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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Völlig losgelöst von der Wirtschaft

    Völlig losgelöst von der Wirtschaft

    Die Statistikbehörde Rosstat hat im Februar die BIP-Zahlen für 2018 bekanntgegeben: Demnach lag das Wirtschaftswachstum 2018 bei satten 2,3 Prozent. Ein Rekord, das höchste Wachstum seit 2012. 
    Schnell wurden Zweifel laut: Schließlich war Rosstat zuvor von niedrigeren Werten ausgegangen. Wirtschaftsexperten halten ein Wachstum von 1 bis 1,8 Prozent für realistischer. 
    Wie echt sind die offiziellen Zahlen? Andrej Sinizyn kommentiert das russische Wirtschaftswunder auf Republic.

    Das Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent ist der Rekord der vergangenen sechs Jahre. Es spricht für einen ernsten Erfolg der digitalen Wirtschaft. Damit meine ich nicht die IT-Wirtschaft, die die russische Autarkie vorantreiben soll, sondern die virtuellen Zahlen, die als einzige bedeutsam für die russische Politik sind und sich immer weiter von der realen Wirtschaft entfernen.

    Wirtschaftswunder

    Nachdem Rosstat die Zahlen aus unerfindlichen Gründen neu berechnet hatte, betrug das Wirtschaftswachstum plötzlich 2,3 Prozent. Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung war in sehr optimistischen Prognosen von 2 Prozent ausgegangen, Experten hatten von 1 bis 1,8 Prozent gesprochen.

    Natürlich sehen viele hinter der Revision die Machenschaften des Ministeriums, dem die Statistikbehörde Rosstat seit geraumer Zeit untersteht. Just am Tag vor der Ankündigung des Superwachstums wurde der Chef der Behörde ausgetauscht. In einem Klima, wo das Vertrauen in den Staat völlig fehlt, und die Rechnungslegung undurchsichtig ist, gedeihen Verschwörungstheorien – und mit derartigen Aktionen nährt Rosstat das Misstrauen.

    Gewiss muss das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung das Wirtschaftswachstum vor dem Präsidenten und nicht vor dem Volk verantworten. Dem Auftrag des Präsidenten, ein bestimmtes Wachstum zu erreichen (wir müssen ein jährliches BIP-Wachstum von 3,0 bis 3,5 Prozent sicherstellen), muss entsprochen werden. Das heißt, zum ordentlichen Termin müssen Zahlen genannt werden, die zumindest eine positive Dynamik zeigen.

    Der Alltag bleibt der gleiche

    Die Zahlen, die der Präsident in seinen Ansprachen und Begegnungen mit dem Volk und mit Journalisten nennt, entfernen sich immer weiter von der Realität. Den Bürgern wird bei diesen Zahlen weder heiß noch kalt, drückt sich ihre wirtschaftliche Lage doch objektiv in sinkenden Einkünften aus. Welchen Unterschied macht es also, was der Präsident sagt? Spricht er von einem Wirtschaftswachstum von zehn Prozent, ändert sich im Alltag letztlich nichts. Die Bürger tippen sich an die Stirn und sind wieder bei ihren Alltagssorgen.

    Das Auseinanderdriften der offiziellen und realen Wirtschaft hat tiefere Gründe. Nach Meinung einer Mehrheit von Experten ist das Wirtschaftswachstum im Jahr 2018 im Wesentlichen auf die Exporte zurückzuführen. Die steigenden Erdölpreise und die Abwertung des Rubel haben zu diesem Erfolg beigetragen. 
    Im Gegensatz zu den 2000er Jahren sickern die Exportüberschüsse heute jedoch praktisch nicht in die übrige Wirtschaft durch, wie Kirill Tremassow, Direktor für Analysen bei Locko-Invest, feststellt. Die Haushaltsdisziplin ist viel strenger geworden, die Regierung macht in Erwartung lang andauernder Sanktionen große Sparanstrengungen. Und die Exporteure ihrerseits investieren viel weniger im Inland und schütten rekordhohe Dividenden aus.

    Abhängig von der Elite

    In ihrem  Buch Warum Nationen scheitern unterscheiden die Ökonomen Daron Acemoğlu und James Robinson zwischen extraktiven und inklusiven Staaten. In ersteren existieren die militärische Elite und die arbeitende Bevölkerung separat, jedoch voneinander abhängig. Die Elite beschützt das Volk und nimmt dafür Geld von ihm. In den letzteren, den inklusiven Staaten, gibt es keine ständischen Grenzen, die Elite formiert sich nach dem meritokratischen Prinzip, was das Wirtschaftswachstum günstig beeinflusst. 
    Der Historiker Alexander Etkind verwendet einen dritten Begriff und spricht bei Staaten mit großer Rohstoffabhängigkeit von superextraktiven Staaten. Dort beutet die Elite die Ressourcen praktisch ohne Beteiligung des Volkes aus und nimmt die politische Rente ein. Bei einem derartigen Modell wird die Bevölkerung überflüssig und ist nicht von ihren eigenen Anstrengungen abhängig, sondern von der Wohltätigkeit der Eliten.

    Das schrieb Etkind im Jahr 2013 und seine Theorie ließ sich schon damals auf die russische Situation anwenden. Heute beobachten wir eine Weiterentwicklung der Lage, sie wird augenfälliger: Für Wohltätigkeit hat die Elite kein Geld mehr und die Bevölkerung wird immer nutzloser. 
    Übrigens, so schreibt die Zeitung Kommersant, hat auch der Anstieg der Verbraucherkredite einen nicht unbedeutenden Anteil am Wirtschaftswachstum, obwohl die Nachfrage selbst stagniert. Das Wachstum des privaten Konsums hat sich verlangsamt, von 3 Prozent im Jahr 2017 auf 1,9 Prozent im Jahr 2018. Und der Anteil der privaten Konsumausgaben am BIP ist binnen eines Jahres um drei Prozentpunkte gesunken. Die Bürger geraten schleichend in Schuldknechtschaft, was sich positiv in der BIP-Statistik niederschlägt, jedoch die Finanzstabilität bedroht, so die Meinung der Zentralbank.

    Der sonderbar anmutende Optimismus mag mit Folgendem zu tun haben: Dass Rosstat die Daten unerwartet nachgerechnet hat, lässt sich neben Verschwörungstheorien auch mit der äußerst schlechten Qualität der Statistik erklären. Es ist längst bekannt, dass föderale und regionale Statistiken nicht übereinstimmen, dass das Zählsystem zuweilen sehr seltsame Formen annimmt und der Staat in letzter Zeit vermehrt die „richtige“ Statistik anfordert. 

    Das alles führt zu der Prämisse, dass die Modelle von Rosstat gewissermaßen eine andere Wirtschaft abbilden, die mit der realen nichts zu tun hat. Davon spricht Simon Kordonski, Professor an der Higher School of Economics und wissenschaftlicher Leiter der Chamowniki-Stiftung, oft in seinen Vorträgen: Wir wissen gar nicht, was in Russland vor sich geht, wie die Menschen leben, was sie arbeiten und wie viele es eigentlich sind.

    Könnte es sein, dass wir dermaßen wenig über Russland wissen, dass es überlebt und immer weiter überleben wird, ungeachtet der entschlossenen Versuche von oben, es unter die Erde zu bringen?

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  • Warum alles bleibt, wie es ist

    Warum alles bleibt, wie es ist

    Russlands Wirtschaft setzt auf Gas – und sonst? Kritiker mahnen schon lange Reformen an. Der Ökonom und Publizist Wladislaw Inosemzew begründet auf Sobesednik, warum es in absehbarer Zeit keine geben wird.

    Liberale Reformen sind in Russland nicht möglich. Denn der Anteil derjenigen Menschen, die bewusst gegen die Einführung solcher Reformen sind, ist zu groß. Wobei sich sowohl deren Anzahl als auch ihre Stellung in den 2000er und in den Folgejahren stark verändert hat.

    Werfen wir zuerst einen Blick auf die Beamten. Ihre Zahl hat sich von 1999 bis 2017 beinahe verdoppelt, und zwar von 780.000 auf 1,37 Millionen. Der zunehmende Wohlstand in der Bevölkerung sowie die verbesserten Haushaltsmöglichkeiten – dank gestiegener Weltmarktpreise für russische Rohstoffprodukte – ließen den Lebensstandard dieser Bevölkerungsgruppe sprunghaft ansteigen.
    Rechnet man noch die Freunde und Verwandten dieser Glücklichen hinzu, so kann mit Sicherheit gesagt werden, dass mindestens drei Millionen Menschen von der heutigen Ordnung profitieren und keine Veränderungen wünschen.

    Millionen Menschen wünschen keine Veränderungen

    Neben der Masse von Beamten gibt es noch die Silowiki. Nicht nur, dass diese Gruppe der russischen Bevölkerung zum größten Teil nicht zur wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklung des Landes beiträgt, sie stört diese sogar. Um ihre Existenz aufrecht zu erhalten, führen sie immer neue Beschränkungen ein. Deren Überwachung sichert ihren Lohn, die Sanktionierungen bei Nichteinhaltung garantieren korrupten Gewinn
    Die Zahl derer, die in diesen Strukturen beschäftigt sind, übersteigt die in Industrieländern bei weitem: Der FBI und das CIA verfügen nur über ein Drittel der Beschäftigten wie der FSB. Auch der Zustrom an Leuten ist in diesem Bereich so groß wie nie. In der Folge wollen nicht weniger als vier Millionen Menschen, die dieser Gruppe angehören (inklusive Militär), und ebenso viele Familienmitglieder überhaupt keine Veränderungen.

    Diese Zahlen mögen vielleicht nicht ganz genau sein, aber in der letzten Zeit gibt es einen sehr interessanten neuen indirekten Indikator: Gemäß eines neuen Programms sind eigene  russische Betriebssysteme für Smartphones in Zukunft obligatorisch für 7,9 Millionen Mitarbeitende staatlicher Organe, staatlich finanzierter Einrichtungen und Unternehmen mit staatlicher Beteiligung. 
    Anders ausgedrückt: Geht man in Russland von 72,4 Millionen Beschäftigten aus, so beträgt der Anteil an „verantwortungsvollen Staatsdienern“ mehr als elf Prozent. Rechnet man noch die Familienmitglieder dieser Personengruppe hinzu, so kommt man auf 17 bis 18 Prozent der aktiven Bevölkerung. 
    Zum Vergleich: In den USA beträgt die Zahl der Angestellten aller staatlichen Einrichtungen, inklusive Personal des nationalen Sicherheitsdienstes und des FBI, 1,86 Millionen Menschen, was 1,21 Prozent der Gesamtbeschäftigten entspricht.

    Hunderttausende stünden auf der Straße

    Im Zuge von Reformen – sollten denn welche in Angriff genommen werden – würden diese Leute ihre Stelle verlieren und müssten in die Wirtschaft eingegliedert werden, wo die Mehrheit von ihnen unter normalen Umständen nicht gebraucht wird. So wurden beispielsweise in Georgien, als Saakaschwili die Reformen eingeleitet hatte, praktisch alle Angestellten der Polizei entlassen. In den baltischen Staaten betrug der Stellenabbau im Zuge der Reformen zwischen 65 und 80 Prozent. In Russland würden sich also in einer gleichen Situation 700.000 bis 900.000 Leute auf der Straße wiederfinden. Was würden wir mit ihnen anfangen, und welche Auswirkungen hätte das auf die Bevölkerung? Und eine noch wichtigere Frage: Wie will man die Hälfte oder ein Drittel der bisher Beschäftigten bei einer Umstrukturierung des Innenministeriums denn bitteschön ersetzen? 

    Gerade in dieser unglaublich aufgeblasenen Schicht von „Verwaltungsbeamten“ und „Sicherheitsspezialisten“ liegt der eigentliche Grund, warum Reformen in Russland nicht durchgeführt werden können. Dieses bösartige Geschwür, entstanden durch ein energiegeladenes Karzinogen der 2000er Jahre, ist inoperabel. Man kann sein Wachstum mit Maßnahmen analog zu Bestrahlung oder Chemotherapie bremsen. Das Geschwür zu entfernen hätte jedoch den Tod des Patienten zur Folge.

    Im postsowjetischen Raum können heute zwei Entwicklungswege beobachtet werden: Der erste ist relativ revolutionär und dort möglich, wo Sicherheits- und bürokratische Strukturen nicht nur schwach sind, sondern auch keinen kritischen sozialen Einfluss haben. 
    Warum, beispielsweise, glückten in Georgien oder Armenien ziemlich radikale Umsturzversuche der bisherigen Systeme? Hauptsächlich deshalb, weil die Bürokratie einerseits schwach war (wie in Georgien) oder andererseits die Wirtschaft nicht grundlegend kontrolliert hat (wie in Armenien, wo das russische Kapital eine außerordentlich starke Stellung hatte). Außerdem waren die Sicherheitsstrukturen verhältnismäßig schwach (am Vorabend der April-Proteste in Jerewan betrug die Anzahl armenischer Polizisten ungefähr 10.000 Leute). In solchen Situationen kann es zu einem Machtwechsel kommen, können die (unter den früheren Hausherren) verantwortlichen Staatsbeamten sowie die Sicherheitsleute davongejagt und recht problemlos neue Staatsorgane mit qualifizierterem Personal aufgebaut werden, was recht gute Perspektiven schafft.

    Übles „Geschwür“ aus Beamten und Silowiki

    Der zweite, konservativere Weg ist charakteristisch für Gesellschaften mit einer völligen Verflechtung von Wirtschaft und Staat (wie Russland oder die Ukraine), wo auch wesentliche Erschütterungen zu keiner bedeutenden Säuberung der Bürokratie- und Machtsphäre führen. Nach einer relativ kurzen Normalisierungsphase wie in der Ukraine nach der Revolution der Würde oder einer längeren Phase wie in Russland in den 1990er Jahren gelangt in solchen Ländern das üble und nutzlose „Geschwür“ aus Beamten und Silowiki zu seiner alten Größe zurück. Und diese Tendenz kann nicht abgewendet werden.

    Während der vergangenen 20 Jahre hat sich in Russland ein System herausgebildet, von dem anzunehmen ist, dass die, die an die Macht kommen oder in Sicherheitsstrukturen tätig sind, nur von materiellem Eigennutz getrieben sind (der Alltag lässt zumindest auf nichts anderes schließen). Ernsthafte Reformen hätten also die Entlassung von drei bis vier Millionen Menschen aus den entsprechenden Strukturen zur Folge, die durch mindestens zwei Millionen ersetzt werden müssten, die vorher noch nie etwas mit Bürokratie zu tun hatten.

    Ein solches „Manöver“ ist technisch unmöglich, und daher erweisen sich Reformen im heutigen Russland als unrealistisch. Schaut man auf die Zerschlagung des zaristischen russischen Staatsapparates durch die Bolschewiki zurück, so mag man sich an den gezahlten Preis erinnern: Eine Elite von nicht weniger als drei Millionen Menschen wurde ausgelöscht (physisch und aus dem Land vertrieben), und über einen Zeitraum von nicht weniger als 20 Jahren hat sich eine neue Verwaltungsschicht herausgebildet. Ein solches Experiment kann Russland heute nicht wiederholen. Und das bedeutet, dass Hoffnungen auf baldige und radikale Umwälzungen eine Illusion bleiben. 

    Mit freundlicher Genehmigung von Sobesednik

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  • „Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten“

    „Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten“

    Im Runet hat dieser Auftritt für viel Spott und Häme gesorgt: Kaum hatte der britische Geheimdienst Fotos von den beiden Verdächtigen im Fall Skripal veröffentlicht, gaben die beiden RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan ein Interview. Sie seien nur russische Touristen, versicherten sie, die die „englischen Gotik genießen“, die „berühmte Kathedrale von Salisbury“ besichtigen wollten. Ruslan Boschirow und Alexander Petrow seien ihre richtigen Namen.

    Es waren vor allem russische Medien, The Insider und Fontanka, die weiter recherchierten: Demzufolge sind die beiden tatsächlich Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes GRU, die mit bürgerlichen Namen Anatoli Tschepiga und Alexander Mischkin heißen sollen. The Insider arbeitete dabei eng zusammen mit dem investigativen Recherchenetzwerk Bellingcat

    Wie genau sind die russischen Journalisten bei ihren Recherchen vorgegangen? 
    Und: Die Ergebnisse dürften dem Kreml kaum gefallen haben – fürchten sie jetzt nicht um ihre Sicherheit? 
    Diese und andere Fragen stellt Meduza dem Chefredakteur von The Insider Roman Dobrochotow.


    Update: Am 23. Juli 2021 wurde The Insider zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt.

    Investigativjournalist Roman Dobrochotow bei einer Protestaktion im Jahr 2009 – „Wir tragen alle mehr oder weniger ein Risiko.“ / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Investigativjournalist Roman Dobrochotow bei einer Protestaktion im Jahr 2009 – „Wir tragen alle mehr oder weniger ein Risiko.“ / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Meduza: Dies ist nicht Ihre erste gemeinsame Recherche mit Bellingcat. Da gab es im letzten Jahr die Nachforschungen zur Verbindung Russlands mit dem Umsturzversuch in Montenegro und die Geschichte mit dem GRU-General, den Sie als Verantwortlichen für den Abschuss der Boeing MH-17 über dem Donbass nennen. Wie hat Ihre Zusammenarbeit angefangen?

    Roman Dobrochotow: Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob die ukrainische oder montenegrinische Untersuchung zuerst war. Irgendwann im Jahr 2016 machte ich Bekanntschaft mit einem der führenden Investigativjournalisten von Bellingcat, Christo Grozev, der unter dem Pseudonym Moris Rakuschizki publiziert.

    Und dann war ich im selben Jahr zu einem Training von Bellingcat in Tbilissi und lernte dort einen weiteren Investigativjournalisten, Aric Toler, kennen. Mit denen arbeiten wir hauptsächlich zusammen, den Gründer von Bellingcat Eliot Higgins kenne ich kaum. 

    Wir sind immer bereit, mit Rechercheorganisationen zusammenzuarbeiten. Aber im vorliegenden Fall war die Zusammenarbeit besonders produktiv, weil sie in Russland dringend einen Partner brauchten. Es gibt vieles, was für russische Journalisten einfacher ist. 

    In Loiga [wo Alexander Mischkin, also Petrow, geboren wurde] gaben Einheimische unserem Korrespondenten gerne und bereitwillig Auskunft. Es ist richtig, dass die Bewohner auch mit Ausländern sprechen, nur insgesamt ist es für Leute von Bellingcat in Russland schwierig, denn niemand weiß, was hier womöglich mit ihnen passiert.

    In all Ihren Untersuchungen kommen Mitarbeiter des russischen Militärnachrichtendienstes GRU vor. Ist das Zufall?

    Anfangs war  ich auch überrascht. Noch vor der Zusammenarbeit mit Bellingcat machten wir Recherchen über russische Hacker, die in den Briefwechsel von Emmanuel Macron eingedrungen sind. Das waren die gleichen Leute [vom GRU]. Es gelang uns zu beweisen, dass Fancy Bear, der auf amerikanische Server eindrang, mit dem GRU in Zusammenhang stand. Wir haben sogar die genaue Militäreinheit ausgemacht. Die Recherchen ergaben, dass bei allem, was wir anlangten, der GRU die Hände im Spiel hatte.

    Die Recherchen ergaben, dass bei allem, was wir anlangten, der GRU die Hände im Spiel hatte

    Eigentlich ist das durchaus verständlich. Denn uns wie auch Bellingcat interessieren die lauten Themen: Ukraine, Hacker, Skripal. Diese sind, sagen wir, mit der russischen Aggression nach außen verbunden, die seit 2014 zugenommen hat. Und es gibt nur diese eine Organisation, die sich mit der Annexion von Gebieten in Nachbarstaaten, Hackerangriffen und Giftanschlägen beschäftigt. Der FSB ist für Innenpolitik verantwortlich und der SWR für Spionage und Informationsbeschaffung.

    Was war der Anhaltspunkt bei den Recherchen über Petrow und Boschirow? Das Interview der beiden mit Margarita Simonjan?

    Nein, wir haben uns bereits früher für das Thema interessiert. Und zwar, als das britische Fernsehen die zwei Fotos zeigte, und der britische Geheimdienst MI-6 mitteilte, sie würden die richtigen Namen kennen, die Beweise jedoch würden fehlen.

    Jetzt wussten wir, wonach wir suchen mussten. Wir begriffen, dass es sich um GRU-Spione handeln musste, wenn das sogar der britische Geheimdienst verlauten ließ. Die Namen waren gefälscht, irgendwo mussten die richtigen sein. Wir kannten die Täter der Story also bereits und mussten jetzt Informationen zu ihnen finden.

    Als die beiden bei Simonjan auftraten, war sofort klar, dass man der russischen Bevölkerung nicht würde beweisen müssen, was von diesen beiden Liebhabern gotischer Architektur zu halten war. Wir mussten trotzdem Beweisdokumente finden. Wir fanden Passauszüge, und das war sehr wichtig.

    Erzählen Sie, wie war die Aufgabenteilung. Soviel ich weiß, arbeiteten Sie mit offenen Quellen. Was den Zugang zu nicht öffentlichen Datenbanken betrifft, wie zum Beispiel die der russischen Pässe, war das Bellingcats Aufgabe. Wie kommt das?

    Den Zugang zu nicht öffentlichen Datenbanken hatte Bellingcat erhalten. Wir arbeiteten mit offenen Datenbanken, wie zum Beispiel Rosrejestr. Bei offenen Quellen und Sozialen Netzwerken arbeiteten wir zusammen, und alles, was mit Anrufen und Reisen zu tun hatte, erledigten wir.

    Warum aber hat ausgerechnet Bellingcat mit den nicht öffentlichen Datenbanken gearbeitet?

    Da kamen zwei Dinge zusammen. Erstens wollten wir die Journalisten nicht zum illegalen Handeln ermuntern. Zweitens haben wir in der Tat keinen Zugang [zu Leuten mit Zugriff auf nicht öffentliche Datenbanken]. Und Bellingcat hat ihn. Also mussten wir nicht mal diskutieren: Sie kamen an die Informationen heran, mit denen wir dann wiederum weiterarbeiteten.

    Gab es irgendwelche Quellen außer den öffentlichen Daten oder offiziellen Datenbanken? Zum Beispiel Informanten?

    Es gab Leute, die uns Expertentipps gaben, zum Beispiel darüber, wo die Mitglieder des Militärgeheimdienstes ausgebildet werden. Aber das spielte keine so große Rolle. 

    Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten. Und hier herrscht auch dieser Hauch von Kindheit, es macht richtig Spaß

    Der schwierigste Teil einer solchen Arbeit ist das Festlegen des Untersuchungs-Designs, wie Wissenschaftler es nennen. In diesem Fall war es das Recherche-Design. Sich ausdenken, wie man nach Informationen suchen wird: Da haben Sie also den Namen von jemandem, einen gefälschten Namen. Und jetzt? Wie suchen Sie den echten? Sie haben alle Datenbanken der Welt. Wo ist der kürzeste Weg von Punkt A nach Punkt B? Hier ist kreatives Denken gefragt.

    Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten. Sherlock Holmes war mein erstes Buch, das ich von vorne bis hinten gelesen habe. Und hier herrscht auch dieser Hauch von Kindheit, es macht richtig Spaß.

    In Ihren Artikeln werden die Recherchen Schritt für Schritt aufgezeigt. Dabei ist nicht immer klar, was hinter den Kulissen bleibt. 

    Zum Beispiel die Geschichte mit Petrow, der Mischkin ist. Die Hypothese war folgende: Angenommen, er hat nur den Familiennamen gewechselt und alle anderen Daten sind unverändert geblieben. Das war doch die erste Hypothese, die dann auch gleich stimmte, oder doch nicht? 

    Das war nicht die erste Hypothese, davor gab es andere, die nicht stimmten. Wäre uns dieser Geistesblitz gleich gekommen, dass ein Mitglied des Militärgeheimdienstes wie bei früheren Recherchen, zum Beispiel über Montenegro, nur den Familiennamen ändert, hätte uns das die Sache sehr vereinfacht, und die Recherche wäre viel früher publiziert worden.

    Wir haben ziemlich lange dies und das probiert, angefangen mit der Suche nach dem Foto auf den Sozialen Netzwerken. Mir brannten die Augen, weil ich pro Tag tausende von Fotos von Absolventen der Militärgeheimdienstschulen in den Sozialen Netzwerken anschauen musste. 

    Mir brannten die Augen, weil ich einen ganzen Tag tausende von Fotos in den sozialen Netzwerken anschauen musste

    Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert. Doch nach ungefähr einer Woche kam uns der Gedanke, wir könnten ganz einfach stumpf die Datenbanken durchkämmen nach Familiennamen, Vatersnamen und Geburtsdatum. Wir wurden sofort fündig. Schon der erste Auszug aus St. Peters­burger Daten gab uns den Namen Mischkin.

    Boschirow wurde meines Wissens anhand eines Fotos ausfindig gemacht. Sie haben es gefunden, als Sie den Zeitraum seines möglichen Abgangs von einer Militärgeheimdienstschule, die mit dem GRU zusammenhängt, eingegrenzt haben. Trotzdem mussten Sie wohl tausende oder zehntausende von Namen filtern?

    Wären wir der Reihe nach vorgegangen, ja. Aber hier hatten wir sofort Glück. 
    Erstens war die DWOKU auf der Liste der erstrangigen Schulen, die wir anschauten. 
    Zweitens war auf einem Absolventen-Foto jemand zu sehen, der uns entfernt an Tschepiga erinnerte – ich weiß bis heute nicht, ob er es war oder nicht. 
    Da schauten wir uns die DWOKU genauer an. Ich hatte dann noch mal Glück. Wir schauten uns all diese tausend Absolventen an und stießen dabei auf das Foto mit dem Ehrendenkmal und dort aufgelistet die Helden Russlands im Hof dieser Schule. In der DWOKU werden alle vor diesem Ehrendenkmal fotografiert. Und der Name Tschepiga prangte da die ganze Zeit in goldenen Lettern.

    Der Recherchebericht von „The Insider“ – „Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert.“
    Der Recherchebericht von „The Insider“ – „Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert.“

    Worin unterschied sich gerade dieser Name? Weil es keine Biografie dazu gab?

    Um genau zu sein, hatten wir zwei Namen ohne Biografie. Bei dem einen stimmte das Alter nicht. Und Tschepiga passte. Es war also klar, dass es um ein Mitglied des Militärgeheimdienstes mit verdeckter Biografie ging, der irgendeine unglaubliche Heldentat begangen hatte. In der Passdatenbank stießen wir sofort auf ein Foto, was uns eine Menge Mühe ersparte.
     
    Haben Sie irgendwie versucht, die Informationen, die Sie aus den geheimen Datenbanken hatten, zu verifizieren?

    Nehmen wir zum Beispiel Mischkin. Es wurde uns klar, dass es nur eine Person mit einer solchen Kombination von Familien- und Vaternamen und Geburtsdatum geben konnte. Wir fanden heraus, dass er an einer Universität studiert hat und nach Moskau gegangen ist. Dass er in der Choroschewskoje Chaussee 76 registriert ist, wo sich das Hauptquartier des GRU befindet. Das allein ist schon ein seltsames Zusammenfallen von Umständen. 

    Weiter sichteten wir Dutzende andere Datenbanken: Mobiltelefone, Fahrzeugversicherungen, Fahrzeugregistrierung, Pässe und so weiter, und so weiter. 

    Wir fanden eine große Menge an Informationen, die bestätigten, dass die Person wirklich ein Mitglied des Militärgeheimdienstes war, und seine Biografie passt wie ein Puzzle-Teil zu der von Petrow.

    Und später fanden wir in dieser Datenbank einen Scan des Passes und auf dieser Kopie stimmen alle uns bekannten Daten überein. Und wir wussten, dass die Person, die uns den Scan gegeben hat, nicht von sich aus auf uns zugekommen ist und den Scan vorher nachjustieren konnte. Es gibt keine Möglichkeit und keine plausible Hypothese, wie diese Daten hätten manipuliert werden können.

    Wie schätzen Sie das Sicherheitsrisiko für die Journalisten ein? Verstehe ich richtig, dass sich Bellingcat freier bewegen kann, weil die russische Regierung nicht an sie herankommen?

    Bedingt. Skripal war auch außer Reichweite. Wenn es um einen Mordanschlag geht, tragen alle mehr oder weniger ein Risiko. Ehrlich gesagt scheint mir, dass sich unsere Partner von Bellingcat in größerer Gefahr befinden als ich. Denn sollte mich hier jemand kaltstellen, muss gar keiner erst fragen „Wer hat das getan und warum?“. 

    Bei einem Mord an einem Investigativjournalisten von Bellingcat im Ausland würden die russischen Behörden immer sagen können, sie hätten nichts damit zu tun, das sei nicht auf ihrem Territorium geschehen.

    Gab es für Sie oder andere Journalisten Gefahren?

    Naja. Bei unseren Recherchen geht es ja nicht um Tschetschenen oder Banditen, die uns bedrohen oder anzeigen könnten. 

    Viele machen sich natürlich Sorgen, und in England bekam ich den Rat, unter keinen Umständen nach Russland zurückzukehren. Ich denke aber, solange wir im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sind die politischen Risiken solcher Handlungen, sei es eine Festnahme oder ein Mord, ziemlich hoch. Auch wäre der Gewinn nicht besonders groß, denn die Recherche ist publik.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Warum der Rubel schwach bleibt

    Warum der Rubel schwach bleibt

    Üblicherweise rollt der Rubel nur in eine Richtung – dem Ölpreis nach: Steigt dieser, dann gewinnt auch der Rubel gegenüber dem US-Dollar an Wert und umgekehrt. Seit über einem halben Jahr ist diese Gesetzmäßigkeit gestört: Unabhängig vom derzeit relativ hohen Ölpreis bleibt der Rubelkurs unten. Warum ist das so?


    Quelle: wallstreet-online / OFX

    Die meisten Experten erklären das Phänomen mit äußeren Faktoren: Die Sanktionen würden dem Rubel zusetzen, außerdem sei die russische Währung Geisel einer globalen Entwicklung, die derzeit die Kurse von vielen Schwellenländern runterzieht. Während die meisten dieser Länder aber Stützungsmaßnahmen ergreifen, tut weder die russische Politik noch die Zentralbank etwas.  
    Heißt das, dass der Rubelkurs für den Kreml keine Rolle spielt? Im Gegenteil, meint Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew: Das Ziel bestehe allerdings nicht in der Stabilisierung, sondern in einer kontrollierten Senkung. 
    Da man diese These so sonst noch nirgends gehört hat, haben wir uns entschieden, den Text, der auf Riddle erschienen ist, hier in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen.

    Warum nimmt die russische Regierung Kurs auf Schwächung des Rubels? Drei entscheidende Gründe, sortiert nach Wichtigkeit:

    Autarkie ist Trumpf

    Erstens: Alles deutet darauf hin, dass die russische Regierung heute auf wirtschaftliche Autarkie setzt. Erfolge bei den Importsubstitutionen sind quasi zum Effektivitätskriterium geworden. Ohne Zweifel fördert die gezielte Abwertung des Rubels diese Art der Wirtschaftsentwicklung. Experten, die darauf hinweisen, dass diese Maßnahme nur eine geringe Wirkung auf die Förderung der russischen Exporte habe, liegen völlig richtig: Der Anteil der industriellen Endprodukte am Export ist gering. 

    Gleichzeitig sichert die stetige Verteuerung der Importe den russischen Produzenten ihre Dominanz auf dem inländischen Markt, und die Wirtschaftsindikatoren bleiben dadurch stabil. Ein Land, dessen Wirtschaft sich in vollem Umfang auf Ausgabenerhöhungen stützt, macht eine Korrektur durch Währungsabwertung zur periodischen Notwendigkeit. Je sanfter und kalkulierter diese Anpassung ausfällt, desto geringer ist die Schockwirkung für Produzenten und Bevölkerung. 

    Sanfte Kursabwertung erzeugt Gefühl von Wachstum

    Ohne schrittweise Abwertung der nationalen Währung kann in der russischen Wirtschaft kein Gefühl von Wachstum aufkommen, ungeachtet dessen, dass eine solche Abwertung keine zusätzlichen Exporteinnahmen bringt. Für einen solchen Doping-Effekt müsste das Abwertungstempo gesichert über den Inflationsindikatoren liegen, da ansonsten der Effekt schlichtweg verpufft. Es sei darauf hingewiesen, dass dies nur unter Bedingungen einer eingeschränkten oder gar stagnierenden Endnachfrage möglich ist. Darin findet sich auch die Antwort auf die Frage, warum sich die russische Regierung gegenüber einer Nachfragestimulation apathisch verhält, obwohl in den letzten zehn Jahren eine solche Maßnahme in den meisten Industriestaaten die Antwort auf die Wirtschaftskrise war.

    Währungsabwertung füllt sehr wirksam die Staatskasse 

    Zweitens: Der Kreml hat einen noch wichtigeren Grund, eine Rubelschwäche anzustreben. Der russische Haushalt weist nämlich vor allem folgende Besonderheit auf: seine große Abhängigkeit von Import- und Exportzöllen sowie von Steuern auf die Gewinnung von Bodenschätzen. Was haben denn die Einfuhrzölle für Autos und der Steuersatz auf Erdölgewinnung miteinander zu tun? Beiden ist gemeinsam, dass sie in Euro (Importzölle) oder in Dollar (die Förderabgabe, die an den Erdölpreis auf dem Weltmarkt gebunden ist oder Exportzölle) errechnet werden. So erhält die Regierung im Grunde genommen einen Teil der Erträge in Fremdwährungen, erklärt aber den Rubel zum alleinigen Zahlungsmittel im Land. 2017 beispielsweise beliefen sich diese Abgaben an den Staatshaushalt insgesamt auf 5,97 Billionen Rubel [etwa 77 Mrd. Euro – dek] bei einem durchschnittlichen Kurs von 58,35 Rubel pro Dollar. 2018 betrug der durchschnittliche Kurs der ersten acht Monate bereits 62,66 Rubel pro Dollar. Bei unverändertem Import- und Exportvolumen vermehrten sich dadurch die Einnahmen der Staatskasse um nicht weniger als 400 Milliarden Rubel [etwa 5 Mrd. Euro – dek]. Auf das ganze Jahr wird mit über 900 Milliarden [etwa 11 Mrd. Euro – dek] gerechnet. 

    Über den rückläufigen Erdölpreis kann lange diskutiert werden. Jüngst aber überstieg der Barrel-Preis in Rubel, und gerade das ist wichtig für den Haushalt, die 5000er-Marke. Im Mai 2008 – und das waren historische Höchststände – lag er bei nur bei 3600 Rubel pro Barrel. Ich möchte hinzufügen: All diese Einnahmeposten werden ausschließlich dem Staatshaushalt gutgeschrieben, aus dem die für den Kreml so hohen Sozialausgaben finanziert werden (in Rubel, selbstverständlich). Diese, wie auch die Renten und Sozialhilfen, sind nicht an den Dollarkurs, sondern an die offizielle Inflation gekoppelt. Anders ausgedrückt ist die Währungsabwertung ein sehr wirksames und wenig konfliktreiches Instrument, um die Staatskasse zu füllen.

    Psychologischer Gewinn, wenn Volkseinkommen nominal hoch

    Drittens hat die Abwertung der nationalen Währung eine extrem wichtige psychologische Funktion. Nehmen wir die berühmte Rentenerhöhung von 1000 Rubel [etwa 13 Euro – dek] – das bedeutet für die kommenden Jahre ein jährliches Wachstum von 7 Prozent (wenn wir von der heutigen durchschnittlichen Monatsrente von 14.000 Rubel [etwa 180 Euro – dek] ausgehen), wobei dieses Wachstum bei steigendem Nominalbetrag abflaut. Die Einkommen der russischen Bevölkerung gerechnet in Dollar (er dient für den internationalen Vergleich sowie als Berechnungsgrundlage für die reale Konsumnachfrage der Bürger) – haben von Anfang 2017 bis August 2018 um 8,5 Prozent abgenommen, und diese Entwicklung denkt gar nicht daran zu stoppen. 

     

     

    Der Big-Mac-Index vergleicht die Kaufkraft von verschiedenen Währungen anhand der Preise (in US-Dollar) für einen Big Mac. Demnach ist der Rubel stark unterbewertet. 

     

    Jedoch ermöglicht die Abwertung des Rubels der Regierung, von wachsenden Nominalinvestitionen in Rubel zu berichten, von einem höheren Volkseinkommen und steigenden Renten. De facto plündert sie dabei Haushaltsposten aus, die bei einer stagnierenden Wirtschaft den korruptionsintensivsten Spielraum bieten. 

    Propaganda schlägt Vorteile aus Entdollarisierung der Wirtschaft

    Wenn in den ersten zwei Amtszeiten von Putin beteuert wurde, Portugal werde rasant eingeholt, das BIP und die Einkommen würden in Dollar berechnet wachsen, so geriet diese Ankündigung in den letzten Jahren völlig in Vergessenheit. Die Propaganda schlägt alle möglichen Vorteile aus einer völlig illusorischen Entdollarisierung der Wirtschaft. Was leider nur sichtbar ist, wenn man von unten nach oben schaut und nicht von oben nach unten. 

    Meiner Meinung nach besteht heute kein Zweifel darüber, dass eine fortschreitende Abwertung die ideale „symmetrische Antwort“ ist auf die westlichen Sanktionen, die Verschlechterung des Investitionsklimas und den unausweichlichen Rückgang des Lebensstandards der Bevölkerung. Sie garantiert „Stabilität“ im Inneren, lässt nicht zu, dass alle russischen Produkte zu Ladenhütern werden, erlaubt höhere Einnahmen im Haushalt, der bei einem Vor-Krim-Kurs von 32,50 Rubel pro Dollar nun mit nicht weniger als 2 Billionen Rubel [etwa 25 Mrd. Euro – dek] defizitär wäre. Und beruhigt die Bürger, die sich bereits über die wenigen Rubel Einkommenssteigerung freuen, in einem Land, das sich schrittweise von der Außenwelt abkapselt. 

    Das alles bedeutet, dass die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um einen Kursanstieg zu verhindern, selbst wenn unsere „geopolitischen Feinde“ morgen alle gegen Moskau verhängten Sanktionen aufheben würden.

     

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