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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wie Boris Nemzow ermordet wurde

    Wie Boris Nemzow ermordet wurde

    Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow war die aufsehenerregendste und symbolträchtigste Straftat der vergangenen Jahre in Russland.

    Obwohl bald tschetschenische Tatverdächtige ausfindig gemacht wurden, blieb ein gewaltiger Kreis von Fragen offen: War der Mord eine Rache für die politische Tätigkeit Nemzows? Spielten persönliche oder gar religiöse Motive eine Rolle (Nemzow hatte mehrfach den tschetschenischen Republikchef Kadyrow verbal angegriffen und den islamistischen Terrorangriff auf Charlie Hebdo öffentlich verurteilt)? Wieso wurde ein Hauptverdächtiger von den Ermittlungsbehörden überhaupt nicht befragt?1 Wie war es überhaupt möglich, dass praktisch vor den Kremlmauern eine wichtige Person des öffentlichen Lebens regelrecht hingerichtet wurde?

    Noch nie ist dieser Fall so detailliert rekonstruiert worden, wie in diesem Material der Novaya Gazeta, das zum ersten Jahrestag des Nemzow-Mordes (am 27. Februar) erscheint. Das Investigativ-Ressort der Zeitung, in dem auch die ebenfalls von tschetschenischen Auftragsmördern umgebrachte Anna Politkowskaja gearbeitet hatte, trägt alle bekannten Fakten zusammen, ergänzt sie durch eigene Recherchen und Wissen aus Insiderquellen und bietet so ein umfassendes Bild des Tathergangs und möglicher Motive.

    Ein Schlüsselartikel zur politischen Gewalt in Russland, der in kürzester Zeit Hunderttausende von Lesern im russischen Internet fand.

    Wer es war, der am 27. Februar 2015 an der Großen Moskwa Brücke, dreihundert Schritte vom Kreml entfernt, Boris Nemzow ermordet hat – darüber wurde der Russische Präsident bereits am 2. März informiert.

    Im Bericht des FSB-Chefs Bortnikow heißt es: Die Attentäter waren eine Gruppe tschetschenischer Silowiki aus dem Bataillon Sewer (Nord) der Inneren Truppen des Innenministeriums der Russischen Föderation (WW MWD RF), vermutlich unter der Leitung des stellvertretenden Bataillonsführers Ruslan Geremejew.

    Hotel Ukraina am Tag vor dem Mord: zwei mutmaßlich an der Tat Beteiligte, in der Mitte Ruslan Geremejew, im Vordergrund Tamerlan Eskerchanow – Novaya Gazeta

    Am 5. März wurden festgenommen: Saur Dadajew, die Brüder Ansor und Schadid Gubaschew, Tamerlan Eskerchanow, Chamsat Bachajew. Beslan Schawanow kam bei seiner Festnahme ums Leben.

    Drei von ihnen sind Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitsorgane. Dadajew und Schawanow gehören zum Bataillon Sewer, Eskerchanow ist ein entlassener Mitarbeiter der örtlichen Polizeidienststelle im Schelkowski Rajon (ROWD) [in Grosny – dek.], das von Wacha Geremejew geleitet wird – einem Verwandten von Ruslan Geremejew und von dem Staatsdumaabgeordneten Adam Delimchanow. Dazu kommen Bachajew und der jüngere Gubaschew-Bruder, die beide keiner offiziellen Arbeit nachgehen.

    Dass die Tat so schnell aufgeklärt wurde, liegt an zwei Dingen: Am „Wer hat es gewagt?“ des Präsidenten und am endlich mal funktionierenden Spionagenetz in der Führung der Tschetschenischen Republik. Die Moskauer Silowiki haben nämlich deren Vorgehen – das nur allzu oft tödlich endet – katastrophal satt.

    Allem Anschein nach hat der Mord an Boris Nemzow das Fass auf allen Seiten zum Überlaufen gebracht – noch nie hat es das gegeben: Innenministerium (MWD), FSB, das Russische Ermittlungskomitee (SKR), der Föderale Dienst für Rauschgiftkontrolle (FSKN) und die Generalstaatsanwaltschaft – sonst permanent verfeindet – ziehen hier anfallsartig an einem Strang.

    Und es ist auch klar, warum: Mehr als einmal waren kurz vor dem Schuldspruch stehende Strafverfahren gegen tschetschenische Silowiki, die wegen schwerer Verbrechen eingeleitet wurden, ins Leere gelaufen – und die Angeklagten belegt mit Meldeverpflichtungen bei sich zu Hause oder gar im Donbass aufgetaucht.

    Warum haben die Mörder Spuren hinterlassen?

    Im Grunde haben sich die Attentäter, die bald vor ein Geschworenengericht kommen, nicht besonders viel Mühe gemacht, unterzutauchen – offenbar in der Annahme, dass sie wegen eines „Auftrags des Vaterlands“ nicht verfolgt würden. Keiner von ihnen hat die Patronenhülsen am Tatort aufgesammelt. Keiner hat sich vor den Überwachungskameras versteckt. Selbst das Fahrzeug, ein Saporoshez, wurde vor dem Mord gewaschen und nicht danach. So konnte man genetisches Material, Spuren von Pulvergas sowie eine Dashcam sicherstellen, von der nichts gelöscht worden war. In der Wohnung, die die Verdächtigen angemietet hatten, fand man SIM-Karten, die offensichtlich keiner geplant hatte, wegzuwerfen.

    Die verhafteten Personen waren offenbar so schockiert über ihre Verhaftung, dass sie quasi sofort vor laufender Kamera ein Geständnis ablegten. Dabei ist auf diesen Videos bei keinem von ihnen ein blaues Auge erkennbar oder eine leere Sektflasche, die im Hintern steckt (beides haben die Tatverdächtigen später behauptet, nachdem sie sich besonnen hatten).

    Mehr noch, diese ursprünglichen Aussagen wurden im Zuge eines speziellen Ermittlungsvorgangs, bei einem Ortstermin, bestätigt: Vor laufender Kamera erzählen Dadajew & Co rege und detailliert, wo sie gestanden haben, wo sie langgelaufen sind, wie sie ihr Opfer beobachtet und ermordet haben. So liegen dem Ermittlungskomitee Geständnisse von Saur Dadajew, Ansor Gubaschew und Tamerlan Eskerchanow vor – die die Verhörten plötzlich widerriefen, als neue Anwälte eingeschaltet wurden. Nun, die Glaubwürdigkeit der ersten wie auch der späteren Aussagen werden die Geschworenen beurteilen, uns soll zunächst genügen, dass es sie gibt.

    Was machen tschetschenische Offiziere im Hotel President?

    Es stellt sich die Frage: Was machen Offiziere aus Truppen des Innenministeriums, die in einer vollkommen anderen Region Russlands dienen, in Moskau? Diese Frage hängt schon seit gut zehn Jahren in der Luft. Tschetschenien ist das einzige Subjekt der Föderation, dessen Führung in der Hauptstadt eine Gruppe eigener Silowiki unterhalten darf; offiziell sollen sie die Sicherheit hochrangiger Beamter gewährleisten, die aus verschiedenen Gründen nach Moskau reisen.

    Bedenkt man, dass selbst das tschetschenische Oberhaupt Ramsan Kadyrow eher selten in Moskau anzutreffen ist, ist das alles noch befremdlicher: Was machen diese Leute hier, die mit Stetschkin-Knarren behangen und mit Dienstausweisen ausgestattet sind, die zudem noch die Durchsuchung ihrer Fahrzeuge verbieten? Hat man jemals von einem Sondereinsatzkommando aus, sagen wir, dem Gebiet Jaroslawl gehört, das den Gouverneur während seines Aufenthalts in der Hauptstadt beschützt?

    Nemzows Grab auf dem Trojekurowski Friedhof in Moskau - Novaya Gazeta
    Nemzows Grab auf dem Trojekurowski Friedhof in Moskau – Novaya Gazeta

    Nicht zufällig erwähnen wir Jaroslawl: Schon anderthalb Tage nach dem Mord an Boris Nemzow wurde das Oberhaupt dieser Region, in der das Mordopfer die Wahl ins Regionalparlament gewonnen hatte, zügig verhört – er kam von sich aus, gleich nach der ersten Aufforderung, und das nicht zu irgendwelchen angereisten Moskauer Ermittlern, sondern zu seinen eigenen, einheimischen.

    Kadyrow hingegen, trotz seines Wissens um die Ermordung und um die Verdächtigen, das er mehrfach auf seiner Instagram-Seite demonstrierte, ist bis heute nicht befragt worden. Und das trotz eines Antrags seitens der Anwälte der Geschädigten – der Familie Boris Nemzows.

    Die „für die Sicherheit von hochrangigen Beamten der Republik Tschetschenien zuständigen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane“ sind im Hotel President gleich gegenüber dem Innenministerium stationiert. Dort haben sie irgendwann sämtliche Hotelgäste verjagt, mit ihren ausgebeulten Trainingsanzügen, über denen man alle möglichen Waffenarten zu sehen bekommt – von Dolchen bis hin zu Maschinenpistolen.

    Es sind allerdings nur die privilegierten Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitskreise, die durch die Flure des VIP-Hotels an der Ecke zur Jakimanka Straße wandeln. Die taktisch-operativen Gruppen tschetschenischer Silowiki hingegen arbeiten in Moskau im Rotationsprinzip: einige Monate vor Ort, dann kommt eine Ablösung. Sie mieten in der Regel Wohnungen am Stadtrand und bleiben dort unter sich. Sie sind zuständig für die besonders delikaten Aufträge. Dazu gehören: Entführungen, Morde, Erpressungen. Bis zu ihrem nächsten derartigen Einsatz zur Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung machten es sich die obengenannten Personen im inzwischen geschlossenen Restaurant Prag gemütlich. Dorthin bestellten sie leichte Mädchen, die danach lange wegen unterschiedlicher physischer Leiden in Moskauer Kliniken behandelt werden mussten.

    Delikate Aufträge bespricht man in der Regel in der Lobbybar des Hotels Radisson Slawjanskaja, im Restaurant Tatler oder dem Hotel Ukraina oder auch in diversen anderen überteuerten Lokalitäten, deren Besuch sich die Majore und Offiziere der russischen Innenministeriums-Truppen mit ihren Mercedes-Schlitten leisten können.

    In eben diesen Lokalen wurden zwischen September 2014 und Februar 2015 auch mehrfach die jetzigen Tatverdächtigen gesichtet, in Gesellschaft von Ruslan Geremejew, dem stellvertretenden Anführer des Bataillons Sewer. Zu ihnen gesellten sich immer wieder Leute, die mit Taschen kamen und dann wieder gingen – mit denselben Taschen, nur dass diese sichtlich leichter geworden waren.

    Unseren Recherchen zufolge haben die Kämpfer der taktisch-operativen Gruppe unter Geremejew einen dieser delikaten Aufträge (den Mord an Boris Nemzow nicht eingerechnet) mit Bravour ausgeführt: Aus einem Flugzeug, das auf der Landebahn des Business-Aviation-Flughafens Wnukowo-3 stand, wurde ein Topmanager von Gazprom entführt, der sich reichlicher bedient hatte, als ihm zustand. Innerhalb eines Tages gab er das Geld zurück.

    Laut unseren Quellen in Tschetschenien soll übrigens der mutmaßliche Mörder Saur Dadajew eine Zeit lang den Personenschutz des Abgeordneten Delimchanow geleitet haben.

    Vorbereitung auf den Mord

    Im September 2014 wurden in der Wejernaja Straße in Moskau zwei Wohnungen angemietet. Mieter der einen war Artur Geremejew, ein Verwandter von Ruslan Geremejew. Die andere mietete Ruslan Muchutdinow, der Fahrer von Ruslan Geremejew und selbst ebenfalls Mitarbeiter des Bataillons Sewer. (In dieser Wohnung wurde übrigens noch ein weiterer Offizier des tschetschenischen Innenministeriums gesehen, mit dem Namen Chatajew, aber er taucht bislang nicht im Verfahren auf). In der von Muchutdinow angemieteten Wohnung richteten sich dann Dadajew und seine Truppe ein und begannen ihre Arbeit gemäß der bestehenden „Ausschreibung“.

    Was ist in diesem Zusammenhang eine „Ausschreibung“? Wenn es ein unerwünschtes „Objekt“ gibt, dessen Existenz entscheidenden Leuten das Leben schwer macht, erhebt sich in den taktischen Kampftruppen, die sich in Moskau verborgen halten, ein Ruf: Der und der für so und so viel. Und wer es dann als erster schafft, die Sache zu erledigen, bekommt das Geld.

    Im August 2014 wurden vier Namen ausgeschrieben: Boris Nemzow, Michail Chodorkowski, Alexej Wenediktow und Xenija Sobtschak. Die Liste erstaunt insofern, als dass diese Personen in keine finanziellen oder politischen Reibereien mit der Republik Tschetschenien verstrickt waren. Wie dem auch sei, was wir kennen, ist der Preis: 15 Millionen Rubel [etwa 220.000 Euro].

    Nach dem Flop auf der Großen Moskwa Brücke (Nemzows Mörder wurde festgenommen) wurde die restliche Ausschreibung zurückgezogen, doch für wie lange, das ist eine offene Frage.

    Boris Nemzow entpuppte sich als unbequemes „Objekt“ für die Killer. Zum einen führte er kein geregeltes Leben nach dem Schema: zum Arbeitsplatz und dann nach Hause. Er blieb manchmal tagelang in seiner Wohnung, oder er fuhr plötzlich ins Ausland oder nach Jaroslawl, wo er als Abgeordneter arbeitete, und nicht zuletzt fuhr er unglaublich gern mit der Metro. So kostete es viel Zeit, die Kenndaten des Objekts ausfindig zu machen – Zeit, die man viel lieber in den Bars von Moskau verbrachte.

    Die Leute, die hinter der Ausschreibung standen, machten allmählich Druck – allem Anschein nach war das die Botschaft, mit der Ende Februar der Offizier des tschetschenischen Innenministeriums Schawanow auftauchte. Also wurde beschlossen, zur Tat zu schreiten, komme was wolle. Ein Detail: Für die Beschattung kamen vier Fahrzeuge zum Einsatz, darunter ein Mercedes mit dem Kennzeichen A007AR, der vermutlich von Ruslan Geremejew genutzt wurde.

    Die Ausführung des Mordes

    Überwachungskamera des Kaufhauses GUM
    Überwachungskamera des Kaufhauses GUM

    Am 27. Februar gegen 11.00 Uhr positionierten sich die Mörder auf der Malaja Ordynka Straße, wo Boris Nemzow wohnte, und begannen zu warten. Von Nemzow keine Spur. Sein Auto gondelte zum Supermarkt, doch der Besitzer des Wagens blieb daheim. Später dann fuhr Nemzow zum Rundfunk für die Acht-Uhr-Sendung von Echo Moskwy. Um 21.45 Uhr verließ das „Objekt“ gemeinsam mit einer Dame erneut sein Haus und fuhr in Richtung Roter Platz. Boris Nemzow und, wie später bekannt wurde, Anna Durizkaja aßen gemeinsam im Bosco Café zu Abend, einem Café im Kaufhaus GUM. Ansor Gubaschew und Beslan Schawanow schlichen derweil um das Gebäude herum (wie aus den Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras hervorgeht). Nemzow und seine Begleiterin gingen dann zu Fuß zur Malaja Ordynka Straße zurück, über die Große Moskwa Brücke. Dort geschah dann alles. Dadajew kam die Treppe hoch, schoss Nemzow fünf Mal in den Rücken (kein einziger Schuss ging daneben – die langen Trainingsjahre waren nicht umsonst), die Begleiterin des „Objekts“ ließ er unbeschadet, setzte sich in den von Ansor Gubaschew gesteuerten Saporoshez und fuhr davon.

    Zwei Schusswaffen waren im Spiel: eine hatten sie zur Absicherung dabei, falls sie verfolgt worden wären. Mit der anderen Waffe – umgebaut aus einer nicht-tödlichen Verteidigungspistole [non-lethal-weapon] – wurde die Tat ausgeführt. Die Patronenhülsen stammten aus verschiedenen Serien, und es ist auch klar, weshalb: trainiert wird auf „wilden“ Schießübungsplätzen (das Ermittlungskomitee hat sie in der Umgebung Moskaus ausfindig gemacht) und die Waffen dabei mit Patronen aus unterschiedlichen Chargen geladen.

    Gubaschew und Schawanow haben dann am 28. Februar Moskau über den Flughafen Wnukowo verlassen, das zeigen die Videoüberwachungskameras. Dadajew und Geremejew sind, nachdem sie im Odinzowski-Bezirk im Moskauer Umland an einem sicheren Ort abgewartet hatten, am 1. März abgeflogen. Zum Flughafen fuhr sie Muchutdinow. Er hat dann auch, vermuten die Ermittler, die Waffen mit dem Auto wieder nach Tschetschenien gebracht.

    Um einer Überreaktion ihrer Anwälte vorzubeugen, werden Bachajew, Eskerchanow und Schadid Gubaschew nicht der unmittelbaren, sondern nur der mittelbaren Beteiligung am Mord beschuldigt: Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten Beweisstücke unterschlagen, Personen ausgespäht, in ihren Fahrzeugen Mitglieder der Gruppe transportiert – und sie mit Bratkartoffeln verpflegt.

    Die Verhaftung und danach

    In den Führungsetagen der russischen Ordnungsbehörden [Justiz- und Innenministerium – dek.] war man außer sich über eine derart laxe Strafverfolgung, von noch weiter oben [Putin – dek.] machte die zornige Frage „Wer war es?“ den Beamten zusätzlich Beine. Also wurde eine Spezialoperation in Gang gebracht.

    Man schickte eine Einsatztruppe der Sondereinheiten nach Tschetschenien und Inguschetien, mit dem Auftrag, die Verdächtigen festzunehmen.

    Die stellten sich aber selbst ein Bein, indem sie nach Inguschetien fuhren, um Drogen zu besorgen. Ansor Gubaschew und Saur Dadajew wurden auf frischer Tat von Mitarbeitern der Föderalen Drogenbekämpfung Inguschetiens ergriffen und der örtlichen Polizeidienststelle des Bezirks überstellt. Anschließend wurden sie vom Sonderkommando übernommen und nach Moskau auf den Weg gebracht. Gleichzeitig wurden im Odinzowski Bezirk im Moskauer Umland, wo sich die Verdächtigen nach dem Mord versteckt hatten, weitere Mitglieder der Gruppe festgenommen. Übrigens: die Gubaschew-Brüder sind Verwandte von Dadajew. Es ist ein charakteristisches Merkmal von „Tschetschenenmorden“, Leute aus dem eigenen Umkreis zu rekrutieren, damit mehr für einen selbst abfällt (wie auch im Fall Anna Politkowskaja).

    Eine Panne gab es nur bei der Festnahme von Schawanow, der sich in seiner Wohnung in Grosny versteckt gehalten hatte. Ein stellvertretender Innenminister Tschetscheniens (der Familienname ist der Redaktion bekannt) ging durch die von den föderalen Sicherheitskräften geschützte Absperrung, danach erfolgten zwei Explosionen und die Verlautbarung, Schawanow habe sich mit einer Handgranate in die Luft gejagt.

    Einige Tage nach den Festnahmen gab es in Dshalka, dem Heimatort der Geremejew-Familie, ein Treffen von hochrangigen Personen. Neben Ramsan Kadyrow nahm daran vermutlich der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow teil, außerdem der stellvertretende tschetschenische Innenminister Alaudinow, Senator Sulim Geremejew, Schaa Turldajew, gegen den ein Haftbefehl wegen der Ermordung eines tschetschenischen Oppositionellen in Wien vorliegt, weitere Personen und, selbstverständlich, Ruslan Geremejew.

    Die Stadt Dshalka wurde für dieses Treffen von den Truppen des Bataillons Sewer abgesperrt, nur einzelne Angehörige der staatlichen Organe, vermutlich mit Beziehungen zu den Inneren Truppen und föderalen Sicherheitsdiensten, wurden hineingelassen. Alles deutet darauf hin, dass genau bei diesem Treffen auch eine allgemeine Vereinbarung über das weitere Vorgehen getroffen wurde.

    Insgesamt beschränkte sich die Ausbeute der Moskauer Silowiki in Tschetschenien auf eine Befragung der Verwandten der Verdächtigen und eine Zusammenstellung allgemeiner Informationen: wann geboren, wann geheiratet.

    Nach dem Mord

    Ruslan Geremejew verließ Dagestan über die Stadt Kaspisk, offiziell als Betreuer von Kadyrows Rennpferden, und begab sich in die Arabischen Emirate. Und obwohl noch Anfang März 2015 eine Anordnung nach Tschetschenien geschickt wurde, dass er festzunehmen und einer gerichtlichen Befragung zu unterziehen sei, hatten die tschetschenischen Geheimdienstler und Mitarbeiter der Polizei bereits große Schwierigkeiten mit der Antwort auf die Frage, in welchem Haus der Verdächtige in Dshalka überhaupt lebe. Kurz darauf reiste auch Muchutdinow in die Vereinigten Arabischen Emirate aus.

    Unmittelbar nach der Befragung des mutmaßlichen Mörders Saur Dadajew wurde das Video mit allen Aufzeichnungen durch jemanden aus dem Ermittlungkomitee Ramsan Kadyrow, dem Staatsoberhaupt Tschetscheniens, zur Verfügung gestellt. Kadyrow trat dann an die Öffentlichkeit mit Statements wie dem, dass Dadajew ein echter Patriot sei. Zwei Аnträge auf Anklageerhebung gegen Geremejew in Abwesenheit und die Ausschreibung seiner Fahndung scheiterten am Chef des russischen Ermittlungskomitees, Bastrykin, der sie nicht unterschrieb.

    Am Ende tauchte eine Anklageschrift auf, in der als Organisator des Verbrechens der Fahrer von Geremejew, Ruslan Muchutdinow, genannt wird, bei dem sich irgendwie 15 Millionen angehäuft hatten und der deshalb zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Und alle Verdächtigen änderten ihre Aussagen: Nun hatte angeblich der tote Schawanow geschossen, und er hatte sich angeblich auch alles ausgedacht. Aus dieser Ecke ist also keine Antwort zu erwarten. So wie auch aus den Emiraten nicht, wo sich Muchutdinow versteckt hält. Es ist ja kein Zufall, dass Kasbek Dukusow, der mutmaßliche Mörder von Paul Chlebnikow, dem Chefredakteur der russischen Redaktion der Forbes, seine Strafe für Raub in den Vereinigten Emiraten abgesessen hat und dann ungehindert nach Tschetschenien zurückgekehrt ist, ungeachtet drohender Auslieferungsanträge durch das Justizministerium und die Generalstaatsanwaltschaft.

    Was die Verdächtigen betrifft, denen die „richtigen“ Anwälte zur Verfügung gestellt wurden, so sind deren Versuche, sich ein Alibi zu verschaffen, nach hinten losgegangen: Ihre genauen Angaben zu Aufenthaltsorten in Moskau brachten mehr und mehr Verstrickungen der fraglichen Personen ans Licht und führten zwangsläufig zu der Annahme, es seien noch ganz andere, nicht wirklich legale Angelegenheiten in ihren Aufgabenbereich gefallen.

    Bedeutung und Einfluss von Geremejews Familie haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen. Sogar in der weiblichen Linie: Die Schwester von Ruslan, Cheda, hat die Leitung des Sozialamts im Bezirk übernommen. Das führte – absolut nachvollziehbar – zu einem Aufstand Unzufriedener, die versicherten, dass angeblich 70 Prozent der Gelder dort irgendwo versickerten. Und Wacha Geremejew wurde als Chef der örtlichen Polizeidienststelle zum mächtigsten Mann im Bezirk.

    Zu den Mordmotiven

    Die Version, die die Verteidigung öffentlich vertritt, hält einem kritischen Blick nicht stand. Etwa die Behauptung, die Tat sei religiös motiviert, weil Nemzow sich nach den Schüssen auf die Mitarbeiter von Charlie Hebdo negativ zum Propheten und zu Allah geäußert hatte – eine klare Lüge. Erstens hatten die Verdächtigen, laut ihren eigenen Aussagen, mit den Mordvorbereitungen schon lange vor den Schüssen auf die Mitarbeiter der französischen Zeitschrift im Januar begonnen. Außerdem haben die Verdächtigen bei der Erklärung ihrer Motive immer wieder auf Folgendes hingewiesen: Nemzow sei ein Oppositioneller gewesen, der dabei war, „irgendeinen Marsch“ vorzubereiten, zweitens habe er die Ukraine unterstützt, drittens habe er „auf der Gehaltsliste von Obama“ gestanden, viertens habe er den Führer Russlands vulgär beschimpft. Wie, wo und auf welche Weise er all das gemacht haben soll, konnten die Befragten nicht erklären – offensichtlich, weil sie wohl irgendwelcher Propaganda aufsaßen.

    Solche wirren Erklärungen werfen jedoch neue Fragen auf: Wer hat diesen Personen solches Gedankengut eingepflanzt? Wer hat eine „Ausschreibung“ beauftragt mit Namen, die nicht auf der tschetschenischen Tagesordnung stehen?

    Was weiß General Solotow, der frühere, stellvertretende Leiter des föderalen Sicherheitsdienstes FSO und derzeitige Befehlshaber der Inneren Truppen? Dessen Untergebene waren vermutlich beim Treffen in Dshalka dabei, aber gegenüber dem Ermittlungskomitee gab er lange Zeit keine Auskunft auf die Frage nach deren Status.
    Warum hat der Sicherheitsdienst Russlands keine Aufzeichnungen der Videokameras vom Roten Platz und der Kremlmauer zur Verfügung gestellt, von denen es dort nur so wimmelt? Stattdessen müssen sich die Ermittler mit einem einzigen Video begnügen, das von einer Kamera des Senders TVZ aufgenommen wurde (die städtische Kamera auf der Brücke war offensichtlich gen Himmel gerichtet).

    Und schließlich: Warum will sogar Bastrykin, der Chef des Ermittlungskomitees, nicht zulassen, dass Ruslan Geremejew vernommen wird? (Geremejew ist übrigens nicht nur nach Tschetschenien zurückgekehrt, sondern hat sich zum Mord an Boris Nemzow bereits dahingehend geäußert, dass Dadajew ihn nicht begangen haben kann: Denn der habe sich die ganze Zeit bei ihm, Geremejew, aufgehalten und sei mit der Bewachung sagenhafter, hochrangiger Mitarbeiter der tschetschenischen Regierung beschäftigt gewesen.) Soll Bastrykin das ruhig mal öffentlich sagen. Zumal Geremejew (nach Angaben der Presseagentur Rosbalt) sowieso nichts anderes sagt, als dass er sich frage, was Schawanow überhaupt in Moskau zu suchen hatte. Dann würde endlich die Leitversion der Verteidigung – der tote Schawanow hat geschossen, der unerreichbare Muchutdinow war der Auftraggeber – auch ganz offiziell anerkannt.


    1.Nach einer Meldung vom 26.02.2016 hat sich der verdächtige Offizier des tschetschenischen Bataillons ​Sewer​ Ruslan Geremejew nun zu einer Aussage bereiterklärt, die er allerdings ausschließlich in schriftlicher Form leisten will. Er streitet weiterhin jede Verstrickung in den Fall Nemzow ab. Rosbalt.ru: Ruslan Geremejew nameren dat pokasanija na sluschanijach po „delu Nemzowa“

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  • „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    Wladislaw Inosemzew gilt als herausragender Wirtschaftsexperte und politischer Denker. Bekannt ist der Wissenschaftler, der auch Mitglied der liberalen Partei Prawoje delo (dt. Die Rechte Sache) ist, vor allem für seine permanente Kritik an der Wirtschaftspolitik des Kreml.

    Im Interview mit Jewgeni Senschin entfaltet er in prägnanten Thesen ein Panorama des aktuellen Russland.

    Das russische System ist im Verfall begriffen: Russland ist nicht in der Lage, etwas zu neuen technischen Entwicklungen beizutragen, die Erdölpreise, von denen das Land abhängt, sinken. Sie betonen aber immer wieder, dass die Lage bisher ziemlich stabil ist.

    Erodierende Systeme sind gerade deshalb ziemlich stabil, weil sie den Verfallszustand kennen und daran gewöhnt sind. Nehmen wir mal an, Sie sind in einem europäischen, wirtschaftlich prosperierenden und wohlhabenden Land und plötzlich ereignen sich dort Dinge, die all das erschüttern. Zum Beispiel die Einkommen sinken um ein Drittel oder ein Teil des Territoriums muss abgegeben werden. Dann treten alle möglichen Formen der Störung auf.
    Wenn Sie aber über Jahrzehnte in einem Land leben, in dem das Volk der Regierung absolut egal ist, in dem Gewalt immer die Norm gewesen ist, in dem der Staat vor 70 Jahren 20 Millionen Menschen der eigenen Bevölkerung umgebracht hat, in dem man nie im Reichtum gelebt hat und nie etwas von der Welt gesehen hat: Wovor soll man sich dann fürchten?
    Etwa davor, dass ein neuer Krieg ausbrechen oder es massenhafte Repressionen geben könnte? Nichts dergleichen steht uns bevor. Unter diesen Umständen lässt sich dieses System nur schwer aus dem Gleichgewicht bringen.

    Ich sehe weder die Möglichkeit für eine Palastrevolution noch für einen Volksaufstand noch für sonstwas. Meines Erachtens gibt es nur einen einzigen Ausweg aus dieser Situation: Das System wird von selbst zusammenbrechen, wenn es nichts mehr zu holen gibt. Es muss an seiner eigenen Sinnlosigkeit sterben.

    Durch die Propaganda gelingt es, alle Probleme dem Westen anzulasten

    Aber der Lebensstandard und die Einkommen sinken. Die Menschen vergleichen doch, wie sie vor, sagen wir, fünf Jahren gelebt haben und wie sie jetzt leben. Die Ergebnisse fallen nicht zugunsten der Gegenwart aus. Wirft denn auch das keinen Schatten auf Putins Lage?

    Möglicherweise stimmt das, was Sie sagen. Aber leider hat es bei den Menschen keine Folgen, wenn sie so etwas merken. Niemand versucht, Putin die Schuld zu geben dafür, dass es dem Volk schlechter geht. Durch die Propaganda gelingt es, alle Probleme dem Westen anzulasten: Dem sei es ein Gräuel, dass sich Russland „von den Knien erhebt“ und eine wichtige Rolle im Weltgeschehen spielt.

    Was ein mögliches Sinken der Umfragewerte des Präsidenten betrifft, so muss man verstehen: Umfragewerte sind das eine und Wahlergebnisse das andere. Hier sind Polittechnologen am Werk. Daher denke ich nicht, dass Putin bedroht ist. Und ich habe bisher keinen einzigen seriösen Experten gehört, der die These vertreten hätte, dass Putin vor 2018 gehen würde. Abgesehen von dem werten Herrn Kasparow, von Piontkowski und solchen Leuten. Ich schließe nicht aus, dass es nach 2018 irgendwelche Veränderungen geben kann, aber bis zu diesem Zeitpunkt im Grunde nicht.

    Ich sehe derzeit niemanden, der Putin stürzen und an seine Stelle treten wollte

    Was halten Sie von dieser Variante: Nach einer Aussöhnung mit dem Westen, tritt Putin 2018 als großer Sieger ab – denn danach wird alles bedeutend schlimmer, und das würde seine historische Bedeutung gefährden.

    Die beste Variante zum Rücktritt wäre für Putin 2008 gewesen. Aber diese Chance hat er nicht genutzt. Die Frage ist eine andere. Ich wiederhole: Ich sehe derzeit niemanden, der Putin stürzen und an seine Stelle treten wollte. Vor allem, weil die Bevölkerung bereit ist, das gegenwärtige Regime noch lange zu ertragen.
    Vielleicht entscheidet er sich ja selbst gegen eine erneute Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2018. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit dafür meiner Einschätzung nach bei 0,0001 %. Denn Wladimir Wladimirowitsch ist davon überzeugt, alles richtig zu machen. Er glaubt fest daran, dass alle Schwierigkeiten vorübergehend sind und es keinen Anlass für einen Rücktritt gibt.

    2015 bleibt als ein Jahr der Korruptionsskandale im Gedächtnis. Da ist der Prozess gegen Jewgenija Wasiljewa, der ehemaligen Leiterin der Abteilung für Vermögensverhältnisse des Verteidigungsministeriums. Die Inhaftierung der Gouverneure von Sachalin, Komi und des ehemaligen Regierungschefs von Karelien. Der Ex-Gouverneur der Oblast Brjansk wurde verhaftet. Und schließlich ist da Nawalnys Film über die Geschäfte der Söhne des Generalstaatsanwalts Tschaika.

    Beeinflussen solche Ereignisse die Gesellschaft und das Verhältnis der Bevölkerung zu den Machthabern? Oder ändert sich dadurch nichts Wesentliches?

    Der Kampf gegen die Korruption führt weder bei den Eliten noch in der Bevölkerung zu irgendwelchen Reaktionen. Den Film von Nawalny über die Söhne des Generalstaatsanwalts Tschaika haben angeblich Millionen gesehen. Na und?

    Die Gesellschaft betrachtet Korruption als etwas mehr oder weniger Normales

    Sie erwarten eine Reaktion der Eliten, und dabei gibt es nicht einmal eine Reaktion der Bevölkerung. Denn die Gesellschaft hat sich vollkommen an diese Vorgänge gewöhnt und betrachtet Korruption als etwas mehr oder weniger Normales.
    Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Korruption in Russland nicht nur den Eliten zu Gute kommt, sondern auch den einfachen Leuten. Denn wenn es die Korruption nicht gäbe und auch nicht die Möglichkeit, mit der Staatsmacht zu verhandeln, dann wäre das Leben der komplette Wahnsinn.
    Das bedeutet, das ganze System gründet darauf, dass die Leute klauen und die diebischen Oberen sie nicht daran hindern, sich mehr oder weniger bequem damit einzurichten. Und das stützt das System. Es nützt nicht nur denen da oben, sondern auch denen da unten, und deshalb wird es keine Reaktion der Bevölkerung auf die Korruption geben.
    Und wenn ihr euch später über den Anschluss der Krim freuen wollt, bekommt ihr auch einen wie Tschaika: Denn es ist das gleiche System und es wird von den gleichen Leuten gemacht.

    Ich sage Ihnen mal, warum Russland meiner Meinung nach versucht, in die Konflikte im Ausland einzusteigen: Es hält sich für den Mittelpunkt der Welt, für den Träger einer globalen Mission, für den Hort der geistigen Werte in den Zeiten der Apokalypse. Der Grund dafür ist im orthodoxen Erbe und in der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom zu finden. Da die Kirchenleute die heutigen Kremlbewohner auf diese Weise erhöht haben, sind die davon überzeugt, ihre Nase überall hineinstecken zu müssen.

    Wenn Sie sich darauf vorbereiten, die ganze Welt zu retten, dann müssen Sie das mit Hilfe von universellen Ideen tun, die von der Mehrheit verstanden werden. In diesem Sinne war die Sowjetunion, unabhängig davon, wie wir sie nun fanden, ein Staat, der über eine solche universelle und globale Ideologie verfügte – den Kommunismus. Ihre weltweite Expansion mit Hilfe des Kommunismus war also in gewisser Weise verständlich.

    Putin bietet der Welt heute die Doktrin von der Russischen Welt. Das ist jedoch eine lokal sehr begrenzte Idee. Wenn man die Idee von einer Russischen Welt in den Vordergrund stellt, muss man sich von einer globalisierten Welt verabschieden. Die Russische Idee steht für Autarkie, Autoritarismus, Abwesenheit ideologischer und religiöser Alternativen, täglich dreimaligen Kreuzgang um den Kreml und so weiter. Im globalen Denken einer modernen Welt erscheint das wohl kaum attraktiv. Zu einem solchen Europa hat die Russische Welt keinerlei Beziehung und wird von ihm niemals verstanden und akzeptiert werden. Aber wenn das so ist, dann kümmert euch halt um eure Sachen, oder habt ihr keine Probleme mehr?

    Europa hat es nicht eilig, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben. Können Sanktionen überhaupt bewirken, dass Russland die europäischen Spielregeln annimmt und sich wieder Europa zuwendet?

    Wenn es darum geht, ob die Sanktionen die russische Regierung dazu bringen können, etwas gegen ihren Willen zu tun, dann können sie das selbstverständlich nicht. Und die russische Regierung weiß, dass das nicht das Wesentliche ist. Die Europäer werden die Sanktionen so oder so wieder aufheben, weil sie keine Freunde der Konfrontation sind. Offen gestanden sind sie für sie überflüssig wie ein Kropf. Wenn aber in der heutigen Welt eine Seite eine andere überfällt, dann muss es darauf eine Reaktion geben. Die Europäer konnten nicht gegen Russland kämpfen, aber sie mussten irgendwie reagieren und haben deshalb die Sanktionen verhängt.

    Aber selbst, wenn die Sanktionen wieder aufgehoben werden, wird das nur wenig ändern. Die Sanktionen sind ein wichtiger und ernstzunehmender Faktor. Und sie untergraben zweifellos einige unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten, aber das ist nicht das Entscheidende in unserer Situation.

    Es sind nicht die Sanktionen, die unsere Entwicklung zum Stillstand bringen

    Derzeit ist es den europäischen Banken verboten, Kredite an russische Unternehmen zu vergeben, doch das bedeutet nicht, dass die europäischen Banken nach dem Ende der Sanktionen mit Krediten nach Russland angerannt kommen. Die hatten in der Zwischenzeit hervorragend Gelegenheit, sich nach neuen Märkten umzusehen.
    Außerdem ist der Preis für unsere wichtigste Ressource, das Erdöl, auf ein Drittel gesunken. Und wo bitte liegen die Vorzüge unserer Wirtschaft, mit denen wir ausländische Unternehmen anlocken könnten? Es gibt schlicht und ergreifend keine! Das ist das Erste.
    Zweitens sind es nicht die Sanktionen, die unsere Entwicklung zum Stillstand bringen, sondern die Versuche, das eigene Unternehmertum umzubringen. Alle haben schon lange erkannt, wie risikobehaftet Geschäfte in Russland sind. Die Aufhebung der Sanktionen wird also nichts Grundsätzliches ändern.

    Mit dem Referendum auf der Krim und der Unterstützung der Volksmilizen in der Ukraine hat die russische Regierung dem Westen gezeigt, dass Russland sich von den Knien erhoben und auf globaler Ebene zu einer entscheidenden geopolitischen Rolle zurückgefunden hat. Sie sind häufig in den USA, sagen Sie, was denkt man dort darüber? Ist es Putin gelungen, zu zeigen, dass er, wie Chruschtschow, mit dem Schuh auf den Tisch donnern kann? Inwiefern ist Russland für Amerika von Interesse und in welcher Form zeigt sich das?

    Ich kann ein ganz simples Beispiel nennen. In den letzten anderthalb Monaten habe ich mit vielen amerikanischen Russisten gesprochen, und als erstes, nachdem wir uns begrüßt und Kaffee bestellt haben, erzählen sie mir, dass ihnen alle Forschungsmittel zu russischen Themen zusammengestrichen wurden, weil das niemand brauche. Das höre ich von vielen Leuten. Da haben Sie die Antwort, inwiefern Russland derzeit von Interesse für die USA ist.

    Und im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus, gegen den Islamischen Staat?

    Die Europäer sind als Menschen mit gesundem Menschenverstand natürlich bereit, mit Russland im Kampf gegen den Terror zusammenzuarbeiten. Wenn vorgeschlagen wird, ein gemeinsames Bodenkontingent für den Kampf gegen den IS zu schaffen, dann sind alle ausnahmslos dafür. Aber wir wollen das nicht. Wir wollen dorthin fliegen und dort schießen, wo uns Assad hinschickt. Aber die Europäer lassen sich aus guten Gründen nicht zwingen, Assad zu lieben. Also, was für eine Art von Koalition könnte es hier im Kampf gegen den Terror geben?

    In Bezug auf die geopolitische Rolle Russlands ist, wie Obama es kürzlich treffend ausgedrückt hat, unser Land ein regionaler Akteur. Es spielt seine Rolle in der Ukraine und im gesamten postsowjetischen Raum. Und genau so wird es wahrgenommen. Aber darüber hinaus, was ist da?

    Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Russland nicht mehr als Regionalmacht behandelt wird, sondern als Rowdy

    Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Russland nicht mehr als Regionalmacht behandelt wird, sondern als Rowdy. Als solcher wurde Putin kürzlich von Hillary Clinton bezeichnet. Russland versuchte zu jenem Zeitpunkt einen unkonventionellen Zug. Es zog in den Kampf nach Syrien und wollte damit demonstrieren, dass es nicht nur eine Regionalmacht sei, sondern auch Interessen in anderen Regionen der Welt habe.
    Aber das hat nicht einfach so funktioniert, denn, wenn man gegen den internationalen Terrorismus kämpfen möchte, dann nach den Spielregeln des Westens. Zunächst musste Assad weg und anschließend der IS vernichtet werden. Und das alles in Abstimmung mit den USA. Dann wären die Amerikaner vielleicht bereit, sich mit Russland auszusöhnen, sogar in der Ukraine-Frage.
    Wenn Sie allerdings nach Syrien fliegen und dort die unglücklichen syrischen Turkmenen bombardieren, dann nimmt ihnen natürlich niemand mehr die ehrlichen Absichten im Kampf gegen den Terrorismus ab und keiner wird mehr mit ihnen zusammenarbeiten wollen.

    Europa ist unser wichtigster Absatzmarkt für Öl und Gas. Nicht nur für den Iran, sondern zum Beispiel auch für Katar oder die USA ist der europäische Markt ein Leckerbissen. Worauf müssen wir uns einstellen?

    Russlands größter Konkurrent auf dem europäischen Gasmarkt sind weder der Iran noch Katar, sondern die alternativen Energiequellen. Wir haben gesehen, dass es in Deutschland bereits 2015 einige Tage gab, an denen mehr als die Hälfte des Energieverbrauchs durch Wind- und Sonnenenergie abgedeckt wurde. Und die Beschlüsse, die von den Weltmächten auf dem UN-Klimagipfel in Paris Ende letzten Jahres gefasst wurden, sind ein Hinweis auf die enormen Investitionen, die in die alternativen Energien fließen werden. Das sollte uns durchaus beunruhigen.

    Sie sagen, dass Sie keine weltweite Krise erkennen können. Nun behaupten Wirtschaftswissenschaftler wie Sergej Glasjew aber das Gegenteil. Mehr noch, in ihren Augen ist die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise gerade deshalb so tiefgreifend und langanhaltend, weil sie mit dem Übergang in ein neues technisches Zeitalter verbunden ist – und dem Kampf verschiedener Wirtschaftssysteme und Staaten um den Platz an der Sonne. Ist das so?

    Tatsächlich stehen wir am Anfang eines neuen technischen Zeitalters. Dieser Prozess, der sich im Grunde genommen alle paar Jahrzehnte wiederholt, weil der Fortschritt nicht stillsteht, führt zum Einsatz neuer Technologien. Doch die andere Frage ist, wie diese neuen Strukturen mit der Wirtschaftskrise zusammenhängen. Erinnern wir uns beispielsweise an das Aufkommen der Computertechnik in der ersten Hälfte der 80er Jahre, als Microsoft, Dell und Apple auf den Markt kamen. Auch damals gab es eine Krise, aber nicht wegen der neu aufgekommenen Computertechnik, sondern wegen des von den Arabern erklärten Ölembargos. Also bin ich mir nicht sicher, ob die Krise zwangsläufig der Begleiter eines neuen Zeitalters ist.

    Zu glauben, dass Russland seinen Durchbruch erlebt, das ist auf gewisse Art schizophren

    Was Russland betrifft, so sind Glasjew und seine Freunde aus mir nicht ersichtlichen Gründen der Meinung, dass es eine Chance für Russland gibt, in diesem neuen Zeitalter seinen Durchbruch zu erleben. Das ist auf eine gewisse Art schizophren.
    Denn wenn wir die Geschichte betrachten, sehen wir, dass jede neue Entwicklung, ob das nun Dampfmaschine, chemische Industrie, Fließbandproduktion, Computer oder Biotechnologie sind, dort stattfindet, wo die zuvor existierenden Technologien bis zum Ende ausgereizt worden sind. Das heißt, dass es niemals eine Situation gegeben hat, in der der Maschinenbau in Großbritannien die höchste Entwicklungsstufe erreicht hätte und anschließend Paraguay plötzlich eine führende Rolle in der Computerproduktion gespielt hätte.

    Ich kann kein einziges Indiz erkennen, das auf eine Führungsrolle Russlands im neuen technologischen Zeitalter schließen lässt. Vorreiter dieser neuen Zeit werden erneut die USA, Japan, Kanada, Deutschland und so weiter sein. Eben jene Länder, die das bereits in den vergangenen Jahrzehnten waren. Und das ist eigentlich alles, was es dazu zu sagen gibt.

    Welchen Platz wird Russland in dieser neuen Struktur einnehmen? Besser gesagt, welchen Platz möchte es von sich aus besetzen?

    Jedes Land sollte – abhängig von den vorhandenen Ressourcen – eine Strategie entwickeln, um maximalen Wohlstand zu erreichen. Wenn klar ist, dass man Erdöl hat, sollte man über die 15 Jahre, solange es teuer ist, Mittel einsetzen, um einen neuen Motor zu entwickeln, der die Wirtschaft ankurbelt. Den arabischen Emiraten ist das sehr gut gelungen – heute sind Unternehmen wie die Emirates Airways und der Flughafen Dubai die größten Steuerzahler. Sie haben ein hervorragendes Drehkreuz für den Personen- und Warenverkehr geschaffen und mit Dschabal Ali außerdem einen exportorientierten Fertigungsplatz. Sie haben eine Reihe neuer Städte gebaut, unter anderem Anziehungspunkte für Touristen.

    Russland hat bisher nichts Vergleichbares geschaffen. Und hat das, allem Anschein nach, auch nicht vor. Wir haben uns also selbst die Rolle des Rohstofflieferanten ausgesucht.

    Der Weg, den wir gewählt haben, ist perspektivlos

    Wenn wir bislang so gehandelt haben, dann lassen Sie uns darüber nachdenken, wie es weitergehen könnte: Wir könnten entweder westliche Unternehmen zu uns einladen, wie Kasachstan es tut, die Erdölförderung erhöhen, die Produktion weiterentwickeln und sie äußerst flexibel gestalten. Beispielsweise könnten wir entlang aller Küsten Fabriken zur Gasverflüssigung errichten, die weltweit größte Tankerflotte aufbauen und Erdöl- und Erdgaslieferant für die Regionen der Welt werden, die einen extrem dringenden Bedarf haben, und so global eine ausgleichende Funktion übernehmen. Ein Beispiel: Die Preise für Erdöl in Japan sind gestiegen, und wir haben unsere Tanker dorthin geschickt. Das ist eine mögliche Strategie.

    Es gibt auch eine andere Strategie. Und zwar: Überall Pipelines hinverlegen, die Hälfte des aufkommenden Schmiergelds in die eigene Tasche stecken und hoffen, dass sich an der Konjunkturlage nichts ändert. Das ist der Weg, den wir gewählt haben. In meinen Augen ist der absolut perspektivlos.

    Aber es gibt doch in Russland immer noch Menschen, die Hochtechnologien entwickeln und realisieren. IT-Spezialisten aus Russland beispielsweise sind heutzutage im Ausland sehr geschätzt. Existieren bei uns wirklich keinerlei Voraussetzungen oder Möglichkeiten, um in irgendeiner Weise den Anschluss an die neuen technologischen Entwicklungen zu finden?

    Alle diese weltweiten Entwicklungen bilden ein komplexes globales Netz. Das besteht aus den enormen Leistungen von hunderttausenden von Experten auf der ganzen Welt. Auch russische Fachleute können Teil dieses Netzes sein. Entwicklungen müssen sich aber in konkreten Produkten materialisieren. So wie die Computertechnologie in Chips, Mobiltelefonen und so weiter. Die neuen technologischen Entwicklungen werden unter anderem Medizin und Biotechnologie voranbringen. Aber beispielsweise die Nanotechnik ist ja nicht einfach die Ionisierung von Luft. Sie ist Maschinenbau unter Verwendung von Nanoteilchen und Nanozusatzstoffen. Das heißt, man braucht grundlegende Produktionsstrukturen, in die die Innovationen integriert werden. Die gibt es aber in Russland nicht.

    Die USA und China sind nicht nur zwei eng verbundene Volkswirtschaften, sondern auch geopolitische Konkurrenten. Hinzu kommt die Krise: der Zusammenbruch der Börse. Einige Experten sehen das als Vorzeichen für einen Weltkrieg. Denn der Zweite Weltkrieg war ja auch eine Reaktion auf die Große Depression.

    Ja, die weltweite Krise der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts endete mit dem Zweiten Weltkrieg, das ist so. Allerdings brach zum Beispiel der Erste Weltkrieg zu einem Zeitpunkt aus, als der Zustand der Weltwirtschaft ausgezeichnet war. 1913 gab es einen industriellen und wirtschaftlichen Aufschwung und nichts deutete auf irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzungen hin. Ich kann keine festen Gesetzmäßigkeiten erkennen, die darauf schließen lassen, dass gerade eine Wirtschaftskrise zu einem Weltkrieg führen sollte.

    Dass in Russland ständig über Krieg gesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass irgendjemand nicht friedlich und ruhig leben kann

    Daher ist die Vorstellung, dass die Welt an irgendeiner Schwelle zu irgendeinem Weltkrieg stehe, der Versuch, eine Art selbsterfüllende Prophezeiung zu konstruieren. Und die wird gerade von Ländern und Regionen äußerst aktiv eingesetzt, die sich selbst irgendeine Art von Erschütterung wünschen. So versuchen sie, diese in irgendeiner Weise heraufzubeschwören.

    Dass in Russland ständig über Krieg gesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass irgendjemand nicht friedlich und ruhig leben kann. Dass man es nicht als Wert an sich anerkennt, wenn auf der Welt alles in Ordnung ist. Ständig möchte man die Ursache irgendwelcher Probleme sein, damit man nur ja nicht übersehen wird.

    Die russische Führung versucht ja ganz offensichtlich, die Situation in verschiedenen Regionen der Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dann bemüht sie sich darum, mit den früheren westlichen Partnern über irgendetwas verhandeln zu können, nach dem Prinzip: Wenn wir nur irgendetwas Garstiges tun, dann werden sie schon gezwungen sein, mit uns zu verhandeln.

    Mit einem Wort: Es geht um die Idee, dass jeden Augenblick ein Krieg ausbrechen könnte. Das ist eine provinzielle Sichtweise, die aktiv von der russischen Propaganda geschürt wird. Lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen.

    Unser Gespräch hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl. In Ihren aktuellen Artikeln beschäftigen Sie sich immer wieder mit der Emigration der „Bevölkerung mit gesundem Menschenverstand“. Nur: Was tun, wenn es keine Möglichkeit zur Emigration gibt, auch wenn man hundert Mal einen gesunden Menschenverstand besitzt? Protestieren? Den Mund halten? Still und leise Geld für die Ausreise ansparen?

    Emigration, das ist eine schwere Entscheidung. Sie bedeutet, das Haus zu verkaufen und das Geschäft aufzugeben. Und wenn sich Menschen dazu entschlossen haben, darf man sie nicht verurteilen. Nur ist es sehr traurig, dass Russland diese Menschen verliert. Denn genau diese Menschen werden hier gebraucht, Menschen, die bereit sind, etwas auf die Beine zu stellen. Daher rate ich ganz und gar nicht dazu, aus dem Land wegzulaufen.

    Dennoch sehe ich sehr klar, dass sich der Trend zur Emigration verstärkt. Und ich verstehe diese Menschen und respektiere ihre Entscheidung. Und denen, die bleiben, rate ich zu schweigen, denn derzeit gibt es ganz objektiv keine Voraussetzungen dafür, dass sich irgendetwas ändert. Und ich würde derzeit auch niemandem empfehlen, zu versuchen, etwas zu verändern. Probleme gibt es so schon genug, weshalb sich dann auch noch der Verfolgung aussetzen?

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  • Russland als globaler Dissident

    Russland als globaler Dissident

    Seltsame Verkehrungen in Russlands Selbstbild beobachtet Maxim Trudoljubow von den Vedomosti: Die offiziellen Medien stilisieren die Weltgemeinschaft zu einer Art globaler UdSSR und messen Russland selbst in dieser die Rolle des standhaften, von allen drangsalierten Verweigerers an. Also dieselbe Rolle, welche in der echten, tatsächlichen UdSSR die Dissidenten innehatten. Da dasselbe Russland sich wiederum gern als direkten Nachfolger der Sowjetunion betrachtet, ist das nicht nur ein Widerspruch, warnt der Kolumnist, sondern Anzeichen eines bedenklichen Realitätsverlustes.

    Die russische Gesellschaft sieht sich nicht. Wie auch jede andere Gesellschaft und jeder Mensch sich selbst nicht sieht. Um sich selbst zu sehen, braucht man einen Spiegel. Häufig erfüllen die Medien diese Funktion in der Gesellschaft. In Russland spiegeln sie allerdings nicht das Leben der Bewohner Russlands wider, sondern das Leben der Anderen. Die Medien bombardieren die Bevölkerung mit Artikeln über Kriege, Gezänk und Krisen in Griechenland, im Nahen Osten, in Europa und selbstverständlich in der Ukraine. Überall Krisen, in jeder Regierung tummeln sich Politiker, die sich am Staat bereichern, alle Länder befinden sich im Würgegriff von verantwortungslosen Staatsapparaten, von Korruption und Fremdenfeindlichkeit. Doch in Russland geschieht so etwas natürlich nicht, denn es erscheint ja nicht auf den Fernsehbildschirmen.

    Und wenn dann doch in irgendwelchen Zusammenhängen mal negative Themen aufscheinen, so – und das leuchtet jedem sofort ein – liegen die Gründe für Rezession, Inflation, Ärztemangel und polizeiliche Willkür ausnahmslos außerhalb der Landesgrenzen. Die Gründe liegen immer im Außen. Es erstaunt wirklich, dass es in der russischen Geschichte eine Zeit gegeben hat, in der Bürger bei der Betrachtung von Kausalzusammenhängen tatsächlich die Staatsmacht miteinbezogen haben. Wie in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor ist das heute wieder anders. Es ist eine alte Tradition. „Stalins politische Begabung bestand teilweise in seiner Fähigkeit, Bedrohungen von außen mit Misserfolgen in der Innenpolitik derart gleichzusetzen, als wären sie ein und dasselbe und als wäre er persönlich weder für das eine noch für das andere verantwortlich“, schreibt der Historiker Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. „Und 1930, als die Probleme der Kollektivierung offen zu Tage traten, sprach er bereits von einer internationalen Verschwörung der Trotzkisten mit verschiedenen ausländischen Staaten.“

    Demnach ist der Umstand, dass die Menschen in Russland weder sich noch die innenpolitischen Probleme sehen, wohl aber eine Welt da draußen, voller Gefahren und Verrat, also nichts Neues. Doch es wäre interessant zu wissen, was sie eigentlich sehen? Welches Bild eigentlich vor ihrem Auge entsteht, wenn die Erzeuger der medialen Welt ihre Instrumente zur Hand nehmen und mit ihrer schöpferischen Arbeit beginnen?

    Bei einer der wichtigsten Polit-Talkshows hat der bekannte Journalist Witali Tretjakow die Situation der Nicht-Einladung Russlands zum Treffen der G7 wie folgt kommentiert: „Es ist ehrenvoll, ein Dissident zu sein.“ Russland, erklärte Tretjakow, sei die wirklich „intelligente Minderheit“ dieser Welt. Man erklärt uns immer, die Mehrheit, das sei der Mainstream, die dumpfe Masse, und hier haben wir sie, die kluge Minderheit: Russland. Das ist ein tiefsinniger Vergleich. Es lohnt sich, ihn zu ergänzen um die seit Langem im Russischen gebräuchlichen Vergleiche von Washington und Brüssel mit dem seinerzeit sehr einflussreichen, allgegenwärtigen Obkom. Russland führt – wie ein kollektiver Dissident in der großen und autoritären Welt – einen ungleichen Kampf gegen die Kräfte eines Welt-ZK der KPdSU und KGB. Aufeinandertreffen dieser Art gibt es immer weider, sei es bei der FIFA-Affäre, in der Blatter fast schon als Dissident dargestellt wird, sei es in Geschichten über Griechenland, in der Tsipras die Rolle des Verfolgten spielt. Russland, der Bürgerrechtler, schützt selbstverständlich die Verfolgten. Und die „Obkoms“ knurren zurück. Sie sind nicht mehr die, die sie unter Stalin waren. Sie gleichen mehr den Staatsorganen der Breshnew-Zeit, in Maßen blutrünstig, vor allem aber hart und verschlagen. Mit Russland machen sie in etwa das, was die sowjetischen Organe damals mit den Dissidenten innerhalb Russlands gemacht haben. Sie trachten danach zu diffamieren, erheben diverse absurde Vorwürfe, verhängen Sanktionen, kappen Einkommensquellen, verurteilen und schicken in die Verbannung. Russland heute, das ist in der Vorstellungswelt der medialen Propagandisten ein fabelhafter Sacharow, ein Herausgeber der Chronik des Zeitgeschehens (soll heißen jetzt: Russia Today), ein aller Auszeichnungen Beraubter (aus der Gruppe der G8 gejagt) und ein nach Gorki Verbannter (Einreiseverbot für einzelne Regierungsvertreter).

    Das bedeutet, dass die, die das Regime vertreten und verteidigen, sehr gern als hochgeschätzte Figuren angesehen würden – draußen in der Welt. Innerhalb des Landes, dem du die Macht gewaltsam aufdrängst, wird es keine echte Wertschätzung geben, also gehst du ins Außen. Die sowjetische Lebenswelt hat wahrscheinlich jene stark traumatisiert, die sich heute als Elite und politische Klasse bezeichnen. Sie möchten gern ebene jene „kluge Minderheit“ sein, doch innerhalb von Russland ist das nicht möglich, dieser Platz ist besetzt von der Opposition und denkenden Menschen. Die gilt es kaltzustellen, was wiederum heißt, in der höchst unangenehmen Rolle als Vertreter des Pöbels aufzutreten. Allein der Umstand, dass die Welt, die die russischen Propagandamacher malen, ein große weltumspannende UdSSR ist, sagt uns viel über sie.

    Sie malen eine Welt, die der UdSSR ähnelt, und wollen aussehen wie die Mächte des Guten, wobei Dissidententum als das Gute gilt. Dabei muss ihnen doch eigentlich klar sein, dass sie unter Bedingungen eines durchchoreographierten öffentlichen Lebens nicht die Kräfte des Guten sein können. Aber eines ist merkwürdig. Es ist merkwürdig, dass eine derartige Menge ganz normaler und im Grunde genommen nicht schwertraumatisierter Bürger Russlands mit Vergnügen dieses tägliche Theater im Fernsehen mitansehen. Möglicherweise ist es ihnen, wie auch den Kreml-Chefs, einfach zu traurig, sich wirklich umzusehen. Man will sich einfach nicht mit dem beschäftigen, was ansteht, man will es den Nachgeborenen überlassen.

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  • Albrights Un-Worte

    Albrights Un-Worte

    Das Internet wimmelt vor Gerüchten und Legenden, Halbwahrheiten und kruden Theorien – auch und gerade in Russland. Manche von ihnen werden zum regelrechten Politikum: etwa, dass die ehemalige Außenministerin der USA, Madeleine Albright, gesagt haben soll, Russland besitze Sibiriens Bodenschätze zu Unrecht. Die Journalistin Julija Latynina geht der Frage nach, wie es zu der beeindruckenden Karriere dieses Zitats kam, durch die es in eine der wichtigsten Fernsehsendungen des Landes gelangte. Wenn es denn eines war.

    Yes! Lange habe ich darauf gewartet, dass sie das auch offiziell sagen – und jetzt ist es passiert.

    Der Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Nikolaj Patruschew erklärte in einem Interview mit der Zeitung Kommersant, die USA „hätten es sehr gerne, wenn Russland überhaupt nicht existierte“, „weil wir über sehr große Reichtümer verfügen. Und die Amerikaner glauben, dass sie illegal und unverdient in unserem Besitz seien, da wir sie, ihrer Meinung nach, nicht so verwenden, wie wir sie verwenden sollten. Sie erinnern sich sicherlich an die Äußerung der ehemaligen Außenministerin der USA, Madeleine Albright, dass weder der Ferne Osten noch Sibirien Russland gehöre.“

    Die Entstehungsgeschichte dieser Äußerung ist überaus interessant. Das erste Mal taucht sie, soweit ich das recherchieren konnte, im Juni 2005 als Zitat in einem Internetforum auf. Damals schrieb eine gewisse Nataly1001 im Blog „Seltsame politische Situation“ vom 07.06.05 des Forums forum.germany.ru Folgendes:

    „Da meine Arbeit mit dem Internet zu tun hat, lese ich regelmäßig die aktuellen Nachrichten und dort habe ich in der letzten Zeit eine sonderbare politische Tendenz beobachtet. Von den russischen Medien wurde recht oft das Thema der nationalen Sicherheit aufgekocht … Zu hören war die Äußerung der früheren US-Außenministerin Frau Albright: 'Solange ein Territorium wie Sibirien von diesem einem Land beherrscht wird, kann von einer weltweiten Gerechtigkeit keine Rede sein. Wäre es ein anderes Land, sähe die Sache freilich anders aus! …' Ehrlich gesagt, auch wenn diese Äußerung die Meinung einer Privatperson und ehemaligen amerikanischen Politikerin wiedergibt, sie gibt zu denken….“

    Nataly1001 trug alle Merkmale eines Kreml-Trolls. Nach der Veröffentlichung dieses Artikels entbrannte eine heftige Diskussion. Die Skeptiker forderten Quellenangaben, ihnen wurde entgegnet: „Lest bitte Zbigniew Brzeziński.“

    Die Skeptiker gaben sich damit nicht zufrieden. „Wenn besonders betont wird, dass ein bedeutender Politiker so etwas gesagt hat, lässt das Zweifel daran aufkommen, dass er es tatsächlich so gesagt hat, und deshalb fordern wir einen Beleg, na, und aus dem können dann Schlüsse gezogen werden.“

    Die Trolle antworteten: „Beweise wofür? Es ist doch klar, dass sich die westlichen Politiker allesamt von Äußerungen dieser Art distanzieren werden!“

    Kurz gesagt: Zwei Dutzend Seiten des Forums wurden gefüllt mit Verwünschungen an die Adresse von Albright, Quellenangaben existierten allerdings auch danach nicht.

    Damit war die Sache in der Welt. Die Äußerung von „Madeleine Albright“ war nun eingeführt, jetzt konnte man den Prozess zu ihrer Legitimierung auf eine neue Ebene bringen.

    Am 14. Juli 2005, einen Monat nach ihrem unbelegten, durch den Fleiß anonymer Trolle ermöglichten Auftauchen, wurde die Äußerung von Alexej Puschkow, dem Chef der Fernsehsendung Postskriptum, zitiert.

    „Bekanntlich werden Madeleine Albright“, erklärte Puschkow, „die Worte zugeschrieben, dass 'Sibirien ein zu großes Territorium sei, um einem Staat allein zu gehören.' Selbst wenn sie es nicht genau so gesagt haben sollte, so haben sie oder einer der gar nicht dummen Leute in Amerika doch etwas Derartiges gemeint.“

    Danach bezogen sich alle Quellenangaben bereits auf die Sendung von Puschkow. „Wie Madeleine Albright in der Sendung von Puschkow gesagt hat …“ In Wahrheit hat nicht sie etwas gesagt, sondern Puschkow. Und vielleicht auch gar nicht gesagt, sondern nur gemeint. Und vielleicht auch nicht Albright, sondern „irgendjemand dort drüben“.

    Ein Jahr später sollte sich allerdings herausstellen, was Madeleine Albright tatsächlich gemeint hatte. Am 22. Dezember 2006 gab Generalmajor Boris Ratnikow ein Interview in der Rossijskaja Gaseta. Das Interview trug wirklich die Überschrift: „Die Tschekisten haben die Gedanken Albrights gescannt“.

    Nun ist es so, dass Generalmajor Boris Ratnikow vom russischen Schutzdienst FSO eine Spezialabteilung beaufsichtigte, die sich mit den Geheimnissen des Unbewussten beschäftigte. Und so hatte der Generalmajor am Vorabend des Jugoslawienkriegs im Verlauf seiner astralen Schlachten eine „Sitzung zum Anschluss an das Unterbewusste der Außenministerin Albright“ organisiert.

    „In den Gedanken von Frau Albright konnten wir einen pathologischen Slawenhass entdecken“, erklärt der Generalmajor. „Darüber hinaus hat sie die Tatsache verärgert, dass Russland über die weltweit größten Vorkommen an Bodenschätzen verfügt. Ihrer Meinung nach sollte über die russischen Bodenschätze in der Zukunft kein Land allein, sondern die gesamte Menschheit verfügen können, natürlich unter Führung der USA.“

    Weniger als ein halbes Jahr nach dieser Veröffentlichung, am 18. Oktober 2007, gab es im Fernsehen eine Fragestunde mit Präsident Putin. Bei der bat ein einfacher Mechaniker aus Nowosibirsk den Präsidenten, die Äußerung der ehemaligen Außenministerin der USA Madeleine Albright darüber, dass Russland „ungerechterweise allein über die natürlichen Ressourcen Sibiriens verfüge“, zu kommentieren.

    Putin erklärte, dass ihm diese Äußerungen Albrights nicht bekannt seien, allerdings „wisse er, dass solche Ideen in den Köpfen einiger Politiker vor sich hin gärten“. „Das ist, meiner Meinung nach, so eine Art politische Erotik, und vielleicht verschafft sie sogar irgendjemandem Befriedigung, sie wird aber kaum zu positiven Ergebnissen führen“, bemerkte der Präsident.

    Diese Frage und Antwort während der Liveschaltung, für die einfache Mechaniker sorgfältig ausgewählt und herbeigeschafft wurden, waren ganz offensichtlich ein weiterer Baustein zur Legitimierung der Äußerung und alles war außerordentlich fein konstruiert. Einerseits war diese Äußerung nun im ganzen Land zu hören gewesen, und ja, sogar in einer Livesendung mit dem Präsidenten. Andererseits – siehe Putins Antwort.

    In Patruschews Interview mit der Zeitung Kommersant schloss sich der Kreis. Das nicht existierende Zitat, das durch die Kreml-Trolle in die Internetforen geschleust und durch den sich zu den Sternen erhebenden General Ratnikow zitiert worden war, verwandelte sich in ein Glaubensbekenntnis und in ein Axiom jener nichteuklidischen Politgeometrie, in der der kollektive Kremlverstand zu Hause ist.

    Das Mittelalter war bekanntlich eine Zeit des fanatischen, aufrichtigen und ekstatischen Glaubens. Und gleichzeitig war es eine Zeit, in der gefälschte Reliquien – die Nägel, mit denen man Jesus Christus ans Kreuz geschlagen hatte, die Knochen von Johannes dem Täufer und anderes – als Massenware im Umlauf waren, so dass allein aus den Nägeln ein ganzes Schiff hätte zusammengenagelt werden können. Mich hat immer interessiert, ob eigentlich die Lieferanten der falschen Knochen selbst an die Echtheit ihrer Knochen glaubten?

    Nach dem Interview mit dem Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Nikolaj Patruschew kann man sicher sagen: sie glaubten daran.

    Und diese wunderbaren Menschen haben das Sagen in Russlands Politik und Strategie. Wieso eigentlich nicht? Sie können ja sogar Gedanken lesen.

     

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