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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wo Arbeitslosigkeit und Wirtschaft gemeinsam schrumpfen

    Wo Arbeitslosigkeit und Wirtschaft gemeinsam schrumpfen

    Wenn nicht die Sanktionen selbst, dann werde die hohe Arbeitslosigkeit den Kreml schon in die Knie zwingen – so oder ähnlich haben zahlreiche Experten den Niedergang des Systems Putin nach dem russischen Überfall auf die Ukraine prognostiziert. Nun bewegt sich Russland auf Vollbeschäftigung zu, und auch das Realeinkommen der Bevölkerung soll 2023 um 3,4 Prozent steigen. Dabei ist die russische Wirtschaft 2022 um über zwei Prozent geschrumpft, für das laufende Jahr wird ebenfalls eine Rezession vorausgesagt, die Arbeitsproduktivität ist gewohnt niedrig. Wie geht das alles zusammen? 

    Was zunächst widersprüchlich erscheint, aber für den Kreml gut klingt, verschleiert tatsächlich eine Vielzahl von Schwierigkeiten der russischen Wirtschaft, die sich langfristig noch verschärfen dürften. Zu dieser Einschätzung kommen Jekaterina Mereminskaja und ihre Kollegen von istories, die mit zahlreichen Experten gesprochen haben. 



    Die Arbeitslosigkeit in Russland bricht seit einem halben Jahr alle Minusrekorde. Zuletzt war sie im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991. Und laut Maxim Reschetnikow, dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung, sei damit womöglich nicht einmal der Tiefststand erreicht – die Arbeitslosigkeit könne noch weiter zurückgehen.

    Es scheint, als gäbe es keine Krise. Denn: „Normalerweise bedeutet jedes einzelne Prozent BIP-Rückgang zwei Prozent[punkte – dek] mehr Arbeitslosigkeit“, führt Oleg Itskhoki, Professor an der University of California, als Beispiel für entwickelte Industrieländer an, „in diesem Sinne ist der Zustand der russischen Wirtschaft phänomenal.“ Im ersten Quartal ist das BIP im Jahresvergleich um 1,9 Prozent geschrumpft, die Arbeitslosigkeit aber ebenfalls zurückgegangen. Wie ist das möglich, und was bedeutet das?

    Niedrige Arbeitslosigkeit − die „heilige Kuh“ des Kreml

    Die russische Führung legt ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitslosenquote – das ist einer ihrer Schwerpunkte. Eine hohe Arbeitslosigkeit zieht soziale Probleme nach sich und bricht damit den Gesellschaftsvertrag aus der Zeit vor dem Krieg: Wir gewährleisten euch einen annehmbaren Lebensstandard, und ihr haltet euch aus der Politik raus. Die Regierung hat selbst in schwierigsten Zeiten von der Wirtschaft verlangt, auf Entlassungen zu verzichten. Nach der weltweiten Finanzkrise war Russlands BIP im Jahr 2009 um 7,9 Prozent gefallen, die Arbeitslosenquote jedoch nur von 6,2 auf 8,3 Prozent gestiegen. 

    In Krisen hat man das Problem nicht gelöst, sondern verschleiert: Mitarbeiter wurden in unbezahlten Urlaub geschickt, auf Teilzeit gesetzt und so weiter – alles, nur keine Massenentlassungen. Dabei ging es nicht nur um den Wunsch, die Zahlen zu schönen – auch für die Betroffenen war es so oft bequemer. In jedem Fall handelt es sich dabei um versteckte Arbeitslosigkeit. Offiziell dagegen ging die Arbeitslosigkeit allmählich zurück.

    Das geschah vor allem auf natürlichem Wege. Die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre werden nach und nach durch die des „demografischen Einbruchs“ Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre abgelöst. Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen, so die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch. 

    Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen / Grafik © Kaj Tallungs/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Der Krieg hat die Situation weiter verschärft. Viele haben das Land verlassen, andere wurden zum Militär eingezogen. Anstelle der Zuwanderung von Migranten aus anderen Ländern, die den Arbeitskräftemangel in Russland bislang ausgeglichen haben, überwiegt nun die Abwanderung: 20.600 Menschen haben [im Wanderungssaldo – dek] das Land im Zeitraum Januar bis Oktober 2022 verlassen. 2021 war die Bevölkerung Russlands durch Migration noch um 320.000 Personen angewachsen. Infolge der Mobilisierung wurden 300.000 Männer dem Arbeitsmarkt entzogen, so Subarewitsch. Die Abwanderung nach der Verkündung der Mobilisierung beziffert sie mit „mindestens einer halben Million“. 

    Mit der Arbeitslosigkeit ist es wie mit der Körpertemperatur 

    Man könnte meinen, dass es denen, die geblieben sind, gut gehen müsste. Auf den ersten Blick bedeutet die historisch niedrige Arbeitslosigkeit, dass fast alle einen Job haben und die Bezahlung steigt. So legte das Realeinkommen (inflationsbereinigt) im ersten Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 1,9 Prozent zu. 

    Tatsächlich führt ein solcher Rekord zu vielen Problemen. Dem Land fehlen ganz einfach Arbeitskräfte. Der Personalmangel in Russland ist ein altes Problem, aber nach der Mobilisierung im Oktober erreichte er einen Höchststand. Bereits im November stieg der Anteil der Unternehmen, die „aus formalen Gründen“ (Einberufung, Gerichtsverfahren, Tod) Mitarbeiter verlieren, von den bislang gewöhnlichen 38 Prozent auf 60 Prozent. 

    Der Lohnwettbewerb zur Abwerbung von Arbeitskräften, insbesondere von hochqualifizierten Industriearbeitern, hat bereits begonnen

    Praktisch überall fehlen Leute. Viel wird über IT-Spezialisten gesprochen, für die man sich sogar besonders günstige Hypotheken ausgedacht hat, aber in der Industrie sieht es nicht besser aus. „Es gibt ein allgemeines Problem mit Personalkapazitäten, auch mit hochqualifizierten Fachkräften für die Industrie“, so Wassili Osmankow, erster stellvertretender Minister für Industrie und Handel. „Wir sind immer stärker mit entsprechenden Einschränkungen konfrontiert.“ Während Sanktionen umgangen werden können, indem man deutsche Maschinen durch chinesische ersetzt oder über Drittstaaten einkauft, lassen sich Personalprobleme nicht so leicht lösen. „Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter“ – darauf kommt es eigentlich an“, erklärt Osmankow. 

    Mit der Arbeitslosenquote ist es wie mit der Körpertemperatur: Es gibt einen Normalbereich (ständig werden Jobs gewechselt, Jobs gesucht, beispielsweise von Berufseinsteigern) − das ist eine natürliche Arbeitslosigkeit, die das Wirtschaftswachstum nicht hemmt und die Inflation nicht antreibt. Für Russland liegt diese Quote bei rund fünf Prozent. Der Internationale Währungsfonds IWF bezifferte die natürliche Arbeitslosigkeit von 2000 bis 2016 mit durchschnittlich 5,5 Prozent (russische Wissenschaftler ermittelten Mitte der 2000er Jahre einen ähnlichen Wert: 5,6 Prozent) und prognostizierte einen Rückgang dieser Quote um jährlich 0,1 Prozentpunkte. Wenn diese Prognose stimmt, müsste die natürliche Arbeitslosigkeit jetzt bei 4,8 Prozent liegen. 

    Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger

    Aber es kann Abweichungen geben: Hat ein Wirtschaftsorganismus mit Problemen zu kämpfen, steigt die Arbeitslosigkeit. Und auch eine zu niedrige Arbeitslosigkeit kann ein schlechtes Zeichen sein. 

    Die Arbeitslosigkeit in Russland war im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991 / Foto © Mikhail Tereshchenko/ITAR-Tass/imago images
    Die Arbeitslosigkeit in Russland war im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991 / Foto © Mikhail Tereshchenko/ITAR-Tass/imago images

    „Normalerweise deutet ein Rückgang der Arbeitslosigkeit auf einen Anstieg der Beschäftigung und eine Belebung der Wirtschaft hin. Deshalb propagiert die Führung das als ihre ‚Errungenschaft‘“, sagt Subarewitsch. Doch das, was sich jetzt beobachten lässt, ist schon ein Verfall. Die Wirtschaft verfügt kaum noch über Personalressourcen, aber die gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für Wachstum. Die sogenannte Transformation der Wirtschaft braucht auch Arbeitskräfte, doch die sind nirgendwo zu bekommen.

    „Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger, hier unterscheidet sich die Situation deutlich von der, die wir 2020 bis 2021 hatten“, räumt Maxim Oreschkin ein, Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten. 

    Jeder löst das Problem, so gut er kann. Eine besonders radikale Lösung hat der Autohersteller AwtoWAS gefunden: Für die Montage des Lada Vesta NG sollen Häftlinge verpflichtet werden. „Gebraucht werden allerdings qualifizierte Leute, die müssen extra geschult werden. Und da spreche ich noch nicht von Motivation und Arbeitsqualität“, kommentiert Wladimir Gimpelson, Professor an der University of Wisconsin-Madison. 

    Andere Zusatzmaßnahmen, mit denen Arbeitgeber den Arbeitskräftemangel bekämpfen wollen, erfasst die Zentralbank. So hat ein Chemieunternehmen in der Wolga-Wjatka-Region die Zahl der HR-Manager erhöht, um die Personalbeschaffung zu forcieren. Im Ural haben Unternehmen begonnen, Rotationsprogramme, bessere Bedingungen für den Umzug (zum Beispiel Bereitstellung von Wohnraum, Reisekostenerstattung, Fortbildungen) anzubieten und die Löhne zu erhöhen. 

    Lohnerhöhung bringt Inflation

    Lohnerhöhungen sind natürlich die häufigste Maßnahme. Aber für die Wirtschaft ist das − so seltsam es klingen mag − ein Problem. Die Löhne steigen schneller als die Arbeitsproduktivität, wiederholt immer wieder die Zentralbank: Das muss dann durch Preiserhöhungen kompensiert werden, was wiederum die Inflation anzuheizen droht. 

    Analysten der Zentralbank ermittelten auf Grundlage der Daten von 2018, dass die niedrige Arbeitslosigkeit in Russland in den meisten Regionen (48) schon vor den jüngsten Rekordtiefs die Inflation angeheizt hatte, indem sie die Löhne nach oben trieb. 

    Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter – darauf kommt es eigentlich an

    Nicht alle jedoch können die Personalausgaben erhöhen. Der Fluggesellschaft Aeroflot fehlt bereits das fünfte Jahr in Folge das Geld für Gehaltsanpassungen. Nach Einstellung der meisten Auslandsverbindungen überlebt die Airline nur mit staatlicher Hilfe. Im Mai legten Beschäftigte im Autowerk Uljanowsk (UAZ), das auch staatliche Aufträge erfüllt, die Arbeit an den Montagebändern für den Geländewagen Patriot nieder und forderten eine Lohnerhöhung mit dem Argument, im letzten Monat im Durchschnitt 20.000 Rubel [im April umgerechnet ca. 230 Euro – dek] erhalten zu haben. Der Generaldirektor des Werks versprach noch am selben Tag eine Lohnerhöhung um 12 Prozent ab Juni. Die Streikführer wurden unterdessen von Ordnungskräften festgenommen. 

    Denn Streiks gehören ebenfalls zur Schattenseite: „Eine niedrige Arbeitslosigkeit und fehlende Arbeitskräfte geben den Beschäftigten zusätzliche Sicherheit. Es ist für sie einfacher, Forderungen zu stellen, ohne Entlassungen befürchten zu müssen“, erläutert Gimpelson. Seiner Meinung nach könne sogar die Rüstungsindustrie ihre Löhne wahrscheinlich nur in begrenztem Maße erhöhen. 

    Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen

    Indes wächst das Problem des Arbeitskräftemangels weiter. Im Mai sei in einer Reihe von Branchen die wirtschaftliche Aktivität gestiegen, so dass sich der Arbeitskräftemangel weiter verschärft habe, stellt die Zentralbank fest. Die Unternehmen stocken wegen der höheren Nachfrage ihre Belegschaft auf. Darum entstehen aktuell so viele und so schnell wie nie seit November 2000 neue Arbeitsplätze. Das geht aus einem Enterprise Survey der Firma S&P für den PMI-Index hervor. 
      
    „Der Anstieg der Nachfrage nach Arbeitskräften entspricht in seinem Ausmaß eher einer Phase intensiven Wachstums“, geben sich Experten des Moskauer Zentrums für makroökonomische Analysen und Kurzzeitprognosen (ZMAKP) überrascht, „vermutlich ist Russlands Wirtschaft (sollten keine neuen Schocks auftreten) bereit für eine neue Wachstumswelle.“

    Wachstum bräuchte Arbeitskräfte und Investitionen

    Doch das ist eher unwahrscheinlich. Denn derartige Probleme erschweren wirtschaftliches Wachstum. Es fehlen die notwendigen Arbeitskräfte. Die Verfügbaren sind nicht immer in der Lage oder bereit zu arbeiten, weil sie nicht befürchten müssen, entlassen zu werden. Einerseits halte Russland eine künstliche Überbeschäftigung aufrecht, die die Arbeitsproduktivität verringert, räumen die Experten des ZMAKP ein. Andererseits führe die niedrige Produktivität zur Unterbewertung von Arbeit – so entsteht ein Teufelskreis. 

    Bei der Einführung neuer Technologien kommt es zu Verzögerungen. „Es fehlen Anreize für die technische Modernisierung von Unternehmen und für den Ersatz von Arbeitskräften durch Roboter“, warnen die ZMAKP-Experten weiter. „Eine immer größere Rolle in der Produktion spielen unzureichend qualifizierte Arbeitskräfte, was sich wiederum auf die Qualität auswirkt.“ Das ist ein weiterer Schritt Richtung „umgekehrte Industrialisierung“ aufgrund rückständiger Technologien, wie sie die Zentralbank für Russlands Industrie vorausgesagt hatte. 

    Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen. Die Abwanderung von Humankapital dürfte angesichts erhöhter Unsicherheit weiter anhalten, glaubt auch Alexander Knobel, Leiter der Forschungsabteilung für internationalen Handel am Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik. 

    Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist

    Eine weitere Folge der niedrigen Arbeitslosigkeit in Russland ist Armut, denn dahinter verbirgt sich oft Unterbeschäftigung. Beschäftigte werden zwar nicht entlassen, bekommen aber weniger Geld. Laut Rosstat-Angaben waren im ersten Quartal mehr als vier Millionen Personen in Kurzarbeit, durch Verschulden des Arbeitgebers unbeschäftigt oder in unbezahltem Urlaub. Etwa sechs Millionen „Beschäftigte“ erhalten nicht einmal den Mindestlohn (MROT), und 12 Millionen haben keinen Arbeitsvertrag, räumt die Vize-Ministerpräsidentin für Soziales, Tatjana Golikowa, ein. 

    Die wirtschaftlichen Auswirkungen dessen, dass Russlands Arbeitsmarkt mehr als eine Million Menschen entzogen wurden (durch Mobilisierung und Ausreise), seien jedoch deutlich geringer als die sozialen Folgen, glaubt Itskhoki von der University of California. Man könnte wohl noch weitere 300.000 abziehen, die Wirtschaft würde weiter funktionieren. Doch die Folgen dieses Verlustes junger, produktiver Menschen würden noch lange spürbar sein, warnt der Experte: „Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist − fünf bis zehn Jahre, vielleicht auch noch länger.“

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  • Putins Ökonomie des Todes

    Putins Ökonomie des Todes

    Seit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die russische Führung den Sold für Berufssoldaten und die Kompensationszahlungen für jeden Gefallenen massiv erhöht. Der Ökonom Wladislaw Inosemzew hat einmal alle Zahlungen zusammengerechnet und sie damit verglichen, was ein junger Mann im zivilen Leben verdienen könnte. Sein Fazit: Gerade für Familien aus den ärmeren Regionen des Landes eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens.

    Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images
    Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

    Unter russischen Intellektuellen hat sich jüngst die Erkenntnis breit gemacht, dass der Staat den Tod aktiv als etwas Erhabenes und Reinigendes instrumentalisiert. „Sie werden einfach verrecken, aber wir kommen in den Himmel“ – das mag noch wie ein Witz geklungen haben. Aussagen, dass der Tod auf dem Schlachtfeld ein gelebtes Leben wertvoll mache, sowie Äußerungen weltlicher und religiöser Führer über den Tod als besondere Leistung deuten jedoch darauf hin, dass in der Ideologie von Putins Russland zwar vielleicht noch kein Todeskult herrscht, aber eine von der Soziologin Dina Khapaeva als „Thanatopathie“ bezeichnete Haltung offensichtlich weit verbreitet ist. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Versuche, den gewaltsamen Tod als etwas Natürliches oder gar Erhabenes darzustellen, mit der gegenwärtigen Faschisierung Russlands einhergehen. Parallelen zum Deutschland der 1930er Jahre drängen sich auf. Allerdings ist Russland keine klassische, ideologisierte, totalitäre Gesellschaft mit einer Faszination für Kampf und Tod, sondern ein durch und durch kommerzieller Staat, in dem Geld alles entscheidet. Daher sollte einer Analyse der ideologischen Hintergründe auch eine Bewertung der wirtschaftlichen Aspekte folgen.

    Der Kreml hat den umfassenden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Versprechen begonnen, dass die „militärische Spezialoperation“ mit Vertragssoldaten durchgeführt wird. Aufgrund der enormen Truppenverluste erlaubten die russischen Behörden jedoch bald die Rekrutierung von Häftlingen für sogenannte private Militärunternehmen („TschWK“) und verkündeten später eine Mobilmachung, die viele an die Einberufungen von 1941 erinnerte. Diverse Experten sagten voraus, dass der „Teilmobilmachung“ auch eine allgemeine Mobilmachung folgen werde. Die ist bislang jedoch ausgeblieben, vielmehr ließ das Militär verlauten, dass der Personalmangel in der Armee überwunden sei. Wie kann das sein, insbesondere angesichts der Verluste, die die russische Armee weiterhin erleidet? Vielleicht liegt die Antwort in der seltsamen Verbindung zwischen dem Todeskult und dem Kult des Geldes.

    Ein Soldat bekommt heute mehr als das Dreifache des Durchschnittsgehalts

    Betrachtet man die ersten Maßnahmen, die von der russischen Führung 2022 ergriffen wurden, so fällt auf, dass die Vertragsarmee, die im Februar in die Ukraine einmarschiert ist, noch eine ganz andere Armee war als jene, die im Laufe des Jahres gebildet wurde. So war beispielsweise 2019 ein Vertragssoldat eine Person, die bereits über militärische Erfahrung verfügte und mit 38.000 bis 42.000 Rubel [etwa 500 bis 550 Euro zum damaligen Kurs – dek] brutto besoldet wurde. Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittsgehalt in Russland damals bei 47.500 Rubel lag [etwa 630 Euro – dek], bekam das Verteidigungsministerium also für vergleichsweise wenig Geld einen gut ausgebildeten Soldaten. Wenn ein Soldat ums Leben kam, konnten dessen Angehörige mit einer Entschädigung von drei Millionen Rubel rechnen [damals etwa 40.000 Euro – dek]. Ende 2022 sahen die Bedingungen für Vertragssoldaten ganz anders aus: Der Sold betrug mindestens 195.000 Rubel [etwa 3000 Euro – dek]. Das ist mehr als das Dreifache des offiziellen Durchschnittsgehalts. Zudem lag im Todesfall allein die „Einmalzahlung des Präsidenten“ schon bei fünf Millionen Rubel [etwa 77.600 Euro – dek]. Zugleich wurde jeder genommen, der wollte, selbst Personen ohne jegliche militärische Erfahrung. Mit anderen Worten: Der Preis eines Soldaten ist in Russland um ein Vielfaches gestiegen, während seine professionellen Qualitäten in einem Ausmaß gesunken sind, das sich kaum abschätzen lässt. 

    Bis zum Beginn des umfassenden Angriffskriegs gegen die Ukraine war die russische Armee klar unterteilt in Einheiten mit Vertragssoldaten und Einheiten mit Wehrpflichtigen (Vertragssoldaten wurden zehnmal besser bezahlt als Wehrpflichtige). Inzwischen ist alles anders: Jetzt sind die im Rahmen der Mobilmachung eingezogenen Soldaten de facto ganz normale Vertragssoldaten, die den Regelungen für die Mindestbesoldung und die Entschädigungen im Falle von Verwundung und Tod unterliegen (gerade die Großzügigkeit gegenüber den Einberufenen im Herbst 2022 hat die Behörden dazu veranlasst, den Sold für „alte“ Vertragssoldaten zu erhöhen). Anders gesagt: Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens. 

    Wie lukrativ? Die Antwort auf diese Frage mag überraschen. 

    Nehmen wir an, ein Bürger wird im Rahmen der Mobilmachung eingezogen und bald in die besetzten Gebiete der Ukraine geschickt, wo er fünf Monate kämpft und letztlich einer verirrten Kugel zum Opfer fällt. Sein Leben erlangt damit nicht nur eine „besondere Bedeutung“, sondern es wird auch noch mit viel Geld vergolten. Zunächst bezieht ein Soldat vom Moment der Mobilmachung an ein Gehalt von 195.000–200.000 Rubel [etwa 2000 Euro – dek]. Bei fünf Monaten Dienst kommt er also auf eine Million Rubel [knapp 10.000 Euro – dek]. Hinzu kommt die „Einmalzahlung des Präsidenten“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [knapp 50.000 Euro für jeden Gefallenen – dek]. Darüber hinaus haben die Angehörigen des Soldaten Anspruch auf eine Versicherungsleistung, deren Höhe knapp drei Millionen Rubel [etwa 30.000 Euro – dek] beträgt. Und es gilt weiterhin die reguläre Entschädigung für den Tod eines an Kampfhandlungen beteiligten Militärangehörigen (seit 1. Januar 2023 beträgt diese 4,7 Millionen Rubel [etwa 47.000 Euro – dek]). Schließlich bekommen die Angehörigen des Gefallenen noch mindestens eine Million Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] von den regionalen Behörden. Für die Angehörigen eines gefallenen Soldaten, der fünf Monate gedient hat, summieren sich die Zahlungen aus Lohn und Entschädigungen nach den geltenden Gesetzen und Vorschriften also auf etwa 14,8 Millionen Rubel [knapp 149.000 Euro – dek].

    Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen

    Schauen wir uns nun die Alternative an, und zwar das Leben, das unseren Helden erwartet hätte, wenn Putin nicht mit der „Entnazifizierung“ des „Bruderlandes“ begonnen hätte. Nehmen wir an, die Person wäre im Alter von 35–40 Jahren aus einer Region in den Krieg gezogen, die im Todesfall eine Million Rubel auszahlen kann (das trifft auf die Mehrzahl der Regionen in Russland zu). Zum Beispiel aus der Oblast Iwanowo, wo das Durchschnittsgehalt Ende 2022 bei 35.000 Rubel [etwa 350 Euro – dek] lag (ähnlich ist die Situation in den Oblasten Kostroma, Orjol, Tambow, Brjansk und Pskow, im gesamten Föderationskreis Nordkaukasus und in vielen Regionen Sibiriens, wo das durchschnittliche Monatsgehalt 40.000 Rubel nicht übersteigt). Da die Mobilmachung Männer betrifft und die Gehälter von Männern russlandweit im Durchschnitt 28 Prozent über denen von Frauen liegen, gehen wir davon aus, dass unser Soldat im zivilen Leben 40.000–42.000 Rubel verdient hat. In diesem Fall wären alle oben genannten Zahlungen so hoch wie sein Gesamtverdienst über einen Zeitraum von 31 Jahren. Fazit: Zieht ein Mann in den Krieg und kommt mit 30-35 Jahren ums Leben (also im besten und aktivsten Alter), ist sein Tod wirtschaftlich vorteilhafter als sein weiteres Leben. Mit anderen Worten, Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen. Zum Vergleich: In Ländern, in denen sich Staat und Gesellschaft vor allem auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger konzentrieren, wird der Tod eines Soldaten mit zwei bis drei durchschnittlichen Jahreseinkommen bewertet (zum Beispiel erhält eine Witwe in den USA eine einmalige Entschädigung in Höhe von 100.000 Dollar). 

    Der Wunsch nach „siegreichen Feldzügen“ könnte in Zukunft noch größer werden

    Das Obengenannte bezieht sich auf Soldaten der Streitkräfte der Russischen Föderation und der Rosgwardija, allerdings erhalten auch die Angehörigen von Wagner-Söldnern finanzielle Leistungen (in diesem Fall geht es um geringere Summen – Medienberichten zufolge beläuft sich hier die Entschädigung auf fünf Millionen Rubel, die Auszahlung erfolgt in bar). Mit anderen Worten: In Russland hat der „Ankauf von Menschenleben“ im großen Stil begonnen. Bleibt die Frage, ob die Entschädigung in Höhe des Durchschnittseinkommens für das gesamte restliche Arbeitsleben „angemessen“ ist, oder ob dieser Betrag weiter erhöht werden muss. Letzteres dürfte zunächst eher unwahrscheinlich sein, da die Bedingungen ohnehin lukrativ erscheinen. Wichtig ist aber etwas anderes: In die russische Armee treten derzeit und auch künftig vor allem Bürger aus relativ armen Regionen ein, wobei die meisten selbst nach lokalen Maßstäben über ein geringes Einkommen verfügen. Dementsprechend wird die Masse der Soldaten, die alle Strapazen des Militärdienstes überstanden haben, sich auch deutlich vom Durchschnittsbürger unterscheiden, und der Wunsch nach weiteren „siegreichen“ Feldzügen wird nur noch größer werden. 

    Die Ausgaben für Sold und Entschädigungen entsprechen knapp zehn Prozent des Staatshaushalts der Vorkriegszeit

    Russlands Führung betrachtet diesen Umstand indes nicht als Risiko. Ganz im Gegenteil, sie bemüht sich, die derzeitige Praxis zur Norm zu machen, indem sie Militärangehörigen immer größere Privilegien gewährt. So wurden nicht nur staatliche Zahlungen, sondern jegliche Hilfeleistungen für Soldaten von der Einkommensteuerpflicht befreit, und Kompensationszahlungen für gefallene Angehörige fließen im Falle einer Insolvenz der berechtigten Person nicht in die Konkursmasse ein. Paradoxerweise rechnet der Kreml ernsthaft mit einem positiven wirtschaftlichen Effekt durch die Schaffung einer hochbezahlten Berufsarmee. Geht man davon aus, dass die Zahl der Einberufenen und der Vertragssoldaten bei 400.000–450.000 liegt, dann beläuft sich deren Besoldung insgesamt auf mindestens eine Billion Rubel pro Jahr [etwa 10 Milliarden Euro – dek]. Noch einmal etwa die gleiche Summe muss der Staat für Entschädigungszahlungen für getötete und verwundete Soldaten aufwenden, wenn wir davon ausgehen, dass es pro Jahr 50.000 [Getötete] und 100.000 [Verwundete] sind. Diese Beträge entsprechen knapp zehn Prozent der föderalen Staatsausgaben in der Zeit vor dem Krieg. Einige Experten sagen sogar voraus, dass eine neue soziale Gruppe von „jungen Reichen“ entstehen wird. Generell wird die „Todesökonomie“ zu einer Art neuer Normalität für die Staatsmacht und für in ihrem Dienst stehende Wirtschaftsfachleute. 

    Natürlich wäre es verfrüht, nach lediglich anderthalb Jahren Krieg weitreichende Schlüsse zu ziehen, auch wenn die Geschichte zeigt, dass sich Zahlungen und Entschädigungen aller Art zwar leicht erhöhen lassen, eine Kürzung aber praktisch unmöglich ist. Eines ist allerdings klar: Die russische Führung hat nach entsprechender „ideologischer Vorbereitung“ tatsächlich ein System geschaffen, in dem das Leben für einen Menschen aus wirtschaftlicher Sicht nicht die beste Wahl darstellt. Mit dieser Erkenntnis wird ein Bewusstseinswandel einhergehen, der sich zweifellos auf den gesamten sozialen Bereich auswirken wird, von der Gesundheitsversorgung bis zum Rentensystem. Man hat das Land an den Tod gewöhnt und das Sterben wirtschaftlich attraktiv gemacht. 

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  • „Russland ist nicht bereit für die grüne Wende“

    „Russland ist nicht bereit für die grüne Wende“

    Immer mehr Verbraucher in Europa bekommen es zu spüren: Rekordpreise auf dem Energiemarkt. Ein Faktor, der in der Debatte darüber immer wieder genannt wird, ist Russland. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet unterdessen, dass die US-Regierung Insidern zufolge bereits Notfallpläne für Gaslieferungen nach Europa ausarbeite – für den Fall, dass diese im Zuge der Krise um die Ukraine etwa unterbrochen würden. 
    Präsident Wladimir Putin hatte noch im Dezember größere Gaslieferungen versprochen – sobald Nord Stream 2 in Betrieb ginge. Nach Aussagen der Internationalen Energieagentur (IEA) könnte der staatliche Gazprom-Konzern die Liefermengen jedoch auch über die bestehende Infrastruktur deutlich erhöhen.

    Der Energieexperte Michail Krutichin nennt das „Erpressung“. Im Interview mit Republic spricht der Branchenkenner der Consulting-Firma RusEnergy über die Perspektiven des Pipeline-Projekts, über die Vermischung politischer und wirtschaftlicher Interessen bei Gazprom, aber auch ausführlich über die möglichen Auswirkungen der globalen Hinwendung zu den erneuerbaren Energien für die russische Öl- und Gaswirtschaft.

    Jewgeni Senschin: Was hatte Ihrer Meinung nach im vergangenen Jahr den größten Einfluss auf den russischen Öl- und Gasmarkt?

    Michail Krutichin: Das Wesentliche ist, dass sich die globale Ölbranche umorientiert: weg von Investitionen zur Förderung kohlenwasserstoffbasierter Rohstoffe hin zu Investitionen in erneuerbare Energiequellen und in die grüne Energiewirtschaft. Wir sehen das bei den führenden Öl- und Gasunternehmen. Die Regierungen vieler Länder, auch erdölfördernder Länder wie Saudi-Arabien, unterstützen diesen Trend nicht nur, sondern sichern die Entwicklung gesetzgeberisch, finanziell, mit verschiedenen Vergünstigungen in diese Richtung ab, sogar mit staatlichen Investitionen.
    Im vergangenen Jahr hat sogar die russische Führung verstanden, dass sich die Welt ernsthaft in eine neue Richtung bewegt. Und das ist keineswegs die Richtung, auf die man in Russland gesetzt hatte. Wir erinnern uns an solche Dokumente wie die Doktrin der nationalen Energiesicherheit, in der ganz klar davon die Rede war, dass diese ganze Energieeffizienz, die Energieeinsparungen, die grünen Energien, dass das alles Herausforderungen, Risiken und Bedrohungen für Russland sind. Das aber will den bisherigen Weg weiter beschreiten und stützt sich dabei auf die Förderung und den Export von Erdöl, Erdgas und Kohle, das heißt auf das, was heute als „schmutzige Energie“ bezeichnet wird. Dieser Trend wird kurz- und mittelfristig bestimmen, wohin sich die Welt bewegt und wie sehr Russland dabei ins Hintertreffen gerät.

    Russland stützt sich auf das, was heute als ‚schmutzige Energie‘ bezeichnet wird

    Neben dieser allgemeinen Entwicklung in der Branche wird jedoch auch die Gefahr deutlich, dass weltweit weniger in die Suche nach Öl- und Gaslagerstätten investiert wird. Möglicherweise wird das nach einer gewissen Zeit zu einem Einbruch in der Öl- und Gasförderung führen, und das hätte wiederum höhere Öl- und Gaspreise zur Folge. Somit ringen also zwei unvereinbare Trends miteinander, und welcher davon auf absehbare Sicht die Oberhand behält, ist derzeit ungewiss. 

    Inwieweit tragen die Maßnahmen der russischen Führung Ihrer Meinung nach diesen Herausforderungen Rechnung? 

    Bislang sehen wir einen Tanz der russischen Führung um den heißen Brei – es werden seltsame Dokumente verabschiedet, etwa ein Wasserstoff-Aktionsplan; einzelne Unternehmen beschließen Aktionspläne für die Entwicklung grüner Energien. Hier stechen einige Unternehmen heraus, wie Nowatek, Gazprom Neft und teilweise Lukoil. Aber insgesamt zeigt sich, dass Russland für die grüne Wende nicht bereit ist und es auch nicht eilig hat, sich darauf vorzubereiten. 

    Niemand hat es mit dem Übergang zu etwas Neuem eilig, solange das Alte noch nutzbar ist

    Die Regierung ist nicht einmal in der Lage, eine kohärente Wasserstoff-Strategie zu beschließen, stattdessen werden einzelne Dokumente verabschiedet. Das Ergebnis ist ein Flickenteppich, doch welche Behörde wofür zuständig ist, bleibt völlig unklar. Alle zerren in unterschiedliche Richtungen und kommen mit bürokratischen Äußerungen wie „gut wäre es, wenn“, „wir arbeiten aktiv daran, dass“ oder „die Vorbereitungen für x y z laufen“. Aber tatsächlich passiert sehr wenig.

    Weshalb passiert so wenig? Misst man dem keine Bedeutung bei, mangelt es an Kompetenz, fehlt die Zeit, oder was ist das Problem?

    Sowohl die Beamten als auch die Chefs der Öl- und Gasunternehmen sind es gewohnt, wie Parasiten von der traditionellen Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu profitieren, sprich, einfach zu fördern und zu verkaufen. Niemand hat es mit dem Übergang zu etwas Neuem eilig, solange das Alte noch nutzbar ist. Wir beobachten den seltsamen Trend, dass gigantische Projekte initiiert werden (vor allem zu Lasten von Staatsunternehmen wie Rosneft), die wirtschaftlich jedoch kaum zu rechtfertigen sind – zum Beispiel Vostok Oil. Somit bestätigt sich die alte Wahrheit, dass ein Beamter in einem Staatsunternehmen nicht am Endergebnis, an Gewinn und an Effizienz interessiert ist. Für ihn ist der Prozess interessant, im Zuge dessen etwas herauszuholen ist, nennen wir es mal eine Korruptionssteuer – also das, was man als raspil und otkat bezeichnet. In diesem Sinne werden bei uns Projekte oft ohne Rücksicht auf die künftige Rentabilität umgesetzt. Und das ist nicht nur Vostok Oil, sondern beispielsweise auch die viel gepriesene Erdgaspipeline Sila Sibiri 2.

    Auf lange Sicht sind grüne Energien eine Bedrohung für Russland in seiner derzeitigen wirtschaftlichen Struktur. Aber wenn wir eine Perspektive von vielleicht fünf Jahren nehmen, lohnt es sich da überhaupt für das heutige politische Regime, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen? Vielleicht wird das Regime eher untergehen, als dass sich die Welt von Öl und Gas verabschiedet. Der Planungshorizont von Beamten und Politikern ist kurz.

    Wir sehen, dass der Trend zur Ökologisierung, insbesondere die Abgaben auf CO2-Emissionen in die Atmosphäre, für einige Unternehmen schon jetzt zu einer ernsthaften Belastung werden. In den europäischen Richtlinien für Öl und Gas findet sich bislang nur wenig dazu, aber: In ein, zwei Jahren werden Öl und Gas in die Liste der Energieträger aufgenommen, die solchen Beschränkungen unterliegen. 

    Die Kosten für das aus Russland exportierte Öl und Gas werden drastisch steigen

    Dann werden die Öl- und Gaslieferanten und natürlich auch die Kohlelieferanten eine sogenannte CO2-Steuer in ganz unterschiedlicher Form zahlen. Und die Kosten für das aus Russland exportierte Öl und Gas werden drastisch steigen. Möglich ist das bereits in naher Zukunft.

    Die Lage wird noch verschärft: Solange es genügend Nachfrage gibt, aus der Profit geschlagen werden kann, schrumpfen die Möglichkeiten, die Öl- und Gasförderung rasch hochzufahren. So ist vor allem beim Erdöl festzustellen, dass russische Ölunternehmen die Förderung aus längst erschlossenen Lagerstätten intensivieren – mit Ausnahme von Rosneft und seinem zweifelhaften Projekt Vostok Oil. Oder sie beginnen einfach mit der Ausbeutung der Vorräte im sogenannten Erdölsaum von Gaslagerstätten. 

    Solange es genügend Nachfrage gibt, aus der Profit geschlagen werden kann, schrumpfen die Möglichkeiten, die Öl- und Gasförderung rasch hochzufahren

    So deklariert Gazprom Neft beispielsweise die bereits 1974 erschlossene Lagerstätte Peszowoje als neu und gibt feierlich bekannt, dass dadurch die Förderung erhöht wird. Jedoch könnten solche Möglichkeiten in alten Lagerstätten sehr schnell ausgeschöpft sein, da der Großteil der übrigen Ölvorräte in Russland zur Kategorie der schwer förderbaren Reserven gehört und die Preise für solche Rohstoffe dann zwangsläufig extrem hoch sein werden. 

    Die Unternehmen wollen ganz einfach nichts Neues entwickeln. Bei der Erschließung neuer Lagerstätten können vom Beginn der Investition bis zum realen Gewinn sieben bis 15 Jahre vergehen. Aber wie sich in diesem Zeitraum die Branche, die weltweite Nachfrage, die politischen Verhältnisse und die steuerliche Situation in Russland entwickeln, weiß niemand genau. Es gibt hier keine Stabilität, daher investieren die Unternehmen nicht in solche Projekte. 

    Wenn man für das Jahr 2021 ein Fazit für den russischen Öl- und Gassektor zieht, kann die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht außer Acht gelassen werden. Alexander Nowak hat kürzlich gesagt, die Zertifizierungsverfahren für das Projekt könnten Mitte 2022 abgeschlossen sein, sodass dann die ersten Gaslieferungen aufgenommen würden. Sie sind ein bekannter Kritiker dieser Pipeline und sagten einmal, dass das Projekt bereits im Dezember 2019 gestorben sei, als vom US-Kongress Sanktionen dagegen verhängt wurden. Wie schätzen Sie aktuell die Zukunft des Projekts ein?

    Noch vor ihrer Inbetriebnahme ist die Pipeline zu einem politischen Druckmittel geworden. Unser Präsident erklärt, dass er die Gaslieferungen [in die Europäische Union – dek] um zehn Prozent erhöhen könne, jedoch unter der Bedingung, dass das Gas durch Nord Stream 2 fließt. Andernfalls würden Europas Bürger aufgrund des fehlenden Gases womöglich im Winter frieren. Das heißt, dass entweder enorme freie Kapazitäten für den Gastransport durch die Ukraine und auch durch Belarus und Polen stillliegen, oder dass dort der Gasdurchfluss gedrosselt wird. Das ist ein Gaskrieg von Seiten Russlands. 

    Wird Nord Stream 2 zertifiziert? Diese Frage ist offen. Erst kürzlich haben sich in Deutschland das Auswärtige Amt und der Bundeskanzler darauf geeinigt, dass das Projekt nach europäischen und nicht nach deutschen Richtlinien zertifiziert werden soll. Damit ist eine einfache Anforderung verbunden: Der Betreiber der Pipeline kann nicht gleichzeitig auch der Eigentümer des Gases sein. Somit kann Gazprom nicht sein Gas durch seine eigene Pipeline leiten. Das widerspricht den Wettbewerbsregeln der EU. Das bedeutet, dass Gazprom entweder eine Änderung des Föderalen Gesetzes über den Gasexport erwirken muss, das dem Konzern bislang eine Monopolstellung zuschreibt, oder gezwungen ist, die Funktion des Pipeline-Betreibers an ein anderes Unternehmen abzutreten.

    Das ist ein Gaskrieg von Seiten Russlands

    Gazprom hat versucht, diese Funktion an ein in der Schweiz registriertes Unternehmen abzugeben. Von den Deutschen hieß es daraufhin, so gehe es nicht. Das Unternehmen müsse in Deutschland registriert sein. Bislang ist Gazprom dieser Forderung der deutschen Regulierungsbehörde nicht nachgekommen. Wann es dazu kommt – dahinter steht ein riesiges Fragezeichen. In welche Richtung sich die Sache entwickelt, ist absolut unklar. Bislang sehen wir ganz einfach eine Erpressung, um Deutschland zur Absage an europäische Wettbewerbsregeln zu zwingen. Die Erwartung seitens Gazprom ist jedoch unrealistisch.

    Könnte Europa auf russisches Gas verzichten, wenn das Vorgehen von Gazprom die Grenzen des Tolerierbaren überschreitet?

    Ich würde nicht von der gesamten Europäischen Union sprechen. Nehmen wir Deutschland. Dort sind drei Terminals für Flüssigerdgas geplant, es gibt Pläne für den Bezug großer Mengen via Frankreich, Belgien und so weiter. Das heißt, Deutschland wird auf russisches Gas verzichten können, obwohl es heute einen großen Teil seines Bedarfs damit deckt. 

    Eine solidarische Entscheidung über ein Embargo für russisches Gas würde ich nicht erwarten

    Aber es gibt andere Länder, die nicht ohne russisches Gas auskommen. Das sind die osteuropäischen Länder: Ungarn, Bulgarien, die Slowakei. Sie werden eine erhebliche Zeit benötigen, um auf russisches Gas verzichten zu können. Eine solidarische Entscheidung über ein Embargo für russisches Gas würde ich daher nicht erwarten.
    Aber ich möchte eines anmerken: Sogar in den Darstellungen von Gazprom ist immer die Rede davon gewesen, dass russisches Erdgas in der Europäischen Union bis 2040 einen Anteil von 30 bis 33 Prozent behalten wird. Ja, selbst wenn der Gesamtgasverbrauch aufgrund der grünen Wende zurückgehen könnte, bleibt demnach der Anteil von Gazprom an der Gesamtmenge unverändert. Allerdings nur, wenn der Konzern sich nicht als politisches Druckmittel instrumentalisieren lässt, sondern als echtes Wirtschaftsunternehmen agiert.

    Gazprom verfügt über bemerkenswerte Wettbewerbsvorteile. Erstens ist eine gute Lieferinfrastruktur vorhanden. Zweitens stehen gigantische Mengen zur Verfügung, mit denen Verbraucher flexibel versorgt werden können. Drittens gibt es die Unterstützung der russischen Regierung in ganz unterschiedlicher Form. Viertens gibt es das Phänomen der sogenannten Schröderisierung, also korrumpierte Politiker aus Europa, die Gazprom unterstützen können.

    Gazprom kann einen beträchtlichen Anteil am Gasverbrauch in der EU halten. Jedoch nur, wenn es nicht wie ein Hooligan auftritt

    Kurz, Gazprom hat alle Chancen, über viele Jahre hinweg einen Anteil von einem Drittel am Gasverbrauch in der Europäischen Union zu halten. Jedoch unter der Bedingung, dass der Konzern nicht wie derzeit als Hooligan auftritt und Krieg gegen die Verbraucher führt.

    Man muss Gazprom als drei getrennte Unternehmen betrachten. Ein Gazprom, das Vorkommen erkundet, Gas fördert, Pipelines baut und innerhalb Russlands mit Gas handelt. Das ist ein abgegrenztes Geschäft, das Gazprom gut beherrscht. Dort sind massenhaft Menschen beschäftigt, bis zu einer halben Million, die einen riesigen und sehr leistungsfähigen Industriezweig aufgebaut haben. 

    Gazprom ist ein politisches Instrument, wenn das Unternehmen Entscheidungen entgegen wirtschaftliche Interessen trifft

    Das zweite Gazprom ist ein politisches Instrument, wenn das Unternehmen Entscheidungen entgegen wirtschaftliche Interessen trifft. Beispielsweise im Winter 2014/2015, als die Lieferungen nach Europa eingeschränkt wurden. Damals hatte Gazprom nur die halbe Menge Gas nach Europa geliefert, weil es der russischen Regierung nicht gefiel, dass europäische Händler Gas an die Ukrainer verkauft haben. Dadurch entgingen Gazprom mehr als vier Milliarden US-Dollar. Jetzt, wo Gazprom im Winter die Lieferungen kürzt, haben wir genau das gleiche Bild. Das zweite Gazprom schadet also dem ersten.
    Das dritte Gazprom ist schlicht ein Instrument, um staatliche Gelder in private Unternehmen zu transferieren. Dabei geht es um die Initiierung großer Investitionsvorhaben ohne wirtschaftliche Perspektiven: die Pipelines Sila Sibiri, Sila Sibiri 2, die Gasleitung Sachalin-Chabarowsk-Wladiwostok und ähnliche, völlig unrentable Megaprojekte. Das ist ein Gazprom des Eigennutzes. 

    Ein Monopol bedeutet immer schlechte Qualität, Niedertracht, Korruption

    Ich kann ein utopisches Szenario vorbringen. Zu dessen Verwirklichung bräuchte es allerdings die Hilfe von Außerirdischen. Doch sollte es in Russland einmal eine Regierung geben, die sich um die nationalen Interessen und nicht um die eigene Geldbörse sorgt, dann könnte in diesem Land ein richtiger Gasmarkt entstehen – heute gibt es keinen. Dafür ist eine Liberalisierung notwendig, damit alle Erdgas fördernden Unternehmen die gleichen Bedingungen erhalten, und zwar ohne Monopolismus. Ein Monopol bedeutet immer schlechte Qualität, Niedertracht, Korruption, umso mehr wenn das Ganze von Staatsbeamten geführt wird. 

    Zum Abschluss, worauf sollte man im kommenden Jahr mit Blick auf den Öl- und Gassektor in Russland besondere Aufmerksamkeit richten?

    Man sollte ein besonderes Augenmerk darauf richten, wie sich die politische Lage entwickelt. Denn diese drängt die wichtigsten Abnehmer von kohlenstoffbasierten Rohstoffen aus Russland verstärkt zu einem schnelleren Verzicht auf diese Lieferungen. Wenn sie sehen, dass die russische Regierung beabsichtigt, auch weiterhin militärische Spannungen an ihren Grenzen zu schüren, und offen von einer möglichen Aggression gegen andere Staaten spricht, dann ist zumindest Vorsicht geboten – oder man beendet die Geschäftsbeziehungen einfach komplett. Ich werde vor allem die Entwicklung der außenpolitischen Lage beobachten, und nicht die des Öl- und Gassektors an sich.

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    Erdöl – kulturhistorische Aspekte

    „Grund Ihres Aufenthalts?“
    „Ich bin auf ethnographischer Expedition.“
    „Verstehe. Suchen Sie Erdöl?“
    „Nicht ganz. Ich suche Folklore.“

    Diesen Dialog führen der Protagonist – ein Student, der für Feldstudien in den Kaukasus gekommen ist – und der Empfangschef eines Hotels in der berühmten sowjetischen Filmkomödie Kawkaskaja plenniza (Entführung im Kaukasus, 1966, Regie: Leonid Gaidai).
    Der Dialog ist schon für sich genommen komisch. Er zeigt jedoch als typischer Dialog der Kulturen auf ironische Art auch feste Koordinaten, die das Verhältnis zwischen den Metropolen und Peripherien des Landes im Zarenreich bestimmten: Das Zentrum ist dabei nicht nur der Mittelpunkt der politischen Macht, sondern bündelt vielmehr auch das Wissen über die Peripherien. Die Peripherien wiederum sehen sich selbst als Quelle von Bodenschätzen, die für das Zentrum interessant sind. 
    Allerdings ist in diesem Dialog nicht nur der koloniale Aspekt interessant, sondern auch ein gleichsam zufällig entstehender, Komik bergender Sinn-Rhythmus zwischen Erdöl und Folklore, zwischen natürlichen Ressourcen und der kulturellen Reflexion darüber.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Als ein für die Weltwirtschaft im 20. und 21. Jahrhundert grundlegender Rohstoff wurde Erdöl zu einem zentralen Gegenstand in Kunst und Kultur. Der westliche Diskurs über Erdöl ist in der Regel katastrophistisch: Erdöl wird zum Inbegriff menschlicher Habgier und führt perspektivisch zu einer ökologischen Katastrophe. Diese Tradition, die mit dem Roman Petroleum (1927) von Upton Sinclair begründet wurde, ist bis heute lebendig und hat nicht nur Schriftsteller und Filmemacher1 inspiriert, sondern auch Umweltaktivisten und Sozialwissenschaftler, die sich mit den Beziehungen zwischen transnationalen Konzernen und kleinen Völkern beschäftigen, die in den Ölfördergebieten leben.2

    Der nationale Diskurs über Erdöl

    Der nationale Diskurs über Erdöl in Russland zeigt ein ganz anderes Bild, und das nicht nur auf der offiziellen Ebene. Eine Besonderheit ist dabei, dass über das Phänomen Erdöl in Russland vor allem positiv reflektiert wird. Von den fettigen, dickflüssigen Erdölströmen sind bis auf wenige Ausnahmen auch jene fasziniert, die die Bedeutung des Öls für die russische Geschichte im letzten Jahrhundert kritisieren.

    Erdöl war die Grundlage der Wirtschaft in der UdSSR und ist es im heutigen Russland immer noch. Metaphorisch auch als „Blut der Erde“ oder „Schwarzes Gold“ bezeichnet, gilt es nicht nur als wichtigste Energiequelle, sondern auch als Motor der Geschichte insgesamt, als Ressource für die Umsetzung eines nationalen Programms und als Materie, mit der man das sich leerende Reservoir für eine nationale Idee wieder auffüllen kann. 

    So entstand seit Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre ein ganzer Korpus an literarischen Texten und Kinofilmen, die sich zwar in ihrer Poetik voneinander unterscheiden, jedoch alle die Problematik von Bodenschätzen und Naturressourcen mythologisieren (besonders erwähnenswert sind dabei unter anderem das Poem Erdöl [1998] von Alexej Parschtschikow; die Romane Der Perser [2009] von Alexander Ilitschewski; Der Tag des Opritschniks [2006], Der Zuckerkreml [2008] und Telluria [2013] von Vladimir Sorokin; Die mazedonische Kritik französischen Denkens [2003], Das Heilige Buch der Werwölfe [2004] und Das fünfte Imperium [2006] von Viktor Pelewin). Diese symbolischen Interventionen haben eine lange Vorgeschichte. 

    Aus der Welt der Geologie in die Welt der Geschichte

    Anfang der 1930er Jahre wurde das Problem der Energieressourcen zur Schlüsselfrage der sowjetischen Industrialisierung und der Fünfjahresplanung. Neben Steinkohle wurde Erdöl zu einer der wichtigsten Energiequellen. 1930 wurden in Moskau das Erdölinstitut und der Staatliche wissenschaftlich-technische Erdölverlag gegründet. Zwei Jahre später erschien ein Übersichtswerk des Institutsgründers Iwan Gubkin unter dem eher alchimistisch-metaphysischen und weniger naturwissenschaftlichen Titel Studium des Erdöls (russ. Utschenije o nefti). In diesem Buch wurden nicht nur geologische Fragen der Erkundung und Erschließung von Erdölvorkommen behandelt, sondern auch detailliert Gesetzmäßigkeiten der Entstehung von Erdöl beschrieben. Gubkin zufolge ist die Genealogie des Erdöls ein Teil der allgemeinen Evolutionsprozesse – der Übergang vom Organischen (Pflanzen und Mikroorganismen) zum Anorganischen (chemische Verbindungen und Erdöl), das dann zum Sozialen umgewandelt werden muss und somit zur energetischen Grundlage für den Aufbau des Sozialismus wird. 
    Erdöl stellt hier nicht nur eine der wichtigsten mineralischen Ressourcen dar, sondern auch einen symbolischen Shifter, der Prozesse der prähistorischen Naturentwicklung dialektisch in den Lauf der Geschichte  einfügt.3 Im Endeffekt wurde nun begonnen, über Erdöl in der Sprache des historischen Materialismus zu sprechen, und so gab es einen Sprung aus der Welt der Geologie in die Welt der Geschichte.

    Diente das Erdöl in der Stalin-Zeit als Ressource für die Industrialisierung und den „Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Land“, so wurden Erdöl und Erdgas ab Ende der 1950er Jahre zunehmend zu wirtschaftlichen Instrumenten für einen Kurs, mit dem ein geopolitisches sozialistisches Projekt umgesetzt werden sollte. Und eben dieses Erdöl, genauer gesagt der Erdölpreis, wird als einer der wesentlichen Faktoren für das Scheitern eben dieses Projekts betrachtet – und ist  damit verantwortlich für den politischen Zerfall der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks sowie für die Diskreditierung der gesamten sozialistischen Idee.4

    Der Erdölpreis wird als einer der wesentliche Faktoren für das Scheitern der Sowjetunion betrachtet / Bild © TomTheHand/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Der Erdölpreis wird als einer der wesentliche Faktoren für das Scheitern der Sowjetunion betrachtet / Bild © TomTheHand/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Mitte der 2000er Jahre verwandelte sich Erdöl dann in eine der Ressourcen für die nostalgische Erinnerung an den verlorenen sozialen Optimismus und die ehemalige politische Größe, die mit der sowjetischen Vergangenheit assoziiert werden.
    Aus dieser historischen Perspektive kann man die aktive Entwicklung des Öl- und Gassektors im heutigen Russland sowohl als Versuch der Vergeltung wie auch als Abhängigkeits-Symptom von der jüngsten Vergangenheit verstehen.

    Erdöl als nationale Idee

    Im heutigen Russland ist die Öl- und Gasgewinnung nicht nur eine der wenigen Einnahmequellen, sie entwickelt sich auch zu einer wichtigen Komponente der nationalen Idee. Vereinfacht gesagt werden dabei natürliche Reichtümer als Beweis für eine nationale Überlegenheit verstanden und so der Anspruch auf eine politische Machtposition begründet. 
    Wie in der Vergangenheit bilden natürliche Ressourcen die Grundlage für geopolitische Pläne zum Aufbau einer Supermacht. Aber im Unterschied zu den 1970er und 1980er Jahren kann das Russland der 2000er und 2010er Jahre der Welt keine dem Kommunismus vergleichbare universalistische Idee mehr anbieten. Das Land hat sein gesamtes politisches und ideelles Potenzial in Öl, Gas und die entsprechende Transportinfrastruktur investiert und darauf seine strategischen Hoffnungen gegründet. 
    War Erdöl in der sowjetischen Vergangenheit ein Mittel für die Umsetzung eines zukunftsgerichteten ideologischen Programms, ist es in der postsowjetischen Gegenwart zu einem eigentümlichen, das soziale Gewebe stärkenden Enzym geworden, zu einem universellen Schmiermittel, das das Funktionieren sozialer Interaktionen gewährleistet. 
    Das System der staatlichen Sozialleistungen funktioniert ausschließlich dank der sogenannten Öl- und Gasrente. So werden die Einnahmen aus dem Verkauf von Energieträgern, die vor allem die Elite reich machen, zumindest teilweise auf alle Bürger der Russischen Föderation verteilt. Aber je weiter eine konkrete Person von der Quelle dieser Rente entfernt ist, desto weniger erhält sie. 
    Der bekannte russische Historiker Alexander Etkind beschreibt die Situation folgendermaßen: Die politische Ökonomie eines Rohstoffstaates macht die Elite unabhängig von der Bevölkerung, in dem es ihr möglich ist, ihren eigenen Wohlstand und Stabilität nicht über Steuereinnahmen aufzubauen (die gegenseitige Verpflichtungen voraussetzen), sondern über die Kontrolle des Zugangs zu natürlichen Rohstoffen und über die Verteilung der Einnahmen aus deren Verkauf. Der besondere staatliche Verwaltungstyp, der auf Grundlage dieses politisch-ökonomischen Gebildes entstehen kann, macht aus der Bevölkerung ein redundantes Strukturelement, das lediglich die Effizienz der Öl- und Gaskonzerne beeinträchtigt: „Vom Standpunkt eines Staates aus gesehen, der vom Ölexport lebt, ist die Bevölkerung an sich überflüssig“.6

    Aber selbst ein solch rohstoffabhängiger Staat kann nicht ausschließlich nach dem Prinzip eines Öl- und Gaskonzerns aufgebaut sein. Er braucht eine nationale Idee. Dabei gewährleistet die Ideologie des Rohstoffstaates nicht nur die symbolische Verschleierung der realen Verhältnisse zwischen Elite und Bevölkerung. Diese Ideologie kaschiert nicht einfach die raue und armselige Realität der Pipelines, sondern sie formatiert das Bewusstsein derer, auf die sie ausgerichtet ist, und sogar derer, die sie entwickeln. 

    Nach dieser Logik ist die Welt wie ein Nullsummenspiel aufgebaut, das nicht auf gegenseitiger Vermehrung der Werte gründet, sondern auf dem Kampf um begrenzte Ressourcen. Ein Paradebeispiel für diese Art des Denkens ist eine der Botschaften Wladimir Putins an die Föderationsversammlung. Darin kündigt er den Beginn einer Epoche grundlegender Veränderungen an, die von einer verschärften Konkurrenz um Rohstoffe gekennzeichnet sein wird, „und ich kann Ihnen versichern … : nicht nur um Metalle, Öl und Gas, sondern vor allem um menschliche Ressourcen, um Intelligenz. Wer dabei besteht und wer Outsider bleibt und unweigerlich seine Selbständigkeit verliert, das wird nicht nur vom wirtschaftlichen Potenzial abhängen, sondern vor allem vom Willen einer Nation, von ihrer inneren Energie“.7

    Erdöl und Kulturpolitik

    Die Wechselbeziehung zwischen Erdöl, der russischen Wirtschaft und dem besonderen Problem der Vergangenheit war wiederholt Thema in Kunst und Kultur. In dem Roman Das Heilige Buch der Werwölfe von Viktor Pelewin gibt es folgende Schlüsselszene: Ein General des FSB, der über die mystischen Eigenschaften eines Werwolfs verfügt, wendet sich an ein eigenartiges Totemtier, an den Geist der russischen Erde, von dem das mit dem Erdöl verbundene Wohlergehen des Staates abhängt: „Bunte Kuh! Hörst Du, bunte Kuh? Ich weiß, man muss seine Scham komplett verloren haben, um nochmal bei Dir um Erdöl zu bitten. … Mir ist doch bekannt, wer Du bist. Du – das sind alle, die vor uns hier gelebt haben. Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, und vorher, vorher … Du bist die Seele all derer, die gestorben sind im Glauben an das Glück, das in der Zukunft kommen wird. Und nun ist sie da. Die Zukunft, in der die Menschen nicht für irgendetwas leben, sondern für sich selbst.“ 
    Dieser verzweifelte Ruf eines Vertreters aus dem Machtkern der russischen Elite enthält in kondensierter Form eine ganze Symbolkette: Erdöl – das ist die in einer Energieressource verkörperte Vergangenheit (Vielzahl der Generationen von Vorfahren), die sich die erfolgreichsten und am meisten begünstigten Nachfahren aus eigennützigen Interessen aneignen. 

    Der Verweis auf die metaphysische Vergangenheit ist hier offensichtlich kein Zufall. Unter dem Terminus „begrenzte Ressourcen“, zu denen der Zugang im Interesse der nationalen Sicherheit monopolisiert sein muss, subsumiert man im heutigen Russland  auch kulturelle und historische Werte.8 Und wenn im modernen staatlichen Diskurs versucht wird, die Nation im Rückbezug auf die Vergangenheit und durch eine konservative Hinwendung zur Tradition zu formen, dann wird Erdöl, das  wirtschaftlich sowieso eine prioritäre Rolle spielt, nicht nur zu einer materiellen, sondern auch zu einer symbolischen Ressource, die es sich anzueignen gilt. 

    Das für die moderne politische Elite in Russland charakteristische Interesse an Öl und Gas ist dem Interesse an der historischen und kulturellen Vergangenheit durchaus ähnlich. Es ist die Vorstellung von einem irgendwo in der Tiefe lagernden Reichtum, der zu Tage gefördert und kapitalisiert werden muss. 
    Im Falle der modernen russischen Erinnerungspolitik und einer national-identitären Kulturpolitik haben wir es mit einer Vergangenheit zu tun, die den eigentlichen historischen Sinn verliert und zur Ressource wird, die man ausbeutet, um Patriotismus zu erzeugen (wie es beispielsweise mit der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs geschieht). Im Falle des Erdöls wiederum haben wir es mit der prähistorischen Vergangenheit zu tun – mit organischen Lebensformen, die im Laufe hunderter Millionen Jahre zu Kohlenwasserstoffen zerfallen sind und in sich ein gigantisches Energiepotenzial binden. Somit erweist sich die auf Erdölgewinnung ausgerichtete Rohstoffwirtschaft als eine Wirtschaft, die auf die Ausbeutung der fernen Vergangenheit abzielt und deren Symbol und Substanz eine zähe, klebrige, stark riechende Flüssigkeit ist. In diesem Sinne besteht der verhängnisvolle „Ressourcenfluch“9 nicht allein darin, dass er die Modernisierung der Wirtschaft und die Demokratisierung des politischen Lebens blockiert. Er blockiert vielmehr auch den Beginn der Zukunft, da die Gegenwart zur Verwertung der Vergangenheit herangezogen wird.


    1. Upton Sinclairs Roman Petroleum wurde 2007 von Paul Thomas Anderson unter dem Titel There Will Be Blood verfilmt. Der Film erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, darunter zwei Oscars in den Kategorien Bester Hauptdarsteller und Beste Kamera. ↩︎
    2. Als wichtigste Arbeiten, die entsprechende Ansätze zusammenfassen, sind zu nennen: Barrett, Ross/Worden, Daniel (Hrsg., 2014): Oil Culture, Minneapolis; Wilson, Sheena/Carlson, Adam/Szeman, Imre (Hrsg., 2017): Petrocultures: Oil, Politics, Culture, London, Chicago ↩︎
    3. „In diesem Buch habe ich versucht, den Prozess der Entstehung von Erdöl und den Prozess der Bildung von Erdöllagerstätten von einem dialektischen Standpunkt zu betrachten, und bin dabei von dem Gedanken ausgegangen, dass es sich bei diesem Prozess um eine der Strömungen im gesamten großen dialektischen Prozess der Entwicklung unserer Erde handelt.“ Gubkin I.M. (1932): Studium des Erdöls, Moskau-Leningrad, S. 6 ↩︎
    4. Der Ölpreis war seit seinem Höchststand 1980 bis 1986 um mehr als das Dreifache gefallen (Mouawad, Jad (2008): Oil Prices Pass Record Set in ’80s, but Then Recede, in: The New York Times, 8 March 2008) ↩︎
    5. Diese Art nostalgischer Stimmung wird in der Fernsehserie Das große Öl (russ. Bolschaja neft) dargestellt, die unter der Regie von D. Tscherkassow 2010 für den Sender Erster Kanal gedreht wurde. ↩︎
    6. Etkind, Alexander (2008): «Petromaččo, ili Mechanizmy demodernizacii v resursnom gosudarstve», in: Neprikosnowennyj sapas: Debaty o politike i kulture, 2008, Nr 2 ↩︎
    7. Botschaft des Präsidenten an die Föderationsversammlung am 12. Dezember 2012 ↩︎
    8. Deutlichstes Beispiel dafür ist die Gründung der Kommission zur Verhinderung von Versuchen der Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands, die zwar nur von 2009 bis 2012 existierte, aber deren Funktionen später zwischen den Ministerien für Kultur und Bildung, den Historischen und Militärhistorischen Gesellschaften sowie zahlreichen weiteren staatlichen Institutionen von der Akademie der Wissenschaften bis zum Fernsehen aufgeteilt wurden. ↩︎
    9. Resource curse – ein Begriff in der Wirtschaftstheorie, nach dem in Ländern mit einem großen Reichtum an natürlichen Ressourcen sowohl die Wirtschaft als auch die demokratischen politischen Institutionen weniger entwickelt sind. ↩︎

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    Moskowskoje Delo – Prozesse nach Protesten

    Neun Teilnehmer der Massenproteste Ende Juli sind inzwischen in Haft. Anfang August entschieden die Gerichte, dass sie bis 27. September im Gefängnis bleiben müssen, vorgeworfen werden ihnen „Teilnahme an Massenunruhen“ (nach Artikel 212) und „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ (nach Artikel 318). Gegen einen zehnten Protestteilnehmer, Sergej Fomin, wurde ebenfalls Anklage erhoben. Vier Menschen, die ihre Solidarität für den verhafteten Studenten Jegor Shukow in Einzel-Pikets bekundet hatten, wurden festgenommen.


    Kommt nun der Moskowskoje delo (Moskauer-Prozess) – analog zum Bolotnoje delo (Bolotnaja-Prozess) nach 2011–13? Die Novaya Gazeta rekonstruiert das Vorgehen der Behörden und stellt fünf der inhaftierten Protestteilnehmer vor.

    Erstmals seit dem 6. Mai 2012 hat das Ermittlungskomitee angesichts der politischen Protest in Moskau eine Strafsache wegen Massenunruhen eingeleitet. Die Demonstranten hatten gefordert, unabhängige Kandidaten zu den Wahlen zum Stadtparlament zuzulassen.

    Einleitung des Verfahrens

    Am 30. Juli wurde nun das Verfahren eingeleitet. Also just an dem Tag, an dem Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin die Proteste vom 27. Juli im TV-Sender TWZ verurteilt hatte, indem er sie als „von vornherein geplante und gründlich vorbereitete Massenunruhen“ bezeichnete. Im Falle der Bolotnaja-Proteste wurde das Strafverfahren unmittelbar am 6. Mai eröffnet, der Ermittler war damals am Ort des Geschehens live dabei. Die jetzige dreitägige Verzögerung könnte auf eine lange politische Entscheidungsfindung hinweisen.

    Just eine Stunde nach Sobjanins TV-Auftritt gaben die Behörden dann auch die Einleitung des Strafverfahrens bekannt. Dabei wiederholte die amtliche Verlautbarung eins zu eins die Worte des Bürgermeisters: Den Ermittlungen zufolge haben die Protestteilnehmer „Gewalt gegen die staatlichen Sicherheitskräfte angewandt, Absperrungen durchbrochen und den Verkehr auf dem Gartenring (Sadowoje Kolzo) im Stadtzentrum von Moskau lahmgelegt“. Eine gewisse  „Gruppierung“ habe kurz vor den Protesten die Bürger im Internet dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen.

    In der Nacht zum 31. Juli gab es erste Hausdurchsuchungen bei den Protestteilnehmern. Durchgeführt wurden sie von Mitarbeitern des Dienstes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung beim FSB sowie dem Zentrum für Extremismusbekämpfung beim Innenministerium.

    Der Fall wurde der Hauptstelle des Ermittlungskomitees in Moskau übergeben. Das Untersuchungsteam besteht aus sage und schreibe 84 (!) Ermittlern und wird angeführt von Dimitri Jeremin, einem Sonderermittler für besonders wichtige Angelegenheiten. Er war es auch, der die beiden Tatbestände – Massenunruhen (Art. 212) und Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter (Art. 318) – in einem großen Prozess zusammenführte.

    Kritik an Wahl-Prozedere nur „ein Vorwand“

    Trotz der fast 100 Ermittler ist die Beweislage, den Akten zufolge, ziemlich dünn. Noch dünner als bei den Bolotnaja-Prozessen vor sieben Jahren. 
    So geht aus den Unterlagen hervor, dass „nicht identifizierte Personen“ die Nicht-Zulassung von unabhängigen Kandidaten zur Wahl  „als Vorwand“ benutzt hätten, um „Massenunruhen zu organisieren“. Dabei sollen einige der Demonstrierenden vom 27. Juli „mit ihrem Beispiel“ andere Protestteilnehmer zu „Massenunruhen“ angestiftet haben.

    Am 27. Juli hätten „nicht identifizierte Personen“ die Zusammenkunft von „mindestens 3500 Protestteilnehmern“ vor dem Moskauer Rathaus „organisiert“, diese seien dann ihren „gesetzeswidrigen Aufrufen gefolgt“ und hätten unter Anwendung körperlicher Gewalt „die Absperrungen durchbrochen, sich gesetzeswidrig verhalten und den Straßenverkehr auf dem Gartenring lahmgelegt, indem sie auf die Fahrbahn gegangen“ seien.
    Aktuell hat das Ermittlungskomitee gegen zehn Verdächtige Anklage erhoben [9 sind bereits in Untersuchungshaft, gegen einen weiteren Protestteilnehmer liegt ein Haftbefehl vor – dek]. Genau wie bei den Bolotnaja-Protesten wurden sie willkürlich herausgepickt. Keiner von ihnen legte ein Geständnis ab.

    Fünf der Inhaftierten, gegen die am 2. August Haftbefehl erlassen wurde, stellt die Novaya Gazeta vor:  

    Samariddin Radshabow

    Samariddin Radshabow hatte vor Gericht stets ein Lächeln im Gesicht / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Samariddin Radshabow hatte vor Gericht stets ein Lächeln im Gesicht / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 21-jährige usbekisch-stämmige russische Staatsbürger Samariddin Radshabow kam für zwei Monate in Untersuchungshaft. Der junge Mann mit abgebrochenem Realschulabschluss hatte in seinem Gerichtskäfig stets ein Lächeln im Gesicht.

    Die Richterin Katerina Kiritschenko hatte sich dadurch so vor den Kopf gestoßen gefühlt, dass  sie  ihn in strengem Ton zu etwas mehr Ernsthaftigkeit ermahnte: „Hier gibt es nichts zu lachen!“

    Eine Vertreterin des Ermittlungskomitees erklärte, Radshabow habe am 27. Juli eine Plastikflasche in Richtung der Polizeibeamten geworfen (die – das nur mal kurz am Rande – in voller Montur unterwegs waren), einen von ihnen am Hals getroffen und ihm damit „körperliche Schmerzen“ zugefügt. Um die Untersuchungshaft zu rechtfertigen, sagte sie unter anderem, der Verdächtige habe sich „vom Tatort entfernt“. Radshabow war überrascht: „Entfernt“ habe er sich doch höchstens aufs Polizeirevier, wohin man ihn direkt vom Trubnaja Platz (Trubnaja Ploschtschad) aus gebracht habe. Ein Schuldgeständnis legte der junge Mann, der nach eigener Aussage als Vorarbeiter arbeitet, nicht ab, obwohl er von einem Pflichtverteidiger vertreten wurde.

    Das Gericht hat nun beschlossen, dass der freundlich lächelnde usbekische junge Mann die nächsten zwei Monate seines Lebens in Untersuchungshaft verbringen wird.

    Iwan Podkopajew

    Iwan Podkopajew bleibt bis zum 27. September in Untersuchungshaft / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Iwan Podkopajew bleibt bis zum 27. September in Untersuchungshaft / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 25-jährige Iwan Podkopajew wurde ebenfalls am Trubnaja Platz festgenommen. In seinem Rucksack fanden die Ordnungshüter unter anderem einen Hammer und ein Teppichmesser. Vor Gericht wies Podkopajew die Anschuldigungen zurück und erklärte unmissverständlich, dass er die außerdem gefundene Gasmaske für seine tägliche Arbeit brauche,  er sei von Beruf Techniker, das Pfefferspray diene zum Schutz vor gefährlichen Hunden.

    Der Sitzungsleiter Sergej Artjomow hielt sich an unnötige Formalitäten und bat den Ermittler die Beweise für die Schuld des jungen Mannes aufzuzählen. Dazu war der Vertreter des Ermittlungskomitees nicht in der Lage, er zögerte und entschied sich dann einfach, die üblichen allgemeinen Formulierungen aus den Prozessakten vorzulesen. Den Richter stellte diese Antwort zufrieden – Podkopajew muss bis zum 27. September in Untersuchungshaft.

    Kirill Shukow

    Kirill Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der russischen Nationalgarde, er wies alle Anschuldigungen zurück / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Kirill Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der russischen Nationalgarde, er wies alle Anschuldigungen zurück / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Der 28-jährige Kirill Shukow wird sitzen, weil er in der Nähe des Twerskaja Platzes den Helm eines Angehörigen der Nationalgarde aufgehoben und mitgenommen hat. Shukows Schuld wird nach Angaben des Ermittlers durch die zusammengetragenen Materialien und die Protokolle der Wohnungsdurchsuchung bei ihm bekräftigt. „Der junge Mann hat keine regelmäßigen Einkünfte und ist vom Tatort geflüchtet“, erklärte der Ermittler vor Gericht. Richterin Alexandra Awdotjina war der gleichen Ansicht.

    Shukow war in der Vergangenheit selbst Angehöriger der Nationalgarde. Er wies die Anschuldigung zurück und trat nach der Verhaftung als Zeichen des Protests in den Hungerstreik.

    Alexej Minjailo

    Alexej Minjailo wurde auf dem Weg zum Trubnaja Platz festgenommen / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Alexej Minjailo wurde auf dem Weg zum Trubnaja Platz festgenommen / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Die Verhaftung von Alexej Minjailo, eines freiwilligen Mitarbeiters im Stab von Ljubow Sobol, verlief anders als die der anderen. Minjailo hatte bereits Unterschriftensammler für Sobols Kandidatur geschult und war gemeinsam mit ihr 20 Tage im Hungerstreik. Seinen Worten zufolge war er am Tag der Protestaktion im Moskauer Chamowniki Gericht. Als er am Abend versuchte zum Trubnaja Platz zu gelangen, wurde er unterwegs festgenommen. Somit hat er an der Protestaktion gar nicht teilgenommen, dennoch wird er der „Teilnahme an Massenunruhen“ beschuldigt. In dieser Verhandlung traten Freunde und der Vater des Beschuldigten als Zeugen der Verteidigung auf.

    Nach ihren Aussagen ist Minjailo ein ehrlicher und gläubiger Mensch und ein Patriot, der nicht vorhat unterzutauchen. Die Verteidigung erklärte sich bereit, eine Kaution von einer Million Rubel [circa 13.700 Euro] zu zahlen. Minjailo selbst gab an, dass keine Beweise für seine Schuld vorlägen, weder Fotos noch Aussagen, wonach er irgendetwas Ungesetzliches während der Protestaktion getan hätte – zumal er es noch nicht einmal geschafft habe, daran teilzunehmen. Für Minjailo bürgten Ekaterina Schulmann, Mitglied im Menschenrechtsrat des Präsidenten, und die Fernsehmoderatorin Tatjana Lasarewa. Ohne Erfolg – Minjailo wurde ebenfalls hinter Gitter geschickt.

    Jegor Shukow

    Für Jegor Shukow bürgte vergeblich die Vizedirektorin der renommierten Higher School of Economics / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Für Jegor Shukow bürgte vergeblich die Vizedirektorin der renommierten Higher School of Economics / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Jegor Shukow, Student an der Higher School of Economics in Moskau und Videoblogger, wurde einen Tag nach seiner Festnahme bei der Protestaktion 21 Jahre alt. Zu seiner Unterstützung erschienen im Gericht Freunde und Studienkollegen. Shukows Anwalt Daniil Berman bat darum, seinem Mandanten eine Flasche Wasser zu geben, da dieser „seit zwei Stunden nichts getrunken und seit dem gestrigen Tag nicht geschlafen hat“.

    Richterin Alexandra Awdotjina lehnte die Bitte jedoch ab und erklärte, die Übergabe einer Flasche mit Wasser sei nicht gestattet.

    „Ist das hier die Gestapo?!“, empörte sich die Mutter Shukows.

    Shukows Schuld wird nach Angaben der Ermittler durch die zusammengetragenen Materialien und die Untersuchungssergebnisse bekräftigt. „Shukow könnte Beweise vernichten und Informationen aus den Ermittlungen an andere Beteiligte weitergeben“, so der Vertreter des Komitees.

    Der Beschuldigte selbst wies die Anschuldigung zurück und bat darum, ihn nicht in Haft zu nehmen. Zu einer Bürgschaft für Shukow erklärte sich die Vizerektorin der Higher School of Economics, Valeria Kassamara, bereit, deren Registrierung für die Wahl zur Moskauer Stadtduma erfolgreich war. Doch auch diese Bürgschaft half nichts – der Student Shukow wurde von der Gesellschaft und der Universität isoliert.

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  • „Jeder Fall hat seine eigene Logik“

    „Jeder Fall hat seine eigene Logik“

    Im Juni gab die Higher School of Economics an, den Fachbereich für Politikwissenschaft mit einem anderen Fachbereich zusammenzulegen – das Schicksal zahlreicher Lehrender an der Wyschka, wie die Hochschule genannt wird, ist damit offen. Gleichzeitig wurde der renommierte Politologe Waleri Solowei von der staatlichen MGIMO entlassen, er selbst sieht politische Motive dahinter.

    Unabhängige Hochschulen, wie die Moscow School of Social and Economical Sciences oder auch die Europäische Universität Sankt Petersburg, stoßen immer wieder auf bürokratische Hürden. An der Europäischen Universität etwa wurde rund eineinhalb Jahre lang nur noch geforscht, ihre Lehrlizenz hat die Hochschule erst nach zähem Ringen im August 2018 zurückerhalten.

    Wie frei ist die Wissenschaft in Russland? Wie stark nimmt der Staat Einfluss, welche Rolle hat dabei der FSB? Und trifft es nur „unangepasste“ Wissenschaftler? 

    Znak hat mit dem Politikwissenschaftler Alexander Kynew gesprochen – der als Dozent an der Wyschka noch bis 1. September angestellt ist. Wie es im neuen Semester für ihn weitergeht, ist nach den jüngsten Entwicklungen an der Hochschule derzeit noch ungewiss.

    Kürzlich wurde an der Higher School of Economics der Fachbereich für Politikwissenschaft aufgelöst. Dann informierte Professor Waleri Solowei über seine Kündigung an der MGIMO. Und bereits im Februar wurde ein Lehrbuch für Ökonomie von Igor Lipsiz aufgrund mangelnden Patriotismus nicht für den Schulunterricht empfohlen. 

    Erkennen Sie in diesen Ereignissen eine gewisse Gesetzmäßigkeit?

    Alle diese Fälle sind nicht Teil eines einheitlichen Plans, aber eine Gesetzmäßigkeit gibt es. Die Staatsmacht reagiert nervös auf abweichende Meinungen, und zwar proportional zu den sinkenden Umfragewerten. Unter diesen Bedingungen wird jeder abweichende Standpunkt als Bedrohung angesehen, insbesondere an den Hochschulen, da dort die bei Protestaktionen aktive Jugend ausgebildet wird. 

    Eigentlich ist das nichts Neues für Russland. Gegen Lehrer und Professoren ist man schon im 19. Jahrhundert vorgegangen. Vielleicht versucht die Staatsmacht mit solchen Säuberungen, die Jugend vor dem „zersetzenden“ Einfluss allzu freigeistiger Lehrer zu bewahren.

    Der Spielraum, einen unabhängigen Standpunkt einzunehmen, ist kleiner geworden

    In den letzten Jahren ist der Spielraum für Hochschullehrer, einen unabhängigen Standpunkt einzunehmen, zweifellos kleiner geworden. Entlassungen unbequemer Hochschullehrer gibt es ständig im ganzen Land. Und es wird Druck auf ganze Institute ausgeübt. Da gibt es beispielsweise die Geschichte mit der Europäischen Universität [Sankt Petersburg], den Fall der Moscow School of Social and Economic Sciences (Schaninka) und so weiter.

    Begonnen hat das alles an der Peripherie, aber mittlerweile hat diese Welle auch Moskau erreicht. Früher oder später musste es auch die Spitzenhochschulen in Moskau treffen. Aber natürlich hat jeder Fall seine eigene innere Logik, seine Vorgeschichte, seine Besonderheiten.

    Politikwissenschaftler Alexander Kynew / Foto © privat
    Politikwissenschaftler Alexander Kynew / Foto © privat

    Welche Vorgeschichte und welche Besonderheiten gibt es in Ihrem Fall?

    Ich bin sicher, dass es in meinem Fall keine Anordnung irgendeines Beamten gab. Mein Fall ist eine interne Geschichte, in der unter Ausnutzung des allgemeinen Trends versucht wird, Platz freizuräumen für „nützliche“ Freunde und einen wichtigen Bereich der Hochschule unter Kontrolle zu bringen. Das ist wie mit Plünderungen – Raub geht am besten im Krieg oder bei Naturkatastrophen. 

    Mein Fall ist eine interne Geschichte, in der unter Ausnutzung des allgemeinen Trends versucht wird, Platz freizuräumen für „nützliche“ Freunde

    Die Version, es hätte Anrufe vom FSB gegeben, hält keiner Kritik stand, das ist ohnehin bereits gewohnte, gängige Praxis. Dem einen passt vielleicht ein kommentierter Artikel nicht, wieder einem anderen ein kritischer öffentlicher Vortrag auf einer angesehenen Konferenz im Ausland – Erfahrungen mit Anrufen und Beschwerden verschiedener, besonders wichtiger Personen gibt es seit Jahren zuhauf. Die haben jedes Jahr angerufen, rufen an und werden wohl weiter anrufen. Aber deswegen wird man nicht entlassen. Dahinter will sich einfach nur jemand verstecken. 
    Die wirklichen Gründe erkennt man gut an den Versprechern in den Befragungen wie auch daran, wer die Stelle stattdessen übernimmt und wer versucht, die Kontrolle über die Fakultät zu gewinnen.

    Ich bin davon überzeugt und weiß aus eigener Erfahrung, dass die Politologie an der Wyschka ungeachtet aller Verluste insgesamt die beste (oder eine der besten) im Land bleiben wird. Viele hervorragende Fachleute werden weiterhin dort arbeiten. Und in diesem Sinne hat der öffentliche Skandal im Grunde einige von ihnen gerettet: In dieser Situation noch weiter zu gehen, haben die Initiatoren der Attacke nicht riskiert. Und ich hoffe, sie werden es auch nicht riskieren. Und ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass auch die Sache mit meinen Kursen noch geklärt werden kann.

    Handelt es sich dabei Ihrer Ansicht nach um Repressionen gegen die Geistes- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen oder nur gegen einzelne Lehrkräfte, die sich einen unabhängigen Standpunkt erlauben?

    Einerseits gibt es offensichtliche Versuche des Staates, im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften einzugreifen. Wir wissen, dass die Geheimdienste an den Hochschulen ihre Leute haben, die sich in die Lehre einmischen und versuchen Druck auszuüben. Das ist normal geworden.

    Wir wissen, dass die Geheimdienste an den Hochschulen ihre Leute haben. Das ist normal geworden

    Andererseits wird innerhalb der Hochschulen ständig intrigiert, und die Unzufriedenheit der Staatsmacht mit Lehrkräften kann als Argument dienen, um unliebsame Personen loszuwerden.

    Bei uns wird die Politologie zwar als Dienerin der Staatsmacht angesehen und nicht als Wissenschaft, aber dennoch gibt es in den staatlichen Behörden genügend Beamte, die verstehen, dass sie Fachleute aus dem Bereich der Sozialwissenschaften benötigen. Denn Russland ist ein sehr kompliziertes Land, und heute umso mehr, da es eine Vielzahl an Widersprüchen und Konflikten gibt. 
    Gleichzeitig geht dieses Verständnis jedoch einher mit einer instinktiven Angst vor allen, die einen anderen Standpunkt vertreten. Daher weiß man irgendwie, dass Geistes- und Sozialwissenschaften notwendig sind, allerdings nur im Sinne der eigenen Interessen.

    Wenn der Faktor Loyalität an erster Stelle steht, wird jede Wissenschaft zunichte gemacht.

    Ihr Kollege Waleri Solowei gilt als Oppositioneller, wenn auch nicht als aktiver. Sie haben nicht zufällig vor, sich der Opposition anzuschließen?

    Ich war und bleibe Experte. Ich habe nicht vor, in die öffentliche Politik zu gehen. Ich bin mit vielen Oppositionellen bekannt und befreundet, die übrigens verschiedenen Parteien angehören und verschiedene Ansichten haben. Breitgefächerte Kontakte sind notwendig, um Professionalität zu bewahren.

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