 sitzen 38 Medienschaffende aufgrund ihrer Berufstätigkeit in belarussischen Gefängnissen. 

    Der Zustand der permanenten Erschütterung ist für unsere Medien zur Norm geworden 

    Gerade jetzt müssen die Medien aufgrund all dieser kombinierten Faktoren innovativ sein, um ihren Status quo zu bewahren, erklärt Belikova. „Natürlich gibt es Medienschaffende, die den Beruf verlassen. Andere haben sich bereits ein dickes Fell zugelegt. Nach den Neuigkeiten aus den USA hatten wir eine große Versammlung, die Lage war ernst, die Perspektiven unklar … Aber als der Schock überwunden war, sagten alle: ‚Ist wohl dein erstes Mal?‘ Resignation ist zwar da, aber sie wirft dich nicht in einem Maße aus der Bahn, dass du nicht mehr weitermachen kannst.“ 

    Normal ist eine solche Situation aber keinesfalls, betont die Expertin. Solcher Stress kann zu extremem Burnout, Angstzuständen und Depressionen führen. In einer Studie zu den Bedürfnissen von Beschäftigten der Medienbranche, die die Belarussische Journalistenvereinigung (BAJ) im Dezember 2024 vorstellte, gab die Hälfte der Medienschaffenden an, psychische Probleme zu haben. „Natürlich, alle würden gern mal wenigstens ein Jahr lang stabil auf zwei Beinen stehen, aber der Zustand der permanenten Erschütterung ist für unsere Medien zur Norm geworden. Das schlägt sich im Gesundheitszustand der Menschen nieder, in der Häufigkeit von Burnout-Erkrankungen und Depressionen … Gleichzeitig macht es aber auch stark.“ 

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    Maryja Martysievič, geboren 1982 in Minsk, gehört zu den bekanntesten Stimmen der zeitgenössischen belarussischen Poesie. Sie hat mehrere Bücher vorgelegt und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, auch für ihre journalistische Arbeit und ihre Übersetzungen aus dem Polnischen, Tschechischen, Englischen oder Ukrainischen. In ihren lyrischen Arbeiten macht sie sich immer wieder auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Landsleute, wie in ihrem Langgedicht Sarmatia.

    Auch in ihrem Essay für unser Projekt mit der S. Fischer Stiftung Spurensuche in der Zukunft begibt sie sich in die Tiefen belarussischer Rätselhaftigkeit und dekodiert sie mit den Mitteln der poetisch-literarischen Wahrheitserkundung.  

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Antanina Slabodchykava

    Die Zukunft des Menschen muss man in seiner Vergangenheit suchen. Ich pflichte allen bei, die das sagen. Und vor allem teile ich Benedict Andersons Ironie, wenn er sagt, wann immer eine Gemeinschaft sich für eine Nation hält, beginnt sie – die Neugeborene – sofort Beweise für ihre archaische Abstammung auszugraben. Je archaischer diese Abstammung, desto selbstbewusster und glücklicher fühlt sich die Nation. 

    Die Vergangenheit der Menschheit ist eine Projektion ihrer Gegenwart. Das habe ich mir selbst ausgedacht, und viele stimmen mir darin zu. In Anlehnung an Yuval Noah Harari, der sagt, dass die Menschheit vernünftiger und geistreicher war, als alle noch Nomaden waren und sich gesund nomadisch ernährten, kommt nun schon meine eigene Ironie ins Spiel. Ein durch Jagd erbeutetes Steak würzten die Menschen mit selbst gesammelten Wurzeln. Die Menschheit hat also nur verloren, seit sie sich am Rande der Weizenfelder auf ihre vier Buchstaben gesetzt hat.  

    Mein Lieblingsinstrument aus dieser Oper ist die Neandertalerflöte. Ein Bärenknochen mit runden Löchern, gefunden in Divje Babe in Slowenien. Man sagt, sie wurde im Paläolithikum gefertigt. Andere primitive, vorhistorische Flöten sind neuer, sie wurden schon vom Homo Sapiens hergestellt. Die Flöte von Divje Babe beweist: Zu Unrecht brachten die Wissenschaftler früher die Neandertaler in Verruf – sie verfügten bereits über höhere Fähigkeiten und hatten ihre eigene, schöne Musik.  

    Heute sind Wissenschaftsblogger den Neandertalern gegenüber vorsichtig und wohlwollend eingestellt – wie vielen einstigen Minderheiten gegenüber, die von der Sapienshorde ausgelöscht wurden. Was heißt es, Europäer zu sein? Die Antwort auf diese bei den Denkern des 20. Jahrhunderts populäre Frage lautet im 21. Jahrhundert: 2 % Neandertaler-Genom in der DNA. Wie stellt man fest, welchen Anteil man hat? Im 21. Jahrhundert ist das gar keine Frage mehr. 

    Vor Kurzem hat die Genealogie-Plattform MyHeritage ihre DNA–Datenbanken aktualisiert, was die Kunden aus Belarus stark verwunderte. Bei jedem von ihnen verringerte sich der Anteil osteuropäischer Gene und der Prozentsatz in der Spalte baltisch wuchs. Bei vielen erschien ein neuer, schockierender Vermerk: balkanisch. Im Familiengedächtnis ist in der Regel nichts über Vorfahren vom Balkan gespeichert. Die Plattform gibt folgende verallgemeinerte Zahlen für die DNA von Menschen aus Belarus an: 90,6 Prozent – baltisch; 88,7 Prozent – osteuropäisch; 64,6 Prozent – balkanisch; 7,2 Prozent – aschkenasisch–jüdisch; 5,3 Prozent – finnisch.  

    Die jüdischen Gene – das ist noch ganz frische Geschichte, das Mittelalter in Belarus. Die anderen Zahlen hauten mich aber vom Hocker. Das war „alles schon bei den Simpsons“: Ich hatte davon in den Texten des Historikers Mikola Jermalowitsch gelesen. 

    Jermalowitsch war ein belarusischer sowjetischer Dissident, der für die Schublade historische Abhandlungen über die Herkunft der Nation und der Staatlichkeit verfasste. Neben Uladsimir Karatkewitsch war er genau der Gräber nach Beweisen für unser belarusisches Altertum, über die Anderson gewitzelt hatte. Jermalowitsch Buchreihe Starashytnaja Belarus (dt: Belarus im Altertum) wurde erst herausgegeben, als es möglich geworden war – zu Beginn der 1990er. Bis dahin hatten Zeitschriften Angst, seine Hypothesen zu drucken, die den in der UdSSR üblichen Postulaten von der osteuropäischen Dreifaltigkeit Belarus, Ukraine und Russland diametral entgegenstanden. Dieses Postulat entstand zu Zeiten des Russischen Imperiums, um dessen Dimensionen mit Ideologie zu untermauern, und wird aus irgendeinem Grund bis heute in der Welt als Wahrheit hingenommen. 

    Jermalowitsch ignorierte diese konstruierte These und beschloss, in seinen Arbeiten die Herkunft der Belarusen detailliert zu erforschen. In seine Abhandlungen muss man sich genauso einlesen, wie man sich in eine lateinamerikanische Telenovela einsehen muss, um zu verstehen, wer wessen Bruder, Schwiegervater oder uneheliche Enkelin ist. Denn bis zum 9. Jahrhundert zogen auf dem Gebiet des heutigen Belarus die Stämme mehr oder weniger ständig hin und her. Sie kamen, ließen sich nieder, dann standen sie wieder auf und zogen weiter, verdrängten und verschoben andere Stämme. Hauptsächlich waren es Balten: Litauische und Lettländische, – und Slawen: Kriwitschen, Dregowitschen, Radimitschen. Es gab noch viele andere Stämme, aber sie blieben Nebenschauplätze in der Serienhandlung. In die Lehrbücher des unabhängigen Belarus schafften es nur die genannten. 

    Jermalowitsch analysierte zwei zentrale Quellen: archäologische Daten und Orts– und Gewässernamen. 

    Mit den Slawen, so schrieb Jermalowitsch, passierte laut diesen Daten etwas Seltsames. Sie „saßen“ in aller Ruhe im zukünftigen Belarus, aber als sie im 5. Jahrhundert von den Balten vertrieben wurden, zogen sie in den Süden: jenseits der Donau, auf den Balkan. Ein Jahrhundert später überlegten sie es sich wieder anders und kehrten zurück. Auch die Finno-Ugren zogen in einem breiten Streifen durch Belarus. 

    Für einen Moment schien mir, die künstliche Intelligenz, die die DNA der Belarusen analysiert, habe ebenfalls Mikola Jermalowitsch gelesen.  

    Wegen Jermalowitsch wäre ich fast Historikerin geworden. Ich gewann die Silbermedaille bei der Kreisolympiade im Fach Geschichte. Ich wusste nicht, dass Jermalowitsch noch kurz zuvor ein Dissident gewesen war. Und erst recht konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jermalowitsch keine historische Ausbildung hatte. Er war Philologe und unterrichtete belarusische Literatur.  

    Bei der Kreisolympiade sollten wir zum einen Konzepte der Abstammung der Belarusen beschreiben, zum anderen die Ursachen der Kubakrise. Über die Abstammung der Belarusen hatte ich nur Jermalowitsch gelesen (damals lasen ihn alle), über die Kubakrise hatte ich einen Dokumentarfilm gesehen. Heute ist mir klar, dass ich die Medaille wegen meiner literarischen Fähigkeiten bekam. In meinem Essay hing die Existenz der Belarusen als Nation nämlich am seidenen Faden – aber dann wendete sich das Blatt: Die einen slawischen Völker waren rechtzeitig von jenseits der Donau zurückgekehrt und hatten sich in der richtigen Proportion mit dem Balten gemischt, den anderen (den Kriwitschen) hatte man in Nowgorod eine Klatsche verpasst, sodass sie zurückkamen und Polazk gründeten – wodurch für die Belarussen doch noch alles gut ausging. Dieselbe Dramaturgie hatte in meiner Nacherzählung auch die Kubakrise. Als Antwort auf die in der Türkei aufgetauchten amerikanischen Raketen steuerten sowjetische Flugzeugträger schnurstracks auf Kuba zu: „Jeden Moment konnte der rote Knopf gedrückt werden …“ 

    Bei der nächsten Etappe der Olympiade, dem Stadtausscheid, lasen offensichtlich weniger romantische Historiker meine Essays, denn die Nacherzählung der Jermalowitsch-Bücher brachte keine Punkte.  

    Als ich die DNA-Auswertungen belarusischer Blogger und meiner Facebook–Freunde sah, traute ich meinen Augen nicht. Nehmt das, Skeptiker! Mikola Jermalowitsch hatte recht. Die Genetiker bestätigen es. 

    Meine Euphorie währte bis zu dem Tag, an dem ein anderes Gentechniklabor – Colossal Biosciences – von der Wiedererweckung des archaischen Schattenwolfes (Aenocyon dirus) berichtete. Die Forscher hatten das Genom der längst ausgestorbenen Art genommen und auf der Grundlage des heutigen Wolfes restauriert.  

    Wissenschaftsblogger erläuterten sofort, dem Labor sei es dabei nicht um historische Genauigkeit gegangen. Sie sorgten sich weniger um die Wissenschaft als um das Äußere. Die Gentechniker hatten sich zum Ziel gesetzt, die neuerschaffenen Tiere möglichst genau den Wesen anzugleichen, die in Game of Thrones gezeigt worden waren. 

    Das bestärkte mich also wieder in der Vermutung, dass MyHeritage Belarus im Altertum von Mikola Jermalowitsch verarbeitet hatte. Ich las noch einmal die Seiten über die Ethnogenese und stellte mit Schrecken fest, dass Jermalowitsch auch von Wölfen geschrieben hatte! Einige Stämme unserer Vorfahren hießen Wilzen (Wölfe) oder Lutizen (Grausame). Natürlich kam im Buch auch das bekannte Herodot-Zitat vor, dass in unseren Gefilden einst die Neuri lebten, die sich „jedes Jahr für eine paar Tage in Wölfe verwandelten“. 

    Es kostet nicht wenig, aber man kann heutzutage seine DNA auf das Genom der Neandertaler testen lassen. Den Prozentsatz balkanisch-baltischer Gene in der eigenen Spirale zu bestimmen, ist hingegen einfacher. Seit der Aktualisierung der Datenbasis bei MyHeritage gibt es sogar Ermäßigungen. In wie vielen Jahren wird es wohl möglich sein und wie viel wird es kosten, bei sich den Anteil wölfischer Gene bestimmen zu lassen? Wie lange wird die Wissenschaft brauchen, um unsere Abstammung von den Fischen nachzuvollziehen? 

    Ende der 1980er Jahre wollten junge Belarusen durch die Bank weg Historiker werden. Zu Beginn der 2020er studieren alle jungen Belarusen Biochemie.  

    Ich habe kein Profil bei MyHeritage oder ähnlichen Anbietern. Selbst jetzt nicht, wo es Ermäßigungen gibt. Die Genlabore schicken ihre Testkits nicht nach Belarus. Mit einer belarusischen Geldkarte kann man ihre Dienstleistung nicht bezahlen. Ich weiß nicht, ob Patrycja aus Białystok und ich wirklich einen gemeinsamen Urgroßvater haben und in welchem Verhältnis Pawel aus Wien zu mir steht, dessen Großvater nur einen Wald von meinem entfernt geboren wurde. Wir haben uns im Internet über unseren Familiennamen gefunden. Mir ist noch immer ein Rätsel, warum die eine Linie meiner Vorfahren im Dorf Turki (Türken) genannt wurde und ob ich vielleicht daher meine dunklen Augen und Haare habe. Ich habe Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde, in das Dorf an der russischen Grenze zu fahren und dem Verwandten ein Wattestäbchen in den Mund zu stecken, dessen Biomaterial uns erzählen kann, ob wirklich einer unserer Vorfahren aus Preußen stammte. Und wenn dem so ist, woher genau? In welcher Hafenstadt an der Ostsee findet sich der entfernte Onkel, der mir seinen Stammbaum in der genetischen Datenbank nicht freigibt, weil ich „Kommunistin“ oder „Russin“ bin? Oder werden mir andere Stereotype der Gegenwart den Zugang zur Vergangenheit verschließen, und damit auch zur Zukunft? Belarusen, die ihre DNA testen ließen, berichten auch von solchen Fällen.  

    Einmal erzählte ich in der traditionellen Unterrichtsstunde Woher wir stammen die Familienlegende über die Turki. Die Lehrerin musste lachen und sagte, ich hätte diese Geschichte abgekupfert. Kurz darauf fand ich heraus, dass Michails Scholochows Stiller Don mit dieser Legende beginnt. 

    Deshalb werde ich irgendwann diesen Test machen. Ich will alle Familiengeschichten in Zahlen verkörpert sehen. 

    Ich denke, die massenhafte DNA-Testung wird bald die globalen Identitäten verändern. Schon heute beeinflusst sie die Lebensgestaltung der Menschen. Facebook-Freunde beschließen, Finnisch zu lernen oder fahren in den Urlaub nach Ljubljana, nachdem sie auf MyHeritage ihre Wurzeln entdeckt haben. 

    Unsere Vergangenheit ist die gegenwärtige Projektion auf Netflix oder Youtube. Bei Jermalowitsch stolpere ich über das Verb „gingen“. Er verwendet es, weil es schon der Verfasser der Nestorchronik tat. Die Slowenen „gingen her und ließen sich nieder“. Die Kriwitschen „gingen her und ließen sich nieder“. Inwiefern ist „gingen her“ eine Metapher? Gingen sie, wie bei den Matrosen die Ladung geht und nicht schwimmt, oder bei den Lokführern die Züge pünktlich gehen, statt zu fahren? Ich habe vor Augen, wie das Volk Israel durch die Wüste geht, denn die Bibel wurde mehrfach verfilmt. Aber wie gingen die Slawen? Das Rad war schon längst erfunden. Fuhren sie also auf Wagen? Oder fuhr auf den Wagen ihr Hab und Gut, während sie nebenherliefen? Erwiesen ist, dass sie sich auf Flüssen fortbewegten. Fuhren sie auf Flößen? Mit Booten? Oder zogen sie, wie die Treidler an der Wolga auf Ilja Repins Gemälde, die Boote an Seilen? Jermalowitsch schreibt nichts darüber, und andere Autoren habe ich nicht gelesen.  

    Gingen sie in großen Gruppen, oder zu zweit, oder als Familie? Wenn zum Beispiel eine junge Frau und ein junger Mann heirateten, zogen sie dann zu zweit den Fluss hinauf, bauten ein Haus, bekamen Kinder und kehrten später zurück, um die Eltern zu sich zu holen? Oder hatten die Stämme Kundschafter und Gesandte? Wie genau verdrängte ein Stamm den anderen? Gingen die Stämme in Marschkleidung oder trugen sie Paradefibeln, Gürtel, Ringe und Anhänger in Entenform, wie Archäologen sie in Grabhügeln fanden? Damit die Fremden, denen sie begegneten, an diesen Zeichen ihre Herkunft erkennen konnten? 

    Nein, DNA-Tests können nicht alle meine Fragen beantworten. Mit der Radiokarbonmethode könnte es vielleicht klappen. 

    Alle, die wissen wollten, wie ich die Zukunft von Belarus sehe, haben vielleicht eine andere Perspektive von mir erwartet – mehr aktuelle Prognosen, frische News, ein Gemälde der Stimmungen im Land. Vielleicht sollte ich erklären, dass Rus und Russland nicht dasselbe ist. Sagen, was ich über Belarus‘ Aussichten auf der Weltkarte denke. Wird es Krieg oder Frieden geben? Freiheit oder Diktatur? Soll eine Frau oder ein Mann an der Spitze des Landes stehen? Wie viele Menschen sprechen heute Belarusisch? Aber dafür bin ich wohl nicht die passende Autorin. Ich denke, Jermalowitsch gefällt mir, weil ich auch ich so eine versessene Vergangenheitsgräberin bin, über die Anderson sich lustig macht.  

    Eine wichtige Nachricht in Belarus war im letzten Jahr, dass Archäologen bei Ausgrabungen in der alten Wallburg Stary Mensk Hüttenkonstruktionen aus Eichenstämmen aus dem 9. Jahrhundert entdeckt hatten. Sowohl die Machthaber, die die Repressionen absichern, als auch die Repressierten teilten dieselben Emotionen: Wir haben uralte Wurzeln, noch im Altertum, wir hatten hier einst eine Hauptstadt, die handelte, kämpfte und mit Knochenfiguren Schach spielte. Eine Schachfigur aus der Ausgrabung wird in einer Vitrine gezeigt, eine Kopie kann man im Museumsshop kaufen. Ebenso können Belarusen, die nach Slowenien fahren, um ihren balkanischen Wurzeln nachzuspüren, im Nationalmuseum in Ljubljana die Neandertalerflöte betrachten und sich im Souvenirgeschäft eine Kopie kaufen. 

    MyHeritage ist eine israelische Seite, deshalb gibt es in der aktualisierten Datenbank 15 ethnische Gruppen von Juden. Genetische Plattformen sind häufig auf Kunden spezialisiert, die aus Europa nach Israel oder in die USA emigriert sind und dafür bezahlen, die Wege ihrer Vorfahren über die Kontinente nachzuvollziehen. Die Belarusen sind eine eher unerwartete Nutzergruppe, an der man sich kaum ausrichtet. Die Belarusen sind an eine konkrete Fläche auf der Landkarte gebunden. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Machtwechsel oder gar der Verlust der Unabhängigkeit daran etwas ändern würde. Denn diese Umrisse wurden von Wissenschaftlern definiert: Linguisten, Ethnografen, Publizisten. Und nun auch von Biochemikern.  

    Wie schon ein Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Jauchim Karski, in seiner Abhandlung Belorusy (dt. Die Belarusen), beginnt Mikola Jermalowitsch das Gespräch über den Ethnos mit einem Topos. Belarus – das ist ein historisches Charakteristikum, das auf ein geografisches Charakteristikum zurückgeht. Die Belarusen heute, das sind jene, deren Vorfahren „hergingen und sich niederließen“ in Wäldern und an Flussquellen. Belarus ist dort, wo die Wälder sind, und seine Grenzen sind von allen Seiten durch Sümpfe markiert. Karski schreibt sogar, dass die großen Umsiedlungen der Völker im Russischen Imperium nichts an dieser Gewohnheit änderten. Die Belarusen erkannte man ihm zufolge daran, dass sie selbst in Steppenregionen Bäume fanden und sich zwischen ihnen niederließen. Daher erhielten sie auch diese Bezeichnung von ihren Nachbarn: Paleschuki [zu Palesje, Wald- und Sumpflandschaft]. Das sind Menschen, für die offene Landschaften Gefahr bedeuten. Eine Skyline aus Wald hingegen gibt ihnen das Gefühl von Geborgenheit.  

    Jede Gegenwart hat ihre eigene Version der Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert erklärten Historiker und Ideologen den Namen Belaja Rus damit, dass unsere Gebiete nicht von Tataren erobert wurden, und die Haare der Menschen deshalb weiß wie Leinen und die Religion christlich blieben. Meiner Ansicht nach ist das eine sehr eugenische Deutung. Heute sind die Historiker zu Karskis geografischem Ansatz zurückgekehrt. „Weiß“ hieß auf der indoeuropäischen Weltkarte „oben“. Die Weiße Rus ist der Teil des Territoriums der Rus, der an den Oberläufen der Flüsse liegt. Dwina, Dnepr, Njoman und Wolga – die Ursprünge dieser Flüsse bezeichnet Karski als die Urheimat der Kriwitschen, die man im Russischen Reich später dann als Belarusen bezeichnete. 

    Jetzt habe ich mich also zu diesem Gedanken durchgegraben. Je mehr Bäume entlang der Flüsse und Seen stehen – desto mehr Belarus. 

    Ich habe kein Profil bei MyHeritage, aber ich bin Teil des belarusischen genetischen Strangs. Einmal brachte ich DNA–Tests nach Vilnius, die Verwandte einer Freundin in Polazk gemacht hatten. Die Freundin darf nicht nach Belarus reisen, da ihr Gefängnis droht. Den Test schickten sie mir aus Polazk per Post. Die Schachtel mit dem biologischen Material war sicher an einer Packung Dörrfisch befestigt. Solche Geschenke halten die Familie über Grenzen zusammen. „Ich habe den Test auf der Post abgeholt“, schreibe ich der Freundin, „er wird aber vielleicht ergeben, dass deine Polazker Vorfahren Amphibienmenschen waren.“ 

    Und vielleicht wird das ein sehr exaktes Ergebnis sein. 

    Minsk, April 2025 

     


     

    Maryja Martysievič (geboren 1982 in Minsk), Lyrikerin, Übersetzerin, Publizistin, Organisatorin literarischer Projekte. Erste Schritte als Herausgeberin mit den Buchreihen Amerykanka und Hradus. Autorin von sechs Lyrikbänden: Цмокі лятуць на нераст: эсэ ў вершах і прозе [Drachen fliegen zur Brut: Essays in Lyrik und Prosa] (2008), Амбасада: вершы свае і чужыя [Die Botschaft: Eigene und fremde Gedichte] (2011), Сарматыя [Sarmatia] (2018), Як пазбыцца Маматута [Wie werde ich das Mamatut los] (2020), Водападзел [Wasserscheide] (2022) und Хагі Вагі [Huggy Wuggy] (2025). Sie erhielt zwei Preise für Сарматыя [Sarmatia] und 2019 den Publikumspreis des Václav-Burian-Preises in Olomouc (CZ). Maryja Martysievič lebt in Minsk und Bronnaja Hara. 

     

    ANMERKUNG DER REDAKTION  

    Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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  • Was kommt nach Lukaschenko?

    Was kommt nach Lukaschenko?

    Alexander Lukaschenko hat in den vergangenen 30 Jahren ein hochzentralisiertes und -personalisiertes Machtgefüge geschaffen, in dem praktisch keine wichtigen Entscheidungen ohne ihn getroffen werden können. Dabei ist der belarussische Machthaber schon 70 Jahre alt. Die Frage, wie eine Nachfolge aussehen könnte, ist also zentral für das Überleben des von Lukaschenko geschaffenen autoritären Systems.  

    In einem Projekt der Initiative Center for New Ideas analysieren Ryhor Astapenia und Pavel Matsukevich mögliche Szenarien eines Machttransits. Welche Gruppierungen und Organe könnten im Falle von Lukaschenkos Aus die Macht übernehmen? Welche Rolle spielen Lukaschenkos Söhne dabei? Im Interview mit dem Online-Portal GazetaBy gibt Astapenia Antworten.  

    Alexander Lukaschenko mit seinen Söhnen Viktor, Nikolai und Dmitri (v.l.n.r.) bei einer Parade zum Tag des Sieges in Minsk im Jahr 2019. / Foto © Itar-Tass/ Imago 

    Gibt es überhaupt einen Anlass, über Machtwechsel zu sprechen, abgesehen von der Tatsache, dass Alexander Lukaschenko schon über siebzig ist? Das Alter muss ja nicht nichts bedeuten, Robert Mugabe hat in Simbabwe noch mit 93 regiert …  

    Es liegt auf der Hand, dass Lukaschenko so lange wie möglich regieren will. Andererseits zeugen seine Taten – die Gründung der Allbelarussischen Volksversammlung und die sich mehrenden Gespräche darüber, dass „es Zeit für mich ist, abzutreten“ – davon, dass das Thema auf der Agenda steht. 

    Natürlich sollte man dem fahrenden Zug nicht vorauseilen und behaupten, dass es schon morgen einen neuen Präsidenten geben könnte. Aber die Frage wird zunehmend aktuell. Deshalb sprechen wir im Titel unserer Studie vom „Beginn des Machttransits“. 

    Hat der Prozess aus Ihrer Sicht wirklich begonnen oder wurden die Mechanismen wie die Volksversammlung nur für alle Fälle geschaffen? Vielleicht kommen sie nie zum Einsatz, wenn sich Lukaschenkos Gesundheit nicht gerade rapide verschlechtert? 

    Ich denke, Lukaschenko will nicht zu viele Signale aussenden, dass er abtreten will. Das würde bei verschiedensten Akteuren viele Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen auslösen. In Russland, in der belarussischen politischen Emigration und auch innerhalb des Landes würden unnötige Gärungsprozesse beginnen. 

    Betrachtet man aber alle Veränderungen in Kombination – die Verankerung von Sicherheitsgarantien für Expräsidenten in der Verfassung, die Erwähnung einer neuen politischen Klasse in der Neujahrsansprache und den Beschluss, dass die Macht nach dem Tod des Staatsoberhauptes auf die Volksversammlung übergeht – dann kann man vom Beginn des Machttransits sprechen. 

    Lukaschenko verändert sich sichtlich, man sieht das gut, wenn man ihn mit Fotos aus früheren Jahren vergleicht. Es ist praktisch unausweichlich, dass es innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre einen neuen belarussischen Staatschef geben wird.  

    Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will 

    Gemeinsam mit ihrem Co-Autor Pavel Matsukevich, Senior Researcher am Center for New Ideas, unterscheiden Sie zwei Szenarien für den Machtwechsel: den geplanten und den unkontrollierten. Wie realistisch ist es denn, dass Lukaschenko, wenn er nicht gerade im Sterben liegt, jemand anderem die Macht übergibt?  

    Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will. Es wäre aber naiv zu denken, dass wir alles über ihn wissen. Es gibt viele Faktoren, die seine Entscheidungsfindung beeinflussen können. Deshalb würde ich hier sagen: fifty-fifty. 

    Lassen Sie uns noch ein wenig spekulieren. Soziologen stellen gern Fragen wie „Wen würden Sie wählen, wenn morgen Präsidentschaftswahlen wären?“. Wenn der Machtwechsel morgen in seine aktive Phase überginge, auf wen würde Lukaschenko setzen? 

    Wenn wir uns den Aufbau des Systems anschauen, sehen wir, dass es einen bestimmten Kreis von Menschen gibt, die schon vergleichsweise lange an der Macht sind und sich eine bedeutende Rolle erarbeitet haben: Nikolaj Snopkow (erster Vizepremier – GazetaBy), Alexander Turtschin (Premierminister), Dmitri Krutoj (Chef der Präsidialverwaltung und andere. Das ist die Gruppe, die das Funktionieren der Wirtschaft und im Prinzip auch des Staates verantwortet.  

    Natürlich gibt es die Familie (darunter fasst die Studie Alexander Lukaschenkos Verwandte und Vertraute zusammen, auch seine Kinder, die ebenfalls über große Ressourcen verfügt. Berücksichtigt man Lukaschenkos monarchische Befugnisse, wäre es naiv, eine Erbfolge beim Machtwechsel auszuschließen, also eine Übergabe vom Vater an den Sohn (höchstwahrscheinlich an den ältesten). Das könnte vom politischen System als ausreichend logische Entscheidung akzeptiert werden und auch für den Kreml legitim klingen. Sobald man aus einem weiteren Personenkreis auswählen muss, wächst Russlands Einfluss auf den Prozess. 

    Häufig wird auch über die Silowiki als potenzielle Anwärter auf die Macht gesprochen. Ihre Chancen würden im Fall einer Krisensituation wachsen – bei einem scharfen Konflikt mit einem anderen Staat oder Massenprotesten innerhalb von Belarus. Andererseits haben diese Menschen nie die Verantwortung für das Funktionieren des Staates getragen. Die Silowiki sind in diesem System Bonusempfänger, keine Gestalter. 

    Genau das halte ich für die kontroverseste Schlussfolgerung in Ihrer Studie: „Im Falle eines Machtwechsels werden sie [die Silowiki] sich wahrscheinlich mit der neuen Macht verbünden, sofern der Wechsel aus dem System entsteht, und nicht selbst die Macht beanspruchen.“  

    Die Silowiki haben tatsächlich nie selbst gestaltet, aber was hindert sie daran, dieselben Technokraten anzuheuern (oder sie zu zwingen ihnen zu dienen), die jetzt für Lukaschenko arbeiten? Zudem gibt es das russische Modell, wo eine Elwira Nabiullina vorgeblich die Probleme für Wladimir Putin löst.  

    Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden die Silowiki zudem Unterstützung aus Russland erhalten, insbesondere im Fall eines unkontrollierten Machtwechsels.   

    Hier ist es wichtig, die aktuell bestehende Hierarchie zu betrachten, in der die Silowiki etwas niedriger stehen als die Leiter der Regierung und der Präsidialverwaltung. Der Logik nach kommen die Silowiki also nicht an erster Stelle, wenn die Macht von oben nach unten weitergegeben wird. Natürlich kann man die Situation, wenn Alexander Lukaschenko abtritt, nur schwerlich nicht als Krise bezeichnen [lacht], aber dennoch haben die Vertreter in der Verwaltungsvertikale mehr Möglichkeiten. Zudem spielt es eine Rolle, dass diese Leute schon länger im System sind. Bei den Silowiki gibt es häufiger Rotation. 

    Ryhor Astapenia leitet beim Think Tank Chatham House die Belarus-Initiative im Russland Eurasien-Programm. / Foto © privat
    Ryhor Astapenia leitet beim Think Tank Chatham House die Belarus-Initiative im Russland Eurasien-Programm. / Foto © privat

    Ich stelle eine naive Frage: Wenn Viktor Lukaschenko der wahrscheinlichste Nachfolger ist, warum hat sein Vater dann schon mehr oder weniger eine Million Mal gesagt: „Meine Söhne werden keine Präsidenten“? 

    Es ist eine gewisse Koketterie zu sagen „ich werde das nicht tun“. Warum sollte man das Thema des Machttransits an die Kinder eher als nötig aufbringen? Wenn die Entscheidung getroffen wird, wird sie umgesetzt. Im aktuellen Rechtssystem findet sich für alles ein Weg, wenn nötig über Nacht. Jetzt darüber zu sprechen, würde mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Es würde nur Leute verprellen. 

    Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass Lukaschenko für einen geplanten Machttransit einen Präsidenten mit einem anderen Familiennamen im Blick hat. Als er das Amt des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees abgeben musste, ging der Titel an seinen Sohn: vermutlich der Logik des aktuellen Machthabers folgend, dass es in Belarus keine Präsidenten mit einem anderen Familiennamen geben darf. 

    In Ihrer Studie heißt es: „Es ist ungewiss, welche Institutionen für den Machttransit genutzt werden. Es gibt zu viele Optionen dafür.“ Welche Varianten gibt es denn, außer die formal existierenden „Präsidentschaftswahlen“

    In Anbetracht der Tatsache, dass die Machthabenden die Gesetzgebung beliebig ändern und sie im Prinzip sogar ignorieren können, gibt es sehr viele Varianten. Zum Beispiel könnte ein neuer Präsident von der Allbelarussischen Volksversammlung gewählt werden.  

    Ein Machttransit könnte auch einfach nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden 

    Es gibt das Szenario, dass das Land im Fall des Todes von Alexander Lukaschenko vom Sicherheitsrat regiert wird. In diesem Fall würde aber der Vorsitzende des Rates der Republik der Nationalversammlung zum formalen Staatsoberhaupt. Das ist aktuell kein Silowik. Und auch das ist ein Argument für die These, dass die Silowiki im Moment des Machtwechsels keine dominante Position innehaben werden. Man kann sich noch viele weitere Varianten ausdenken. Alles in allem hängt es aber nicht von den Institutionen ab. Der politische Wille entscheidet. Wenn es ihn gibt, wird es Veränderungen geben. Wenn nicht, dann nicht. 

    Selbst wenn man einmal annimmt, dass Alexander Lukaschenko plötzlich stirbt, dann müsste die Macht eigentlich auf den Sicherheitsrat übergehen. Das heißt aber nicht, dass es so kommt. Es kann auch einfach alles nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden. 

    Inwiefern können personelle Veränderungen auf der politischen Führungsebene Ihre Studienergebnisse beeinflussen – aktuell und zukünftig? 

    Wir beobachten natürlich die Personalwechsel und die Änderungen in den Strukturen, wer geht, wer dazukommt. Einen Tag nach Erscheinen unserer aktuellen Studie wurde Wladimir Karanik [bis 22.05.25 Vizepremier] in die Akademie der Wissenschaften versetzt und Natallja Petkewitsch aus der Präsidialverwaltung [als neue Vizepremier] in die Regierung geholt. Das System modernisiert sich zusehends. Eine Person ist gegangen, die selbst nach den Maßstäben der herrschenden Klasse eine verknöcherte Weltsicht vertritt. 

    Wir verfolgen also diese Personalwechsel, beforschen aber eher das Gesamtsystem als einzelne Personen. Nicht immer gibt es genügend Informationen, um eine konkrete Ernennung oder Entlassung erklären zu können. Aber wenn man die Situation langfristig beobachtet, kann man bestimmte Tendenzen erkennen, vor allem eine Verjüngung des Personals. Es kommen kompetentere Leute an die Macht.  

    In Ihrer Studie wird die Opposition nur ganz am Rande erwähnt. Dennoch, was können die demokratischen Kräfte tun, um eine relevante Rolle zu spielen, sobald die aktive Phase des Machttransits beginnt? 

    Der zentrale (man könnte auch sagen: der einzige) Hebel der Demokraten wird der Westen sein. Vorausgesetzt, der Westen will, dass die Opposition in irgendeiner Form am politischen Leben in Belarus teilnimmt, kann er vermutlich Einfluss auf die herrschende Klasse ausüben. Deshalb muss man darauf hinarbeiten, dass der Westen sich für Veränderungen in Belarus starkmacht. 

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  • Der Meister und Margarita – ein Film über die Gegenwart?

    Der Meister und Margarita – ein Film über die Gegenwart?

    Bereits Ende Januar 2024 feierte die russische Neuverfilmung des Romans Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow Premiere in Russlands Kinos. Dort kam der Film beim Publikum gut an, manche Moskauer Kinos zeigten ihn quasi in Dauerschleife. Michail Lockschin – ein in den USA geborener und auch in Russland aufgewachsener Regisseur – hatte den Film 2021 in Moskau gedreht, gefördert unter anderem mit staatlichen russischen Geldern. Doch im Februar 2022 startete Russland den vollumfänglichen Angriffskrieg gegen die Ukraine.  

    Bulgakows vielschichtiger Roman spießt mit den Mitteln der Satire Stalins Zensur- und Denunziationssystem auf, der Autor wurde selbst Opfer der Repressionen, das Buch konnte vollständig erst 1973 in der Sowjetunion erscheinen. Genug Stoff also, um in der Neuverfilmung auch potenzielle Kritik am System Putin unterzubringen. Und entsprechend traten nationalistische Autoren und sogenannte Z-Blogger eine Denunziationskampagne gegen Lockschin los, weil der den Krieg gegen die Ukraine öffentlich verurteilt hatte.     

    Seit Anfang Mai 2025 läuft der Film in deutscher Fassung in hiesigen Kinos. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir diesen Text von Sabina Brilo vom Februar 2024 für das Online-Portal Media_IQ. Vor dem Hintergrund der monströsen Repressionen in ihrer Heimat und der drohenden Kriegsgefahr fragt sich die belarussische Autorin, ob diese Neuverfilmung ihr kritisches Potenzial tatsächlich ausgeschöpft hat. 

    Die deutsche Version von Der Meister und Margarita läuft seit Mai 2025 im Kino. Foto © Capelight Pictures OHG 

    Als die russische Neuverfilmung von Der Meister und Margarita (ru: Master i Margarita) auf Social Media große Wellen schlug, fischte ich gerade in anderen Gewässern.  

    Schon seit Monaten lese ich die Erinnerungen von Menschen, die die Mitte des 20. Jahrhunderts überlebt haben: die Aufzeichnungen eines Lagerarztes, dann Erinnerungen einer deutschen Jüdin, der es gelang, im nationalsozialistischen Berlin zu überleben, und jetzt gerade die detaillierte Lagerbiografie einer Französin, die der Teufel geritten haben muss, im Paris der 1920er Jahre einen russischen Botschaftsmitarbeiter zu heiraten: Andrée Sentaurens kam 1930 zusammen mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn nach Moskau – und geriet dort für ein Vierteljahrhundert in die Fänge staatlicher Tyrannei. Am Anfang Hunger, Angst, Unverständnis und die Unmöglichkeit, dem von allen Seiten nahenden Alptraum zu entgehen, dann schließlich siebzehn Jahre in Stalins Lagern, dem wohlbekannten Sewerodwinsk (damals Molotowsk) und seiner schrecklichen Umgebung. 

    Liest man die Memoiren von Überlebenden, dann kann man sich nicht losreißen, denn all das ist die Wahrheit. So war es. Parallel dazu lese und höre ich natürlich auch Nachrichten – aus der Heimat und nicht nur die. Es sind immer abstrusere, irrsinnigere, menschenfeindlichere Nachrichten, die man lieber nicht sehen und hören möchte, und doch muss man es, weil es die Wahrheit ist. So ist es. Menschen werden unschuldig festgenommen und in Lager und Gefängnisse gesteckt, Kinder bleiben ohne Eltern zurück, alte Menschen ohne ihre Söhne und Töchter. Die Staatsideologie ist zum höchsten Gut erklärt, das Leben und die Menschenwürde sind ihr vollkommen untergeordnet. In den Gefängnissen werden die Menschen isoliert, sogar der Kontakt zur Familie wird abgeschnitten. In den Gefängnissen wird getötet. Es ist heute so wie damals – weil zwar Zeit vergangen ist, aber wir, die Menschen, nichts geändert haben. 

    Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben. 

    Aus diesem Grund also – dem Nachempfinden und dem Mitempfinden mit der Gegenwart – war die Diskussion um den neuen Film Meister und Margarita an mir vorbeigezogen. Und als ich gefragt wurde: „Was denkst du darüber?“, winkte ich erst einmal ab. Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben. Eine Realität aushalten, in der meine Leute im Gefängnis sitzen, in der Emigration ausharren, ihr Leben riskieren und es verlieren. Eine Realität, in der Gefängnis und Krieg immer „normaler“ werden und bisher anscheinend niemand die Kraft hat, das zu ändern.  

    Doch dann überlegte ich: Wenn zum jetzigen Zeitpunkt in Russland Der Meister und Margarita verfilmt und gezeigt wird, muss das etwas zu bedeuten haben. Schon das künstlerische Statement der Neuverfilmung muss eine Bedeutung haben, denn Bulgakows Buch ist das eines Menschen, der, im Unterschied zu den Autoren und Autorinnen, die ich gerade gelesen habe, die Fänge der Staatstyrannei NICHT überlebt hat. Da beschloss ich, den Film anzuschauen und zu sagen, was ich über den neuen russischen Meister-und-Margarita denke. 

    Tatsächlich gehöre ich nicht zu denen, die Der Meister und Margarita als Erwachsene noch einmal gelesen haben. Für mich ist es ein Buch aus der frühen Jugend geblieben, und wenn ich mir vorstelle, in meinem Kopf gäbe es ein thematisch geordnetes Bücherregal, dann stünde Der Meister und Margarita irgendwo zwischen Die Kinder vom Arbat und den zwei Bänden von Ilf und Petrow [Zwölf Stühle und Das Goldene Kalb]. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich damals, vor mehr als dreißig Jahren, die Liebesgeschichte stark berührt hätte. Aber ich habe mir gemerkt, dass Pontius Pilatus (der anscheinend den Tod Jeschuas nicht herbeisehnte, ihn aber auch nicht begnadigte) ständig Kopfschmerzen hatte. Und ja, dieses Buch war es, in dem ich, als Kind der Sowjetunion, zum ersten Mal die Geschichte des Evangeliums las.

    Ich will hervorheben: Ich las Der Meister und Margarita. ganz am Anfang der 1990er. Das waren, wenn auch hungrige, so doch Jahre der Freiheit. Ich empfand real meine Freiheit als Individuum, machte von ihr Gebrauch und nahm sie für mich an. Später erzog ich im Bewusstsein dieser Freiheit meinen Sohn. Jetzt ist alles anders, und das Buch habe ich nicht noch einmal gelesen. Dafür bin ich gerade fertig mit den schrecklichen, wahrhaftigen Memoiren der Französin Andrée Sentaurens. Und als ich beschloss, mir den neuen Der Meister und Margarita-Film anzuschauen, war ich aus irgendeinem Grund absolut überzeugt, dass in ihm ein lautes SOS ertönen müsse, aus dem jetzt im Wiederaufbau befindlichen, riesigen Konzentrationslager, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt. 

    Ein lautes SOS müsste ertönen, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt. 

    Leider sah und hörte ich in dem neuen Meisterwerk der russischen Filmkunst kein solches Signal. Ich sah einen glamourösen Film ohne Gefühl, ohne Schmerz, ohne Liebe. „Vor Kummer und Nöten bin ich eine Hexe geworden“, sagt Margarita, aber ich verstehe (sehe!) nicht, worin der Kummer dieser schönen Frau besteht. Ich dachte: Wie würde wohl Maryna Adamowitsch diese Worte wahrnehmen, die schon über ein Jahr nichts mehr von ihrem Ehemann Mikalaj Statkewitsch gehört hat und selbst in einer Falle lebt, die jeden Moment zuzuschnappen droht? 

    Natürlich, der Film bietet schon zarte Signale „für unsere Leute“. Zurechnungsfähige russische und belarussische Zuschauer registrieren sie:

    „…indem, was noch kurz zuvor erlaubt war, heute schon verboten ist.“

    „Es dreht sich um das Jetzt.“

    „Bei uns im Studio verschwinden fast jeden Tag Leute, und keiner sagt etwas – jeder hat Angst.“

    „Ich habe mich umgehört: Jeder steht unter Schock und du hast sehr viele Sympathisanten!“  

    Es ist ein russischer Film, gedreht noch vor dem Ausbruch des Terrors im Land, auf der Schwelle sozusagen. In Belarus war der Staatsterror derweil schon in vollem Gange. So wird – im Zeichen des Terrors – von den Tyrannen die „gemeinsame Geschichte“ wiedererrichtet. Und diejenigen, denen Lager droht, drehen (für die, denen Lager droht) einen Film, den sie auch fünf oder zehn Jahre früher hätten drehen können – hat ihnen die Kraft nicht gereicht, um SOS zu schreien, oder war es noch nicht schmerzhaft und schrecklich genug? Mal angenommen, es gäbe ihn dort, diesen Schrei – hätte die Welt ihn denn gesehen, hätte sie ihn gehört? Und wenn sie ihn gehört hätte, was hätte sie dann tun können? Die Welt, die noch mehr oder weniger in Wohlstand lebt, meint aus irgendeinem Grund, dass der Schrecken, den wir durchleben, sie nie treffen wird. Aber leider gibt es auf der Welt kein zivilisiertes Mittel gegen den Drachen, der erst die Menschen im eigenen Land frisst und dann die Grenzen überschreitet.  

    Ich habe den neuen Film also angeschaut. Ich zitiere noch einmal Margarita: „Wenn man den Autor nicht kränken will, heißt es gewöhnlich: Er hat große Arbeit geleistet.“ So denn, solange wir leben, arbeiten wir (besonders wenn völlig unklar ist, was wir tun sollen). Jetzt muss ich also Der Meister und Margarita noch einmal lesen – ein Buch, geschrieben von einem Menschen, dem es nicht gelang, die Jahre des sowjetischen Terrors zu überleben. 

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  • „bedeck dieses gesicht mit einem weißen tuch …“ – ein Brief über Rückkehr

    „bedeck dieses gesicht mit einem weißen tuch …“ – ein Brief über Rückkehr

    Bis zu 600.000 Belarussen haben ihre Heimat seit 2020 verlassen, aus Angst vor Verfolgung und Repression. Sie mussten Eltern und Großeltern, Verwandte und Freunde zurücklassen, genau wie ihre Wohnungen und ihr altes Leben. Wie leben die Belarussen in der Zwangsemigration, was denken sie, was bereitet ihnen Sorgen und worauf hoffen sie? Darüber schreibt der Autor Siarhiej Dubaviec in einem Brief an seinen Freund in Minsk, belarussisch ursprünglich Mensk, für das Online-Portal Svaboda.  

    Der Platz des Sieges im Zentrum von Mensk. / Foto © Radio Svaboda
    Der Platz des Sieges im Zentrum von Mensk. / Foto © Radio Svaboda

    Ich grüße dich, mein Freund! 

    Gerade noch habe ich vom Winter geschrieben, der uns doch nicht betrogen hat und zurückgekehrt ist – da ist nun Anfang März schon wahrhaftiger Frühling. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht erlebt. Die globale Erwärmung ist Wirklichkeit. Aber niemand spricht wirklich darüber, niemand schlägt Alarm, dass die Gletscher schmelzen, dass im Marianengraben, wo die Erdkruste am dünnsten ist, der Ozeanboden bebt und die Lava jeden Moment hervorbrechen könnte, was wiederum neue Erdbeben, Tsunamis und Hochwasser nicht nur an extremen Punkten der Erde hervorrufen würde, sondern überall, auch in unseren Breiten.  

    Unser Nachbar in dem Haus, in dem wir in Vilnius wohnen, hat berechnet, dass auch wir überschwemmt werden, wenn „alles losbricht“. Es sieht zwar auf den ersten Blick so aus, als stände das Haus auf einem Hügel, aber Vilnius selbst liegt in einer Senke. Unser Haus daheim in einem Vorort von Mensk, das wir verlassen mussten, liegt hingegen auf einer Anhöhe, es ist sicher. Doch wir können nicht dorthin zurück, weil wir „Extremisten“ sind. Das ist doch eine Metapher, die es mit Ray Bradbury und seinem Schmetterlingseffekt aufnehmen kann: Da beeinflusst ein „rebellischer” Kühlschrankmagnet das menschliche Schicksal plötzlich stärker als eine globale Katastrophe und das Leben insgesamt.  

    Im Internet tauschen sich die belarussischen Emigranten darüber aus, was sie machen würden, wenn es in Belarus plötzlich wieder normal und sicher wäre. Natürlich würden sie die Gräber ihrer Verwandten besuchen, an den einstigen Lieblingsorten spazieren gehen, eine Sauftour mit Freunden auf den alten Routen veranstalten – und dann wieder in ihr wahres Leben im Ausland zurückkehren. Ein normales und sicheres Belarus ist in keiner Form in Sicht. Es scheint Hunderte verschiedene Meinungen zu geben, doch niemand will sich wirklich eine Rückkehr nach Belarus vorstellen, und erst recht kaum jemand plant sie schon.  

    Buchstäblich vor ein paar Tagen erschien, von mir herausgegeben, eine Anthologie über Vilnius in der belarussischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Eine solide Auswahl von Kolas, Kupala, Bahdanowitsch, Shylka, Arsennewa, Tank, Pantschanka, Karatkewitsch, Rasanau, Minkin – die gesamte belarussische Literatur also, voller Liebe für Vilnius, für die Poesie, für das Leben. 

    Wenn wir das Buch vorstellen, taucht unweigerlich die Frage auf: Warum gibt es ein solches Buch nicht über Mensk? Ich sage dann, dass es unmöglich ist, eine so umfängliche Anthologie über Mensk zusammenzustellen. Weil mit unserem Mensk etwas nicht stimmt. Mensk ist, wie auch unsere Sprache, eine Verwundete. Im Jahr 1939 ersetzten die Bolschewiki den Namen Mensk in der belarussischen Sprache durch Minsk (die polnische Variante, die auch im Russischen so lautet.) Als 1967 zum 900-jährigen Stadtjubiläum ein Buch herausgegeben wurde (kein Lyrikband, aber es waren auch Gedichte enthalten), gab man ihm den Titel Horad i hódy (dt. Stadt und Jahre), mit einem Fehler im Belarussischen. Korrekt wäre Horad i hadý, aber dann würden Russen Horad i hády (dt. Stadt und Scheusale) lesen, was sehr hässlich wäre. Deshalb wurden die Regeln der belarussischen Sprache gebrochen und der Plural „hody“ gebildet. Kurz, sowohl die belarussische Sprache als auch die Stadt Minsk/Mensk wurden bis weit in die Zukunft erniedrigt – als hätte man ihr eine Invalidität diagnostiziert. 

    Diese Zukunft ist nun da. Ein Gedicht über Mensk, geschrieben in Mensk, gefunden im Internet, sieht heute so aus (den Buchstaben im Titel hat der Autor bewusst weggelassen, um den Gegensatz „Minsk-Mensk“ nicht zu betonen): 
     

    Mnsk 

    Platz der schwäche 

    unumstößlich grau 

    unausweichlich nah 

    das stumpfe betongesicht 

    die riesige asphaltzunge 

    plakatwandaugen 

    leichenflecken aus kastanien 

    aufgespannt am straßenrand  

    von nirgendwo nach endlos 

    bedeck dieses gesicht 

    mit einem weißen tuch 

    aus schnee 

    schick eine landetruppe 

    pusteblumen 

     

    Das ist kein Liebesgedicht. Es geht um Angst, Krieg und Tod. Der Dichter spricht aufrichtig. Wahrscheinlich ist das die allgemeine Stimmung, bei denen, die gegangen sind, denen, die geblieben sind. Deshalb gibt es auch keine echte Rückkehr, selbst nicht einmal in Gedanken. 

    Eine Freundin, die in Vilnius lebt, aber ab und zu nach Mensk fährt, sagt, dass es unser Mensk nicht mehr gibt. Auch die letzten Reste dieses urbanen Geistes, dieser belarussischen Dimension der Stadt, die wir verließen, sind verflogen … 
     

    bedeck dieses gesicht 

    mit einem weißen tuch 

     

    Übrigens wird auch in Litauen nicht sonderlich viel über den Klimawandel gesprochen. Dafür spricht man über einen möglichen Angriff auf Litauen durch Russland und Belarus. Zum ersten Mal in der Geschichte hören wir diese Wortkombination: „Belarus – Aggressor“. Wir wissen, es ist ein Oxymoron wie „heißer Schnee“, unser Belarus kann einfach kein Aggressor sein. Aber nachdem sie sich 30 Jahre lang Lukaschenkas Drohungen anhören mussten, verstehen das die Litauer möglicherweise nicht.  

    Ich weiß sogar noch, wie alles begann. Irgendwann Mitte der 1990er Jahre drohte Lukaschenka, die Gülle aus den Hrodnaer Schweinemastanlagen über den Njoman nach Litauen zu leiten. Damals dachte ich: Woher dieser mangelnde Respekt vor den Nachbarn, mitten in Friedenszeiten? Die Schmähungen und Drohungen in Richtung Litauen rissen in den folgenden 30 Jahren nicht ab. Wir wussten, dass es nicht unsere belarussische Respektlosigkeit, sondern nur die des nominellen belarussischen Präsidenten war, tatsächlich eines Moskauer Protegés. Und vor allem war es auch Respektlosigkeit uns, den Belarussen, gegenüber, denn unser Leben war nun nicht mehr friedlich zu nennen. Doch wie sollte das jemand in Litauen verstehen – ob nun Politiker oder ganz normaler Mensch? Zwei Völker lebten über Jahrhunderte friedlich zusammen, und dann wird Belarus plötzlich Aggressor. Gleichzeitig ist das echte Belarus völlig erstarrt oder im Gefängnis … 

    Bitte entschuldige meine schweren Gedanken, aber so ist es nunmal. Wenn wir Gedanken schwer nennen, gestehen wir damit doch auch ein, dass es leichte Gedanken geben kann. 

    Ich freue mich auf deinen Brief, voller leichter Gedanken. 

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    Wurzeln und Flügel – Mein Weg zur Identität

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    Wurzeln und Flügel – Mein Weg zur Identität

    Taciana Niadbaj, 1982 in Polazk geboren, ist eine belarussische Lyrikerin und Übersetzerin. 2014 debütierte sie mit dem Gedichtband Sirenen singen Jazz (belarus. Sireny spjawajuz dshas), für den sie mit dem Maxim Bahdanowitsch-Preis ausgezeichnet wurde. Der Einsatz für Menschenrechte und die belarusische Kultur ist immanenter Teil ihres Lebens und Schaffens, genau wie die Auseinandersetzung mit den Folgen russischer imperialer Politik für ihre Heimat. Aktuell steht Taciana Niadbaj dem PEN Belarus als Präsidentin vor, der mit Verfolgung und Repressionen aus dem Land getrieben wurde. Auch sie selbst musste ihre Heimat verlassen und lebt nun in Polen. 

    In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht sie der Frage nach, was die belarusische Identität für sie und ihr Leben bedeutet und was getan werden kann, um die belarusische Kultur für die Zukunft zu erhalten.

    Беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    In diesem Text versuche ich zu verstehen, was mich zu der gemacht hat, die ich heute bin. Ich möchte nachvollziehen, woher dieses Gefühl des Belarusischseins kommt, wie es mich trägt und mich vorwärtskommen lässt. Nicht zuletzt möchte ich in meinen Erfahrungen Elemente ausmachen, die anderen bei der Suche und Entfaltung ihrer Identität helfen können. Es sind nicht nur Überlegungen, sondern der Versuch, etwas Größeres zu finden, das für den Aufbau der Kultur und Bildung der Zukunft inspiriert. 

     

    Anthropologische Grabungen im Gedächtnis: Der Ursprung  

    Wenn ich höre, unsere Gesellschaft sei durch und durch russifiziert und alles sei „verloren“, weise ich darauf hin, dass auch ich nicht zwangsläufig hätte Belarusin werden müssen. Ich wuchs nicht in einer belarusischsprachigen Familie auf, wusste unerhört wenig über die Geschichte des Landes, meine Familie pflegte keine explizit belarusischen Traditionen. Man hätte mich ohne Not eine Mankurtin und Renegatin nennen können – und einen Schlussstrich setzen. Was hat mich also zur Belarusin gemacht? Was nährte in meiner Kindheit und Jugend in mir ein Gefühl des Belarusischseins? 

    In der fünften Klasse wurden an meiner Schule zwei Klassen mit Belarusisch als Unterrichtssprache gebildet – die c und die d. Die Klassen a und b blieben russischsprachig. Ich erinnere mich kaum an die damaligen Diskussionen in der Familie, mit den Kindern wurde ohnehin nichts besprochen, aber aus den herumfliegenden Argumenten blieb bei mir hängen, dass man mit einem solchen Schulabschluss nicht an der Universität studieren könne, da es keine Universitäten mit Belarusisch als Unterrichtssprache gab. 

    Überhaupt kann ich mich nicht entsinnen, dass in unserer Familie über Nationalitäten gesprochen wurde. Wie fern mir dieses Konzept lag, zeigte sich gleich in mehreren Situationen. 

    In der Musikschule wurde ich einmal gefragt (es musste wohl in einem Formular eingetragen werden), welche Nationalität ich habe. Ich war verwirrt – ich wusste die Antwort nicht.  

    Die zweite Situation trug sich in der Sonntagsschule zu, die meine Klassenkameraden besuchten. Sie hatten mich eingeladen mitzukommen: Man lernte eine Sprache (Hebräisch, warum auch nicht), Tänze und Lieder. Manchmal wurde ich dort gefragt, ob es in meiner Familie Juden gäbe, und ich verneinte unsicher. Bei der Aufführung zum Purim-Fest gab man mir die Rolle des Haman: Im entscheidenden Moment musste ich betrunken wirken und mit dem Gesicht in den Salat fallen. Ich erfüllte den Auftrag gewissenhaft, obwohl ich die Bedeutung dieser Szene damals nicht verstand. Erst Jahre später wurde mir die Komik der Situation bewusst. 

    Nationalität war für mich lange Zeit keine Kategorie von Bedeutung.   

    Gleichzeitig drängte das Nationale aus den Lehrbüchern für belarusische Literatur ungestüm in den Raum. Und überzeugte nicht. Man hatte das Gefühl, es sei salonfähig und korrekt, Belarus zu lieben … Die 1990er waren voll mit der Rhetorik von „Wiedergeburt“ und „bewussten Belarusen“, aber das fand keine Resonanz. Das aus den Narrativen der Literaturlehrpläne hervorschwellende Pathos, „das harte Leid des Bauern“ und „die Arbeit auf der Scholle“, war mir fremd. Die erhabenen Worte von der Heimat flogen hoch oben vorbei, setzten sich kurz – wie Zugvögel auf Stromleitungen – auf die Zeilen der Schulaufsätze, nur um sofort wieder aus dem Blick zu verschwinden, sobald eine gute Note erteilt worden war. Dann kam die Zeit der Rebellion, in der wir unsere Lehrer fragten: Warum ist Belarusisch unsere Muttersprache, wo wir doch unsere ersten Worte auf Russisch gesagt haben? Die Schule bewirkte also eher eine Ablehnung des Belarusischen. 

    Wie bereits erwähnt, gab mir auch meine Familie keinen Rahmen für die Herausbildung einer nationalen Identität vor, obwohl in den Pässen meiner Eltern (und auch ihrer Eltern) formal eine Nationalität eingetragen war – Russen und Ukrainer. Weiter östlich als Brjansk und Smolensk sind meine Vorfahren meines Wissens aber nie gekommen. Die Situation mit den ukrainischen Verwandten ist klarer (sie waren auf ukrainischem Territorium verwurzelt), die „Russischen“ bleiben – für mich jedenfalls – ein Rätsel. 

    Ich bin indes in Polazk geboren. Diese Stadt lockt und leitet einen natürlich in ein spezielles Koordinatensystem, aber mein Lokalpatriotismus war nicht sonderlich mit der nationalen Identität verbunden. Wenn ich ehrlich mit mir bin, dann weiß ich: Weder der geografische Geburtsort meiner Vorfahren noch mein eigener haben große Bedeutung, solange ich sie ihnen nicht selbst gebe. Zudem gibt es genügend Beweise für das Gegenteil: Menschen, die „hier geboren“ sind, können sich als Subjekte anderer Ideen und Projekte betrachten. 

    Nichts schien also auf meine belarusische Vorbestimmung hinzudeuten – weder die Familie, noch die Schule, noch der Geist der ersten Hälfte der 1990er und die Belarusifizierung. Und doch wählte ich Ende der 1990er (als es schon gar nicht mehr im Trend lag) ganz bewusst das Belarusische. 

    Belarusischsein als bewusste Entscheidung 

    Irgendwann habe ich einmal gesagt, dass mich die Freundschaft zu Belarus gebracht hat. Das ist einerseits wahr, andererseits auch eine gewisse Vereinfachung: Menschen kommen und gehen, und die Ideen, die mit ihnen verbunden sind, müssen sich nicht festsetzen. Es braucht auch eine Umgebung, die dich mit ihrer Metaphysik verführt, mit der du dich identifizieren willst, sie ist fraglos der Nährboden, der – wie in Maxim Bahdanowitschs Sonett – die „Lebenskraft spendet, die Ähren üppig sprießen lässt“, bis es schließlich schon „kein Halten mehr gibt“. Es ist wie an Heiligabend, wenn die Weihnachtssänger an dein Fenster klopfen, du mit ihnen gehst und mit jeder einzelnen Pore die Magie spürst. Als würde man Mietwohnungen, Hostels und Hotelzimmer endlich gegen einen konkreten Ort eintauschen, an dem man sich nicht nur zu Hause fühlt, sondern auch verantwortlich für die Ordnung (oder eben Unordnung), zu der man als Subjekt und Eigentümerin mit den eigenen Händen beiträgt. Die belarusische Identität entbrennt in dir wie ein Stern, zusammen mit diesem Gefühl der Verantwortung – für das Getane und das Nicht-Getane. 

    Mit dieser Entscheidung zu leben ist dann gar nicht so einfach. Du kommst an einen Punkt, an dem du dieses Belarusischsein einfach als stabilen und wichtigen Teil deiner Identität haben willst – nicht als Flagge oder Transparent, und schon gar nicht als etwas, das verteidigt werden muss (für das Eigene einzustehen ist nicht schlimm – aber warum muss man dieses Recht denn erst erkämpfen, kann man nicht einfach sein, wer man will?). Du willst deine Sprache einfach als Kommunikationsmittel nutzen, ohne in der Kleinstadt zu einer Figur zu werden, der immer irgendjemand sagt, „wie schön du Belarusisch sprichst“, ein anderer wiederum sagt „sprich normal“, und noch ein anderer deine Fehler korrigiert und dir rät, erst einmal die Sprache richtig zu lernen, bevor du beginnst sie zu sprechen. Ich träume davon, dass eine Zeit kommt, in der Belarusisch auf unseren Straßen kein Aufsehen mehr erregt.   

    Weiter oben habe ich mir närrische Aussagen über das Pathos der belarusischen Literatur erlaubt – heute weiß ich natürlich, dass die Menschen für die Möglichkeit, Belarusen sein zu können, gestorben sind. Heute schätze und ehre ich die Erfahrung und die Errungenschaften der vorangegangenen Generationen, als deren Fortführung ich mich verstehe. Aber ich weiß auch, dass mich nicht der Lehrplan für belarusische Literatur (in dem genügend ehrenvolle Autoren und Werke vertreten sind) zu dieser Erkenntnis gebracht hat, sondern Freunde, Mitstreiter und Kollegen, die eine Matrix geschaffen haben. Schließt man sich ihr an, begreift man auch das unansehnliche schulische Literaturprogramm als etwas Eigenes, ebenso wie das, was nicht darin vorkommt. Man lernt dazu, begeistert sich und aktiviert in sich diese Möglichkeit – Belarusin zu sein. Du wirst Teil dessen, was vor dir da war, was es dir ermöglicht hat, heute so zu sein, wie du bist, und es das Eigene zu nennen. Du beginnst, in diesem Spiegel dein Abbild zu sehen, das du vorher nicht wahrgenommen hast.   

    Wir registrieren aktuell eine hohe Zahl an Verletzungen der kulturellen Rechte: die Vernichtung der belarusischen Kultur, die Einengung des Raumes, in dem die belarusische Sprache genutzt werden kann, sogar zusätzliche Repressionen und Folter für Belarusischsprechende. Dieser Zustand ist furchtbar und inakzeptabel. Aber ich blicke optimistisch in die Zukunft und bin sicher, dass wir auch unter den heutigen, ungünstigen Bedingungen überleben werden. Nicht nur deshalb, weil man uns bislang nicht erschießt (das könnte ein trauriger Witz sein, würden in den Gefängnissen nicht unsere Mitstreiter an den Repressionen sterben). Unsere Sache mag manchmal hoffnungslos erscheinen, aber tatsächlich sollten wir sie als Erfahrung der Unzerstörbarkeit und des unwahrscheinlichen Überlebens betrachten: Es scheint uns nicht zu geben, und doch – hier sind wir. Was uns nicht tötet, macht uns unsterblich. 

    Von Zeit zu Zeit beginnt ein neuer Zyklus, neue Anhänger kommen dazu. Diese Anfangszeit des Belarusischseins hat ohne Frage auch Nachteile: Wo man sich auf die Erfahrung der Vorgänger hätte stützen und das Wachstum schon auf einer bestimmten Höhe fortführen könnte, begreifen sich die Neulinge als Indexpatienten und beschreiten den Weg von Anfang an, holen sich Beulen, die mit dem Wissen der Vorgänger hätten vermieden werden können. Andererseits hat auch das Vorteile: Die Gewissheit verleiht der Entscheidung Sinn, stärkt die Beharrlichkeit. Nichts von den Niederlagen und Misserfolgen zu wissen, befördert Mut und Kühnheit – und das ist sehr hilfreich für das Fortkommen der Bewegung (vor allem, nicht zu denken, die Situation sei kompliziert und aussichtslos).  

    Wenn ich sage, dass das Belarusischsein unter unseren Gegebenheiten oft eine bewusste Entscheidung ist, erzähle ich gern die Geschichte von den Volkszählungen. Im Jahr 2019 bezeichneten 54 Prozent das Belarusische als ihre Muttersprache, 26 Prozent gaben an, Belarusisch zu sprechen (zum Vergleich: bei den Erhebungen 1999 und 2009 nannten 73 Prozent resp. 53 Prozent Belarusisch ihre Muttersprache, und 37 Prozent resp. 23 Prozent gaben an, Belarusisch zu sprechen). Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass 2019 jeder Vierte in unserem Land Belarusisch gesprochen hat – wenn es doch nur so wäre! Aber ich kann mir gut vorstellen, wie diese Konstruktion der Wirklichkeit zustande kommt: Die bewusst gewählten Antworten bei der Volkszählung sind Ausdruck der zivilgesellschaftlichen Position, eine Erklärung urbi et orbi, worauf es ankommt.  

    Wenn ich von der Aussichtslosigkeit der Sache spreche, weise ich darauf hin, dass 2020 nicht aus heiterem Himmel geschah, es wäre nicht möglich gewesen ohne die stete Vorarbeit der Zivilgesellschaft, darunter auch der kulturellen Projekte und Initiativen (selbst wenn die Neulinge von 2020 den Eindruck haben mögen, dass vorher alles falsch gemacht wurde). Ich erinnere mich gut an die Aktionen für Unabhängigkeit Ende 2019, als einige Dutzend Menschen mit weiß-rot-weißen Fahnen durch Minsk zogen. Ich erinnere mich an den Unwillen der demokratischen Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl 2020, die weiß-rot-weiße Flagge zu benutzen. Und ich erinnere mich an den 16. August 2020, als ganz Minsk in Weiß-rot-weiß erstrahlte. Was das Regime heute mit unserer Flagge (und ihren Anhängern) macht, verstärkt nur das symbolische Gewicht und die Bedeutung der Flagge in der Zukunft. Bis dahin werden wir unsere tägliche Arbeit weiterführen. 

    Mein persönlicher Weg zur belarusischen Identität zeigt, wie wichtig es ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen diese Entscheidung bewusst und rational treffen, und sie dann auch beibehalten und festigen können. 

    Oft ergeben sich Diskussionen darüber, ob die Belarusifizierung in den 1990ern erzwungen war – oder ob das nur ein Mythos ist, der zur Abschreckung dient. Ohne Gespräche darüber fallen auch Überlegungen schwer, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn in Belarus demokratische Änderungen anstehen. Die Geschichte von der weiß-rot-weißen Flagge beweist meiner Ansicht nach eines: Der Staat muss einfach nur die Zügel lockern und nicht eingreifen – dann richtet sich alles mit der Zeit von selbst ein.   

    Die Förderung und Entwicklung der belarusischen Kultur muss natürlich auch durch die staatliche Politik erfolgen, und so denke ich mit Schrecken an unser Bildungssystem und die Ideologisierung der Kultursphäre. Ich vertraue nur in geringem Maße auf die Fähigkeit der aktuellen Beamten im Bildungs- und Kulturbereich, attraktive Lehrpläne gestalten zu können, die die Schülerinnen und Schüler nicht von der nationalen Kultur abschrecken. Das Problem liegt nicht darin, dass es keine entsprechenden Materialien gäbe (die gibt es), sondern in der Verknöcherung des Behördendenkens und überhaupt im niedrigen Niveau der humanistischen Bildung, das nicht so schnell zu beheben sein wird. 

    Als Ausweg für die Zukunft – auf diese Weise wird kein Zwang notwendig sein – sehe ich die finanzielle Unterstützung (Projektförderung) unabhängiger Kultur- und Bildungsinitiativen durch den Staat. Der Kulturhaushalt sollte also weniger in die Programme des Kultusministeriums fließen, sondern stärker an nichtstaatliche Initiativen gehen, denen es auch vor 2020 den Bedingungen zum Trotz gelang, das Feld der belarusischen Kultur reichhaltig, spannend, attraktiv und inspirierend für alle zu gestalten, die sich dieser Matrix anschließen wollten. Meiner Ansicht nach sollten dabei Projekte priorisiert werden, die auf die Bildung von Gemeinschaft und horizontalen Netzwerken abzielen und eine starke Werteorientierung aufweisen. 

    Zwei Beispiele 

    Ich möchte an dieser Stelle zwei positive Beispiele beschreiben, die konkret für meine persönliche und professionelle Entwicklung und meine Integration in die Berufswelt nicht weniger wichtig waren als die schulische und universitäre Bildung: Im Bereich der Literatur waren das die Werkstätten (Wettbewerbe) für junge Literaten. Im Bereich der Menschenrechtsarbeit – und weiter gefasst, eines Ansatzes, der auf den Menschenrechten als handlungsleitender Maxime beruht – war es die Belarusische Menschenrechtsschule. Ich bin überzeugt, dass viele, die heute eine zentrale Rolle in der belarusischen Bewegung spielen, ähnliche Seminare, Kurse und Projekte nennen können, die sie in den Orbit zogen und Wachstum und Aktivität ermöglichten. Ich beschreibe hier also zwei Beispiele unter vielen, weil sie für mich persönlich eine Schlüsselrolle spielten. 

    Die Wettbewerbe für junge Literaten waren drei- bis fünftägige Werkstätten, die der PEN Belarus zwischen 2000 und 2010 ausrichtete. Man stelle sich vor: Aus dem ganzen Land kamen zwei Dutzend junge Autoren und Autorinnen zusammen, die einander in der Regel noch nicht kannten und die älteren Kollegen auch nur vom Namen her. Für ein paar Tage vertiefen sich diese zwanzig Anfänger und die Riege der Meister völlig in die Literatur – Lyrik, Prosa, Übersetzung. Sie besprechen die vorab geschriebenen und für den Wettbewerb eingereichten Werke, geben einander praktische Ratschläge, es gibt Vorträge über Literaturgeschichte und die aktuelle Situation, es werden praktische Aufgaben gestellt, deren Ergebnisse ebenfalls präsentiert und diskutiert werden. Dieser Cocktail (andere Cocktails gibt es übrigens auch) gemischt mit dem informellen Austausch an den Abenden bis zum Morgengrauen, gibt nicht nur einen riesigen Schaffensimpuls, sondern integriert die Nachwuchsautoren auch in die literarischen Kreise, macht sie miteinander bekannt, schafft kreative, professionelle und freundschaftliche Verbindungen. Ich glaube, es ist vergleichbar mit einer Gruppe Absolventen einer guten Universität nach Jahren des gemeinsamen, anspruchsvollen Studiums. 

    Die Belarusische Menschenrechtsschule ist eine seit 2006 bestehende Bildungs- und Aufklärungsinitiative. Sie legt ein Wertefundament und vermittelt praktisches Wissen im Bereich der Menschenrechte. Mehrere Stufen der Ausbildung – Anfänger bis Fortgeschrittene – fördern mit einem Mix aus verschiedenen Formaten und Methoden, den Grundbestandteilen des nonformalen Lernens und der Kommunikation, nicht nur die Bildung der Teilnehmenden, sondern auch die Integration neuer Aktivisten und Aktivistinnen in die Zivilgesellschaft, ihr Kennenlernen untereinander und den Austausch mit erfahrenen Menschenrechtsaktivisten und Experten. Das Programm beruht auf einer soliden Wertebasis, vermittelt Wissen, das mit einem praxisorientierten Ansatz auf Schutz und Verteidigung der Rechte abzielt. Die Experten der Schule sind Vertreter der wichtigsten belarusischen Menschenrechtsorganisationen, was das Projekt und seine Erfolge zu einer gemeinschaftlichen Errungenschaft macht. Der menschenrechtsbasierte Ansatz ist nicht nur für Menschenrechtsschützer verpflichtend, sondern muss allen demokratisch orientierten Aktivitäten zugrunde liegen. Die Absolvent:innen dieser Intensivkurse werden also zu Trägern von Wissen, Kompetenzen und eines Wertegerüstes, die in allen Bereichen des gesellschaftlichen Engagements nützlich sind. 

    Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass meine Tätigkeit beim PEN Belarus heute in weiten Teilen der Teilnahme an den PEN-Seminaren für Literaten zu verdanken ist. Die Menschenrechtsschule gab mir einen starken Start in die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin. Die zukünftige Kultur- und Bildungspolitik muss daher meiner Überzeugung nach auf die Unterstützung solcher Projekte hinarbeiten, um Interesse für die belarusische Kultur zu wecken und ein menschenrechtsbasiertes Wertegerüst für jede Form des Engagements zu schaffen. Bis dahin müssen diese und andere Initiativen für die belarusische Zivilgesellschaft mit Unterstützung externer Geldgeber aufrechterhalten werden. 

    Schlussbetrachtung 

    Natürlich gibt es Familien, in denen die Kinder von Geburt an mit dem Belarusischsein aufwachsen, aber das ist nicht der einzige Weg. Wenn man keine belarusischsprachige Familie hat, kann das Umfeld die Möglichkeit geben, bezüglich der Sprache eine Entscheidung zu treffen, sie beizubehalten und auszubauen. Belarusischsein – das ist nicht nur etwas, das weitergegeben wird, sondern auch etwas, das bewusst gewählt wird, um Teil von etwas Größerem als man selbst zu sein. Es ist eine Entscheidung, die die Zukunft prägt. 

    Jeder neue Mensch, der das Belarusischsein wählt, macht sich zum Teil einer großen Geschichte, die auch unter den schwierigsten Bedingungen nicht abbricht. Diese Entscheidung kann er aber nur treffen, wenn es Unterstützung und Nährboden für Wachstum und Entwicklung gibt. Wir schaffen diesen Boden durch unsere tägliche Arbeit: durch Kultur, Bildung, Gemeinschaft. Diese Arbeit geschieht vielleicht unauffällig, aber sie sichert eine Zukunft, in der das Belarusischsein keine Ausnahme mehr sein wird, sondern die Norm. 

    Belarusischsein bedeutet heute nicht nur eine Entscheidung, sondern auch eine Verantwortung. Dafür, dass das vor uns Erreichte nicht verlorengeht, dass unsere Bemühungen zum Fundament für die nachfolgenden Generationen werden. Belarusischsein – das ist wie ein Feuer, das man nicht nur entzünden, sondern auch weitergeben muss. Und es ist kein Feuer der Auflehnung, sondern des Aufbaus, das selbst dann noch brennen wird, wenn ringsum nur noch Dunkelheit zu herrschen scheint. 

    Stark können wir nur zusammen werden. Belarusischsein ist keine Sache einer Einzelperson, sondern die einer Gemeinschaft, die den Menschen hilft, sich in dieser Welt zu finden. Wir brauchen einander, die Unterstützung und die Mitarbeit, damit jedes Jahr mehr Menschen fühlen, dass Belarus nicht nur ein Land ist, sondern ein Zuhause, das wir alle gemeinsam bauen. 

    Die aktuellen Rahmenbedingungen mögen ungünstig erscheinen, aber ich glaube daran, dass die Zukunft der belarusischen Kultur von uns abhängt. Von unserer Fähigkeit zu träumen, zu arbeiten und uns treu zu bleiben. Die Geschichte hat mehr als nur einmal gezeigt: Was wahrhaftig und lebendig ist, findet immer einen Weg zu bestehen. Und so wird Belarus seinen Weg finden, dank uns und allen, die nach uns kommen werden. 

     

    Anmerkung der Redaktion 

    Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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    Man könnte meinen, die Leipziger Buchmesse im Jahr 2025 stünde im Zeichen der belarussischen Literatur. Schließlich erhält der Schriftsteller Alhierd Bacharevič für seinen Roman Europas Hunde den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, zudem ist Thomas Weilers deutsche Übersetzung des Buches Feuerdörfer für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Damit steht eine europäische Literatur im Rampenlicht, der ansonsten nur wenig Beachtung zuteilwird.  

    Grund genug, etwas mehr Licht auf die belarussische Literatur zu werfen. dekoder-Autor Dsjanis Marzinowitsch hat mit Hanna Yankuta gesprochen – über das Leben aus dem Koffer, das Getrenntsein von Belarus und Entwicklungslinien der belarussischen Literatur, die sich nun weitgehend im Exil befindet. Die Schriftstellerin hat 2024 den Roman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) vorgelegt, den die Jury des belarussischen PEN sogleich auf den zweiten Platz des renommierten Jerzy-Giedroyc-Literaturpreises wählte.

    Unkrautzeit ist ein Versuch, die Unzeit zu beschreiben, in der sich die Belarussen seit 2020 bewegen. Das Buch zeigt die Welt aus Sicht einer Belarussin, die sich in der erzwungenen Emigration wiederfindet. Es besteht aus realen und fiktiven Geschichten, flüchtigen Eindrücken und Erinnerungen. 

     

    Die Übersetzung dieses Textes wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht. 

    dekoder: Wenn man Ihnen auf Social Media folgt, bekommt man den Eindruck, dass Sie ständig auf Reisen sind. 

    Hanna Yankuta: Ich habe Belarus im Frühling 2021 verlassen, lebte dann zwei Jahre lang in Polen, und bin seit Mitte 2023 tatsächlich ständig unterwegs. 2024 habe ich einige Zeit in Lettland, Schweden, Deutschland und Österreich gelebt und auch kurze Reisen in andere Länder unternommen. Zentrum meines Lebens in der Emigration bleibt Polen, meine Bücher und Sachen sind dort bei Freunden eingelagert, ich halte mich dort häufig auf. 

    Kann man das ein „Leben aus dem Koffer“ nennen? 

    Ja, das ist eine gute Beschreibung. Auf die Frage, wo ich wohne, antworte ich in der Regel: nirgendwo. Manchmal habe ich Glück und bekomme eine Schriftstellerresidenz, manchmal miete ich irgendwo für kurze Zeit eine Unterkunft. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel drei Monate in Argentinien verbracht, in diesem Winter ein Zimmer in Warschau gemietet. Manchmal kann ich einige Zeit bei Freunden unterkommen (in diesem Sommer lebte ich sechs Wochen bei Freunden in Berlin). Ein festes Zuhause habe ich nicht. Mein Zuhause ist in Belarus geblieben. 

    Hanna Yankuta bei einer Buchpräsentation in Vilnius / Foto © Darija Roskatsch
    Hanna Yankuta bei einer Buchpräsentation in Vilnius / Foto © Darija Roskatsch

    Warum haben Sie sich für diese Lebensart entschieden? 

    Einerseits liegt das an den Umständen, andererseits an Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren getroffen habe. Mir ist es wichtig, solange es möglich ist, mich mit belarussischer Literatur zu beschäftigen – Texte zu schreiben, Bücher herauszugeben, Forschung zu betreiben und Buchprojekte zu unterstützen. Häufig bringt diese Arbeit kein Geld, und wenn doch, dann reicht es nicht zum Leben. Um mich irgendwo niederzulassen und dauerhaft etwas zu mieten, müsste ich eine Vollzeitarbeit finden, die höchstwahrscheinlich nichts mit belarussischer Sprache und Literatur zu tun haben würde. Auch hätte ich dann sehr viel weniger Zeit für meine Projekte. Deshalb führe ich so lange wie möglich dieses Leben auf Wanderschaft. 

    Ich vermisse Belarus sehr und will zurückkehren 

    Natürlich ist es eine temporäre Lösung. Es gibt nicht so viele Residenzen und Stipendien für belarussische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, und es ist physisch und emotional sehr anstrengend, ständig umzuziehen, zu überlegen, wo man in den nächsten Monaten leben wird, Bewerbungen zu schreiben (und häufig Absagen zu bekommen). Früher oder später muss ich mich irgendwo niederlassen. Noch ist Zeit, ich versuche, meine begonnenen Projekte fertigzustellen, so viel wie möglich zu schaffen. 

    Befördert oder behindert diese Lebensart das Schaffen? 

    Auf der einen Seite fördert das Emigrantendasein an sich das Schaffen nicht gerade: Ob man nun an einem Ort bleibt oder auf Reisen ist, man muss eine Menge neuer Aufgaben bewältigen, neue Sprachen lernen, neue Fähigkeiten erwerben. Das kostet viel Zeit, die ich in Belarus fürs Schreiben verwenden könnte. Andererseits lerne ich viel Neues, neue Sichtweisen, lerne neue Menschen kennen – vielleicht nennt man genau das „Erfahrung“. Ich weiß nicht, ob ich sie auf diese Weise sammeln möchte, aber da ich keine Wahl habe, passe ich mich den Umständen an. 

    Beeinträchtigt die physische Trennung von der Heimat die Kreativität, oder trägt man Belarus immer bei sich? 

    Ich vermisse Belarus sehr und will zurückkehren. Aber ich weiß auch, dass es nicht mehr das Land sein wird, das ich 2021 verlassen habe, wenn ich irgendwann wieder hinfahren kann. Alles, was ich jetzt im Bereich der Literatur mache, tue ich in der Hoffnung, dass die belarussische Sprache erhalten bleibt, dass Wissen über Belarus in der Welt verbreitet wird, und überhaupt für eine bessere Zukunft des Landes. Das gibt mir Kraft und hilft mir, mit der Verzweiflung klarzukommen. 

    Es hat sich so ergeben, dass ich nicht dort leben kann, wo ich will – also muss ich mir überlegen, was ich mit dieser Situation anfangen kann. Vielleicht stört es mich deshalb nicht, von Belarus getrennt zu sein, auch wenn es manchmal sehr wehtut. 

    Für die Mehrheit der Leserinnen und Leser sind Residenzen für Schriftsteller vermutlich etwas Geheimnisvolles, Unverständliches. Wie funktioniert das? 

    2021 wurde ich für das Gaude Polonia-Programm in Polen ausgewählt – ein renommiertes fünfmonatiges Stipendium für Ukrainer und Belarussen. Die Konkurrenz ist sehr stark: Man muss eine sehr gute Bewerbung schreiben, natürlich ein Projekt haben, das der Jury gefällt. Ich habe mehrere Wochen an der Bewerbung gearbeitet. Es ist das längste Stipendium, das ich bislang erhalten habe, die anderen dauerten einen oder zwei Monate. 

    Es gibt mehrere dieser Kurzzeitresidenzen für Schriftsteller aus Belarus und der Ukraine, in Warschau, Krakau und Danzig, es gibt das Kolegium tłumaczy für Übersetzer aus dem Polnischen. Dort muss man ebenfalls ein Projekt einreichen. Für das einmonatige Stipendium des SDK (Staromiejski Dom Kultury) in Warschau habe ich mich drei- oder viermal beworben, ehe ich Erfolg hatte. 

    2020 war der Höhepunkt, die Leserschaft wurde breiter und das Interesse an belarussischer Literatur ebenfalls 

    In der Regel stehen die Anforderungen fest, die die Organisatoren der Residenzen erwarten. Manchmal reicht eine Buchveröffentlichung, manchmal werden nur Schriftsteller gesucht, deren Werke in eine bestimmte Sprache übersetzt wurden, zum Beispiel Deutsch. Es gibt Aufenthaltstipendien für Schriftsteller, die in ihrem Land verfolgt werden, aber dafür habe ich mich nie beworben. 

    Die Residenzen, zu denen ich bislang das Glück hatte, eingeladen zu werden, waren offen für alle Schriftsteller, die Informationen sind frei zugänglich. Ich weiß nicht, ob es Geheimnisse gibt, die dabei helfen, zu gewinnen, viele meiner Bewerbungen hatten keinen Erfolg. Bewerbungen zu schreiben ist eine besondere Fähigkeit, ich bin noch dabei, das zu lernen. Vor Kurzem habe ich wieder eine Zusage erhalten – ich wurde zu einer Künstlerresidenz von November 2025 bis Januar 2026 eingeladen. Jetzt muss ich nur planen, wo ich bis dahin leben werde. 

    Womit verdienen Sie jetzt ihren Lebensunterhalt? 

    Ich übersetze verschiedenste Texte aus dem Russischen, Englischen und Polnischen ins Belarussische. In den seltensten Fällen sind es literarische Texte, eher aus den Bereichen Menschenrechte und Journalismus, für Kulturinstitutionen und NGOs. Das ist mein, wenn auch nicht großes, so doch stabiles Einkommen.  

    Ich könnte davon nicht leben, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit zu einer Residenz eingeladen würde. Selbst wenn kein Stipendium für den Lebensunterhalt dabei ist, hilft so ein kostenloses Zimmer in einem Schriftstellerhaus für eine gewisse Zeit dabei, Geld zu sparen. Manchmal bekomme ich Honorare für literarische Veranstaltungen oder Vorträge, manchmal für Artikel oder Essays, die ich Zeitschriften anbiete oder die sie bei mir bestellen (das passiert selten, ein paar Mal im Jahr). Außerdem bekomme ich Anteile am Verkauf meiner Bücher. Aber Honorare und Tantiemen machen nur einen geringen Teil meines Einkommens aus, es sind keine Beträge, von denen es sich leben lässt. 

    Ist das Leben in der Emigration als Schriftstellerin leichter oder schwerer im Vergleich zu männlichen Kollegen? Oder ist es nicht korrekt, solche Geschlechtervergleiche anzustellen? 

    Ich denke, in der Emigration haben es diejenigen schwerer, die nicht nur für sich, sondern zusätzlich für andere Personen Verantwortung tragen – zum Beispiel für Kinder, für alte Eltern oder für ein krankes Familienmitglied. Betrachtet man zum Beispiel alleinerziehende Eltern, dann sind das statistisch gesehen häufiger Frauen – das ist ein Genderaspekt, der auch Literatinnen betrifft. Wenn ich Kinder hätte, würde ich in der Emigration sicher viel weniger im Literaturbetrieb arbeiten, vielleicht würde ich gar nicht schreiben. Es wäre auf jeden Fall ein ganz anderes Leben: Die Frauen mit Kindern, die ich in der Emigration kenne, haben zumindest in den ersten Jahren viel weniger Freizeit. 

    Das Cover des Romans Unkrautzeit von Hanna Yankuta.
    Das Cover des Romans Unkrautzeit von Hanna Yankuta.

    Unkrautzeit ist eine hervorragende Charakterisierung der Zeit. Haben Sie Hoffnung? Werden auf der verbrannten Erde wieder Gras und Pflanzen wachsen? 

    Einerseits verstehe ich Unkrautzeit als eine Metapher für diese Unzeit, in der wir Belarussen gelandet sind – in der du deine Zukunft nicht siehst und nichts ernsthaft planen kannst. [Im Belarussischen heißt Unkraut wörtlich „Leerkraut“ – dek] Diese Leere, die im Wort steckt, charakterisiert den Zustand, in dem wir leben. 

    Andererseits ist Unkraut ja nur aus Sicht des Menschen etwas Schlechtes. Als Unkraut bezeichnen wir Pflanzen, die uns nicht gefallen, die an Stellen wachsen, wo wir sie nicht wollen. Dabei sind sie sehr widerstandsfähig und wachsen selbst unter ungünstigen Bedingungen: auf verbrannter Erde oder in Beeten, aus denen wir sie ständig wieder ausreißen. Für mich ist dieser Titel ein Ausdruck von Hoffnung, auch wenn diese Hoffnung fragil und finster ist. Aber besser als keine. 

    Einer der Erzählstränge in Unkrautzeit liegt im Bereich der Geologie (zu Beginn des Krieges geht die Protagonistin ins Geologische Museum, ein Teil des Buches handelt von der Entstehung des Lebens auf der Erde, wie es seine Formen ändert, sich an die Welt anpasst und sie verändert) Haben Sie auch jetzt dieses Bedürfnis nach Distanz? Ist sie überhaupt möglich? 

    Ich hoffe, dass ich nie wieder ein Buch wie Unkrautzeit schreiben werde. Denn es war wirklich eine schreckliche Zeit, als Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine begann und es schwerfiel zu glauben, dass das überhaupt möglich ist. Die Psyche verlangte nach einer Erzählung, die, wenn sie sich nicht von den schrecklichen Ereignissen abgrenzte, so doch wenigstens eine andere Perspektive schuf. Für mich war diese Perspektive die geologische Geschichte der Erde, sie war das Prisma, durch das es mir damals möglich war, die Welt zu betrachten.  

    Ich bin überzeugt, dass das Buch, das ich jetzt schreibe, und alle, die ich in Zukunft schreibe, anders sein werden, denn ich und die Welt um mich herum ändern sich, und ich reagiere schon anders auf das, was passiert.  

    Sollte man über die Gegenwart – besonders die letzten Jahre in Belarus – besser distanziert oder doch emotional schreiben? 

    Ich denke, jede Schriftstellerin, jeder Schriftsteller hat einen eigenen Stil. Für mich ist Distanz eines der wichtigen Instrumente beim Schreiben. Ich schreibe nicht aus der Emotion heraus, ich bemühe mich, sie mit Abstand zu betrachten, in Einzelteile zu zerlegen. Aber natürlich sind auch andere Herangehensweisen möglich – Lyrik schreibt man zum Beispiel gerade aus den Tiefen eines Gefühls heraus, sie hilft, diese Emotion in Worte zu fassen. Man kann sogar mehr schreien als schreiben (unsere Wirklichkeit gibt dafür ja genügend Anlass) – und das ist auch Arbeit mit Emotionen. In schweren Momenten hilft mir als Leserin solche Literatur, um den eigenen Schmerz zu verarbeiten, oder Verzweiflung, oder Hass, und am Ende Erleichterung zu empfinden. 

    Ich selbst muss beim Schreiben aber immer einen Schritt wegtreten von den Emotionen. Deshalb habe ich für Kanstytucyja (eine Gedichtsammlung, die sich mit der Belarussischen Verfassung auseinandersetzt – dek.) und Tschas pustasellja jeweils ein Konzept entwickelt: Die Gedichte in Kanstytucyja basieren auf Gesetzestexten, und Unkrautzeit ist ein Tagebuch in der Emigration, das im Geologischen Museum in den ersten Monaten des Krieges entstand. Solche Konzeptionen helfen dabei, Distanz zu schaffen.  

    Sie sind bereits seit den 2000er Jahren im Literaturbetrieb. Beobachten Sie positive Entwicklungsdynamiken? Oder wird alles immer schlimmer? 

    Die Situation in der belarussischen Literatur ändert sich ständig. Vor fünfzehn Jahren gab es kaum unabhängige Verlage, es erschienen kaum Bücher und wenn, dann waren sie sehr dünn. Das sagt nichts über die Qualität aus, aber es zeugt davon, dass Autoren wenig Zeit für Literatur haben. 

    Schritt für Schritt wuchs die Anzahl der Verlage und Leser, es wurde einfacher, etwas zu veröffentlichen. Das war das Ergebnis der hingebungsvollen, manchmal unbemerkten, niedrig bezahlten oder gar ehrenamtlichen Arbeit vieler Menschen – Schriftsteller, Übersetzer, Verleger, Redakteure, Kritiker und Förderer. Aber auch Leser und Leserinnen, die belarussische Bücher suchten – denn in Belarus war es immer einfacher, ein russisches Buch zu finden als ein belarussisches.  

    2020 war der Höhepunkt, die Leserschaft wurde breiter und das Interesse an belarussischer Literatur ebenfalls. Nicht umsonst liquidierten die Machthaber später die Mehrheit der unabhängigen Verlage, belarussischsprachige Bücher wurden als Instrument der Herausbildung von Gemeinschaft und Widerstand betrachtet.  

    Die Arbeit auf dem Feld der Literatur kann einen Impuls für Veränderungen geben, auch innerhalb von Belarus 

    Jetzt ist das literarische Leben recht aktiv in der Emigration, auch in Belarus erscheint einiges, Bücher werden geschrieben und übersetzt – das gibt Hoffnung. Aber ich bin vorsichtig mit dieser Hoffnung. Erstens wissen wir aus Monitorings, dass die Russifizierung in Belarus seit 2020 noch stärker zugenommen hat. Das ist kein natürlicher Prozess, sondern einer, in den Russland viele Ressourcen investiert. Wir wissen nicht, wie die folgenden Generationen die belarussische Sprache annehmen werden. Ob in zehn bis 20 Jahren neue belarussischsprachige Autoren und Übersetzerinnen im Literaturbetrieb nachwachsen. 

    Zweitens ist der Boom des Interesses an belarussischer Literatur in der Emigration ein temporäres Phänomen: Die Kinder der Emigranten werden wohl kaum im selben Umfang belarussische Bücher kaufen und lesen, wie ihre Eltern es tun. Drittens kann man sich anschauen, wie viel bedeutende Prosa in belarussischer Sprache geschrieben wird: Es ist viel weniger als im Jahr 2019. Denn viele Autoren waren gezwungen, das Land zu verlassen, sie mussten ein neues Leben aufbauen, die Wenigsten haben die Möglichkeit zu schreiben. Viele verlassen den Literaturbetrieb, und ich denke, es werden noch mehr werden.  

    All das bedeutet nicht, dass man die Hände in den Schoß legen soll. Im Gegenteil – solange wir das Interesse der Leser haben, müssen wir alles nur Mögliche tun. Diese Arbeit auf dem Feld der Literatur, die wir jetzt verrichten, kann einen Impuls für Veränderungen geben, auch innerhalb von Belarus. Wenn belarussische Bücher in andere Sprachen übersetzt werden, stärkt das das Bild von Belarus im Ausland, festigt unsere Subjektivität. Je mehr belarussische Forschungen, Publikationen, aufsehenerregende Ereignisse, zum Beispiel Preisverleihungen, es gibt – desto mehr wird Belarus als eigenständiges Land mit eigener Kultur wahrgenommen statt als Anhängsel Russlands. Kulturelle Produkte, die im Ausland geschaffen wurden, können als Schmuggelware nach Belarus gelangen (genau wie das dort Geschaffene ins Ausland) und ihre Wirkung entfalten.  

    Man muss aber immer bedenken, dass die Situation instabil ist, sie wird sich weiterhin verändern, vielleicht auch zum Schlechteren. Ich weiß nicht, ob Kraft und Ressourcen ausreichen, um das zu bewältigen, aber ich denke, es ist sinnvoll zu kämpfen.  

    Wie stellen Sie sich Ihre eigene Zukunft vor? Wie weit im Voraus planen Sie gerade? 

    Ich habe einen ungefähren Plan für das nächste Jahr: Wo, wie und wovon ich leben werde. Die Pläne für die Zeit danach liegen noch im Dunkeln, aber das kümmert mich nicht. Anfang 2020 hatte ich einen konkreten beruflichen, finanziellen und künstlerischen Plan für die kommenden fünf Jahre – und die Wirklichkeit hat ihn komplett zerstört. Deshalb sehe ich gerade noch keine Möglichkeit langfristig zu planen, denn die Situation in meinem Leben, in Belarus und auf der Welt ist weit von Stabilität entfernt.  

    Ich schreibe jetzt ein neues Buch, das ich hoffentlich bis Herbst 2025 beende. Es gibt auch ein paar kleinere Projekte: Ich will einige Lyrikübersetzungen fertigstellen, die Neuausgaben einiger Bücher vorbereiten, die ich in der heutigen Zeit für bedeutend halte, und zwei kleine Geschichten für Kinder fertigschreiben und herausgeben.  

    Ich habe auch einen halbfertigen dicken Roman über meine Heimatstadt Hrodna und die Ereignisse von 2020 in der Schublade – wenn alles gut läuft, möchte ich ab kommendem Herbst daran weiterarbeiten. Und ich habe viele andere Ideen, die ich bislang auf „irgendwann später“ zurückstelle. Ich werde alles nur Mögliche tun, um so lange wie möglich im Bereich der belarussischen Literatur zu bleiben. Wenn wieder etwas Unvorhergesehenes geschieht und andere Probleme gelöst werden müssen (wie es nach 2020 mit meinen Plänen geschah) – dann bin ich jetzt besser darauf vorbereitet, als ich es vor fünf Jahren war.  

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    „NADO!” – im Geiste Orwells

    Nado! Muss sein! – ist einer der zentralen Propaganda-Slogans der sogenannten Präsidentschaftswahlen am 26. Januar 2025 in Belarus. Man sieht die Parole auf riesigen Billboards und Leinwänden im ganzen Land. Aus Sicht des Regimes ist es notwendig, Lukaschenko einmal mehr zum Staatsführer zu krönen. Aber muss die belarussische Gesellschaft dafür in Angst und Schrecken leben? Der zynische Unterton des Slogans ist nur allzu deutlich.  

    Der Herrschaftsapparat tut alles dafür, dass die Wahl-Inszenierung ohne Störungen abläuft – Massenproteste wie im Jahr 2020 soll es schließlich nicht geben. Militär, Miliz und OMON werden im Einsatz sein, Schüler der Oberstufe bekommen Besuch von Ideologen, die die jungen Leute einschwören. Die Demokratiebewegung veranstaltet am Wahltag in Warschau das Festival Die Belarussen haben Besseres verdient, auf dem bekannte Politiker und Aktivisten über ihre Zukunftsvision von Belarus sprechen. Die belarussischen Sicherheitsbehörden warnen Teilnehmer und Streaming-Zuschauer des Festivals schon im Vorfeld, man werde sie dafür strafrechtlich verfolgen.  

    Lukaschenkos Mit-Kandidaten – es sind vier – sind handverlesen, alle Oppositionsparteien wurden längst verboten. Neben dem blassen Alexander Chischnjak, Vorsitzender der unbedeutenden Republikanischen Partei, und dem Dauer-Mitkandidaten Oleg Gaidukewitsch stehen der Stalinist Sergei Syrankow und eine Frau auf dem Wahlzettel: Anna Kanopazkaja. Der Sieger steht heute schon fest. 

    Der Journalist Alexander Klaskowski gibt für das Online-Portal Pozirk Einblicke in ein absurdes Wahltheater.

    Lukaschenko im renovierten Stadion „Traktor” in Minsk / © Foto president.gov.by 

     

    Als Alexander Lukaschenko am 14. November 2024 das frisch sanierte Stadion „Traktor” in Minsk besuchte, prahlte er scheinbar nebenbei mit der Menge an Unterstützungsunterschriften für seine Kandidatur: „Gestern wurde ich informiert, dass zum aktuellen Zeitpunkt mehr als 700.000 Stimmen gesammelt wurden.“ 

    Nonchalant merkte er noch an, er habe ja kaum Zeit für den Wahlkampf, sei er doch ständig im In- und Ausland unterwegs und müsse den erfolgreichen Abschluss der Erntekampagne im Blick behalten. Als ob für einen derart machtbesessenen Menschen wie ihn die Erntekampagne wichtiger sein könnte als der Wahlkampf.  

    Mit stalinscher Bescheidenheit 

    Tatsächlich muss er sich um die Unterschriften keine Sorgen machen. Erstens hat der Herrscher den Schätzungen unabhängiger Experten zufolge ohnehin die Unterstützung von 25-30 Prozent der Bevölkerung, und auf diese Wählerschaft ist Verlass. 

    Zweitens arbeitet die Verwaltungsebene auf vollen Touren. Der Vorsitzende der Oblast Witebsk, Alexander Subbotin, sagte offen im Fernsehen, beim Unterschriftensammeln für Lukaschenko entstehe traditionsgemäß ein Wettbewerbseffekt zwischen den Oblasten. Im Namen der Initiativgruppen des Herrschers werden zahlreiche Kundgebungen organisiert. Und in den Organisationen und Einrichtungen werden die Unterschriften in einer Atmosphäre gesammelt, in der eine Weigerung zu unterschreiben ein Risiko bedeutet.  

    Drittens arbeitet die Zentrale Wahlkommission nach dem Prinzip „wie es euch beliebt“ und verkündet jedes von oben gewünschte Ergebnis. 

    Lukaschenko demonstriert dabei stalinsche Bescheidenheit. Bekanntermaßen gab schon jener „Vater der Völker“ vor, den Kult um seine Person nur mit Mühe zu ertragen und sich ihm gar zu widersetzen. So teilte der belarussische Staatsführer im Stadion mit, er habe die Unterschriftensammlung für seine Person eigentlich schon beenden wollen, aber sein Administrationschef Dimitri Krutoi habe ihn überzeugt, dass man den Menschen die Möglichkeit geben müsse, ihren Anführer zu unterstützen. Gekünstelt gibt sich Lukaschenko besorgt darüber, dass die Leute nicht gerade darauf aus seien, für andere Kandidaten zu unterschreiben. Wie sollen sie das auch wagen, nach den Repressionen gegen diejenigen, die 2020 für alternative Kandidaten unterschrieben hatten. 

    Tatsächlich sind alle „Konkurrenten“ nur Staffage, dennoch gehen die Bürger lieber kein Risiko ein. Natürlich wird man Lukaschenkos Namen nicht als einzigen auf dem Stimmzettel stehen lassen. Zur Zierde werden vier Pseudokandidaten ergänzt, denen man die notwendige Anzahl an Unterschriften für die Nominierung zugesteht. 

    Lukaschenko beim Wahlkampf und Holzhacken zusammen mit seinem weißen Spitz / Screenshot Sendung RTR Belarus, 7.11.2024 

     

    „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt“ 

    Mit solchen Sparringspartnern ergibt sich natürlich der reinste Zirkus. Lukaschenko kommentierte den „Ausstieg aus dem Rennen um das Präsidentschaftsamt“ (eine Formulierung der staatlichen Nachrichtenagentur Belta) von Olga Tschemodanowa, Milizoberst der Reserve, und Sergej Bobrikow, Generalmajor der Reserve. Die Staatsmedien spielen mit der Lexik echter Wahlen wie in den USA. Aber was für ein beknacktes Rennen, bei dem das Ergebnis schon vorher feststeht? 

    „Klar stehen sie auf meiner Seite. Sie dachten: ‚Wir wissen, dass der Präsident gewinnen wird, aber wir lassen nicht zu, dass er diskreditiert wird.‘ Als würde ich mich diskreditieren lassen. Doch dann sahen sie: Innerhalb der Organisation hat man nicht so recht Verständnis. Also beschlossen sie: ‚Besser, wir steigen aus‘“, versuchte Lukaschenko, die seltsamen Manöver von Tschemodanowa und Bobrikow zu erklären. 

    Bobrikow selbst, der Vorsitzende des Belarussischen Offiziersverbandes, hatte zuvor erklärt, er sei ausgestiegen, „um die Geschlossenheit innerhalb des Offizierskorps zu wahren, kein Doppeldenk im Militär zu erzeugen und das amtierende Staatsoberhaupt, unseren Anführer zu unterstützen.“ 

    Warum war er überhaupt angetreten? Offenbar hatte er zunächst das eine, kurz darauf das andere Kommando erhalten. Irgendwas werden sich die Polittechnologen schon dabei gedacht haben. Der General ahnt indes möglicherweise gar nicht, dass er die Terminologie reproduziert, die in Orwells Dystopie 1984 den totalen Staat beschreibt: „Doppeldenk“, „Gedankenverbrechen“. 

    Das System hat sich in eine tragikomische Ecke manövriert. Es ist klar, dass es eine Lukaschenko-Wahl ist, ein anderes Ergebnis ist bei diesem Spektakel nicht in Sicht. Doch man muss das Ritual befolgen, den Anschein von Pluralismus und Spannung erwecken. Am Ende – Gelächter im Saal – begründen die Sparringspartner ihren Eintritt und ihren Austritt aus dem Wahlkampf mit demselben Argument: Wir unterstützen Lukaschenko.  

    Es gibt noch weitere vier Anwärter auf das Amt. Nach dem Ausscheiden von Oberst Tschemodanowa aus dem „Rennen“ ergatterte auch die extravagante Anna Kanopazkaja  einen Platz auf dem Stimmzettel. Die Kandidatur von Kanopazkaja, die früher Mitglied der mittlerweile vom Obersten Gerichtshof liquidierten Vereinigten Bürgerpartei war, ist ein Zeichen, dass die Staatsmacht beschlossen hat, auch das Feld der Opposition ein wenig zu bespielen. Vielleicht muss Lukaschenko auch unbedingt eine Frau überholen, als Trost für 2020, als ihm die „Hausfrau” Swetlana Tichanowskaja das Wasser abgrub. 

    Apropos, unter dem Deckmantel der Sorge um das „schwache Geschlecht“ tat sich Lukaschenko während seines Auftritts im Stadion wieder mal mit Sexismus hervor: „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt […] In den USA hat der Präsident keinen so weitreichenden Auftrag wie in Russland oder Belarus. Bei uns muss man alles können: alle füttern und tränken… Das ist Schwerstarbeit. Eine Frau darf man nicht so belasten. Das ist hier kein zeremonielles Amt.“ 

    Er beklagte sich auch über die Schwäche der europäischen Staatsoberhäupter: „Die Amerikaner behandeln Scholz doch schon wie den letzten Dreck.“ Mithin äußerte er aber Hoffnung: „Es werden wieder Männer wie de Gaulle auftauchen, ganz sicher. Oder Kohl, so einer wird auch wiederkommen. Auch Chirac war ein ganzer Kerl, einer fürs Volk.“ Über starke Frauen an der Spitze von Regierungen schwieg er. Dabei haben Margaret Thatcher oder Angela Merkel keineswegs nur zeremonielle Funktionen ausgeübt und waren dabei sehr erfolgreich.  

    Lukaschenkos Logik ist hier eine andere, sie resultiert aus dem Gefühl, einzigartig und unersetzlich zu sein. Nachdem er den Mechanismus der echten Wahlen zerschlagen hat, schaut er von oben auf die europäischen Politiker herab, die sich ernsthaft wählen lassen müssen und in der Regel auf zwei Amtszeiten beschränkt sind. Diese verfaulte Demokratie! 

    Wahlwerbung in Minsk / © Foto gazetaby

     

    Dystopie als Propaganda 

    Die aktuelle Wahlkampagne bildet im Grunde die Veränderungen im System Lukaschenko seit 2020 ab. Ja, die Opposition wurde auch früher diskriminiert und kleingehalten, aber ihre Kandidaten wurden noch zur Wahl zugelassen. Doch dann führten die Wahlen fast zum Umsturz. Also wurden Nägel mit Köpfen gemacht. Der schwere Brodem des Totalitären trat immer deutlicher hervor.       

    So wird das Absurde zur Norm. Die drei Wahlsprüche der herrschenden Partei in Orwells Roman 1984 lauten: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.“ Lukaschenkos Propaganda arbeitet tatsächlich im Geiste dieser Dystopie, übertrifft teilweise sogar die künstlerische Vorlage. 

    Ein Beispiel: Das Regime beteiligt sich am Krieg, scharenweise fliegen Shahed-Dronen über das Land, und gleichzeitig inszeniert man Lukaschenko als Garanten eines friedlichen Himmels. Er selbst beteuert blauäugig, Wladimir Putin hätte seine Truppen 2022 nach den Übungen in Belarus wieder in den Fernen Osten verlegt, wenn ihn die bösen Ukrainer nicht provoziert hätten.  

    Lukaschenko und seine Propaganda malen zudem ein Bild, auf dem im Westen (vor allem in Polen und Litauen) die Massen unter dem Joch der Regierungen ächzen, während Belarus, das tatsächlich ein einziges großes Gefängnis ist, als Reich der wahren Freiheit erstrahlt. Schaut nur, sagen sie, wie furchtlos sich die Kandidaten ins Rennen um die Präsidentschaft stürzen!  

    Schließlich schneidet das Regime die Gesellschaft auch von alternativen Informationsquellen ab, vernichtet „aufrührerische“ Literatur: „Unwissenheit ist Stärke“. Im Geiste derselben Dystopie schreiben die Machthaber die Geschichte um, verbreiten ihre eigene Version der Ereignisse von 2020: Ein Teil der Gesellschaft sei geistig umnachtet gewesen, jetzt aber wieder zur Besinnung gekommen. Seht nur, sie schreiben Gnadengesuche. 

    Nado! (Muss sein!): der Propaganda-Slogan der Wahlkampagne von Lukaschenko im Dezember 2024 auf einem Bildschirm in der Capital Mall in Minsk / © Foto gazetaby 

     

    Belta zeigt eine Fotoreportage von einer Kundgebung der Lukaschenko-Initiativgruppe auf dem Gelände des High-Tech-Parks in Minsk. Auch das ist eine Botschaft. 2020 hatten sich hier die IT-Leute aktiv an den Protesten beteiligt, hier waren sie vom OMON verprügelt worden. Nun stehen die Menschen am Zelt mit dem Propaganda-Motto Nado gehorsam Schlange. Wieder ein Nest der Aufständischen zertreten – diese Botschaft sendet die Propaganda. Lukaschenko ruft seine Untergebenen immer wieder dazu auf, wachsam zu bleiben, und erinnert an die Feinde: die offensichtlichen (im Ausland) und die verdeckten (die sich ihm zufolge im Inland „unter der Scheuerleiste“ verstecken).  

    Er wittert in der unterdrückten Gesellschaft noch eine verborgene Bedrohung. Anscheinend hat er nicht begriffen, dass die Ursache dafür nicht in Machenschaften des „kollektiven Westens“ und der „Ausgebüchsten“ liegt, sondern in der Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus seinem System herausgewachsen ist. Lukaschenko behauptet nach wie vor, er müsse das Volk „füttern und tränken“. Dabei haben Millionen von Belarussen im Jahr 2020 gezeigt, dass sie kein Stallvieh sind.  

    Man kann die Menschen im Land einschüchtern, man kann sie brechen, apathisch machen. Aber wie in einer Dystopie das Bewusstsein der Massen umzuformatieren, das wird wohl nicht gelingen.  

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    Viktor Babariko war im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 der aussichtsreichste mögliche Kandidat der Opposition in Belarus. Doch bereits vor der Registrierung wurde er festgenommen und schließlich zu 14 Jahren Straflager verurteilt, sein Anwalt Maxim Znak zu zehn Jahren. Seit Februar 2023 wird auch sein Verteidiger nicht mehr zu ihm vorgelassen. Über 600 Tage gab es keinerlei Lebenszeichen von Babariko, bis kürzlich immerhin Fotos mit ihm in den sozialen Medien auftauchten. So ergeht es vielen bekannten politischen Gefangenen: Sie werden im sogenannten Incommunicado-Regime gehalten, in Einzelhaft ohne Kontakt zur Außenwelt und zu ihren Anwälten. 

    Derweil stehen auch die Rechtsanwälte selbst im Fadenkreuz der Strafverfolgungsbehörden im Lukaschenko-Staat. Ihnen wird die Zulassung entzogen, sie werden festgenommen und weggesperrt, viele verlassen das Land. Die Journalistin Jana Machowa zeigt die Folgen dieser Verfolgung. 

    Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago
    Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago

    Lebt Maxim Znak? Keiner seiner Nächsten kann das mit Sicherheit sagen. 

    In Belarus wurde eine Repressionsspirale gegen Juristen losgetreten: Der Gründer der Rechtsanwaltskanzlei Braginez und Partner, Witali Braginez, wurde im Mai 2022 festgenommen, kurz vor dem Gerichtsprozess seines Mandanten Andrej Motschalow. Im Januar des folgenden Jahres wurde Braginez in einer nichtöffentlichen Verhandlung wegen vier Paragraphen des Strafgesetzbuches zu acht Jahren Freiheitsentzug im Straflager mit verschärften Bedingungen verurteilt. Sein ehemaliger Mandant Motschalow war übrigens auch Anwalt. Die Strafverteidiger von Viktor Babariko, Sergej Tichanowski, Maria Kolesnikowa, Sofia Sapega und vielen anderen mussten überstürzt das Land verlassen. 

    Insgesamt verloren von 2020 bis Anfang 2024 mehr als 140 belarussische Anwälte ihre Zulassung, mindestens 23 Anwälte wurden verhaftet, nachdem sie Menschen verteidigt hatten, die aus politischen Motiven festgenommen worden waren. Diese Angaben stammen aus dem Projekt Recht auf Verteidigung (russ. Prawo na saschtschitu). Gegen sechs Juristen wurden Strafverfahren eröffnet. Ende Februar 2024 startete der KGB eine erneute Razzia gegen Anwälte politischer Gefangener und ihre Familien, bei der mindestens zwölf Verteidiger festgenommen wurden, die juristisch Hilfe leisten. Ein Ende der Repressionen ist nicht absehbar. 

    Immer mehr unabhängige Verteidiger verlassen den Beruf 

    Mit der Änderung des Rechtsanwaltsgesetzes 2021 zerstörte die politische Führung die unabhängige Anwaltschaft, indem Einzelanwälte und unabhängige Anwaltskanzleien abgeschafft wurden. Jetzt kann man nur in juristischen Kanzleien arbeiten, die von Anwaltskollegien mit Zustimmung des Justizministeriums eröffnet werden. Anwälte mussten sich diesen Kanzleien anschließen – oder ihren Beruf aufgeben. 

    „Dadurch sollten die belarussischen Rechtsanwälte unter die Kontrolle der Staatsführung gebracht werden“, ist sich Maria Kolessowa-Gudilina sicher, die 2020 Dutzende politisch verfolgte Belarussen verteidigte. Dann wurde ihr die Lizenz entzogen, sie verließ das Land, ihre Social-Media-Accounts wurden als „extremistisch“ eingestuft. Früher hat sich das Ministerium mit der Widerrufung der Zulassungen befasst. Jetzt wurde diese Verantwortung an die Kollegien delegiert – denen kann aber nur eine Person vorsitzen, die vom Ministerium bestätigt wurde. 

    Silowiki, Staatsanwälte und Richter wechseln zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts 

    „Kollegen verfolgen jetzt Kollegen. Man findet praktisch keine Anwälte für politische Strafsachen mehr – wer einen Fall übernimmt, geht ein Risiko ein. Das ist ein großes Problem. 2023 wurden Anwälte festgenommen, die als Kontaktpersonen agierten [also als Empfänger und Übermittler von Informationen – dek]. Sechs Anwälte sitzen im Gefängnis, weil sie professionell ihre Arbeit ausgeführt haben. Und trotz alledem gibt es noch Menschen, die politische Fälle übernehmen und ihre Arbeit sorgfältig erledigen“, berichtet Kolessowa-Gudilina. 

    In Belarus nehmen die Anwälte derweil wahr: Während immer mehr unabhängige Verteidiger den Beruf verlassen, wechseln ehemalige Silowiki, Staatsanwälte und Richter zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts. Dafür gibt es eindeutig grünes Licht: Für den Quereinstieg reichen ein Empfehlungsschreiben vom Fachamt, ein verkürztes Praktikum und statt der regulären schriftlichen Prüfung im Justizministerium ein Vorstellungsgespräch.  

    Mehr als nur ein „teurer Briefträger“ 

    Viele Anwälte, denen die Zulassung entzogen wurde, sind in Belarus geblieben. Manche haben sich einen neuen Tätigkeitsbereich gesucht, aber einige arbeiten weiterhin im juristischen Geschäft. Ein belarussischer Anwalt, der seine Lizenz wegen der Verteidigung politischer Häftlinge verloren hat und daher anonym bleiben muss, berichtet: „Anwälte, die ihren Beruf weiterhin ausüben, sind quasi Staatsbeamte, von Unabhängigkeit kann keine Rede sein. Vereinzelt gibt es noch Anwälte, die in Ordnung sind. In vier Jahren Arbeit unter völlig wahnsinnigen, stressigen Bedingungen haben sie die neuen Regeln verstanden und sich angepasst. Es klingt vielleicht seltsam, aber es ist gut, dass sie sich angepasst haben und so weiterhin helfen können.“ 

    Viele Menschen in Belarus glauben gar nicht mehr an den Nutzen von Anwälten, insbesondere bei politischen Prozessen, und bezeichnen sie als „teure Briefträger“. Maria Kolessowa-Gudilina ist überzeugt, dass das nicht richtig ist: Die Arbeit eines Anwalts ist für die Öffentlichkeit oft nicht sichtbar, aber dank ihm kann ein Fall in völlig anderer Form vor Gericht kommen, mit weniger Anklagepunkten und entsprechend einer geringeren Haftdauer im Urteil.  

    Dem stimmt ein weiterer belarussischer Anwalt zu, dem die Lizenz entzogen wurde, er erinnert im Gespräch mit dekoder daran, dass seit 2020 viele politische Fälle verhandelt wurden, von denen die Öffentlichkeit gar nichts weiß. „Viele erhielten statt einer Lagerhaft nur Arrest mit Zwangsarbeit oder sogar nur Hausarrest, viele Anklagepunkte konnten abgewendet werden!“, sagt er unter der Bedingung, anonym zu bleiben.  

    „Es war nicht leicht, aber wir fanden einen Anwalt für unsere Mutter, die für einen Kommentar in den sozialen Netzwerken angeklagt war. Wir erwarteten nicht viel von ihm, und er erfüllte unsere „Nichterwartungen“. Aber wir sind froh, dass Mutter einen relativ unabhängigen Verteidiger hatte, der am Prozess teilnahm, uns zu juristischen Feinheiten beriet und uns Informationen über ihren Zustand überbrachte“, berichten die Angehörigen der Angeklagten, die letztlich zu einem Jahr Straflager verurteilt wurde. 

    Ein Anwalt kann eine riesige moralische Stütze für einen Menschen sein, der dem System sonst ganz allein gegenüberstünde. Er leistet Hilfe, die hier und jetzt gebraucht wird. „Dem Gefangenen, der sich in unmenschlichen Bedingungen befindet, zuhören, helfen, Rat geben“, zählt Kolessowa-Gudilina auf. „Manch einer sagt: Wozu einen Anwalt bezahlen, man bekommt ja doch Hausarrest nach Artikel 342? Aber man weiß ja nicht, ob sie nicht noch etwas finden. Manchmal belasten sich die Menschen vor Schreck selbst noch zusätzlich. Damit das nicht passiert, braucht man qualifizierte juristische Hilfe. Ja, die Rechtsanwaltskammer liegt in Trümmern, aber einzelne Anwälte gibt es noch, die Hilfe leisten.“ Ihr anonymer Kollege verweist zudem darauf, dass es – wenngleich selten – vorkommt, dass Verfahren eingestellt werden. Darüber wird aber nicht laut gesprochen, da es sich ansonsten schnell wieder ändern könnte. 

    „Schutz vor Maßlosigkeit“ 

    Außer Zweifel steht für die Juristen: Haben Ermittlungsbehörde und Staatsanwalt schon einen Plan bezüglich des Festgenommenen, dann hilft auch kein Anwalt, vor allem bei öffentlichkeitswirksamen Fällen. 

    „Aber der Anwalt kann vor Maßlosigkeit schützen und eine mildere Strafe erstreiten“, sagt ein belarussischer Anwalt und führt als Beispiel Personen an, die für die Teilnahme an einer der Minsker Großdemonstrationen auf Grundlage des Artikels 342 (Landfriedensbruch) bestraft wurden. „Das Verkehrsunternehmen Minsktrans forderte eine Entschädigungszahlung in Höhe von mehreren Millionen Rubeln. Die Richter erhoben auf dieser Grundlage bei jedem Verurteilten Geldstrafen, ohne zu beachten, wie viel von der Gesamtsumme bereits bezahlt wurde. Ich kenne Beispiele, wo Anwälte Dokumente vorlegen konnten, die belegten, dass die Gesamtsumme längst von zuvor Verurteilten beglichen worden war. Ohne Anwalt hätte man also nicht nur eine Haftstrafe, sondern auch noch eine maßlose Geldstrafe bekommen.“ 

    Die Repressionen gegen die Anwälte wirken sich nicht nur auf die politischen Gefangenen aus. „Die Einschüchterung hat sich auf alle Fälle ausgeweitet, die staatlichen Organe haben verstanden, dass sie grünes Licht haben“, konstatiert Maria Kolessowa-Gudilina. Verteidiger, die noch in Belarus sind, bestätigten gegenüber dekoder, dass seit 2020 für das Regime insgesamt und die Silowiki insbesondere alles „viel einfacher“ geworden sei: Was auch immer wir brauchen – kriegen wir. Gerichtsprozesse sind nur eine Formalität. 

    Es gibt aber auch eine andere Ansicht. 

    „Bei den nichtpolitischen Fällen war die Rechtsprechung auch vorher schon bedingt abhängig“, erzählt ein anderer anonym bleibender belarussischer Anwalt. „Es gab da aus meiner Sicht sehr seltsame Fälle, wo jemand, der bereits zum fünften Mal wegen Diebstahls angeklagt wird, einfach frei aus dem Gerichtssaal spaziert. Das ist das Wesen des belarussischen Gerichtssystems, so war es vor 2020, und so ist es auch jetzt noch.“ Allerdings stimmt der Anwalt zu, dass früher ein gerechtes Urteil möglich war, wenn der politische Apparat kein besonderes Interesse an einem Fall hatte. Betrachtet man Fälle nach 2020, bei denen ein solches Interesse vorlag, so wurden sie zwar nicht gesondert behandelt, aber man erkennt sehr deutlich die „Annahme der Rechtmäßigkeit staatlicher Interessen“. 

    „Wenn jemand auf dem Balkon eine rote Unterhose zwischen zwei weiße Socken gehängt hat, dann geht er auf jeden Fall ins Gefängnis“, fasst unser Gesprächspartner zusammen.  

    Aus der Kanzlei in die Backstube 

    Wie viele Anwälte genau Belarus verlassen haben, ist nicht bekannt, aber laut Kolessowa-Gudilina sind es definitiv mehr als 100. Oft sind es hochqualifizierte Fachleute, die im Durchschnitt 13,5 Jahre Berufspraxis haben. 

    „Die juristische Ausbildung ist sehr kompliziert und spezifisch. In Belarus und den EU-Staaten unterscheiden sich die Rechtssysteme stark“, berichtet einer der Verteidiger, der Belarus nach dem Entzug der Zulassung verlassen hat. Das belarussische Jurastudium wird in der Regel nicht anerkannt, man muss entweder neu studieren oder den Abschluss anerkennen lassen. Das ist teuer, langwierig und kompliziert. Die Psyche spielt dabei eine wichtige Rolle: Mit einem Mal die über Jahrzehnte hinweg erarbeitete berufliche Reputation zu verlieren und sich in einem Zustand wiederzufinden, als wäre man wieder 18 – das ist sehr schwer. Einige der Anwälte verdienen ihren Lebensunterhalt im Ausland in Arbeiterberufen.  

    „Ich weiß, dass einige Anwälte bei Lieferdiensten arbeiten, in Bäckereien oder in Geschäften“, bestätigt Kolessowa-Gudilina. „Es gibt keine schlechte Arbeit, aber das sind unsere Köpfe, alle Leute, die im Ausland sind, sollten sie nutzen können.“ 

    Ein Jurist, der Belarus verlassen hat, erzählt dekoder unter der Bedingung der Anonymität, dass einige seiner Kollegen sich mit dem polnischen Migrationsrecht beschäftigt haben und jetzt den nach Polen eingewanderten Belarussen bei Fragen zu Migration und Familie beraten. 

    „Ich hoffe, in Belarus wird die Rechtshoheit wiederhergestellt“  

    Die in Vilnius registrierte belarussische Organisation Anwälte der Menschenrechte befasst sich mit der Lösung des Hauptproblems, der Frage des Berufszugangs im Aufnahmeland für Juristen, die zur Emigration aus Belarus gezwungen wurden.  

    „Es ist das erste Beispiel für Selbstorganisation unabhängiger Rechtsanwälte“, sagt Maria Kolessowa-Gudilina, die die Vorsitzende der Organisation war, bis sie den Posten im Oktober 2024 aufgab. „Es gibt ein Leben nach dem Zulassungsentzug in Belarus, es gibt Möglichkeiten, weiterhin zu praktizieren. Unsere Anwälte wurden aus dem Beruf verbannt, weil sie sich den Machthabern nicht unterwerfen wollten, jetzt helfen sie ihren Mandanten vom Ausland aus.“ 

    Ich hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann 

    Eine wichtige Kategorie von Fällen, mit denen die Anwälte im Ausland befasst sind, betreffen die Rechte von Belarussen im Land und im Exil. Die Anwälte können die Rechte ihrer Landsleute insbesondere vor internationalen Strukturen vertreten. Einige Mitglieder der Vereinigung bereiten auch die notwendigen Dokumente für ein zukünftiges Ermittlungsverfahren gegen das Lukaschenko-Regime vor. Dank der Bemühungen der Organisation und der Zusammenarbeit mit den litauischen Kollegen können die Belarussen seit März 2024 im Anwaltsverzeichnis Litauens als ausländische Verteidiger, „Anwälte aus Drittstaaten“, geführt werden, diese Möglichkeit gibt es nicht in vielen Staaten. 

    Als ihre wichtigste Mission nennen die Anwälte der Menschenrechte die Wiedererrichtung der Rechtsanwaltskammer im zukünftigen Belarus. „Ich arbeite in Westeuropa in einem Bereich, der dem Rechtswesen nahesteht, verdiene wenig, aber zum Leben ist es genug“, erzählt ein Anwalt, dem die Lizenz entzogen wurde. Er betont, dass das Problem für ihn nicht so sehr das Geld sei. „Ich kann nicht das tun, was ich am liebsten tue: Seinerzeit bin ich aus Liebe zum Fach Rechtsanwalt in Belarus geworden. Ich verstehe das jetzt als temporären Lebensabschnitt und hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann.“ 

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