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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

    Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

    „Domoi! Ab nach Hause!“, rufen die Menschen im Stadtzentrum von Cherson. Mit ukrainischen Flaggen laufen sie auf einen russischen Militär-LKW zu, der sich im Rückwärtsgang von der Menschenmenge entfernt. Die Bilder von den Protesten gegen die russische Besatzung der südukrainischen Stadt Cherson gingen im März 2022 um die Welt. Wenig später folgten erste Berichte über Verschleppungen: „Ich bin in Cherson auf einer friedlichen Protestaktion gewesen. Mein Vater wird seit Montag, den 21. März 2022, vermisst; er ist zu einer Kundgebung gegangen und nicht zurückgekehrt.“

    Russland hat zahlreiche ukrainische Zivilisten gefangen genommen und auf die Krim verschleppt. Auf Meduza berichten ehemalige Häftlinge, wie sie dort im Gefängnis misshandelt wurden.

    Achtung: Der Text enthält drastische Darstellungen von Folter und Gewalt.

    Am Morgen des 9. Mai 2022 hörte Alexander Tarassow, Gefangener des Untersuchungsgefängnisses SISO Nr. 1 in Simferopol, hinter der Tür seiner Zelle die Speznas-Leute des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN brüllen: „Antreten! Kopf runter, rauskommen! Zackig, hab ich gesagt!“

    Die fünf Zelleninsassen senkten mit einstudierter Bewegung die Köpfe und verschränkten die Hände auf dem Rücken. Von da an sah Tarassow nur den Boden, die eigenen Füße und die Stiefel der Speznasowzy. Tief heruntergebeugt in der Stellung „Delfin“ kam er aus der Zelle und stellte sich mit dem Gesicht an die Wand. „Breiter! Die Beine breiter auseinander, hab ich gesagt!“ Einer der FSIN-Männer schlug Alexander so lange auf die Waden, bis der Häftling praktisch im Spagat stand.

    Mit der Stirn an die Wand gepresst dachte Tarassow nur an seine zu reißen drohenden Sehnen und hörte, was die Einsatzleute jetzt von ihm wollten: „Welcher Feiertag ist heute? Hm? War dein Opa im Krieg? Antworte!“

    Egal, wie die Antwort lautete – jeder Häftling bekam einen Schlag mit dem Elektroschocker: „Eure Großväter würden sich im Grabe umdrehen, ihr Faschisten!“

    Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, ‚Den Pobedy‘ zu singen

    Wenige Stunden später kam die Speznas zur nächsten Kontrolle. Diesmal gingen die mit Elektroschockern bewaffneten Einsatzleute gleich in die Zelle. In der Tür stand der Hundeführer. Sein Hund zerrte an der Leine, wollte sich auf die Häftlinge stürzen und bellte heiser, erinnert sich Tarassow.

    Einen von Tarassows Zellengenossen, Sergej Derewenski, nannten die Speznasowzy „Kämpfer des Rechten Sektors“. „Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, [das Sowjetlied] Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) zu singen“, erzählt Tarassow. „Sie verpassten ihm einen Tritt direkt in die Magengrube: ‚Los, sing!‘“

    Tarassow sah nicht hoch. „Das bringen sie dir schnell bei“, erläutert er dem Korrespondenten von Meduza die Ordnung im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1. „Die kleinste Augenbewegung, und du hast den Elektroschocker am Schädelknochen. Also schaute ich auf meine Füße. Und hörte zu.“

    „Dieser Tag des Sieges riecht nach Schießpulver …“, begann Derewenski mit fremder, ganz anderer Stimme – zitternd, gebrochen – zu singen. Den Einsatzkräften gefiel ganz offenbar, was sie hörten, denn sie sagten immer wieder: „Weiter!“ und machten weiter mit dem Elektroschocker, wenn Sergej sich verhaspelte.

    Der Stromschlag geht durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann

    „Der Stromschlag geht gefühlt durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann“, beschreibt Tarassow das Gefühl der Elektroschockbehandlung. „Danach krampfen sich die Muskeln weiter zusammen … Und in diesem Zustand sang er: ‚Mit Tränen in den Augen …‘“

    Bei diesen Klängen kamen weitere Gefängniswärter dazu. Der Hundeführer sah dem Auftritt weiterhin von der Tür aus zu; sein Diensthund war jetzt ruhig. „Ich betete, dass das an mir bitte vorübergeht“, erinnert sich Tarassow. „Wir waren zu fünft in der Dreierzelle, und wir hatten alle Angst, dass wir auch singen müssen.“

    Als die Speznasowzy weg waren und die Häftlinge wieder aufschauen konnten, sah Tarassow, dass Derewenski ganz blass war. „Wir alle hatten schweigend mit ihm gelitten. Hatten ihn aber nicht beschützen können. Wir waren beschämt, dass wir nichts dagegen ausrichten konnten“, sagt Tarassow. „Du wirst gequält, musst aber deine Schutzreflexe unterdrücken. Weil jeder Widerstand es nur schlimmer macht.“

    Vor seiner Verhaftung organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson

    Vor seiner Verhaftung im März 2022 organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson. Seine Zellengenossen waren ukrainische Aktivisten und Freiwillige, die der ukrainischen Armee geholfen hatten und in den Gebieten festgenommen wurden, die Russland zu Beginn des Krieges erobert hatte. Den Aufsehern zu widersprechen wagte niemand mehr: Jeder in dieser Zelle hatte bis Mai 2022 bereits Folter erfahren. Nikita Tschebotar aus Hola Prystan hatten sie aus dem Luftgewehr in die Beine geschossen – und ihn dann gezwungen, sich eigenhändig die Bleikugeln aus dem Fleisch zu pulen. Alexander Geraschtschenko aus Cherson wurde mit Stromschlägen gefoltert. Sergej Zigipa aus Nowa Kachowka wurde aus dem Gefängnis ins FSB-Gebäude nach Simferopol gebracht und stranguliert.

    Tarassow selbst war nach seiner Verhaftung im Keller der Stadtverwaltung von Cherson gefoltert worden (in der sich zu dem Zeitpunkt bereits die russischen Truppen eingerichtet hatten). Man klebte ihm Elektroden an die Ohrläppchen, ließ den Strom laufen und verlangte von ihm, die Namen der anderen Organisatoren der Proteste zu nennen. Tarassow zufolge nannten die FSB-Leute diese Methode „Anruf an Selensky“.

    „Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe und sagte: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe“, berichtet Tarassow. „Ich wusste echt nicht, ob er abdrückt oder nicht.“

    Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe

    Tarassow gibt zu, dass er bei den „Kontrollen“ im Simferopoler Untersuchungsgefängnis am liebsten aufbegehrt und zugeschlagen hätte. „Ich weiß noch, wie wir da sitzen, und einer [ein Mithäftling] nimmt einen Löffel und fängt an, ein Loch in die Wand zu kratzen. Sagt: ‚Guck mal, wir könnten echt einen Tunnel buddeln!‘ Ich sag zu ihm: ‚Und dann?‘ Da waren immer mindestens drei von der Speznas und der Typ mit seinem Hund plus zwei Wachen. Der ganze Block war vergittert. Und wir kannten nicht mal den Weg da raus.“

    Im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1 kann man sich leicht verirren: Es befindet sich in einer richtigen Gefängnisfestung aus dem 19. Jahrhundert. Tarassow erinnert sich: „Es ist wie ein mittelalterliches Verlies: Du wirst durch endlose verschlungene Gänge geführt, eine Gittertür nach der anderen wird aufgeschlossen … Und dazu hast du einen Sack über dem Kopf.“

    Die in der Ukraine festgenommenen zivilen Geiseln – so nennen Menschenrechtler die ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen ohne Anklage oder Kriegsgefangenenstatus in Untersuchungshaft gehalten werden – waren in einem Sonderblock untergebracht und komplett von allen anderen Häftlingen isoliert.

    „Im SISO gingen Gerüchte um, wir wären irgendwie besonders gefährlich“, erinnert sich Tarassow. „In Wahrheit wurde das gemacht, damit keinerlei Informationen über uns nach außen drangen. Einmal gingen wir an Insassen vorbei, die Küchendienst hatten, da rief der Gefängniswärter: ‚Wegdrehen, Gesicht an die Wand!‘“

    Die Zahl der ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen festgehalten werden, ohne offiziell als Kriegsgefangene oder als Angeklagte zu gelten, ist unbekannt.


    „Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?“

    Die Gefangenen im Simferopoler SISO erinnern sich gut an das Surren des Elektroschockers – und wie es nach dessen Einsatz roch.

    „Wenn denen irgendwas nicht passt – Stromschlag. Sie haben aus uns verängstigte Tiere gemacht“, sagt Alexander Tarassow. „Sie haben uns dazu gebracht, dass wir bei den routinemäßigen Kontrollen horchten, ob wir hinter der Wand den Elektroschocker hörten. Allein von dem Geräusch bekam ich Muskelkrämpfe.“

    Die Speznas-Leute wussten genau, welche Wirkung das Summen des Elektroschockers auf die Häftlinge hatte – und spazierten ausgiebig ohne echten Grund mit den eingeschalteten Geräten durch die Korridore. „Sie machten sich einen Spaß draus und ließen die Dinger im Takt surren: pam-pam-pa-pa-pam“, erinnert sich Tarassow. „Sie wussten, dass uns dieses Geräusch in die Eingeweide fährt. Dass wir Bauchkrämpfe davon bekommen und es uns gegen die Schläfen haut.“

    Sie zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation‘

    „Sie haben uns einfach dafür gehasst, dass wir ihre Truppen [zu Beginn der Invasion] nicht mit Brot und Salz empfangen haben“, sagt Tarassow. „Sie schlagen dir gegen die Waden, zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?‘“

    Nach Aussage von Meduzas Gesprächspartnern war der ukrainische Widerstand gegen den russischen Einmarsch ein echter Schock für das Personal des Simferopoler SISO Nr. 1. Und so versuchten sie, die Häftlinge „umzuerziehen“. Behaupteten ihnen gegenüber, dass die russischen Truppen bereits Odessa und Poltawa eingenommen hätten.

    Die Häftlinge hatten keine Verbindung zur Außenwelt. „Uns erreichten nur spärliche Informationen; manchmal konnten wir das Radio hören, das für die anderen Gefangenen angemacht wurde“, erzählt Tarassow. „Und im Mai [2022] mussten wir uns alle die Sendung Wojennaja taina [Kriegsgeheimnis] angucken, in der Russland versprach, bald das Regierungsviertel [in Kyjiw] einzunehmen. Da konnten wir dann selbst unsere Schlüsse ziehen: Wenn Selensky eine Videobotschaft auf dem Chreschtschatyk aufnimmt, was bedeutet das? Alles in Sicherheit.“


    „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen“

    Im Oktober 2022 wurde der gesamte „ukrainische“ Spezialblock des Untersuchungsgefängnisses Nr. 1, darunter auch Alexander Tarassow, in das neu eröffnete Untersuchungsgefängnis Nr. 2 verlegt, das sich ebenfalls dort befindet. Der neue Gefängnisbau, der ausschließlich für verschleppte Ukrainer bestimmt war, wurde derart eilig in Betrieb genommen, dass nicht einmal die Bauarbeiten abgeschlossen waren, erfährt Meduza von drei ehemaligen Insassen. Dass die Inhaftierten dorthin verlegt wurden, konnte man auch aus den ukrainischen Medien erfahren.

    Die Scheiben der neuen Plastikfenster wurden vor dem Eintreffen der Ukrainer komplett zugetüncht. „Damit wir weder den Hof sehen noch die Tageszeit erkennen“, sagt Tarassow. „Wir mussten uns daran gewöhnen, nicht zu wissen, ob es Vor- oder Nachmittag ist.“

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht. Aus den Lautsprechern ertönen regelmäßig die Gefängnisordnung und die russische Hymne – so laut, dass der drei Kilometer entfernt wohnende russische Anwalt Emil Kurbedinow, der den ukrainischen Geiseln zu helfen versucht, sie häufig von seinem Fenster aus hört. Von sechs Uhr morgens bis zur Nachtruhe ist es den Häftlingen verboten, auf ihren Pritschen zu sitzen oder zu liegen.

    „Damit ist es ihnen auch verboten, das Namaz [das muslimische Gebet] durchzuführen“, sagt uns Amide, die Frau des Krimtataren Ekrem Krosch, der vor kurzem in das SISO Nr. 2 überführt wurde. „Er darf nicht beten, weil er stehen muss.“

    Die Häftlinge würden maximal isoliert gehalten, damit sie weder einander noch die Gefängniswärter wiedererkennen, erklärt Tarassow. „Eine kurze Zeitlang konnten wir über die Lüftungsschächte kommunizieren“, erinnert sich ein anderer ehemaliger Häftling. „Wir hatten sogar eine Art Chat – einen Buschfunk zwischen den Zellen. Doch einer [der Häftlinge] namens Sascha, der im ‚Chat‘ die ukrainische Hymne gesungen hat, kam in den Karzer. Und Nikita, der im ‚Chat‘ zu Silvester Olivier-Salat forderte, hätten sie fast die Beine gebrochen.“

    Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich

    „[Die FSB-Leute] beginnen [die Verhöre] direkt mit Drohungen sexueller Art. Oder sagen: ‚Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich‘“, erinnert sich ein weiterer Ex-Häftling, Maxim. Er sah gleich, dass die Einsatzkräfte nicht älter waren als er, und nahm ihre Drohungen nicht ernst. „Die waren um die 25, wie ich“, sagt Maxim. „Die guckten in mein Handy und lachten mich aus, weil ich Kryptowährung zu teuer gekauft hatte. Das Fenster zum Innenhof war geöffnet, und mitten im Verhör sagten sie: ‚Wenn du aus dem Fenster schreist: ‚Schnauze, ihr Schwuchteln!‘, dann lassen wir dich frei!‘“

    Maxim wurde nicht nur vom FSB verhört, sondern auch von einem Mitarbeiter des Ermittlungskomitees. „Er erzählte, er sei [angeblich] in der Ukraine geboren, in Irpin, aber er liebe Russland“, erinnert sich der Ex-Häftling an das Gespräch. „Er sagte, seine Schwester sei [seit dem Maidan] ein Topfkopf und deswegen für die Ukraine.“

    Dann kamen Silowiki aus Moskau ins SISO und brachten einen ganzen Stapel Protokolle mit, erzählt Maxim. Sie fragten, was er über die „Verbrechen der ukrainischen Armee in Mariupol“ wisse. Ähnliche Fragen stellten sie auch Tarassow. „Sie wollten von uns Aussagen erpressen für ein Strafverfahren, dass die Ukraine gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen habe“, ist sich Tarassow sicher. „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen.“

    Das erste Strafverfahren wegen „Anwendung verbotener Mittel und Methoden der Kriegsführung“ hatte das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation schon im Mai 2014 gegen die Ukraine eröffnet – während des Kriegs im Donbass und kurz nach der Annexion der Krim. Im Frühjahr 2022 erfuhr dann die ganze Welt von der Ermordung von Zivilisten in Butscha durch die Russen. Zu dieser Zeit sprach Meduza mit einer dem Ermittlungskomitee nahestehenden Quelle: Nach den „Berichten der Chochly über Kriegsverbrechen in den Vororten [von Kyjiw]“ hätten die russischen Ermittler und Fahnder in den okkupierten Gebieten „sofort losgedonnert und die Aufklärung von Kriegsverbrechen des ‚Rechten Sektors‘ der ganzen letzten acht Jahre verlangt“. 

    „Das Ermittlungskomitee ist extrem daran interessiert, sein politisches Gewicht beizubehalten – genau deswegen seien in den okkupierten Gebieten temporäre Zweigstellen eingerichtet worden“, erfährt Meduza von einem russischen Juristen, der mit den zivilen Geiseln aus der Ukraine arbeitet. „Militärermittler aus dem ganzen Land wurden dahin abkommandiert und haben intensiv gearbeitet: an Hunderten von Fällen, Tausenden Geschichten, Bastrykin redet ständig öffentlich davon.“


    „Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch“

    Ende März 2022 wurden Alexander Tarassow und Sergej Zigipa mitten in der Nacht von Aufsehern geweckt. Mitarbeiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN kamen in die Zelle und stellten ihnen eine seltsame Frage: Ob einer von ihnen Spanisch könne? „Serjoga kann Portugiesisch“, erzählt Alexander. „Sie baten ihn, mitzukommen und einen Spanier zu beruhigen, der gerade aus Cherson gebracht worden war.“

    Die neue zivile Geisel war Mario García Calatayud, ein Rentner aus Spanien, der seit 2014 in der Ukraine lebt. „Sergej sagte ihm damals natürlich, dass alles in Ordnung käme“, erinnert sich Tarassow. „Aber Mario hatte einen Schock: Er begriff nicht, wo er da gelandet war und wer all diese Leute in Uniform waren, die ihn anschrien. Er sah aus wie ein gehetztes Tier.“

    Der Spanier wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand

    Mario Calatayud, der trotz mehrerer Jahre in der Ukraine weder Ukrainisch noch Russisch sprach, wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand. „Er musste alle diese Posen lernen: Antreten, zum Ausgang, Kopf runter. Ich hab aus der Zelle gehört, wie sich der Aufseher und der Speznas-Mann amüsierten: ‚Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch‘“, erinnert sich Tarassow.

    Seinen 75. Geburtstag erlebte Mario Calatayud im SISO Nr. 2 – und nicht in bester Verfassung. Anatoli Fursow, der Rechtsvertreter des Spaniers, erklärte Meduza, dass Calatayud Probleme mit dem Herzen habe, ihm aber in der Haft die Medikamente weggenommen worden seien. „Er rief immer auf Spanisch nach einem Arzt“, erinnert sich Tarassow, der in der Nebenzelle saß. „Aber der Arzt kam manchmal erst nach einer Woche. Dann roch es im ganzen Flur nach Corvalol.“

    Irgendwann lernte Calatayud doch noch ein paar Wörter Russisch: „choroscho“ (dt. gut), „spassibo“ (dt. danke), „normalno“ (dt. etwa okay, gut). Für die seltenen Gelegenheiten zum Duschen bedankte er sich bei den Aufsehern aber immer noch auf Spanisch: „Perfecto, señor comandante!“

    Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt

    Nicht einmal für die Verhöre fanden sie für Calatayud einen Dolmetscher – und zwar weder im SISO noch in der lokalen Verwaltung des FSB, wohin die Geiseln gelegentlich gebracht wurden. „Als wir [in das Gebäude] hineingeführt wurden, sagte einer vom FSB schon in der Tür, dass Mario ein Faschist sei“, erinnert sich Maxim, der zusammen mit dem Spanier zum Ermittler gefahren wurde. „Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt.“

    In der Zelle war Calatayud der Sauberkeitsfanatiker: Er wischte die Regale und die Fenstersprossen, bevor sich da überhaupt Staub angesammelt haben konnte. Sein Zellengenosse Jewgeni Jamkowoi glaubt, dass Calatayud den Aufsehern „seine Fügsamkeit demonstrieren“ wollte: „Im SISO schlugen sie richtig zu. Ich hab seine Narben vom Dynamo [das heißt die Spuren von der Folter mit Strom] gesehen. Und einmal hat sich ein Diensthund in seinem Bein verbissen: Das Blut spritzte, und er konnte sich nicht mehr zurückhalten und schlug dem Hund mit der Faust auf den Kopf. Das zahlte ihm der Hundeführer sofort heim.“

    Bevor Calatayud in Simferopol inhaftiert wurde, hatte er sich den russischen Silowiki gegenüber ziemlich kühn verhalten. „Sogar in der Zelle [in Cherson], als er gerade erst von einer Demo weg verhaftet worden war, brachte er es fertig, ‚Slawa Ukrajini!‘ zu rufen – und seine Morgengymnastik zu machen“, erzählt seine Frau, die 39-jährige Chersonerin Tatjana Marina. „Die hiesigen Aufseher schlackerten nur so mit den Ohren, wenn Mario sie unverblümt ‚puta madre‘ nannte – was soviel heißt wie Hurensöhne.“

    Marina erklärt, dass Calatayud 2014 in die Ukraine gezogen sei, um humanitäre Hilfsgüter in Kinderheime zu liefern, die sich im Osten des Landes nahe der Front befanden. „Er nannte Putin ‚señor de la guerra‘; die Ungerechtigkeit machte ihn ganz kirre. Er hatte in der Stadtverwaltung von Valencia gearbeitet, war aber schon in Rente – und kam, um zu tun, was in seiner Macht stand“, erzählt Tatjana Marina. 

    Die Hilfsgütertransporte unter Beschuss bis direkt an die Front haben Mario waghalsiger gemacht, meint seine Frau: „Er hat immer gesagt: ‚sangre española brava‘ [spanisches Blut ist tapfer]! In den ersten Tagen der Okkupation von Cherson benahm er sich wie ein Irrer. Jedes Mal, wenn er die Kette russischer Soldaten rund um unser Verwaltungsgebäude sah, formte er mit den Fingern Pistolen – wie ein Kind – und drohte ihnen [auf Spanisch]: ‚Ich knall dich ab, Besatzer!‘ Ich bekam schweißnasse Hände vor Angst.“

    Tatjana fragt sich, wie Mario im SISO überlebt: „Er ist doch so freiheitsliebend. Wie kann man einen, der so gern frei atmet, einfangen und in einen Käfig sperren?“


    „Kriegsgefangene kann Russland sie nicht nennen“

    Die meisten Gefangenen im SISO in Simferopol haben keinerlei gesetzlichen Status (etwa als Verdächtigte); ihre Inhaftierung entbehrt somit jeglicher Rechtsgrundlage. Gegen manche Zivilgeiseln wird dann doch ein Strafverfahren eingeleitet, unter anderem wegen „internationalen Terrorismus“ oder „versuchter Terroranschläge“. Konkret wurde mindestens sieben aus der Oblast Cherson entführten Personen eine Mitgliedschaft im [krimtatarischen, in Russland als „terroristisch“ eingestuften – dek] Noman-Çelebicihan-Bataillon zur Last gelegt.

    In den Antworten auf Anwaltsanfragen zu den Haftgründen der Ukrainer erscheint auch so etwas wie „Überprüfung durch den FSB“. „Sie [die Gefangenen] müssen sich einfach einer so genannten ‚Überprüfung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘, unterziehen. In jeder Antwort einer lokalen FSB-Zweigstelle wird diese ‚Überprüfung‘ erwähnt“, gibt ein von Meduza befragter Anwalt an.  

    Die Geiseln sind „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“

    Russland unterscheidet bei den Gefangenen nicht zwischen Zivilisten und Militär: Für die russischen Behörden gelten sie offiziell alle als „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“. „Unter diesem Begriff werden alle zusammengefasst“, sagt Anwalt Dimitri Sachwatow Meduza gegenüber. „Kriegsgefangene kann die Russische Föderation sie nicht nennen, weil das ja bedeuten würde, dass das ein Krieg ist.“

    Im Russischen Strafgesetzbuch gibt es allerdings keinen Paragrafen, der die Formulierung „Widerstand gegen eine Spezialoperation“ enthält. Anwälte werden zu den Geiseln schlichtweg nicht durchgelassen: Die meisten Informationen darüber, wer in diesen Haftanstalten sitzt und was dort geschieht, bekommen die Juristen von Ukrainern, denen es gelungen ist, aus diesen russischen Gefängnissen herauszukommen. Zu zivilen Geiseln aus der Ukraine erhalten auch ihre Angehörigen keinen Zugang, während Krimbewohner mit russischen Pässen, zum Beispiel Krimtataren, immerhin Besuch empfangen können. 

    Alexander Tarassow wurde am 14. Februar 2023 aus dem SISO Nr. 2 entlassen und lebt jetzt in Deutschland. Noch immer hat der Chersoner aber weder durchschaut, warum er entlassen wurde, noch mit welcher Begründung er fast ein Jahr lang ohne Anklage eingesperrt war. Bei seinen Verhören fragte er die Ermittler manchmal, warum er ohne Gerichtsbeschluss in Haft sei. „Irgendwann haben sie einen ‚Erlass des russischen Präsidenten über die Isolierung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘ erwähnt. Und hinzugefügt: ‚Na, es ist Krieg, du weißt ja.‘ Als ich rauskam, habe ich nichts darüber im Netz gefunden.“

    Bisher gebe es keine verlässlichen Hinweise auf die Existenz einer „Geheimverfügung“, meint Roman Kisseljow, ein russischer Menschenrechtsverteidiger, der Ukrainern dabei hilft, ihre Angehörigen in der Russischen Föderation zu finden. (Auch Meduza konnte keine solchen Hinweise finden). „Doch ich nehme an, dass solche Dokumente mit der Zeit auftauchen werden“, überlegt Kisseljow. „Ursprünglich hat einfach niemand [in der Regierung] damit gerechnet, dass der Krieg so lange dauern und ein solches Problem [mit zivilen Geiseln] überhaupt entstehen wird. Aber als sie dann doch so viele Gefangene beisammen hatten, kratzten sie sich die Köpfe und überlegten, wie sie es anstellen können, den Menschen ohne Gerichtsverfahren die Freiheit zu entziehen.“ 


    „Ukrainer gibt es hier massenhaft. Einfach massenhaft“

    Ukrainische Geiseln werden nicht nur auf der Krim, sondern auch in anderen Regionen der Russischen Föderation festgehalten, wie Meduza von russischen Anwälten und Menschenrechtlern weiß. Während auf der Krim der FSB mit ihnen „befasst ist“, ist es in anderen Gegenden die dem Verteidigungsministerium unterstellte Militärpolizei GUWP. 

    Dass sich das russische Verteidigungsministerium und der FSB die Zuständigkeit für ukrainische Geiseln teilen, ist kein Widerspruch, wie Andrej Soldatow, Experte für die russischen Geheimdienste, Meduza erklärt. Ihm zufolge wird die Militärpolizei von der Spionageabwehr DWKR überwacht, die wiederum eine Unterabteilung des FSB sei. Dass für die ukrainischen Geiseln die Spionageabwehr zuständig ist, bestätigte Meduza gegenüber auch ein Gesprächspartner aus dem FSB. Ein Büro für Spionageabwehr gibt es in jeder Armeeeinheit, erklärt Soldatow, und wenn eine Truppe an die Front geschickt wird, dann müssen auch die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes mit in die Kampfzone, wo sie „in temporäre Einsatzgruppen aufgeteilt“ werden.  

    Irina Badanowa schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000

    So funktionierte die Spionageabwehr in der Ukraine zu Beginn des Krieges, sagt Soldatow. „Die ‚Filtration‘ [der Ukrainer], die Bearbeitung der Einwohner, all das ist alles ihre Aufgabe“, meint der Experte. „Um die Sicherheit der russischen Truppen zu gewährleisten, müssen die Informanten der ukrainischen Streitkräfte ausfindig gemacht und drangsaliert werden. Und natürlich müssen sie ihre Agentennetze ausbauen. Das mit Filtrationslagern zu machen ist einfach und effektiv – eine in Tschetschenien erprobte Methode. Man saugt wie mit dem Staubsauger tausende junge Ukrainer ein, wirbt ein paar von ihnen an, und dann lässt man alle wieder laufen.“

    Die Arbeit mit Ukrainern, die in den besetzten Gebieten entführt und in russische Gefängnisse gesteckt wurden, ist die „natürliche Fortsetzung“ der militärischen Spionageabwehrmission, die sie an der Front verfolgen, meint Soldatow.

    Wie viele ukrainische Staatsbürger aktuell in diesen russischen Gefängnissen sitzen, ist unbekannt. Irina Badanowa von der Abteilung für die Suche und Befreiung von Kriegsgefangenen beim Generalstab der ukrainischen Streitkräfte schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000. Dutzende von ihnen sind, wie sie betont, unter den Haftbedingungen umgekommen.

    „Ukrainer gibt es hier massenhaft“, pflichtet Badanowa ein russischer Anwalt bei. „Einfach massenhaft.“

    Vom russischen Verteidigungsministerium, dem FSB, der FSIN, der Presseabteilung des Kreml und der prorussischen Verwaltung der Krim kamen keine Antworten auf die Fragen von Meduza. 

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    „Hier sterben Menschen, und ich soll zu Hause sitzen?”

    Etwa 1500 Belarussen sollen im russischen Angriffskrieg auf Seiten der Ukraine kämpfen, 1000 beim Kalinouski-Regiment, das auch bei Bachmut im Einsatz ist. Viele Belarussen haben für das Nachbarland zu den Waffen gegriffen, weil sie die Ukrainer unterstützen wollen, auch weil sie das Schicksal von Belarus in den Händen des Kremls sehen und weil Machthaber Lukaschenko sich tief in den Krieg verstrickt hat.

    Einer von diesen Freiwilligen ist Sonja – so zumindest sein etwas seltsamer Kampfname, der übersetzt so viel wie Schlafmütze bedeutet. Er dient als stellvertretender Kommandeur einer Maschinengewehr-Einheit im Kalinouski-Regiment. Mit dem Kämpfer wider Willen, der vor dem Krieg im Kindergarten arbeitete und der in Belarus nie gedient hat, hat das belarussische Online-Medium Zerkalo ein langes Gespräch geführt: über seine Motivation, doch zur Waffe zu greifen, über die Kämpfe an der Front, über seine Pläne und darüber, was der Krieg mit einem macht.

    Das Interview beginnt eine halbe Stunde später als geplant: „Sonja“ hat verschlafen. Erst vor ein paar Tagen ist er von seinem zweiten Kampfeinsatz in Bachmut zurückgekehrt. Zwei Monate war er dort. Heute ist sein fünfter Urlaubstag. Sieben liegen noch vor ihm. 

    „Ich sag’s, wie es ist, ich bin eigentlich Hedonist und habe mit dem Militär überhaupt nichts am Hut. Diese ganzen Entbehrungen machen keinen Spaß, aber wenn’s drauf ankommt, dann verschlafe ich nicht“, erklärt er seine Verspätung eloquent. „Nur damit Sie verstehen: Bei unseren letzten Kampfeinsätzen mussten wir um drei Uhr nachts aufstehen, hatten eine Stunde zum Fertigmachen und waren im Morgengrauen in unseren Stellungen. Als der Kommandeur vor dem Urlaub zu mir sagte: ‚Kannst bis sechs im Bett bleiben‘, dachte ich: ‚Gott, endlich mal ausschlafen.‘ Was meinen Kampfnamen angeht, das nehme ich nicht so ernst. Die anderen Jungs suchen sich Namen wie Warjagow (Wikinger) oder Achilles, aber mir war das ziemlich egal. Beim ersten Frühsport im Trainingslager habe ich verschlafen, da sagten sie: ‚Du bist echt ne Schlafmütze [auf Russisch sonja – dek].‘ Da hatte ich meinen Kampfnamen.

    Wenn ich mich vorstelle, lachen die Ukrainer immer – zumal wir in einer Maschinengewehr-Einheit sind, an vorderster Front, wir kundschaften aus, greifen an, wehren Attacken ab – aber dann freunden wir uns an. Da geht’s nicht um den Kampfnamen, sondern darum, wie du kämpfst. Wenn du ein schlechter Kämpfer bist, kannst du dich noch so oft Wikinger nennen, das wird dir auch nicht helfen.”

    Sonja ist jung, groß wie ein Basketballspieler und hat ein Babyface. Er spricht Englisch, liest Bücher auf Deutsch und macht sich Sorgen, dass seine Frisur heute nicht sitzt. Von Beruf ist er Jurist, aber im Herzen Romantiker. Er hat in Belarus, Polen und Russland gelebt und als Gerichtsvollzieher, Kellner, Autowäscher, Tischler, Packer, Leiter eines Steinbruchs, Touristen-Guide, Chauffeur und Berater in einem Callcenter gearbeitet. Auf die Frage, warum er so oft den Arbeitsplatz gewechselt hat, sagt er, das sei „sein Charakter“, er habe lange nicht gewusst, wo er hingehöre.

    „Aber jetzt habe ich meinen Platz gefunden“, sagt er. „Das ist seltsam, weil ich mich über Armeeleute immer lustig gemacht habe. Ich hielt sie für hohl und hilflos. Aber ich habe das Gefühl, eine wichtige Arbeit zu machen: Ich rette Menschen, kämpfe für sie. Trotzdem bin ich wahrscheinlich kein echter Soldat. Ich bin im Krieg gelandet, das ist wohl etwas anderes als die normale Armee.“

    Sonja war nie bei der Armee, stattdessen hat er in einem Kindergarten gearbeitet. Er ist zufällig dort gelandet, als er eines Tages im Internet nach Jobs suchte – aber nicht nach Branchen, sondern nach Entfernung. Das nächste war der Kindergarten. Also rief er dort an.

    2022 hat Sonja Kindern und Erwachsenen Englisch beigebracht und wollte nicht weg aus Belarus. Sein Motto war: „Wenn alle gehen, bleibe ich.“ Aber als im Februar der Krieg begann, änderte er seine Meinung.

    „Im Schützengraben werde ich oft gefragt, warum ich jetzt in der Ukraine bin. Ich weiß nie, was ich darauf antworten soll. Na ja, warum wohl? Hier sterben Menschen, unter anderem auch durch unsere Schuld, und ich soll zu Hause sitzen?“, erklärt er. „Es gibt da diesen Film, Shutter Island. Leonardo Di Caprio spielt darin einen Feldmarschall, der den Verstand verliert. Am Ende sagt er diesen schönen Satz: ‚Was ist besser – als Monster zu leben oder als Mensch zu sterben?‘ Ich habe meine Wahl getroffen. Gleich am 24. Februar. An dem Abend sagte ich zu meinen Eltern, dass ich fahren werde. Wie sie reagiert haben? Wie sollen normale Eltern schon darauf reagieren? Meine Mutter wurde hysterisch, mein Vater sagte: ‚Bist du blöd? Denk doch mal nach!‘ Aber sie wussten, dass sie mich nicht aufhalten können. Ich bin stur wie ein Bock. Doch weil mein Vater krank wurde, musste ich die Abreise verschieben.“

    Ich sag‘s euch lieber gleich, ich hab noch nie gekämpft, kann sein, dass ich mir die Hosen vollmache

    Im Sommer 2022 verließ Sonja verließ Belarus. Bei der Einreise nach Polen wurde er festgehalten. Fünf Jahre zuvor war er dort in einen Autounfall geraten und hatte seine Strafe nicht bezahlt. Er sagt, er habe seinerzeit beim Gericht angerufen und sich erkundigt, dort habe es geheißen, der Fall sei erledigt. Sonja vermutet, dass nach Beginn des Krieges die Akten von Belarussen wieder hervorgeholt wurden, unter anderem auch seine. Im Endeffekt musste er ins Gefängnis und nach der Freilassung eine elektronische Fessel tragen. Als endlich alles geklärt war, war es schon Winter.

    Dann meldete er sich als Freiwilliger bei der ukrainischen Botschaft in Warschau, wollte in die ukrainische Armee eintreten. Sie lehnten ab, aber gaben ihm die Nummer des Kalinouski-Regiments. In der belarussischen Einheit nahm man ihn zwar auf, aber der Hindernislauf war damit nicht beendet: Kurz vor seiner Abfahrt bekam Sonja Windpocken. Zwei Wochen lang lag er mit Fieber im Bett. Erst dann ging es endlich in die Ukraine, zu den Übungen ins Trainingslager – und dann an die Front.

     Ein Rosenkranz am Rückspiegel eines ukrainischen Militärfahrzeugs / Ashley Chan/ZUMA Wire/imago images
    Ein Rosenkranz am Rückspiegel eines ukrainischen Militärfahrzeugs / Ashley Chan/ZUMA Wire/imago images

    „In meiner Familie wurde Sport groß geschrieben, ich musste immer ordentlich trainieren. Ich habe lange gepumpt, wollte den Mädels gefallen, und jetzt zahlt es sich endlich aus – am Maschinengewehr“, grinst Sonja, als er sich erinnert, wie er in seine Einheit kam. „Ich wusste schon im Trainingscamp, dass ich in die MG-Einheit will. Bei den Übungen stellte ich mich gut an. Und nach dem ersten Kampfeinsatz war es irgendwie von selbst klar, was ich machen werde. Es stellte sich obendrein heraus, dass ich mutig bin.“

    Woran haben Sie das gemerkt?

    „Erst wurde ich dem Bataillon Volat zugeteilt, aber als ich Senat kennenlernte (den stellvertretenden Kommandeur des Bataillon Litwin – Anm. d. Red.), habe ich mich ummelden lassen, damit ich unter seine Führung komme. Zum ersten Kampfeinsatz nahm er mich mit in die Oblast Charkiw. Bevor wir losfuhren, ging ich zu ihm und den anderen Jungs und hab gesagt: ‚Ich sag‘s euch lieber gleich, ich hab noch nie gekämpft, kann sein, dass ich mir die Hosen vollmache.‘ Ich dachte, es ist besser, wenn ich sage, dass ich ein Feigling bin. Wenn ich dann keiner sein sollte, umso besser, und wenn doch, dann hab´ ich sie wenigstens vorgewarnt. Ich wollte jedenfalls nicht den Macker spielen.

    Als wir ankamen und aus dem Auto stiegen, ging sofort der Beschuss los. Ein Panzer hatte uns im Visier. Wir liefen in irgendeinen Keller. Wir waren zu viert: ich, Senat und noch zwei andere großartige Männer – Weras und Helm. Sie hatten alle Erfahrung, nur ich war ganz neu. Und plötzlich, mitten in diesem Beschuss, wurde mir klar, dass ich keine Angst habe. In diesem Keller saßen wir vier Tage. Nachts gingen wir ins Feld, gruben Schützengräben und deckten Helm, damit er als Scharfschütze ein paar von denen umnieten konnte. Nach den vier Tagen sagte Senat: ‚Du bleibst hier vorne, du hast keine Angst.‘ Wie er das gemerkt hat? Weil ich eingeschlafen bin. Ganz in der Nähe schossen Panzer und die Artillerie, der Putz rieselte von der Decke, und ich sagte: ‚Hört mal, wir sitzen hier noch ne Weile, ich werd mal ne Runde pennen.‘ Ich zog die Weste aus, den Helm, kroch in den Schlafsack und war weg. Senat hat danach gesagt: ‚Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so wenig Angst hatte.‘ Und ich: ‚Vielleicht hast du noch nie jemanden gesehen, der so dumm ist. Das geht meist Hand in Hand.‘“

    Außerdem müssen Sie ziemlich stark sein. Wie viel wiegt so ein Maschinengewehr?

    „Ich habe ein Minimi 5,56, das wiegt zwölf Kilo, und ein CZ-Gewehr. Aber das Maschinengewehr kommt selbst für einen Kämpfer mit meiner Spezialisierung erst an zehnter Stelle. Spaten, Schlafsack, Besteck, mit dem du dein Dosenfleisch löffelst, und Wasser – das sind deine Hauptwaffen. Geballer kommt selbst auf dem Schlachtfeld gar nicht so oft vor, und wenn, dann nicht gezielt. Meistens kommt es aus Panzern, Minenwerfern und Flugzeugen, und wenn du dich retten willst, musst du dich schnell und tief eingraben können. Einmal gaben wir buchstäblich 200 Meter von den feindlichen Positionen entfernt den ukrainischen Artilleristen die Koordinaten durch. Sie zielten und schossen daneben, direkt auf uns. Ich hatte buchstäblich 30 Sekunden zwischen zwei Einschlägen, um mir ein Loch zu buddeln und wie ein Strauß meinen Kopf reinzustecken. Wenn dich ein Geschoss am Arsch oder am Bein erwischt, ist es halb so wild. Aber wenn’s dein Kopf ist, bist du tot.

    Ich bin ein religiöser Mensch und glaube an Schicksal, deshalb seh’ ich die Beschüsse gelassen. Ich vertraue darauf, dass es mich nicht erwischt, weil ich meine Mission noch nicht erfüllt habe.“

    Welche ist das?

    „Dieses Land zu verteidigen und zu meiner Familie zurückzukehren, zu meinem Haus, das ich selbst gebaut habe, meinem Garten, den ich selbst angelegt habe.“

    Nach seinem ersten Kampfeinsatz kehrte Sonja für drei Tage zurück nach Kyjiw, um sich zum Rettungsassistenten ausbilden zu lassen. Da erfuhr er, dass seine Kampfgenossen bei Bachmut sind, und bat seine Kommandantur, ihn auch dorthin zu schicken. Sie sagten: „Warte, bis wir ein Auto gefunden haben.“ Lange warten musste er nicht.

    „Da waren unsere Kämpfer, die brauchten Hilfe, da mussten wir hin“, erklärt er seine Entscheidung, von heute auf morgen an einen der gefährlichsten Hotspots dieses Kriegs zu fahren. „Was, Sorgen? So was hatte ich gar nicht. Nach Charkiw wusste ich ganz genau, was ich kann, ich wollte geradezu in die Schlacht. Einer meiner Kameraden wurde kürzlich verletzt. Das Auto, in dem er saß, wurde aus einem Granatwerfer beschossen. Es hat ihm das Trommelfell zerrissen. Seitdem redet er jeden Tag nur noch davon, wann sein Urlaub endlich vorbei ist und er wieder in den Krieg ziehen kann.“

    Ist das schon eine Art Abhängigkeit? Hängt man nach Bachmut quasi „an der Nadel“?

    „Ich gebe zu, das hat was von Abhängigkeit. Wenn man mal in einer richtigen Schlacht war, mittendrin, dann kommt einem alles andere fade vor. Das normale Leben wird langweilig. Aber die Hauptmotivation ist nicht die Abhängigkeit, sondern die Pflicht. Du siehst Menschen, die für dich Risiken eingehen, und kannst sie nicht einfach im Stich lassen.”

    Sie haben gesagt, Sie haben an vorderster Front gekämpft. Wie ist das so?

    „Während der Einsätze arbeitet man schichtweise: vier Tage im Schützengraben, dann genauso lange auf dem Stützpunkt [an einem anderen Ort], wo wir ordentlich essen und uns ausschlafen. An der Front kämpfen wir auf den Wiesen und in den Wäldern rund um Bachmut, ganz nah an den *** [den Russen – Anm. d. Ü]. Wenn wir mit schweren Maschinengewehren schießen, dann bauen wir sie normalerweise auf einem Hügel oder einem befestigten Bunker auf und halten vier Tage die Stellung. Außerdem können wir Drohnen steigen lassen und Ziele erwischen, die hinter den Hügeln in mehreren Kilometern Entfernung liegen. 

    Meistens sind sechs bis acht Mann in Stellung. Zwei haben Dienst (sehen bei Tageslicht durch die Fernrohre, bei Nacht in die Nachtsichtgeräte), die anderen ruhen. Die Dienste wechseln alle zwei, drei Stunden, weil dann die Konzentration abnimmt. Aber das sind Normen, die nur auf dem Papier existieren, in der Praxis zieht man manchmal auch sechs oder acht Stunden durch.   

    Ah, und man muss wissen, ich habe eine Eigenart. Sagen wir mal so, ich bin ein bisschen crazy. Ich kann nicht stillsitzen, weil, wie mein Vater immer sagte, der Wolf beißt in die Beine. Wenn wir auf den Posten kommen, dann nehm ich immer einen Batzen Zigaretten mit, gehe zu den ukrainischen Partnern, stelle mich vor, informiere mich über die Lage an der Front und mache mich nützlich, wo ich kann: Die einen brauchen Infos, die anderen Hilfe beim Angriff. Einen Maschinengewehrschützen kann man immer gebrauchen. Und ich hab einen Kurs zum Rettungssanitäter gemacht. Dieses Wissen hab’ ich allerdings nur einmal angewendet, konnte den Mann aber nicht retten. Gross hieß er, war ein Ukrainer. Wurde von einem Hubschrauber aus beschossen und die Lunge getroffen. Ich war in dem Moment ganz in der Nähe. Die Ukrainer hatten keine Evakuierung vorbereitet, also trug ich ihn zusammen mit einem Kameraden eineinhalb Kilometer von der Front weg. Er starb in unseren Armen. Seine Verletzungen waren schwer, es ist uns nicht gelungen, ihn zu stabilisieren. Als wir ihn den Ärzten übergaben, bedankten sie sich, aber ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Das war der schlimmste Moment meines Lebens. Gross hat eine Frau und eine kleine Tochter hinterlassen.”

    Was haben Sie dann den Rest des Tages gemacht? Geweint?

    „Gar nichts. Hab dagesessen, geraucht, geweint.”

    Weinen Männer im Krieg oft?

    „Natürlich, wir sind ja Menschen und nicht aus Stein.”

    In seiner Zeit in Bachmut hat Sonja fünf Kilo abgenommen. Im Unterschied zu seinem Kurzurlaub nach dem ersten Kampfeinsatz hat er diesmal „bei Senat ganze zwölf Tage herausgeschlagen“. Weil er weiß: sein Organismus braucht Erholung. 

    „Der Großteil des Lebens im Schützengraben sind nicht Angriff und Verteidigung, sondern reines Überleben. Suche nach Essbarem, nach Wärme, nach Möglichkeiten, zu Hause anzurufen oder Tee zu kochen. Das ist alles nicht so schön wie in den Videos, in denen irgendwelche Typen mit MGs auf Sturm gehen und alle niederknallen. Nein. Das ist Dreck, Schmerz, Kälte und Mäuse. Letztere sind unsere größte Plage. Die laufen nachts, wenn man schläft, einfach über einen drüber. Über den Bauch, übers Gesicht. Wir haben versucht, sie zu bekämpfen, aber wenn eine tot ist, kommen drei andere. Das ist Sisyphos-Arbeit. Sie werden von Tag zu Tag größer und fressen unser ganzes Proviant auf, das wir jetzt in Metall- oder Holzkisten aufbewahren müssen. Alles, was in Rucksäcken oder Plastiktaschen ist, erwischen sie, auch wenn das Zeug aufgehängt ist. Einmal hat mich ne Maus sogar vollngekackt, krass, oder? Wer macht denn so was?”

    Vergeht die Zeit im Kampf in einem anderen Tempo?

    „Es ist alles durcheinander, weil man nicht regelmäßig isst und schläft. Man hat zum Beispiel drei Stunden lang Dienst, dann hat man genauso lang Pause. In diesen drei Stunden muss man es schaffen, zum Bunker zu gehen, zu essen und zu schlafen. Bis man eingeschlafen ist, bleibt nur noch eine Stunde. Bestenfalls, wenn man nicht von einem Geschoss geweckt wird. Dann muss man erst wieder einschlafen. So geht das vier Tage lang. Das Problem ist nicht, dass man nicht schläft, sondern dass man nicht am Stück schläft. Können Sie sich vorstellen, was mit dem Organismus passiert? Dazu kommt noch die unregelmäßige Ernährung und tonnenweise Zigaretten. Am Ende eines solchen viertägigen Einsatzes steht man schon ziemlich neben den Schuhen.

    Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sagt, die Russen seien miese Kämpfer. Sie sind echte Profis

    Um es an der Front halbwegs auszuhalten, versuchen wir, viel zu lachen. Ein Schuss, alle gehen in Deckung, und einer schreit: „Wer hat mir in die Hosen gep…?“ Ohne Humor geht es gar nicht. Wenn du glaubst, du musst das alles bierernst nehmen, drehst du schon nach ein paar Stunden durch.” 

    Sie kamen im April nach Bachmut, da war es noch recht kalt. Wie ist es denn, unter solchen Bedingungen im Schützengraben oder im Bunker zu sitzen, vor allem nachts?

    „Du schläfst in Thermowäsche und komplett angezogen. Über der Kleidung ziehst du die Schutzweste an, und so schlüpfst du in deinen Schlafsack. Nur dass Sie es wissen: Auch jetzt sind die Nächte kalt. Bei meinem letzten Einsatz hatten wir Ukrainer dabei. Deren Kommandeur hatte einen lustigen Kampfnamen: Tomate. Also, Sonja ist noch nicht das Schlimmste. Wobei Tomate ein zwei Meter großer, hartgesottener Frontkämpfer mit grimmiger Miene ist. Ich meinte noch zum Spaß, komm, lass mal klotzen statt kleckern, nennen wir dich gleich Señor Pomidor. Na, und der hatte keinen Schlafsack, also hab ich mich in der Nacht mit ihm in meinen gekuschelt. Blöde Kommentare über Schwule kann man sich sparen. Man muss sich eben irgendwie wärmen, sonst erfriert man.”   

    Wie würden Sie die Russen als Gegner beschreiben?

    „Die Russen sind gut. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sagt, die Russen seien miese Kämpfer. Sie sind echte Profis. Am Anfang vielleicht nicht so, aber jetzt haben sie den Dreh raus. Wenn ich gefragt werde, wieso wir sie nicht plattmachen, dann sage ich: ,Komm doch selber und mach sie platt.‘  

    Während meines Einsatzes sind wir in einem Monat zwei Kilometer vorangekommen. Rechnen Sie sich mal aus, wie lang wir da bis zur Krim brauchen? Hören sie nicht auf diese ***, die behaupten, dass die Russen nichts anderes können, als Kanonenfleisch zu verpulvern. Ich sehe es ja mit eigenen Augen: Sie können kämpfen, sie können mit Drohnen umgehen, und ihre Stellungen halten können sie auch. Genug Waffen und Munition haben sie auch, also hört auf, auf einen schnellen Sieg zu hoffen.” 

    Reden wir mal von etwas Positivem: Sie sind jetzt im Urlaub, wie ist es denn, nach zweieinhalb Monaten in Bachmut ein relativ friedliches Leben zu führen?

    „Am ersten Tag hab’ ich mich in der Parfümerie verirrt. Ich brauchte eine stoßfeste Hülle für mein Tablet. Und neben dem Haus, in dem ich für die paar Tage eine Wohnung gemietet habe, gibt es ein großes Einkaufszentrum. Eine Freundin und ich gingen rein, und da waren lauter Spiegel, alles glänzte – ich war komplett verloren. Ich wusste nicht mehr, wo ich war, hatte ja vor 20 Stunden gerade noch im Schützengraben gehockt. Ich laufe, so bilde ich mir ein, durch den Elektronikladen und finde nirgendwo eine Hülle. Irgendwann stupst mich meine Freundin an und fragt: ,Brauchst du irgendwas von hier?‘ – ,Was meinst du?‘, frage ich verwirrt, seh mich um und checke, dass ich zwischen Lippenstiften und Wimperntusche eine Tablethülle suche. Ich hab´ irgendeinen Spruch gerissen, und wir sind raus. Aber insgeheim dachte ich, wie sehr ich doch neben der Spur sein muss, wenn ich Parfümerie mit Elektronik verwechsle. Das macht mir schon Angst.”

    Was werden Sie nach dem Krieg als Erstes tun?

    „Wenn ich überlebe? Ich gehe zurück nach Belarus. Ich hab’ mir dort ein Haus gebaut, mit Grundstück und Garten. Ich pflanze noch ein paar Bäume und hisse eine Flagge, nein zwei – eine belarussische und eine ukrainische. Das steht mir zu, ich hab´ ja gekämpft. Und dort lebe ich dann. Ich möchte Jäger werden, die Tiere schützen, das hat mir mein Vater beigebracht. Und mir eine Frau suchen, eine junge, hübsche. Wissen Sie, eine, wo sich die anderen Männer umdrehen, wenn ich mit ihr die Straße langgehe. Und Kinder will ich haben. Das sind natürlich lauter Fantasien, aber träumen schadet ja nicht?”

    Wieder im Kindergarten arbeiten wollen Sie nicht?

    „Vielleicht auch das.”

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  • Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    In der Rhetorik des Kreml ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bis heute bloß eine „militärische Spezialoperation“ – ein begrenztes Unterfangen, das irgendwo in der Ferne stattfindet, aber den Alltag der Menschen in Russland nicht weiter beeinträchtigt. Diese Erzählung verliert immer stärker an Glaubwürdigkeit, je mehr der Krieg auch in Russland zu spüren ist: sei es durch Drohnenangriffe auf Moskau oder Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet. 

    Für die Menschen in der Oblast Belgorod ist der Krieg schon lange eine Realität, die sich nicht ignorieren lässt. Von dort rückten im Februar 2022 russische Besatzungstruppen auf die ostukrainische Stadt Charkiw vor, nahmen die Region unter Beschuss und provozierten entsprechend Gegenfeuer auch von ukrainischer Seite aus. Zum Brennpunkt auf russischem Gebiet entwickelte sich die grenznahe Kleinstadt Schebekino mit einst rund 40.000 Einwohnern, von denen viele die Stadt inzwischen verlassen haben. Die Region geriet jüngst in die Schlagzeilen, nachdem russische Freiwilligenverbände, die für die Ukraine kämpfen, die Grenze mit gepanzerten Fahrzeugen überquerten und Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet verübten. Dazu bekannten sich die Legion Freiheit Russlands sowie das Russische Freiwilligenkorps (RDK) um den Neonazi Denis Kapustin, der auch in Westeuropa kein Unbekannter ist.

    The Insider war vor Ort unterwegs und berichtet von leeren Straßen, zerstörten Häusern und von Menschen, die sich von ihrer Regierung im Stich gelassen fühlen. Eine Reportage aus der russischen Grenzstadt Schebekino, wo der Krieg inzwischen in voller Wucht angekommen ist.

    1. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“

    „Wir wissen, was ihr in Moskau denkt. Ihr denkt, wir wären irgendein Dorf. Nicht mal den Namen der Stadt könnt ihr richtig schreiben!“, beschwert sich einer der Sicherheitsbeamten in der Grenzstadt Schebekino, mutmaßlich ein Mitarbeiter des FSB. „Wir kriegen hier alles ab, und bei euch kommen nicht mal gescheite Nachrichten darüber, was hier los ist!“

    Wir sitzen im Keller des Polizeireviers in Schebekino. Hier wurde ich hergebracht, weil ich die kaputte Fensterscheibe eines Schönheitssalons auf der zentralen Einkaufsstraße der Stadt fotografieren wollte. Das Geschoss hatte das Kulturzentrum getroffen, aber die Detonationswelle hat Fensterscheiben im Umkreis von zig Dutzend Metern bersten lassen. Die Soldaten tauchten aus dem Nichts auf. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“, sagten die bewaffneten Männer, nahmen mir Handy und Ausweis ab, setzten mich ins Auto, fuhren mich aufs Revier und brachten mich dann in den Keller. Vielleicht, um mich einzuschüchtern, vielleicht aber auch zum Schutz vor den Einschlägen: An jenem Tag wurde Schebekino vier Mal beschossen, es donnerte fast ununterbrochen über unseren Köpfen.

    Nach einem Einschlag irgendwo in der Nähe geht das Licht aus. Das Verhör wird im Dunkeln fortgesetzt. Keiner von den Polizisten hat sich mir vorgestellt. Sie suchen ukrainische Kontakte, scrollen durch die Fotos in meinem Handy, das entsperrt war, als sie es mir aus der Hand gerissen haben. Wollen DNA-Proben und Fingerabdrücke nehmen, aber die Technik macht nach dem Einschlag nicht mit. Der Ton wird weicher, als sie irgendwo in meinen Nachrichten eine Bestätigung dafür finden, dass ich wirklich Journalistin bin. Die Presse interessiert sie in dieser Situation weniger.

    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider
    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider

    „Solche Spielchen spielen wir hier nicht. Wir haben keine Zeit für einen Krieg gegen Journalisten, wir führen hier einen echten. Nur die bei euch in Moskau wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen“, sagt genervt der eine Mitarbeiter, der sich mir immer noch nicht vorgestellt hat. Er muss sich sichtlich beherrschen, keine direkte Kritik an der Zentrale zu üben, aber das gelingt ihm nur mäßig. Genau wie der Großteil der Bevölkerung der Oblast Belgorod sind auch die hiesigen Behörden empört über die Gleichgültigkeit des Kreml gegenüber den Ereignissen im Grenzgebiet und das Ausbleiben jeglicher Hilfe. Nach knapp vier Stunden darf ich den Keller verlassen.

    Auch die hiesigen Behörden sind empört über die Gleichgültigkeit des Kreml

    Mein Gesprächspartner ärgert sich, dass sie in der Oblast „nicht einmal den Kriegszustand“ ausgerufen hätten: „Offiziell war das hier nur eine Antiterroroperation, aber die wurde beendet. Jetzt gibt es hier gar keinen besonderen Status. Aber wir arbeiten immer noch genau so“, versucht mir der Polizist die Festnahme, Durchsuchung und Befragung zu erklären.

    Wir verlassen das Revier, der Mitarbeiter begleitet mich zu unserem Auto, das beim Krankenhaus von Schebekino in einer Seitenstraße wartet. „Schreiben Sie lieber was darüber, wie wir trotz der ganzen Sache hier versuchen zu arbeiten“, klagt der Polizist. Das Stadtzentrum hat sich während meiner Stunden im Keller verändert: Die Bürgersteige sind mit Glasscherben übersät, hinter dem Polizeigebäude steigen schwarze Rauchwolken auf. Drei Tage später wird auch das Polizeirevier getroffen, in dem ich gerade verhört wurde.

    2. „Unser russisches Donezk oder Mariupol“

    Die Folgen von Putins Krieg sind in Schebekino seit dem Beginn der „Spezialoperation“ spürbar. Nach dem 24. Februar stand der Landkreis regelmäßig unter Beschuss, aber es handelte sich dabei um einzelne Gegenschläge. Die Oblast Belgorod diente als Aufmarschgebiet für die Offensiven gegen Charkiw und Sumy, und auf den Feldern, Äckern und rund um die Ortschaften herum war regelmäßig russische Kriegstechnik stationiert. Auch solche, mit der die Ukraine beschossen wurde. Doch eine derartige Eskalation hat in Schebekino niemand erwartet. Noch am 25. und 26. Mai war es in der Stadt verhältnismäßig ruhig, nur gelegentlich donnerte es. „Das ist die Luftabwehr“, sagten die Bewohner und schenkten dem nicht allzu viel Beachtung. Die Kinder spielten weiter auf der Straße, die Rentnerinnen hatten es nicht eilig, ihre angestammten Plätze auf den Bänken zu verlassen. Am Morgen des 27. Mai heulten in der Stadt die Sirenen los. Die waren allerdings im Zentrum kaum zu hören – im Gegensatz zu den Explosionen direkt über den Köpfen. An diesem Tag wurde Schebekino vier Mal angegriffen. Mit jedem Tag nahm die Intensität der Beschüsse zu.

    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider
    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider

    Während wir die Lenin Straße entlangfahren, gibt es wieder Luftalarm. Wir halten an, steigen aus und laufen in einen Hof, in den Pfeile mit der Aufschrift „Schutzbunker“ weisen, aber wir finden nur eine abgeschlossene Kellertür. Wir warten ein paar Minuten, aber es kommt niemand, der uns aufschließen könnte. Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann. Die Frauen winken uns zu, wir gehen rein. In diesem Moment ertönt direkt über uns ein lauter Knall, alle schreien auf.

    Wenn es pfeift, sind es die Ukrainer, wenn es Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere Leute

    „Wer war das? Unsere Leute oder die anderen?“, fragt eine Frau in einer Mischung aus Russisch und Ukrainisch und späht aus der Tür. Viele ältere Bewohner der Oblast Belgorod sprechen Surshyk. „Wenn es pfeift, dann sind es die Ukrainer, wenn es einfach nur Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere. Wenn es pfeift, ist es gefährlicher, dann ist was im Anflug.“

    „Unsere Leute“, so die hiesigen Bewohner, positionieren ihre Kriegstechnik am Stadtrand von Schebekino. Den Geräuschen nach zu urteilen, werden die Geschosse wenige Kilometer von uns entfernt abgefeuert. Vergangenen Sommer standen die Armeefahrzeuge mitten in der Stadt – Ural- und KamAZ standen auf dem Krankenhausgelände, das an eine große Militärbasis erinnerte. Die Einfahrten wurden von Bewaffneten mit Maschinenpistolen kontrolliert. Zutritt bekam man nur mit Genehmigung. Jetzt ist das Krankenhaus leer. Nach dem Beginn der massiven Beschüsse wurden die Patienten nach Belgorod verlegt. Geblieben sind nur ein paar diensthabende Ärzte.

    Am 28. Mai meldete Wjatscheslaw Gladkow, Gouverneur der Oblast Belgorod, 116 Einschläge im Stadtgebiet Schebekino, am 30. Mai waren es bereits 215, am 1. Juni dann der Rekord mit 850 und am 2. Juni 371. Unter den Beschüssen leiden neben der Stadt Schebekino auch die Grenzdörfer Nowaja Tawolshanka und Murom. Letzten Sommer hatte das russische Militär zwischen Murom und Archangelski eine große Reparatur-Basis für Militärtechnik aufgeschlagen. Als die Oblast Charkiw okkupiert war, konnte man hier Raketenwerfer und andere Kampffahrzeuge sehen.

    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider
    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider

    Ende Mai boten die Ladenflächen noch Schutz. Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen werden. Aber einige Tage später wurden die Geschäfte geschlossen. Jetzt besteht Schebekino aus leeren Straßen, zerstörten Häusern und brennenden Dächern. Von den Zerstörungen betroffen sind sowohl Hoch- und Einfamilienhäuser als auch Verwaltungsgebäude; ein Wohnheim, zwei Fabriken und zahlreiche Autos sind ausgebrannt. In der Stadt gibt es seit Tagen weder Strom noch Wasser, der öffentliche Verkehr und das Mobilfunknetz sind zusammengebrochen. Am 1. und 2. Juni bildeten sich an den Tankstellen Staus. Die Einfallstraßen in die Stadt sind in alle Richtungen gesperrt und werden von ganzen Militärbrigaden kontrolliert. Bis zum 1. Juni konnte man Schebekino noch durch die Ortschaft Titowka erreichen, dann wurde auch diese Straße gesperrt.

    „Die Stadt ist leer, alles brennt, Rauchsäulen, hungrige Hunde, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden, suchen nach Fressen. Ein furchtbarer Anblick“, erzählt eine Einwohnerin, die Schebekino am 2. Juni verlassen hat.

    „Unsere schöne, saubere Stadt ist jetzt quasi ein russisches Donezk oder sogar Mariupol. Sie haben sie ihren waghalsigen Abenteuern geopfert“, beklagt Wadim, der in Schebekino geboren und aufgewachsen ist.

    3. Die Geiseln von Schebekino

    Schebekino ist die erste russische Stadt, die die Bewohner wegen des von Putin entfesselten Krieges verlassen müssen, allerdings wurde keine offizielle Evakuierung ausgerufen. Aber weil die Stadt gesperrt ist, wird es für viele zur echten Herausforderung, hier rauszukommen.

    Am 1. Juni haben die Behörden Busse bereitgestellt, die die Menschen von Schebekino nach Belgorod bringen sollten. Aber zu den Sammelpunkten außerhalb der Stadt mussten die Menschen irgendwie selbst kommen. Manche legten mehrere Kilometer zu Fuß zurück. Ältere und gebrechliche Menschen waren tagelang dem Beschuss ausgesetzt. Auch ihre Angehörigen konnten sie nicht abholen, weil die Stadt gesperrt war. Die Einwohner von Schebekino richteten Selbsthilfe-Chats ein, in denen sie dringend jemanden suchten, der ihre Eltern oder Haustiere aus der Stadt bringt.

    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider
    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider

    „Bitte, holt uns hier raus, wir haben Kinder, unsere Mutter ist krank. Was sollen wir tun??? Helft uns bitte!!! Irgendjemand, bitte!!!“, schreibt eine Einwohnerin. Und solche Nachrichten gibt es Dutzende, wenn nicht Hunderte.

    „Die Menschen in Murom bei Schebekino haben seit acht Tagen keinen Strom, im benachbarten Siborowka seit vier Tagen“, kann man in den sozialen Netzwerken lesen. „Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung – nehmen Anfragen entgegen und schweigen sich aus. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust. In Murom bricht die Verbindung immer wieder weg.“

    Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust

    In den Chats bitten die Menschen Freiwillige, ihre Haustiere zu füttern, die angeleint zu Hause geblieben sind. Manche warten nicht nur für Hunde und Katzen auf Hilfe, sondern auch für Hühner und Ziegen.

    „Familie, drei Erwachsene, ein Kind, 7 Jahre, Kreis Schebekino, Maslowaja Pristan. Mit Vieh: 14 Ziegen, 30 Hühner, 9 kleine, gutmütige Hunde, 2 Katzen. Suchen gezwungenermaßen ein neues Zuhause, ein Haus, mit Möglichkeit für Tierhaltung“, lautet eine Hilfsanfrage.

    Allerdings gibt es auch Personen, die weniger Schwierigkeiten haben, sich durch die Oblast zu bewegen, als die Belgoroder selbst, zumindest in den Grenzgebieten – und zwar ukrainische Diversionsgruppen und die Kämpfer des Russischen Freiwilligenkorps (RDK). Ihr Auftauchen sorgt kaum mehr für Verwunderung bei der einheimischen Bevölkerung.

    4. „Das ist keine Grenze, sondern eine offene Tür“

    „Unsere Grenze ist nicht nur löchrig, sie ist freizügig wie ein Stringtanga! Also schon eine Unterhose, aber alles offen. Genauso ist das bei uns“, – der Belogoroder Jewgeni versucht gar nicht erst, seine Emotionen im Zaum zu halten. Er ist vor 16 Jahren aus Norilsk hierher zu den Eltern seiner Frau gezogen. Die Region schien ihm das Paradies auf Erden: ein großes Haus, bestes Klima, 60 Kilometer bis ins ukrainische Charkiw. Er erzählt, dass sie früher oft hin- und hergefahren seien: Aus der Ukraine konnte man günstig und bequem nach Europa oder nach Asien fliegen. Jetzt geht das Ehepaar nach Pensa.

    „Unsere Eltern und die Kinder haben wir schon vorgeschickt. Ich musste unbezahlten Urlaub nehmen. Wir sind direkt von der Fabrik aus losgefahren. Ich habe zu viel Angst, um hierzubleiben, ich verliere lieber Geld als mein Leben“, sagt Jewgenis Frau.

    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google
    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google

    Wir stehen an der Ausfahrt von Schebekino an einer geschlossenen Gazprom-Tankstelle. Das ist reiner Zufall: In diesem Gebiet ist kein Empfang, das Navi spinnt und statt uns nach Belgorod zu führen, schickt es uns irgendwo Richtung ukrainische Grenze. Dorthin sind es von hier noch drei Kilometer, gleich hier ist die Kreuzung, wo man nach Woltschansk abbiegen muss, dort geht es dann zum Grenzübergang Schebekino. Und genau dort gab es laut Medienberichten am 1. Juni einen Versuch, von ukrainischer Seite aus die Grenze zu durchbrechen, und es kam zu einem Panzergefecht.

    Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da

    Die Abzweigung Richtung Grenzübergang Schebekino liegt verlassen da. Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da. Leere Befestigungen, eine offene Schranke, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“. Solche wurden verwendet, um entlang der ukrainischen Grenze die „Wagner-Linie“ zu ziehen. Die ist von hier aus zu sehen. Als das Verhältnis zwischen der Söldnertruppe und dem Verteidigungsministerium schlechter wurde, hieß diese Linie in den staatlichen Medien übrigens nicht mehr Wagner-Linie, sondern wurde zur „Belgoroder Verteidigungslinie“.

    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider
    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider

    Diese Befestigungsanlagen aus Betonkegeln scheinen ein Eindringen auf russisches Gebiet allerdings nicht wirklich zu verhindern. Russische Freiwilligeneinheiten, die den ukrainischen Streitkräften angegliedert sind, posten fast täglich Fotos und Videos aus russischen Grenzdörfern. Normalerweise geben sie keine Adresse an, aber in vielen Fällen kann man diese über Google Maps zurückverfolgen, vor allem wenn die Aufnahmen mit Drohnen gemacht wurden.

    So ist etwa auf einem Video vom 1. Juni die Zerstörung von militärischem Gerät zu sehen, das russische Soldaten im Dorf Nowaja Tawolshanka versteckt hatten, in der Gegend um die Pestschanaja Straße. Ein Foto von einem Panzer mit weiß-blau-weißer Flagge hat die Legion Swoboda Rossii [dt. Freiheit Russlands] am Anfang der Saretschnaja Straße in demselben Dorf gemacht. Von dort sind es bis zur ukrainischen Grenze nur 500 Meter. Diese russischen Grenzdörfer, in denen das russische Freiwilligenkorps RDK herumspaziert, hat keiner evakuiert. Das Dorf Nowaja Tawolshanka zum Beispiel hat rund 5000 Einwohner – alles lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken.

    Die Bewohner von Nowaja Tawolshanka sind lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken

    Die Videos der Legion Freiheit Russland zeigen, wie sich in den Wohnhäusern russische Soldaten verschanzen, die ihre Schützenpanzer am Gartenzaun oder einfach direkt vor den Häusern parken. Beim RDK, dem russischen Freiwilligenkorps, heißt es, es sei das russische Militär, das grenznahe Dörfer beschießen würde, um die Positionen des RDK zu vernichten. 

    Den Sicherheitsmann an der Tankstelle wundern die Versuche, die Grenzübergänge zu stürmen, offenbar nicht. Ihm zufolge kommen regelmäßig Ukrainer ungehindert in die Oblast Belgorod und kehren genauso unbehelligt wieder zurück. Die russische Regierung habe es nicht eilig, die Grenze abzusichern.

    „Die gehen aus und ein, als wären sie hier zu Hause. Wieso auch nicht, die Grenze steht offen wie eine Tür“, ärgert sich der Mann. „Kürzlich schau ich über die Felder, und da seh ich, wie etwa einen Kilometer weit weg etwas in der Sonne glänzt. Ich seh genauer hin – ein Pickup. Er wendet und beginnt zu schießen, er hatte ein Maschinengewehr oder einen Granatwerfer montiert, keine Ahnung. Die standen da eine Weile und schossen, dann fuhren sie gemächlich wieder zurück. Ohne Angst vor einem Gegenschlag – sie wissen ja, dass da keiner kommt.“

    5. „Wir sitzen den dritten Tag im Keller – für das Land ist Donezk leider wichtiger“

    Ein schwerer Schlag war für die Belgoroder auch das Schweigen der staatlichen Medien zur Lage in ihrer Region. Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender detailreich von den Erfolgen der russischen Armee rund um Awdijiwka in der ukrainischen Oblast Donezk. 

    „Wir sind denen allen scheißegal. Wir sitzen den dritten Tag im Keller, mein Kind hat schrecklich Angst, kann die ganze Zeit nicht raus. Aber für das Land ist Donezk offenbar wichtiger“, beschwert sich Tatjana aus Schebekino in den sozialen Netzwerken.

    Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender von den Erfolgen der russischen Armee in der Ukraine

    „Seit dem frühen Morgen hagelt es Raketen, alles brennt. Aber die großen Sender wissen anscheinend nicht mal, dass Schebekino existiert“, empört sich der User Konstantin Seliwanow.

    Der erste russische Fernsehsender Perwy Kanal widmete dem heftigen Angriff auf die Stadt am 27. Mai gerade mal eine Minute. In den Kommentaren zum Social-Media-Auftritt des Senders begannen die Leute zu fordern, dass diese Situation nicht weiter vertuscht wird, aber die Reaktion der Senderleitung beschränkte sich offenbar darauf, das Wort Schebekino zum Tabu zu erklären. Kommentare zum Thema Schebekino wurden entfernt. Findige User fingen an, Schebekino in lateinischer Schrift zu schreiben, um den Filter zu umgehen, aber dann wurde die Kommentarfunktion komplett ausgeschaltet. 

    In den sozialen Medien von Belgorod wurde unter den Hashtags #SchebekinoistRussland und #fürSchebekino zu Flashmobs aufgerufen, um die Aufmerksamkeit der staatlichen Medien zu erregen. „Die halbe Stadt ist zerstört. Keiner will uns verteidigen. Russen, helft uns“, schreibt eine Bewohnerin im Chat und bittet um Verbreitung ihres Appells.

    Die Hartnäckigkeit der Belgoroder hat mittlerweile tatsächlich Früchte getragen. Die staatlichen TV-Kanäle berichten nun doch über Schebekino, widmen dem Thema mehr Sendezeit. Aber wie heißt es so schön – hätten sie doch lieber geschwiegen: Der russische Abgeordnete Andrej Guruljow rief in der Sendung Solowjow Live dazu auf, „anzugreifen und plattzumachen, auch Schebekino … wenn’s sein muss mit Gleitbomben“. Offenbar hält er Schebekino für eine ukrainische Stadt. Und in der politischen Talk-Show 60 Minuten auf dem Sender Rossija-1 konnten sich Putins „Experten“ mit ihren schlauen Gesichtern nicht einmal den Namen der Stadt richtig merken, von der sie sprachen – mal sagten sie Schmjakino, dann wieder Schimekino.

    Das demonstrative Desinteresse seitens der staatlichen Medien macht sogar Bewohner wütend, die der Regierung gegenüber ansonsten loyal sind, hier aber das Gefühl haben, die ganze Oblast würde im Stich gelassen, die Leute würden verarscht und als lebende Schutzschilde missbraucht. Wie sich das auf die Umfragewerte der Regierung in der Region auswirkt, wird man sehen. Aber wohl kaum positiv.

    Es sind jetzt merklich weniger Zetts zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt

    „Es war interessant zu beobachten, wie nach der Ankündigung der Mobilmachung plötzlich Autos mit Spuren von abgerissenen Z-Stickern zu sehen waren“, erzählt Kristina [Name geändert – The Insider], Journalistin bei einer Belgoroder Zeitung. Sie hat den Eindruck, dass die Mobilmachung die Stimmung in der hiesigen Bevölkerung beeinflusst hat. Belgorod, wo wir Kristina treffen, scheint sich im letzten Jahr tatsächlich verändert zu haben. In etlichen Freiwilligen-Chats beklagten die Administratoren im Frühjahr, dass die Spenden weniger geworden seien. Die hurra-patriotischen Billboards Für Putin und Für Russland wurden stellenweise durch Plakate ersetzt, die dazu aufrufen, Vertragssoldat zu werden. An den Türen der Geschäfte und in den Fenstern von Gebäuden im Zentrum und in der ganzen Stadt sind jetzt merklich weniger Zs zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt. Heute prangt dafür auf jedem Haus ein Wegweiser zum Schutzraum.   

    6. Schutzraum betreten nur mit Gasmaske

    Das Artilleriefeuer auf Schebekino hat die Frage nach der Verfügbarkeit von Schutzräumen in Belgorod aufgeworfen. Aufgrund der Menge der Hinweisschilder könnte man annehmen, die Behörden seien dieses Thema ernsthaft angegangen. Wie sich jedoch zeigt, blieb es bei den Wandmalereien. Ich suche in dem Wohnblock, in dem ich eine Wohnung gemietet habe, nach einem Schutzraum.

    „Sie schaffen es sowieso nicht bis zu einem Schutzraum, wenn die zu schießen anfangen“, sagt eine Nachbarin. „Wenn die Sirene heult, muss man im nächstmöglichen Haus über die Gegensprechanlage jemanden rufen, und der kommt dann raus und schließt den Keller auf.“ „Ganz ehrlich, mein liebes Mädchen“, mischt sich eine zweite Nachbarin ein, „diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen!“

    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider
    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider

    Nach den Angriffen auf Schebekino hat sich die Situation mit den Belgoroder Schutzräumen nicht verändert, meint die Lokaljournalistin. Und tatsächlich, die Pfeile an den Häusern führen zu Kellern, die abgeschlossen sind.  

    Der „Schutzraum“ sieht aus, als hätte ihn lange keiner mehr geöffnet: Von der kaum anderthalb Meter hohen Tür steckt der untere Rand in Erde und Geröll. Aus dem verschlossenen Keller dringt ein ekelerregender Gestank.

    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider
    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider

    Ein Gemeindebediensteter hilft mir, doch noch in so einen Schutzraum zu gelangen, aber das bereue ich sofort. Die Nachbarin hatte recht: Ohne Gasmaske hält man es in dem Keller maximal eine Minute aus, genauso lang, wie man den Atem anhalten kann. Der Mann, der mir den Keller zeigt, ist vorsorglich draußen stehengeblieben.

    7. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“  

    Belgorod hat die meisten evakuierten Einwohner von Schebekino aufgenommen. Erst mal in mehrere Auffanglager. In der ersten Nacht schliefen tausende Menschen Schulter an Schulter: Die Betten wurden ganz dicht aneinander aufgestellt, es gab keine Privatsphäre und zu wenig Hygieneartikel und Kindernahrung – die wurden von Freiwilligen gebracht. Jeder hatte eine Fläche von zwei Quadratmetern.  

    Dann wurden die Evakuierten in Wohnheimen der technischen Fachschulen und der Staatlichen Universität Belgorod untergebracht. Dafür wurden allerdings Studenten aus ihren Zimmern geworfen, noch dazu, wie Betroffene erzählten, um zwei Uhr nachts. Ihnen wurden Zimmer mit Kakerlaken und ohne jeglichen Komfort angeboten, und wer protestierte, dem wurde nahegelegt, auszuziehen.

    Viele aus Schebekino wollen nach wie vor nicht wegziehen – und dafür gibt es einen Grund: In so einer temporären Unterkunft kann man ein Jahr oder noch länger festsitzen, wie es Leuten aus dem Grenzdorf Sereda im Stadtgebiet Schebekino passiert ist. Das Dorf wurde gleichzeitig mit zwei anderen – Shurawljowka und Nechotejewka – gleich als erstes evakuiert im Frühjahr 2022. Die Menschen leben immer noch in Auffanglagern. Wegen der Artilleriefeuer können sie nicht nach Hause zurück, aber so viel Geld, dass sie sich eine neue Wohnung kaufen oder wenigstens mieten können, bekommen sie vom Staat nicht.

    Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle

    Zudem ist es in den Auffanglagern nicht immer ungefährlich. Das Zentrum, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss. Ein Wachmann kam ums Leben. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“, hieß es in den sozialen Medien verächtlich. Erst danach wurden die Menschen endlich an einen halbwegs sicheren Ort gebracht. Wobei natürlich niemand weiß, wie lange dieser Ort noch sicher sein wird: In Schebekino hatte auch keiner erwartet, einmal direkt an der Frontlinie zu wohnen.

    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider
    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider

    Die Behörden könnten die Situation für die Bewohner verbessern, indem sie in der Oblast den Notstand ausrufen. In diesem Fall bekämen kinderreiche Familien 15.000 Rubel [etwa 165 Euro – dek], alle anderen 10.000 Rubel [etwa 110 Euro – dek] für die Miete einer Wohnung. Aber noch kann davon keine Rede sein: Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle und als gäbe es auf russischem Staatsgebiet keinen Krieg.

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    „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

    Unterstützen die Leute in Russland den Krieg gegen die Ukraine? Das scheint eine zentrale Frage sowohl für Forschende, als auch für Journalistinnen und Journalisten zu sein, die sich mit dem Land beschäftigen. Die renommierte Journalistin Jelena Kosjutschenko gibt eine Antwort darauf: Die Menschen wollen keinen Krieg. Warum? Weil es unmöglich ist, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder selbst sterben zu wollen. Doch Umfragedaten belegen, dass Putin weiterhin über eine hohe Unterstützung unter Russinen und Russen verfügt, was wiederum die Folge einer massiven „medialen Strahlung“ der Propaganda ist. Wie funktioniert die Propaganda und wie trifft sie auch die Menschen, die für sich glauben, gegen Propaganda immun zu sein? Was hat das heutige Russland mit Faschismus zu tun? Und welche Verantwortung tragen die Journalisten der unabhängigen Medien? Darüber hat das russische Projekt Otschewidzy (dt. Augenzeugen) von TV2media mit Jelena Kostjutschenko gesprochen. 

    TV2.media: Wie hat der Krieg Ihr Leben verändert?

    Jelena Kostjutschenko: Ich war 17 Jahre lang bei der Novaya Gazeta. Unsere Zeitung gibt es nicht mehr, ihr wurde die Lizenz entzogen. Ich denke, unter anderem wegen meiner Reportagen aus der Ukraine. Ich kann nicht nach Russland zurückkehren. Ich kann nicht zu meiner Mutter, zu meiner Schwester, meiner Katze. Die wichtigste Veränderung ist jedoch, dass mein Land Menschen tötet, Ukrainer. Ich weiß nicht, ob es irgendein Volk gibt, irgendein Land, das mir näher wäre als die Ukraine. Alle meine russischen Bekannten haben Verwandte in der Ukraine, und alle meine ukrainischen Bekannten haben Verwandte in Russland. Das ist ein so dermaßen unfassbares … ich wollte Verbrechen sagen, aber es ist schlimmer als das. Es gibt keine Worte dafür … Es gibt das Wort Krieg, aber das beschreibt eigentlich nichts. Es werden einfach tagtäglich in meinem Namen Menschen ermordet. Damit zu leben ist sehr schwer. 

    Spüren Sie eine persönliche Schuld oder Verantwortung für diesen Krieg?

    Natürlich. Ich war Journalistin, bin sehr viel gereist, habe sehr viel gesehen. Ich wusste um den Faschismus in Russland. Endgültig klar wurde mir das wahrscheinlich 2015, als das Gesetz gegen „LGBT-Propaganda“ beschlossen wurde und LGBT zum ersten Mal als sozial minderwertig bezeichnet wurde, als sozial minderwertige Bevölkerungsgruppe. Das ist bereits eine faschistische Kategorie, wenn wir die Bevölkerung in Gruppen einteilen und bestimmen, wer einen Platz in der Gesellschaft hat und wer nicht. Dann habe ich in einem psychoneurologischen Internat (PNI) gearbeitet. Das ist ein System von Internierungslagern, in denen Menschen mit psychischen und neurologischen Diagnosen eingesperrt werden. Ihnen werden alle Rechte entzogen, sie werden dort ihr Leben lang festgehalten, bis zum Tod. Ich wusste, dass es bei uns im Land Faschismus gibt, gleichzeitig dachte ich, es genügt, wenn ich meine journalistische Arbeit mache. Tja, ich habe mich wirklich sehr bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten, kann keinen Regimewechsel herbeiführen.              

    Ich habe mich wirklich bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten

    Irgendwie hatte ich diese illusorische Vorstellung, dass man als Journalist nirgendwo [aktiv] teilnehmen dürfe … Natürlich habe ich an Protestaktionen teilgenommen, das schon, aber erstens nicht so oft, wie ich gekonnt hätte, und zweitens … Ich glaube, es ist mittlerweile für jeden offensichtlich, oder? 2022 mit hübschen Plakaten auf die Straße zu gehen — damit ändert man nichts am Regime. 

    Ja, natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet. Einen solchen Krieg habe ich nicht für möglich gehalten. Nicht einmal 2014, nicht einmal, als Russland am 24. Februar in der Ukraine einmarschiert ist. Als ich meine Tasche packte, um für Recherchen in die Ukraine zu fahren, da nahm ich einen Pullover mit, Unterwäsche, Socken, Reservejeans, einen Schutzhelm, einen Vorrat an Medikamenten für eine Woche und sagte zu meiner Freundin: „Das kann höchstens ein paar Tage dauern“.

    Natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet

    Warum unterstützen in Russland so viele den Krieg?

    Ich kenne in Russland niemanden, der den Krieg unterstützt. Ich kenne Leute, die diesen Krieg für gerecht und unvermeidlich halten. Aber nicht einmal die wollen Krieg. Worauf beruht unser Optimismus, abgesehen von dem biologischen Gefühl, dass alles vorbeigeht, alles gut wird? Niemand wollte Krieg, die Menschen wollten keinen Krieg. Es ist ja eigentlich unmöglich, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder sterben zu wollen. Manche Leute glauben einfach, dass wir nicht die ganze Wahrheit wissen, dass unsere Regierung einen sehr triftigen Grund haben muss, solche entsetzlichen Verbrechen zu begehen. Manche wiederum fühlen sich einfach nicht in der Lage, dem Krieg etwas entgegenzusetzen. In Russland zu leben bedeutet sehr oft, sich machtlos zu fühlen.  

    Warum glauben die Leute Putin?

    Dafür wird ja sehr viel Aufwand getrieben, von sehr klugen, begabten, zielstrebigen Menschen mit einem gigantischen Budget. Unsere Propaganda ist ein Phänomen, ich weiß gar nicht, womit man das vergleichen könnte. Während meines Studiums schrieb ich eine wissenschaftliche Arbeit über Propaganda im Dritten Reich und dachte, das sei ein historisches Thema. Ich fand das alles schrecklich interessant, aber ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wissen tatsächlich einmal brauchen könnte. Aber unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten. Goebbels hatte nur den Rundfunk und die Zeitungen. Wir haben Radio, Zeitungen, Internet, Soziale Netzwerke, Fernsehen – ein gigantisches, enorm mächtiges Rüstzeug zur Einflussnahme. Ganz neue Technologien, ganz neue Narrative.    

    Unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten

    Mich amüsiert es, wenn Leute, vor allem aus der Bildungsschicht, sagen: „Wir lassen uns nicht von der Propaganda beeinflussen“. Die Propaganda erwischt alle. Sie verfolgt einfach mehrere Ziele. Das Hauptziel der Propaganda ist natürlich, alle davon zu überzeugen, dass Putin recht hat. Aber wenn das zum Beispiel nicht gelingt, dann versucht sie eben zu überzeugen, dass alles nicht so eindeutig ist, nach dem Motto: „In manchen Punkten hat er recht, in manchen nicht. Wir kennen ja nicht die ganze Wahrheit.“ Wenn auch das nicht funktioniert, will sie dich überzeugen, dass dein Leben zerstört wird, wenn du dich widersetzt. Hier schaltet sich der Repressionsapparat ein, der mit jedem Tag brutaler wird. Gerade erst wurde jemand wegen zwei Kommentaren im Internet zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wenn auch diese Strategie nicht aufgeht, dann reden sie dir ein, dass du allein bist, dass nur du so denkst. Sonst niemand. Und wenn das nicht gelingt, dann machen sie dir klar, dass du nichts dagegen tun kannst. Zusammengenommen funktioniert das. Es wirkt einfach alles auf unterschiedlichen Ebenen. 

    Kann man die Leute umstimmen, die vom Fernsehen „verstrahlt“ sind?

    Man muss. Meine Mutter sieht zum Beispiel fern. Soll ich etwa meine Mama Putin überlassen? Das wird nie passieren. Ich hab sie gern, sie hat mich gern, und wir reden jeden Tag miteinander. Nicht immer erfolgreich. Manchmal unterhalten wir uns fünf Minuten, dann sagt sie: „Ich kann nicht mehr weiterreden“. Dann reden wir zwei Tage nicht über den Krieg, bis sie sagt: „Lass uns reden“ und wir wieder fünf Minuten reden. So bewegen wir uns ganz langsam aufeinander zu.   

    Meine Mutter ist 75 Jahre alt. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist

    Wir müssen außerdem verstehen, dass das Angst macht. Wir verlangen von den Leuten eine schreckliche Erkenntnis. Meine Mutter ist 75 Jahre alt, sie war eigentlich Chemikerin, aber in den Neunzigern, als für die Wissenschaft kein Geld da war, wurde sie Lehrerin, sie unterrichtete Kinder. Sie ist wirklich ein sehr guter, kluger Mensch. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist. Dass in ihrem Land Faschismus herrscht. Derselbe Faschismus, den ihr Vater im Krieg besiegt hat. Dass sie jahrzehntelang Lügen aufgesessen ist. Sie wurde belogen und hat alles geglaubt. Und in ihrem Namen werden Menschen getötet. Das mit 75 Jahren zu begreifen – wie soll das gehen? Aber jede noch so entsetzliche Wahrheit ist besser als die Lüge. Weil mit Lügen Morde vertuscht werden. Wir alle sind Mittäter dieser Morde. Ob stillschweigend oder nicht, Mittäter sind wir. Dieses Lügenkonstrukt müssen wir um jeden Preis durchbrechen, auch wenn es sehr schmerzhaft ist. 

    Wir alle sind Mittäter dieser Morde

    Oft wird Putins Regime mit einer Sekte verglichen, von der man nicht mehr loskommt. Wie gerechtfertigt ist dieser Vergleich?

    Es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Vor allem das sogenannte Prinzip der narzisstischen Verführung. Damit locken totalitäre Sekten Menschen an. Das funktioniert so, dass sie einem sagen: „Eigentlich bist du gut. Sogar sehr gut, du bist kein Versager. Du bist nicht schwach, nicht willenlos, nicht dumm. Aber du hast es schwer, stimmt’s? Stimmt, ja. Und weißt du, warum du es so schwer hast? Weil die Menschen um dich herum dir schaden, sie sind deine Feinde. Aber wie gut, dass du zu uns gefunden hast, wir werden dich lieben, dich unterstützen, uns um dich kümmern. Wir werden dir sagen, was du tun und wie du leben sollst.“ Genau das macht die Propaganda: „Russland ist frei von Sünde. Russland kann überhaupt keinen Schaden anrichten.“

    Bei meiner Arbeit in der Ukraine war ich in der Abteilung für Gerichtsmedizin in Mykolajiw, wo die Leichen hingebracht werden. Dort habe ich viel Zeit verbracht. Die Leichen lagen einfach übereinandergestapelt, weil die ukrainischen Leichenschauhäuser nicht auf solche Mengen ausgerichtet sind. Sie lagen auf dem Boden, in der Garage, die dafür geräumt wurde, sie lagen in den Kühlräumen aufgeschichtet übereinander. In einem lagen auf einem Haufen die Leichen von zwei Mädchen, zwei Schwestern von siebzehn und drei Jahren. Arina Butym und Veronika … Sie wurden durch Splitter getötet, als Mykolajiw beschossen wurde. 

    Meine Mutter rief mich täglich an und versuchte mir zu erklären, was passiert, was ich da eigentlich sehe. Ich sagte immer: „Lass es einfach“, aber sie versuchte es immer wieder. Und ich sage: „Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.“ Und sie sagt: „Das können keine russischen Soldaten gewesen sein. Das kann nicht sein. Na hör mal! Wie denn?“ Als Butscha geschah, schrie sie mich einfach am Telefon an: „Nein! Nein, unmöglich! Unmöglich!“ Es ist entsetzlich zu akzeptieren, sich einzugestehen, dass russische Soldaten so etwas tun können. Und auch früher schon getan haben. In Tschetschenien, in Syrien. Sie haben es getan. Viele, viele Jahre lang wurde die Idee des unschuldigen Russlands, die Idee, dass wir immer im Recht waren, dass wir keine historische Schuld tragen, dass unser Land niemals einen Fehler begangen hat, die wurde so richtig in die Köpfe eingehämmert. 

    Ich sage: ,Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.‘ Und sie sagt: ,Das können keine russischen Soldaten gewesen sein‘

    Das ist ja auch wirklich ein schöner Gedanke. Stellen Sie sich mal vor: Man lebt so vor sich hin und hat das Gefühl, einem absolut gerechten Staat anzugehören, der in seiner ganzen Geschichte niemals etwas Böses getan hat. Das ist einfach toll!
    Manche Behauptungen der Propaganda widersprechen ja sogar dem offiziellen Geschichtsunterricht, das wundert mich schon. Zum Beispiel die Behauptung, Russland beginne keine Kriege, sondern beende sie. Das stimmt ja nicht. Wir haben sehr viele Kriege begonnen. Genau wie viele andere Länder auch. Aber nein, da ist auf der einen Seite das trockene Geschichtsbuch, das übrigens momentan umgeschrieben wird, und auf der anderen Seite haben wir großartig konzipierte Sendungen mit Analysen, ganz bunte, kitschige Filme darüber, was für ein makelloses Land und was für ein unglaubliches Volk wir sind, ganz anders als die anderen. Das wurde alles sehr, sehr lange vorbereitet, man kann nicht sagen, dass alles ganz plötzlich am 24. Februar passiert ist. Es geschah für uns plötzlich, weil wir … Ich spreche mal für mich: weil ich eine dumme, faule Optimistin war. 

    Wovor haben Sie am meisten Angst?

    Dass Russland diesen Krieg gewinnt. Das würde den Tod für mein Land bedeuten. Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung. Damit meine ich nicht die vielen Menschen, die noch sterben werden, bis Russland siegt. Das wird die absolute Zerstörung unserer nationalen Identität. Das lässt den Faschismus erst recht erblühen. Auf diesen Krieg wird der nächste Krieg folgen, weil Faschismus immer expansiv ist. Es werden noch mehr Menschen sterben, das wird ein Schrecken ohne Ende. Das ist es, wovor ich am meisten Angst habe.      

    Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung

    Wie sehen Sie die Zukunft Russlands?

    Ich glaube, dass es eine Zukunft gibt, dass wir nicht verschwinden werden. Aber was passiert ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Es gibt keine Wiedergutmachung, nichts kann die Toten wiedererwecken. Aber ich glaube, wir werden die Möglichkeit haben, zu begreifen, was wir angerichtet haben, und irgendwie damit weiterzuleben. Und natürlich werden wir schon andere sein, wenn wir das begreifen, und das Leben wird ein anderes sein, sonst gibt es einfach nur … Auslöschung. Ich glaube, wir werden alle sehr viel arbeiten müssen, sowohl jetzt als auch später. Für Selbstmitleid ist da keine Zeit. Ich bin 35 Jahre alt, und ich frage mich, ob mein Leben ausreichen wird. Womöglich nicht. Aber ich glaube, wir müssen jetzt alle sehr viel arbeiten und sehr lange leben. Das wird kein einfaches Leben sein, aber immerhin ein Leben.      

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    Während russische Angriffe in der Ukraine täglich Menschen töten und das Land immer weiter zerstören, kreist die russische Perspektive auf den Krieg vor allem um sich selbst: Im Staatsfernsehen wird die Invasion in einer Täter-Opfer-Umkehr gerechtfertigt und als Selbstverteidigung Russlands gegen die NATO dargestellt. Oppositionelle, die den Krieg ablehnen, machen sich häufig nicht bewusst, dass mit dieser vermeintlich „persönlichen Haltung“ nicht alles gesagt ist: Der Status als Aggressor hat Russlands Ansehen und Position in der Welt nachhaltig verändert. Um die Auswirkungen des Kriegs jenseits der persönlichen Befindlichkeit zu erkennen, empfiehlt der russische Journalist Maxim Trudoljubow den Russen, sich und ihr Land von außen zu betrachten.

    Gehen wir mal aus uns heraus. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wird im russischen Diskurs häufig hermetisch betrachtet – aus dem Inneren des Russki Mir, der russischen Welt, heraus und mit Verweisen auf Eckpunkte aus der Geschichte Russlands. Die Menschen reden darüber, wie sich der Krieg auf ihr Leben auswirkt, streiten über seine Bedeutung für die russische Kultur, für die Emigrierten und die Verbliebenen, für die Zukunft – auf persönlicher und nationaler Ebene.

    Aber der von Russland entfachte Krieg ist nicht nur ein Kapitel der russischen Geschichte, sondern auch eines der ukrainischen, der europäischen und der Weltgeschichte. Den Großteil des Leids bekommt die Ukraine ab. Sollte jemand das moralische Recht haben, sich abzuschotten, dann sind es die Ukrainer. Für diejenigen Russen, die in Sicherheit sind und sich frei fühlen – ob ausgereist oder nicht – ist eine solche Konzentration auf sich selbst nicht angebracht. Dass die Propagandisten das machen, ist ja klar. Sie fokussieren auf das in ihren Augen „gute“ Nationale. Aber oft (nicht immer, natürlich) machen die freien Russen dasselbe, nur unter anderem Vorzeichen. Die einen wie die anderen irren umher im russischen Wald. Aus dem herauszukommen es längst an der Zeit ist.

    Irren umher im russischen Wald

    Russen, die wenigstens ein bisschen Sinn zum Reflektieren haben, sollten lernen, sich nicht nur durch das nationale oder imperiale Prisma zu betrachten. Ein anderer Blickwinkel auf sich selbst, der sich anbietet, ist der ukrainische.

    Es gibt eine große ukrainische Kultur, die jetzt eine Wiedergeburt erfährt. Man kann Serhij Zhadans Tagebuch lesen. Es gibt eine große Kultur, die vor dem Krieg entstand. Darüber diskutiert man in der Ukraine. Es gibt auch bereits Umfragen zur Beziehung von Ukrainern zu Russen und Russland.

    Betrachtet eure Äußerungen und öffentlichen Handlungen aus der Perspektive der Ukrainer. Sogar denen, die gegen den Krieg sind, kann das zu Demut verhelfen. Es bedeutet, sich selbst mit den Augen eines Menschen zu sehen, der täglich mit dem Tod konfrontiert ist – in den Nachrichten, in der Nachbarschaft, in der Familie. Stellt euch vor, wie das Dilemma „gehen oder bleiben“ für Ukrainer aussieht, und der russische Streit zwischen Ausgewanderten und im Land gebliebenen Russen verliert seine Wichtigkeit. 

    Betrachtet eure Äußerungen aus der Perspektive der Ukrainer

    Es gibt einen Blickwinkel, der die großen globalen Prozesse berücksichtigt – auf wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer oder auf Gender-Ebene. Keine Diktatur kann große Veränderungen aufhalten. Das Bemühen, wirklich zu verstehen, wo Russland in diesen Prozessen steht – was gebremst und was beschleunigt wird – hilft uns, unseren Blick im Endeffekt wieder auf uns selbst zu richten. Es ist wichtig zu erkennen, welche Folgen die Handlungen des russischen Staates und der russischen Gesellschaft (auch die Migration) auf andere Gesellschaften haben und wie sie dort wahrgenommen werden.

    Die russische Geschichte ergibt isoliert von anderen „Geschichten“, Zusammenhängen, Vergleichen keinen Sinn. Das gilt für die Geschichte jeder Nation. Doch gerade im Fall Russlands hat sich Selbstbezogenheit, die Illusion eines „nationalen Schicksals“ oder „Sonderwegs“ als unglaublich mächtiger Kulturfaktor erwiesen, der letztlich diesen Krieg vorbereitet hat.

    Die Selbstbezogenheit hat letztlich diesen Krieg vorbereitet

    Wenn man glaubt, dass alles auf der Welt wegen, für oder gegen Russland passiert – und das ist Putins Credo –, so kann das im Krieg gipfeln. Allein die Annahme, Russland sei das Zentrum der Welt und nicht nur einer von vielen Teilen im globalen Geschehen, fördert die Zustimmung zum Krieg und seine Akzeptanz. Gesellschaft und Staat sind von diesem Gift geschädigt. 

    Ein Koordinatensystem mit ausschließlich russischen Koordinaten, Autoren, Texten und historischen Daten gibt es nicht mehr. Wir dürfen keine Angst haben und sollten der Fratze, die Russland der Welt zugewandt hat, furchtlos ins Gesicht sehen. Das geht nur von außen – von innen ist sie nicht zu sehen. Und dann wird eine Diskussion zur Vielschichtigkeit der russischen Kultur sinnvoller – wenn es noch Wörter gibt.

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    Krieg, Sanktionen und inzwischen auch ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten – eine Frage, die derzeit oft gestellt wird, ist: Wie stabil ist das System Putin? Um diese Frage zu beantworten, lohnt zunächst der Blick in die Politikwissenschaft: Demnach hängt die Stabilität eines politischen Systems auch von dessen Legitimität ab, und diese wiederum vom Legitimitätsglauben, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. Ein langlebiger Legitimitätsglaube ist nach Möglichkeit widerspruchsfrei und bietet bestenfalls eine Zukunftsvision. Beides ist im Putinismus nicht der Fall – darauf weisen zahlreiche Analysten schon seit dem Machtantritt des russischen Präsidenten hin. Was hält das System Putin dann zusammen? Was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Und wie sehen mögliche Szenarien für die Zukunft aus?

    Zu diesen und anderen Fragen spricht der Journalist Pawel Kanygin mit der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann auf dem YouTube-Kanal Prodolshenije Sledujet (dt. Fortsetzung folgt).

    Pawel Kanygin: Putin und der chinesische Präsident haben sich in Moskau getroffen zu Gesprächen, die für Russland nicht viel gebracht haben dürften. Wie sehen Sie das, Ekaterina, stimmt es, dass dieses Treffen eher China und seinen Ambitionen als Gegenspieler der USA genützt hat? Welche Rolle fällt in dieser Konstellation Russland zu? Wird Russland zu Chinas kleinem Bruder? Oder zum Satelliten?

    Ekaterina Schulmann: Ganz offensichtlich ist dieser Besuch aus China für die russische Seite momentan innenpolitisch extrem wichtig. Gerade erst hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Präsidenten und die Ombudsfrau für Kinderrechte erlassen. Das war eine derart unerwartete, schockierende Nachricht für den Politikbetrieb im Land, dass die Propagandamaschine gar nicht wusste, wie sie sie vermitteln soll. Also wurde beschlossen, dieses Thema einfach auszusparen, weil die Wörter „Putin“ und „Haftbefehl“ in einem Satz ja dann doch zu beschämend sind. Der einzige Ausweg war, diese Nachricht mit irgendeiner anderen zu übertrumpfen: damit, dass das chinesische Staatsoberhaupt nach Russland kommt, unserem Tatverdächtigen die Hand schüttelt, ihn zu sich einlädt … So gibt er den russischen Staatsbürgern und, noch wichtiger, den Eliten zu verstehen, dass dieser Haftbefehl nicht so schlimm ist, dass er nicht in die internationale Isolation führt, sonst wäre ja nicht der Kollege aus China angereist und hätte wohlwollend eine Gegeneinladung ausgesprochen. Insofern ist der situative und kurzfristige Nutzen sehr groß.         

    Was meinen Sie, was bedeutet dieser Haftbefehl konkret für die Eliten? Sie nannten ihn beschämend, kommt das so an? Ist es eher beschämend oder eher etwas, das man ignorieren kann?

    Das ist überhaupt kein Widerspruch: Wenn man etwas Verletzendes zu Ihnen sagt, und Sie wissen keine Antwort darauf, dann können Sie es auch ignorieren. Natürlich wissen wir nicht so genau, was sich bei Einzelnen im Kopf abspielt, aber ausgehend von dem Wertesystem, das in diesen Kreisen herrscht, ist für sie der Internationale Strafgerichtshof irgendeine Unterabteilung des Washington-Obkom. Sie glauben, dass diese Richter Anrufe mit Anweisungen bekommen, wie und was sie genau zu tun haben, und es dann so machen.

    Gedankengänge: kurz und gerade, wie Bahnschwellen

    Die Idee einer unabhängigen Rechtsprechung und die Idee internationaler und supranationaler Organe sind unmöglich in die Köpfe der postsowjetischen Menschen hineinzukriegen. Sie sind nicht in der Lage und werden nie in der Lage sein, zu verstehen, was das ist. Daher denken sie eindimensional: Es gibt einen Internationalen Strafgerichtshof. Klar, dass über den die Amerikaner bestimmen, weil die Amerikaner die Herren über das ganze Universum sind. Dieser Internationale Strafgerichtshof hat bisher sechs Haftbefehle gegen amtierende oder ehemalige Staatsoberhäupter verhängt. Das waren alles Chefs von Staaten, die man nicht anders nennen kann als failed States. Gleichzeitig, denkt unsere Elite, haben die amerikanischen Präsidenten bombardiert, abgeschlachtet, geplündert und Unschuldige in Guantanamo gefoltert, so viel sie wollten, und keiner hat sich darüber beschwert. Und warum? In deren Logik: Weil die amerikanischen Präsidenten stark und mächtig sind und alle sie fürchten. Wer sind folglich die, die solche Haftbefehle bekommen? Die, die nicht stark und mächtig sind, die, die keiner fürchtet. Ist das gut?

    Ich kann es natürlich auch nicht hundertprozentig wissen, aber soweit man diese Leute nach jahrelanger Beobachtung durchschauen kann, sehen ungefähr so ihre Gedankengänge aus. Nicht lang, nicht komplex, ziemlich kurz und gerade, wie Bahnschwellen.   

    Heißt das, Putin verliert in ihren Augen quasi seine Legitimität, seinen Status als anerkannter und unhinterfragter Führer

    Na ja, nicht gleich die ganze Legitimität, die verliert man nicht so schnell. Es gibt kein einzelnes Ereignis, abgesehen vom physischen Tod, das die Macht des Präsidenten auslöschen würde. Das müsste schon eine ganze Kette solcher „bedauerlicher Missverständnisse“ und „zufälliger Pannen“ sein. Diese Kette hat schon relativ viele Glieder. Aber man weiß nie, welcher Strohhalm dem Kamel das Kreuz bricht. 

    Aber was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Wie viele solcher Strohhalme müssen sich ansammeln, und was für welche?

    Das lässt sich mit der Stabilität einer Bank vergleichen. Bei keiner Bank ist das ganze Geld, das die Kunden eingezahlt haben. Es liegt nicht physisch dort. Die Kunden lassen ihr Geld auf dem Konto, weil sie überzeugt sind, dass das besser ist, als das Geld zu Hause aufzubewahren. Wenn eine Gruppe von Kunden sich dessen nicht mehr so sicher ist und ihr Geld abhebt, sehen das die anderen und heben ebenfalls ihr Geld ab – und die Bank geht pleite. Sie ist also so lange stabil, solange die Kunden ihr vertrauen, und das tun sie, solange sie vertrauen. Das ist ein bisschen mystisch. 

    Welcher Strohhalm bricht dem Kamel das Kreuz

    Legitimität ist in der Politikwissenschaft einer der umfangreichsten und schwierigsten Begriffe, weil er ein irrationales Element enthält. In Wirklichkeit weiß niemand, warum die einen Leute Befehle erteilen und die anderen ihnen folgen. Erklärungen dazu gibt es viele, aber wenn man ehrlich ist, dann stehen im Zentrum dieses Phänomens einige Rätsel. Also, der Wahrheit am nächsten kommt, dass die Macht Macht ist, solange die Menschen rundherum glauben, dass sie es ist. Genauso, wie eine Bank nicht alles Geld hat, das eingezahlt wurde, gibt es keinen Leader, der so viel Macht hat, dass er alles umsetzen könnte, was er eigentlich umsetzen müsste. Er kann es nur mithilfe anderer Menschen, aber nur, wenn die ihn tatsächlich für den Leader halten.

    Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Strohhalme es braucht, um unserem Kamel das Kreuz zu brechen. Wir können nur erkennen, welches Ereignis sich als Strohhalm auf seinen Rücken legt, und welches ein Leckerbissen für ihn ist. Denn es gibt Phänomene und Ereignisse, die diese Legitimität füttern, und solche, die ihr schaden. Dieser Haftbefehl schadet ihr natürlich. Der Besuch aus China ist Futter. Was könnte hier eine Kettenreaktion auslösen? Wer wird der Kunde sein, der sagt: „Leute, wir sollten mal los. Hebt euer Geld ab, gleich wird das alles den Bach runtergehen.“ Was das sein wird, wissen wir nicht. 

    Wir haben viele historische Beispiele, wie in sehr autoritären und strengen Systemen Massenproteste angefangen haben. Das passiert nicht dann, wenn das System besonders böse Bösartigkeiten macht. Die wirken oft erst recht systemstärkend, weil sie die Menschen einschüchtern und keiner mehr Widerstand wagt. Aber die Kombination, der Eindruck einer Schwäche in der Führungsriege und gleichzeitig eine spezielle Gemeinheit, irgendeine Schweinerei, die manchmal gar nicht so groß sein muss – das kann so ein Trigger sein. 

    Was sind die offensichtlichen Strohhalme? Misserfolge aller Art an der Front zum Beispiel. Aber wie wir sehen, kann man sich aus Charkiw zurückziehen, aus Cherson, ohne dass groß etwas passiert. Doch eine Anhäufung derartiger Ereignisse, vielleicht wenn sie in einer kurzen Zeitspanne dicht aufeinander folgen, könnte vielleicht zu dem führen, was in Tolstois Krieg und Frieden beschrieben wird: Da schreit irgendein Soldat: „Das war’s, Leute!“ und rennt los, und alle rennen hinterher. 

    Die Empörung, die Unzufriedenheit mit der Situation muss also vom Volk ausgehen und nicht von den Eliten?

    Nein, im Gegenteil, so habe ich das nicht gemeint. In einer Autokratie ist natürlich die Position der Elite das Entscheidende. Solange sie dafür ist, den Status quo zu bewahren, wird sich dieser auch halten. 

    Am Beginn muss eine Schwäche stehen

    Andererseits ist gerade im Nachhinein oft schwer erkennbar, wer als Erster Alarm geschlagen hat, denn sobald die Staatsmacht zu schwächeln beginnt, fangen sofort die Proteste an. Wenn dann ein neues Regime kommt, sagt es, wir sind auf einer Welle des Volkszorns gekommen, das Volk hat den Tyrannen gestürzt, und nicht: Die Elite hat beschlossen, den Kopf des gealterten Diktators zu opfern, um sich die Verlängerung ihrer Position zu sichern. Das klingt nicht so schön, und für die Geschichtsbücher ist es auch nichts, deswegen, noch einmal, entsteht im Nachhinein der Eindruck, dem Volk sei die Geduld gerissen. Aber am Beginn muss eine Schwäche stehen, und erst danach kommen die Konsequenzen.  

    Wie lange kann man die Idee der [politischen – dek] Mobilisierung, der Geschlossenheit, der belagerten Festung noch bemühen? Dass die Eliten sich dicht um ihren Leader drängen müssen, weil sie im Westen geprügelt werden und Russland ihnen ein sicherer Hafen ist. 

    Das ist momentan tatsächlich das Schlüsselnarrativ, aber es mobilisiert nicht. Die Mobilisierung der Gesellschaft konnte nicht gelingen, weil unser politisches System seit 20 Jahren auf Entpolitisierung setzt, auf die Trennung von Bevölkerung und Regierung, auf die Verdrängung der Menschen aus der Politik, auf die Verfolgung jeglicher Vereinigungen, jeglicher sozialer Verbindungen. Warum wurden die NGOs so terrorisiert? Warum wurde die Zivilgesellschaft verfolgt? Warum Nawalnys Strukturen zerschlagen? Weil das eigenständige, netzartige Zusammenschlüsse waren, die von unten wuchsen. Das durfte nicht sein, Zusammenhalt darf es nur im Staat geben, nicht in der Gesellschaft. Das hilft beim Machterhalt, wie man sieht, auf sehr lange Zeit. Aber wenn man dann so gescheit ist, eine Situation zu schaffen, in der man eine Mobilisierung braucht, dann sieht man, dass die gar nicht mehr möglich ist.  

    Solange das Geld dafür da ist

    Unsere [Regenten – dek] haben das bereits verstanden und versuchen es auch nicht mehr. Stattdessen verkaufen sie genau diese Geschichte: Im Westen werdet ihr alle geprügelt und herabgewürdigt, haltet euch fern. Bleibt hier, wir tun euch nichts, und ihr verdient gutes Geld. Den Staatsbürgern sagen sie: Wir zahlen euch komplett alles, das Leben, den Tod, den Wehrdienst, die Kinder. Das ist dieser scheußlich klingende neue Gesellschaftsvertrag „Geld gegen Fleisch“ wie er in der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] artikuliert wurde: Ihr liefert uns lebende Ware, wir geben euch Geld. Und zwar so viel Geld, wie ihr noch nie gesehen habt. Bisher funktioniert das durchaus. Oder es heißt: Hier verdient ihr besser und schneller, mehr als im Westen, wir werden neue Gebiete erschließen, es wird Infrastrukturprojekte geben. Und, das wird zwar nicht ausgesprochen, schwingt aber irgendwie mit: Wir hören auf, euch wegen Korruption zu belangen, wir werden euch beschützen, und ihr werdet innerhalb Russlands und der freundlich gesinnten Länder absolut frei sein. Geht nur nicht in den Westen, da sind schlechte Menschen, Transparenz, Strafverfolgungen, allerlei unangenehme öffentliche Diskussionen. Das könnt ihr alles nicht brauchen.

    So ist also das Narrativ: Das ist ein Krieg, oder vielmehr eine Konfrontation mit dem Westen, die ewig und unüberwindlich ist. Wir sind zwei unterschiedliche Zivilisationen, daran wird sich nie etwas ändern. Aber das sei gut so, der richtige, natürliche Lauf der Dinge. Und wer betroffen ist, dem zahlen wir Geld, und dann wird es euch sogar besser gehen – was wolltet ihr denn mit diesem Verwandten, den keiner braucht? Geld ist doch viel besser. Also, so lautet das Angebot, der Gesellschaftsvertrag. Überzeugend? Absolut! Wie lange das anhalten kann? Da würde ich gern eine ganz einfache, plumpe Antwort geben: Solange das Geld dafür da ist. 

    Putin beschreibt Russland oder stellt es zumindest in öffentlichen Reden einerseits als mächtigen Staat dar, als Supermacht, und andererseits als Opfer des Westens. Was ist das für ein Doppeldenk? 
           
    Soweit ich das verstehe, ist das so gemeint: Ja, wir sind mächtig, reich und moralisch überlegen, und deswegen greift uns der Westen ständig an und wird uns immer angreifen, weil wir von Natur aus einander Feind sind. Aber wir sind so stark, dass er uns nie endgültig besiegen und in die Knie zwingen wird. Wir stehen immer wieder auf. Ohne dass wir uns je zur vollen Größe aufgerichtet hätten, sind wir so mächtig, dass der ganze kollektive Westen mit vereinten Kräften es nicht schafft, uns zu besiegen. Das ist, wie mir scheint, eine sehr vorteilhafte Darstellung des Geschehens, weil man niemanden besiegen und sich nirgendwo hinbewegen muss. Man kann jederzeit hinausgehen und sagen: Wir haben erfolgreich unsere einzigartige Zivilisation verteidigt, unsere Werte, sie konnten uns nicht versklaven, sie konnten uns nicht spalten. Seht nur, wir leben hier genauso wie vorher. Außerdem kann man sein eigenes An-der-Macht-Sein ebenfalls als permanenten Sieg hinstellen.  

    Die Rhetorik ist bei uns voller Angriffe, gleichzeitig geht es ständig darum, dass wir Opfer sind. Sind wir nun Opfer, oder sind wir am Gewinnen? Welches Bild entsteht in den Köpfen der Menschen, die sich das im Fernsehen anschauen? Und das mit dem sowjetischen Doppeldenk habe ich nicht grundlos gesagt — steht Putins Doppeldenk nicht in dessen Tradition?

    Der sowjetische Doppeldenk bestand darin, dass die Leute das Eine dachten, das Andere sagten und etwas Drittes taten. Und der postsowjetische Mensch, also die Generation, zu der ja unsere ganze Führungsriege noch gehört, kann nicht verstehen, dass es zwischen diesen drei Bereichen eine gewisse Beziehung geben muss. Wenn ihm vorgeworfen wird, dass er pausenlos lügt, dann versteht er nicht, was damit gemeint ist, weil er glaubt, dass das alle Menschen so machen. Die Verbindung zwischen Gedanken, Handlungen und Worten ist für ihn nicht klar, weil er in einer grundlegend anderen Kultur sozialisiert wurde, in der man sagt, was von einem erwartet wird, sich seinen Teil denkt und das tut, was einem je nach Situation nützt. Man hat also keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken. 

    Die unverfälschtesten Vertreter dieses Typus sind bei uns jene, die der Generation der sowjetischen Boomer angehören, geboren in den 1950er Jahren. Warum gerade die? Sie waren 1991 ungefähr 40, also bereits erwachsene Menschen, die fest im Leben stehen. Sie haben das gesamte Programm der sowjetischen Bildung durchlaufen und wurden bereits von Sowjetmenschen unterrichtet. Das ist eine sehr spezifische Generation, ihr wurde jede lebendige Verbindung zum vorherigen, vorsowjetischen Russland gänzlich abgeschnitten. Sie wuchsen vor dem Informationszeitalter auf, es gab für sie in vielerlei Hinsicht keine Möglichkeiten, sich auf eigene Faust weiterzubilden. Das sind die Leute, die uns regieren. Doppeldenk und dreifache Divergenz sind für sie absolut charakteristisch. 

    Keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken

    Was Sie angesprochen haben, das ist der öffentliche Diskurs, den die Menschen momentan vorgesetzt bekommen, in dem Russland Opfer und Sieger zugleich ist. Das erscheint tatsächlich unlogisch, aber ein öffentliches Narrativ dieser Art muss gar nicht mit Fakten überzeugen, sondern es muss emotional überzeugen. Das heißt, die Menschen wollen eine gemeinsame Emotion spüren, und die besteht darin, dass wir Angst haben und gleichzeitig stolz sind: Uns greifen alle an, aber wir leisten Widerstand, der niemals brechen wird. 

    Aber was Zukunftsaussichten angeht – das ist der größte Schwachpunkt. Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere, da ist nichts. Im öffentlichen Diskurs fällt nie ein Wort darüber, wie herrlich unser Leben sein wird, wenn wir siegen. Oder höchstens, dass wir die „Nazi-Regierung“ stürzen werden und das ukrainische Volk endlich aufwachen und erkennen wird, dass es in Wirklichkeit Teil des russischen Volkes sei. Und dann würden Russland und die Ukraine zusammen ein neues geopolitisches Zentrum bilden. Oder, dass wir uns mit China zusammentun und gemeinsam die USA besiegen, und dann … Es gibt dieses Bild der sogenannten multipolaren Welt, was immer das sein mag. Aber eine Vorstellung davon, wie toll diese multipolare Welt aussehen wird? Na gut, nun haben wir also die Hegemonie der USA gebrochen – und jetzt? Was kommt da noch so Großartiges auf uns zu?

    Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere

    Das ist ein ziemlich wichtiger Punkt, weil in der Öffentlichkeit oder überhaupt in der Politik oft das Fehlende wichtiger ist als das Vorhandene. Was nicht passiert ist, zählt oft mehr, als das, was passiert ist. Es lohnt sich, auf diese Lücken zu achten, sie sagen sehr viel aus. 

    Das Fehlen einer Zukunftsvision scheint mir sehr bedeutend. Meine Arbeitshypothese ist: Am effektivsten erreicht die aktuelle Propaganda Menschen derselben Alterskategorie wie unsere Regierung. Das sehen wir in allen Umfragen, bei jedem Thema. Das Alter ist der wichtigste Faktor, der die Meinung bestimmt, egal wozu. Vielleicht richtet sich dieser Diskurs an Menschen, die kein Bild der Zukunft entwerfen können, weil sie wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden. Primitiv ausgedrückt. Daher brauchen sie auch kein solches Bild. Anders kann ich mir das nämlich nicht erklären. Die Sowjetmacht hat ein strahlendes Bild der Zukunft gemalt, Nazideutschland hat eine strahlende Zukunft versprochen, Mussolini hatte seine Idee vom neuen Rom, und in China gibt es die Idee der blühenden Gesellschaft. Egal, ob dieses Bild nun mehr oder weniger Details enthält, es kann auch nur ganz allgemein sein – aber es muss vorhanden sein. Bei uns hat man das Gefühl, es herrsche ein Verbot, als würden alle Sätze sofort unterbunden, in denen ein Verb im Futur vorkommt. 

    Aber was wird mit den Kindern passieren, mit den Jugendlichen, die man jetzt mit aller Kraft zu militarisieren und indoktrinieren versucht und denen man diese neo-sowjetische „Ideologie“ einimpfen will?

    Entgegen der landläufigen Annahme ist das, was Autoritarismus von Totalitarismus unterscheidet, nicht die Intensität der Repressionen. Schulbildung mit dem Ziel, die Kinder zu ideologisieren, ist aber ein Merkmal des Totalitarismus.

    Wohin kann das führen? Noch sind wir in der heißen Phase eines Konflikts, von dem noch keiner erschöpft ist. Daher braucht es keine langen Erklärungen. Man kann sagen, wir wurden angegriffen, wir wehren uns. Bisher ist das Fehlen einer halbwegs einprägsamen, halbwegs zusammenhängenden ideologischen Botschaft kein Problem. Aber wenn man sich zehn Jahre halten und eine ganze Generation von Schülern von der ersten bis zur zehnten Klasse indoktrinieren will, dann wird man allein mit der Geschichte, dass der Westen immer schon gegen uns war, nicht weit kommen. Da braucht es schon so etwas wie den sowjetischen Diskurs. 

    Der sowjetische Diskurs war etwas Ganzes, er war vielseitig und harmonisch zugleich. Er hatte eine philosophische Komponente für die Gebildeten – den Marxismus. Er hatte einen Teil, den wir heute Memes nennen würden — einprägsame, bunte Bilder und Sprüche, die jeder in der Sowjetunion kannte. Dazwischen gab es eine große Menge unterschiedlicher ideologischer Produktion – Malerei, Lieder, das Ballett Der helle Weg, allerlei Bücher, Gedichte, Prosa. Der sowjetische Mensch war komplett von Ideologie umgeben, er verwendete sie, war durchdrungen von ihr. 

    Durchdrungen von der Ideologie

    Wir haben bisher nichts Vergleichbares. So etwas können Sie erzeugen, wenn Sie a) die Zeit dafür haben und b) ein solches Monopol auf den öffentlichen Raum haben, so dass die Menschen, die lesen, schreiben, singen, malen oder tanzen wollen, gar keine andere Wahl haben, als zu Ihnen zu kommen und dieses ideologische Produkt zu schaffen. Bei uns ist die Situation noch anders: Wie viel Zeit wir haben, wissen wir nicht. Von der Zeit hängt hier tatsächlich vieles ab. Ein solches Monopol wie in der Sowjetunion besteht bisher auch nicht, weil die Menschen, die ihre kreativen intellektuellen Erzeugnisse verkaufen wollen, trotz allem die Wahl haben. Sie können sie irgendwo anders verkaufen oder angesichts der unklaren Lage erst mal gar nicht verkaufen und sagen: „Wisst ihr was, ich werde mir nicht gleich ein Z auf die Stirn malen, ich warte mal ab.“

    Noch gelingt es also nicht, die Jugend für diese neue Vergangenheit zu begeistern und an das sowjetische Gepäck anzuknüpfen? 

    In der Tat, wenn wir uns die Umfragen ansehen, dann sehen wir, dass jede Generation, die jünger als 65 ist, sich immer weiter vom [vorgegebenen – dek] normativen Ideal entfernt, dem offiziellen Diskurs immer weniger zustimmt. Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist in dieser Hinsicht am schlimmsten. Sie sind für den Staat vollends verloren, daher versucht er, sie lieber schnell zu vertreiben oder umzubringen oder in die Emigration zu zwingen, weil er sie nicht brauchen kann: Sie nehmen nicht an, was er ihnen beibringen will. Aber wir haben zehn Jahre mit einer relativ hohen Geburtenrate hinter uns, in den „goldenen Putinjahren“, als die Geburtenrate höher war als davor und danach. Das war der Zeitraum zwischen 2004 und 2014, zehn Jahre, in denen die Menschen daran glaubten, dass das Leben besser geworden ist, und etwas mehr Kinder bekamen … Wir haben also gar nicht so wenig Jugendliche: Die Älteren werden bald 18, die Jüngeren wurden gerade eingeschult, die 2016 Geborenen zum Beispiel. Während bei den 18- bis 24-Jährigen nichts mehr zu machen ist, kann man es mit diesen sehr wohl noch versuchen. Wenn man die irgendwie indoktriniert und dafür diese zehn Jahre zur Verfügung hat, dann hat man in zehn Jahren eine beträchtliche Zahl junger Leute, die, so der Plan, diesem Kurs treu sind. Und im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt [in der Ukraine – dek] zu kämpfen versucht, werden sich mit denen vielleicht sogar besser Kriege führen lassen. Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.   

    „Im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt zu kämpfen versucht, werden sich mit den Jüngeren vielleicht sogar besser Kriege führen lassen.Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.“ / Foto © Riccky 1409/Wikimedia unter CC BY-Sa 4.0

    Aber da muss man erstmal die nächsten zehn Jahre durchhalten. Grob geschätzt hat Putins Regime und Putin selbst … na ja, zehn, fünfzehn Jahre vielleicht noch. Was und wer kann die Nachfolge antreten? Wie kann die nächste Regierung aussehen, das nächste Regime, das in zehn, fünfzehn Jahren an die Macht kommt? Oder gehen wir immer noch davon aus, dass alles beim Alten bleibt?

    Alles, was wir als Antwort auf diese Frage tun können, ist mögliche Szenarien beschreiben und sie dann nach Wahrscheinlichkeit ordnen. Das Wahrscheinlichste ist immer das Trendszenario: Was auch immer Sie prognostizieren, am ehesten bleibt alles ungefähr wie bisher. Wie beim Wetter, in 85 Prozent der Fälle bleibt es morgen ungefähr so wie heute. Aber wenn das in 100 Prozent der Fälle so wäre, dann gäbe es keine Jahreszeiten. Genauso ist es hier: Unser Trendszenario ist so lange das Wahrscheinlichste, bis etwas Anderes passiert. Und dann löst sich der ganze Trend in Luft auf.  

    Ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht

    Er verschwindet nicht gänzlich, das Vergangene wirkt immer auf die Zukunft, aber trotzdem. Sehen wir uns also dieses Trendszenario genauer an. Angenommen, das aktuelle politische Regime zieht diese – manchmal militärische, manchmal nicht-militärische – Konfrontation noch zehn Jahre in die Länge. Oder eigentlich noch zwei Amtszeiten des Präsidenten, sechs plus sechs. In dieser Zeit schaffen wir eine neue, vom Westen isolierte Wirtschaft, die zum Osten hin offen ist, bilden mit China irgendeine Art gemeinsamen Wirtschaftsraum, bauen neue Pipelines, neue Straßen, unsere Städte in Sibirien erleben einen Aufschwung, weil durch sie der ganze Verkehr läuft. Wir kämpfen irgendwie auf niedriger Flamme gegen die Ukraine oder ringen um eine Trennlinie. Na, wir machen aus uns eine Art Riesen-Donbass und haben diese acht Jahre, die zwischen 2014 und 2022 lagen, nun eben von 2024 bis irgendwann nach 2030. Inzwischen isolieren wir den Informationsfluss endgültig, etablieren die Plattform Rutube, schalten YouTube aus, transponieren alle auf unsere eigenen Plattformen, und die russische Bevölkerung vergisst mit der Zeit, dass es eine andere Medienrealität gibt, dass es Hollywoodfilme gibt, andere Lieder, andere Informationen, eine andere Literatur. Wir konsumieren das Eigene. In dieser Zeit perfektionieren wir auch unsere Gespräche über das Wichtige, erschaffen irgendeinen Ideologen, der uns eine Ideologie produziert, und folgen dieser in unserer Erziehung.         
       
    Unter Bedingungen der Isolation und womöglich ohne die Gelegenheit zu sehen, wie es auch anders ginge, erziehen wir zehn Jahre lang die Kinder, die wir geboren haben, als wir noch Geld hatten. Und dann, dann haben wir eine junge Generation, die wir einsetzen können, dazu noch die aus China bezogenen Ressourcen – und damit ziehen wir wieder in den Krieg. In dem wir sehr viel mehr Erfolg haben. In der Ukraine passiert in der Zwischenzeit aus irgendeinem Grund gar nichts, der Westen ist wie immer von allem müde, und da installieren wir in Kyjiw unsere prorussische Regierung. Des Weiteren kann man dann schon die Macht auf ein glänzendes Nachfolgeteam übertragen, das den dreifachen Staat aus Russland, Belarus und der Ukraine regiert. Na, wie gefällt Ihnen dieses Bild?

    Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Ekaterina. Das will ich, wenn ich ehrlich bin, nicht mehr erleben.

    Das, was ich hier beschrieben habe, ist das Wunschszenario derjenigen, die jetzt an der Macht sind. Sie sehen hier Merkmale eines Trendszenarios – es soll alles so weitergehen, es soll uns nichts passieren, die Front soll standhalten, die Öleinnahmen nicht versiegen … Und wir bereiten uns in dieser Zeit, in dieser Pause der Geschichte, auf den nächsten rüstungsindustriellen und militärischen Kraftakt vor. Das heißt, hier haben wir ein Element eines Trendszenarios, das, ich wiederhole, sehr oft vorkommt, weil große Systeme, große soziale Körper diese Kraft der Trägheit besitzen und sich gewissermaßen selbst in die Zukunft fortschreiben. Aber es gibt auch Elemente, die sozusagen der Phantasie angehören, die davon ausgehen, dass die ganze Außenwelt einfach einschläft, während wir uns hier vorbereiten, und sich außer uns niemand wappnet.   

    Ich muss sagen, ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht. Sie können sich wahrscheinlich genauso gut wie ich eine Konstellation der Ereignisse vorstellen, in der genau das passiert. Warum auch nicht? Noch einmal, alles, was wir tun können, ist, unsere Szenarien nach Wahrscheinlichkeit zu ordnen. 

    Am Ende [des Interviews] fragen wir immer alle: Wann sehen wir uns persönlich? In Russland, natürlich. Das heißt, Sie nennen uns ein Jahr, einen Monat oder vielleicht sogar ein genaues Datum und einen Ort, und wir gucken mal, ob wir das hinbekommen.

    Okay, also, nach dem Krieg um 18:00, ja? Meine vagen Schätzungen haben zwar nicht wirklich Hand und Fuß, aber trotzdem … Ich würde sagen, ab 2024 … Da fängt der Boden schon an nachzugeben, da sinken wir schon ein. Deswegen, lieber Pawel … Also, 2024 ist natürlich sehr mutig. Sagen wir, 2025, irgendwann im März. In der Redaktion der Novaya Gazeta … 

    Einverstanden, Potapow-Gasse Nummer drei. Vielen Dank, liebe Ekaterina, es war mir ein Vergnügen.    

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    Jahrzehntelang feierte auch die Ukraine am 9. Mai den Tag des Sieges − ein Volksfest mit Militärparade zur Erinnerung an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. 2023 wird er als Tag des Gedenkens und der Versöhnung auf den 8. Mai vorgezogen: In Anlehnung an die Tradition in Westeuropa stellt die Ukraine von nun an die Opfer des Krieges zwischen 1939 und 1945 in den Mittelpunkt. 

    Das Wort „Sieg“ ist für die Ukraine kein historischer Begriff mehr, er ist das gegenwärtige Ziel ihres Verteidigungskampfes im andauernden russischen Angriffskrieg. Wie genau soll der aussehen, welche Zugeständnisse sind vorstellbar für ein Ende der Kampfhandlungen? Und wie sehen die Ukrainer die mit Russland gemeinsame sowjetische Geschichte angesichts der gegenwärtigen russischen Aggression?

    Diese Fragen beantwortet im Interview mit dem russischen Onlinemedium Republic der Soziologe Mychailo Mischtschenko vom unabhängigen Forschungsinstitut Rasumkow-Zentrum in Kyjiw. 

    Die Arbeitsbedingungen für Meinungsumfragen und Studien sind durch den andauernden Krieg erschwert: Schon seit 2014 sind bei Befragungen durch ukrainische Institutionen die Menschen auf der annektierten Halbinsel Krim und in den sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ausgenommen. Seit der russischen Invasion 2022 können Forschungsgruppen auch in den okkupierten Regionen kaum Befragungen durchführen. In den aktuellen Studien des Rasumkow-Zentrums werden jeweils die Regionen aufgelistet, in denen Umfragen durchgeführt wurden − teils mit der Einschränkung „nur in Gebieten, die von der Regierung der Ukraine kontrolliert werden und in denen keine Kampfhandlungen stattfinden“.

    Jewgeni Senschin: Die Ukrainer sind aktuell größtenteils bereit, bis zum siegreichen Ende zu kämpfen. Aber wie definieren sie einen solchen Sieg im jetzigen Krieg?

    Mychailo Mischtschenko: Dazu haben wir im Dezember 2022 zusammen mit der Stiftung Demokratische Initiativen eine Umfrage durchgeführt. Ihr zufolge glauben 93 Prozent der Ukrainer an einen Sieg ihres Landes in diesem Krieg. Wir haben auch gefragt, was Sieg für sie heißt. Von denen, die an den Sieg glauben, antworteten 54 Prozent: die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine und die Wiederherstellung der Grenzen nach Stand vom Januar 2014. Weitere 22 Prozent betrachten die Zerschlagung der russischen Armee und die Begünstigung eines Aufstands innerhalb Russlands als Sieg. 
    Für acht Prozent bedeutet Sieg die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Territorium der Ukraine, die Krim ausgenommen. Für sechs Prozent – die Vertreibung der russischen Truppen hinter die Frontlinie, wie sie noch am 23. Februar 2022 galt [also ausgenommen die Krim sowie die Gebiete der von Russland unterstützten sogenannten Donezker und Luhansker „Volksrepubliken“ − dek]. Für nur drei Prozent der Befragten wäre allein das Ende des Kriegs schon ein Sieg, selbst wenn russische Truppen dort blieben, wo sie jetzt sind. 

    Wir sehen also, die überwiegende Mehrheit versteht unter einem Sieg die Vertreibung der russischen Truppen vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine. In diesem Fall spiegelt die Position von Präsident Wolodymyr Selensky die Position der überwiegenden Mehrheit der ukrainischen Staatsbürger wider. 

    Zudem liegen Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie vor zur Frage, ob die Bevölkerung zu Gebietsabtretungen bereit wäre. Diese Studie stammt vom Februar 2023. Nur neun Prozent sind da der Meinung, dass die Ukraine auf bestimmte Gebiete verzichten könnte, um schneller einen Frieden zu erzielen und ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Gleichzeitig finden 87 Prozent, dass die Ukraine unter keinen Umständen auf Gebiete verzichten dürfe. Dabei ist das auch die vorherrschende Meinung in den meisten Regionen: In der Westukraine denken das 89 Prozent, in der Zentralukraine 87 Prozent, im Süden 86 Prozent und im Osten 82 Prozent.
     
    Sie sprechen häufig von „Putins Russland“. Wie hat sich die Einstellung zu Putin verändert? War er für die Ukrainer immer schon ein Feind, eine Verkörperung der Anti-Zivilisation? 

    Bis 2013 wurde noch öfter positiv als negativ über Putin gesprochen. Bei einer Umfrage 2014 betrug der Anteil derjenigen, die gegen Putin waren, schon 71 Prozent. 2017 stieg dieser Prozentsatz auf 79. Im März 2021 waren es bereits 82 Prozent, im August 2022 schon 96 Prozent. Dieser Wert kann praktisch nicht mehr steigen. Die jüngsten Forschungen haben ergeben, dass die Zahl jener, die sich positiv über Putin äußern, gegen null geht. 

    In der Ukraine richtet sich die Meinung über ausländische Politiker meistens danach, wie beliebt diese bei sich zu Hause sind. Wenn ein Politiker im eigenen Land positiv bewertet wird, wird er analog dazu auch in der Ukraine positiv wahrgenommen. Doch das ändert sich, wenn dieser Politiker sich in die ukrainische Innenpolitik einmischt oder offen feindlich gegen das Land aktiv wird. Seit der Annexion der Krim und [Russlands] hybridem Krieg bekamen die Ukrainer natürlich gute Gründe für eine negative Haltung gegenüber Putin. 

    Dasselbe gilt für Lukaschenko: Nach den gefälschten Wahlen in Belarus verschlechterten sich seine Umfragewerte in der Ukraine. Die Ukrainer haben begriffen, dass Lukaschenko ein richtiger Diktator ist. Seitdem er in Russlands Angriff auf die Ukraine involviert ist, ist er noch unbeliebter. Laut unseren Umfragen vom Februar und März 2023 sind 92 Prozent der Ukrainer Lukaschenko gegenüber negativ eingestellt.

    Gibt es Befragungen darüber, wie sich in den letzten Jahren die Beziehung zur russischen Sprache verändert hat? 

    Das Verhältnis zur russischen Sprache war bis zum Beginn des hybriden Kriegs sehr gut, erfuhr in dessen Folge jedoch eine deutliche Veränderung und verschlechterte sich nach der russischen Invasion noch mehr. Dazu gibt es Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie: 1998, 2019 und 2023 wurde die Frage gestellt, ob in ukrainischsprachigen Schulen Russisch gelehrt werden soll. 2019 antworteten nur acht Prozent, dass Russisch gar nicht an Schulen unterrichtet werden solle. 1998 bot der Fragebogen eine solche Option gar nicht an, weil die Forscher wohl davon ausgingen, dass sie niemand ankreuzen würde. Im Februar 2023 vertreten diese Ansicht jedoch schon 52 Prozent.

    42 Prozent sind zwar für die Beibehaltung des Russisch-Unterrichts an Schulen, wollen aber die dafür verwendeten Stunden reduzieren. 

    Während 1998 noch 46 Prozent meinten, dass die russische Sprache im selben Umfang unterrichtet werden soll wie die ukrainische, fiel dieser Anteil 2019 auf 30 und liegt heute nur noch bei drei Prozent. Jene, die fanden, Russisch solle weniger als Ukrainisch, aber mehr als andere Fremdsprachen unterrichtet werden, machten 1998 noch 32 Prozent aus, 2019 dachten 26 Prozent so, und 2023 nur noch sechs Prozent. Jetzt finden 33 Prozent, dass Russisch im Vergleich zu anderen Fremdsprachen im selben oder in geringerem Umfang unterrichtet werden soll. 2019 dachten das 25 Prozent, 1998 nur 17 Prozent.

    Das ist eine Folge der russischen Aggression. Die russische Sprache ist heute für die Ukrainer jene Sprache, in der sich russische Soldaten in abgehörten Telefonaten unterhalten, wo fast die Hälfte Vulgärsprache ist. 

    Vor dem Krieg fragten wir auch, zu welcher kulturellen Tradition sich die Menschen zugehörig fühlen. Zum letzten Mal haben wir diese Frage 2021 gestellt, und wir können die Antworten mit jenen aus dem Jahr 2006 vergleichen. Sieht man sich die Daten zu ethnischen Russen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft an, so fühlten sich innerhalb dieser Gruppe 2006 nur 21 Prozent zur ukrainischen Kulturtradition zugehörig. 2021 betrug dieser Wert bereits 49 Prozent. Zur russischen Kulturtradition fühlten sich 2006 noch 35 Prozent der ethnischen Russen zugehörig, 2021 nur noch 18 Prozent [andere genannte waren sowjetisch und europäisch − dek]. Seit Beginn des großen Kriegs 2022 wird sich diese Tendenz wahrscheinlich fortgesetzt haben. 

    Wir sehen, dass die Distanzierung von Russland nicht nur generell unter den ukrainischen Staatsbürgern stattfindet, sondern auch unter den ethnischen Russen in der Ukraine. Wenn also Putin von der Verteidigung des russischen Volkes spricht, dann sehen wir, dass das gerade bei den ethnischen Russen in der Ukraine auf Ablehnung stößt.

    Wie hat sich die Einstellung der Ukrainer zur gemeinsamen Vergangenheit mit den Russen verändert? Dass sie generell negativ ist, liegt auf der Hand. Aber vielleicht gibt es noch irgendwelche Symbole, Ereignisse, Figuren, die vom negativen Schatten des Kriegs verschont bleiben?

    In Russland herrscht Umfragen zufolge eine ausgeprägte Sowjetnostalgie. In der Ukraine ist das so nicht zu beobachten. Bei einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums im September und Oktober 2022 haben nur drei Prozent angegeben, dass sie sich eine Wiedererrichtung der Sowjetunion wünschen. Weitere elf Prozent antworteten, sie würden sich diese zwar wünschen, hielten sie aber für unmöglich. Und 87 Prozent sagten, sie wollten keine Wiederherstellung der Sowjetunion. 2021 waren das noch 69 Prozent, 2016 noch weniger, nämlich 65 Prozent.

    Aber was könnte Ukrainer und Russen noch verbinden? Am häufigsten wird als ein solches historisches Ereignis ja der Sieg im Zweiten Weltkrieg genannt. 

    Aus ukrainischer Sicht sieht dieser Sieg so aus: Erstens wurde er zusammen mit den westlichen Alliierten errungen, zweitens war er das Verdienst aller Völker, die zur Sowjetunion gehörten. Doch Putin unterzog diese Interpretation einer drastischen Veränderung. Schon 2010 erklärte er: „Was unsere Beziehung zur Ukraine betrifft, erlaube ich mir, Ihrer Behauptung zu widersprechen, wir hätten ohne einander den Krieg nicht gewinnen können. Wir hätten trotzdem gesiegt, weil wir das Land der Sieger sind … Die Statistik aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zeigt eindeutig, dass die größten Verluste damals die Russische Sowjetrepublik hinnehmen musste, nämlich mehr als 70 Prozent. Das bedeutet, ohne da jemandem zu nahe treten zu wollen, dass der Sieg vor allem auf Kosten menschlicher und industrieller Ressourcen Russlands errungen wurde. Das ist eine historische Tatsache.“ Putin versucht also, den Sieg zu privatisieren. 

    Mein Vater hat zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Meint Putin also, er hätte nicht unbedingt teilnehmen müssen, es wäre auch ohne gegangen? Mit seiner Aussage löscht Putin das Moment der Einheit aus, den gemeinsamen Sieg. Natürlich hat diese Auslegung die Ukrainer beeinflusst. Kein Wunder, dass seitdem viele Ukrainer Putins Haltung zum Sieg im Zweiten Weltkrieg einen „Siegeswahn“ nennen. 

    Putin und seine Politik kappen alle Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland, auch die historischen

    Putin hat sogar noch eins draufgesetzt und ist von der sowjetischen Interpretation des Sieges abgewichen. Damals war der Sieg die Garantie für Frieden, „Bloß kein Krieg mehr“ war eines der Narrative unter Chruschtschow, Breshnew, Gorbatschow. Für Putin ist der Siegeskult aber Ausgangspunkt für eine militärische Revanche. Sein Siegeskult erinnert stark an den Kriegskult in Nazi-Deutschland. Faktisch führt er nicht die Tradition der Sieger über Nazi-Deutschland fort, sondern lässt jene Haltung zum Krieg wiederaufleben, die im Nationalsozialismus bestand. Deswegen wird Russland heute von der internationalen Gemeinschaft eher mit Nazi-Deutschland assoziiert als mit den Alliierten, die es besiegt haben. 

    Daher sinkt in der Ukraine die Motivation immer mehr, am 9. Mai den Tag des Sieges zu feiern. Das Kyjiwer Internationale Institut für Soziologie führt regelmäßig Umfragen durch, welche Feiertage die Ukrainer am liebsten haben. Während 2013 noch 40 Prozent der Befragten den Tag des Sieges nannten, waren es 2016 nur noch 35 Prozent, 2018 – 31 Prozent, 2021 – 30 Prozent und im Februar 2023 nur noch 13 Prozent.

    Putin und seine Politik kappen alle Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland, auch die historischen.

    Ich kann auch die Ergebnisse einer Studie des Rasumkow-Zentrums aus dem Jahr 2017 anführen. Da wurde gefragt, womit Russland assoziiert wird. Schon damals waren die häufigsten Assoziationen der Ukrainer Begriffe wie „Aggression“ (66 Prozent), „Diktatur“ (60 Prozent) und „Brutalität“ (57 Prozent). Das bestätigt wiederum, dass Russland in der emotionalen Wahrnehmung der Ukrainer eine gewisse Ähnlichkeit mit Nazi-Deutschland besitzt.

    Die Ukrainer nehmen Russland also negativ wahr. Aber machen sie einen Unterschied zwischen den russischen Staatsbürgern und dem Kreml? Heute werden in der radikalen pro-ukrainischen Presse oft Russland und der Kreml gleichgesetzt. Sieht das die ukrainische Gesellschaft auch so?

    Im August 2022 wurde eine gemeinsame Studie des Rasumkow-Zentrums und der Stiftung Demokratische Initiativen durchgeführt. Darin kam die Frage vor: „Wer trägt Ihrer Meinung nach die Hauptverantwortung am Krieg in der Ukraine?“ Es gab mehrere Optionen zur Auswahl. Am häufigsten wählten die Befragten die Antworten: die russische Regierung (86 Prozent) und die russische Bevölkerung (42,5 Prozent). Wir sehen, dass ein großer Teil der Ukrainer die Verantwortung bei der russischen Bevölkerung sieht und nicht nur bei ihrer Führung.

    In einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts Rating im August 2022 haben 81 Prozent der befragten Ukrainer eine negative (im Fragebogen stand das Wort „kühle“) Einstellung gegenüber den Bewohnern Russlands geäußert. Noch im April 2022 waren das nur 69 Prozent, im April 2021 waren es 41, und 2018 – 23 Prozent. Eine positive („warmherzige“) Einstellung äußerten im August 2022 nur drei Prozent, als neutral deklarierten sich 14 Prozent.

    Auch die Beziehung zu den Belarussen veränderte sich. Im August 2022 waren 52 Prozent ihnen gegenüber „kühl“ eingestellt, im April 2022 waren das 33 Prozent, und im April 2021 nur vier Prozent. Im Februar-März 2023 ergab eine Umfrage des Rasumkow-Zentrums, dass 81 Prozent der Befragten Belarus (ich betone, nicht den Belarussen) gegenüber negativ eingestellt sind.

    Hier ist anzumerken, dass die Einstellung gegenüber einem Kollektiv sich nach der darin dominierenden Gruppe richtet, also jener Gruppe, die am aktivsten ist, am sichtbarsten, am lautesten, selbst wenn sie nicht die Mehrheit stellt. Heute sind das in Russland die Befürworter von Putins Politik und Krieg, die man zu den faschistoiden Persönlichkeitstypen zählen kann. Wie hoch ihr Anteil in der russischen Bevölkerung ist, ist schwer zu sagen. Es ist in Russland ziemlich schwierig, anhand von Umfragen eine adäquate Vorstellung davon zu bekommen – in einer Situation, in der die Verurteilung des Krieges und die „Diskreditierung der Armee und anderer militärischer Einheiten“ strafrechtlich verfolgt werden, können öffentliche Meinungsumfragen wohl kaum verlässliche Ergebnisse liefern. 

    Weisen Ukrainer in Umfragen auf ihre familiären und freundschaftlichen Beziehungen nach Russland hin?

    Bei der Umfrage des Rasumkow-Zentrums im Jahr 2017 antworteten 51 Prozent der ukrainischen Staatsbürger, sie hätten Verwandte, Freunde oder Bekannte, die in Russland leben.

    Was den Kontakt betrifft: Im April 2022 gaben bei eine Online-Befragung der Forschungsgesellschaft Gradus 48 Prozent an, mindestens einen Verwandten in Russland zu haben. 59 Prozent jener, die Verwandte in Russland haben, sprachen mit diesen in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn per Messenger oder am Telefon über den Krieg. 54 Prozent jener, die mit Verwandten in Russland kommunizierten, berichteten, dass ihre Gespräche nach Kriegsbeginn keinen Einfluss auf das Vertrauen ihrer Verwandten in die russische Propaganda gehabt hätten. Acht Prozent sagten, ihre Verwandten würden dieser Propaganda seitdem noch mehr glauben, während 40 Prozent angaben, ihre Verwandten würden ihr weniger glauben. Im April 2022 setzten jedoch nur noch 46 Prozent jener Personen, die in den ersten Kriegswochen Kontakt zu Verwandten in Russland gehabt hatten, diesen Kontakt fort. Die Mehrheit hatte ihn also abgebrochen

    Fassen wir zusammen: Welche wichtigen Veränderungen im Hinblick auf die Entwicklung einer politischen Nation hat es seit Beginn der Kampfhandlungen in der ukrainischen Gesellschaft gegeben? 

    Im Juli und August 2021, als gerade Putins Artikel Zur historischen Einheit der Russen und Ukrainer herausgekommen war, untersuchten wir die Reaktionen der Ukrainer auf die Thesen, die darin aufgestellt wurden. Damals reagierte die überwiegende Mehrheit negativ auf Putins Aussagen, dass es „keinerlei historische Grundlage für die Vorstellung eines vom russischen getrennten ukrainischen Volkes gibt und auch nicht geben kann“, und dass „das Territorium der heutigen Ukraine in hohem Ausmaß auf Kosten historisch russischen Staatsgebiets definiert wurde“. 

    Während des Krieges ist ein neuer dominierender Persönlichkeitstyp hervorgetreten – ein Mensch mit deutlich ausgeprägten soziozentrischen Werten

    Dieser Krieg hat das Selbstbewusstsein der Ukrainer als Nation deutlich gefördert. Während in einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums im Jahr 2021 noch 40 Prozent auf die Frage nach der Zukunft der Ukraine geantwortet haben, sie werde ein hochentwickeltes, demokratisches, einflussreiches europäisches Land sein, waren es im September-Oktober 2022 schon 65 Prozent, die so dachten.

    Und, nicht unwichtig, während des Krieges ist ein neuer dominierender Persönlichkeitstyp hervorgetreten – ein Mensch mit deutlich ausgeprägten soziozentrischen Werten. Das sieht man am Beispiel der freiwilligen Soldaten und Volonteure, die den Kämpfern an der Front helfen. Diese Gruppe wird, wie es aussieht, auch nach dem Krieg die dominierende bleiben, was den Fortschritt und die Entwicklung von Gesellschaft und politischer Nation fördern wird. Und genau das ist es, was der ukrainischen Gesellschaft diesen spürbaren Optimismus verleiht. 

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  • „Wir müssen jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen“

    „Wir müssen jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen“

    Die Aufführung von Krieg und Frieden an der Bayerischen Staatsoper stößt in der deutschen Presse auf kontroverse Diskussionen. Während der Tagesspiegel nach der Premiere am 5. März über „einen einmalig großen Abend“ schreibt, ist der Musikkritiker Jörn Florian Fuchs im Deutschlandfunk ratlos: Auch nach dem Drüberschlafen wisse er nicht so recht, was er davon halten soll. Den Kern des Problems greift Christine Lemke-Matwey auf ZEIT Online auf: Eine Oper eines russischen Komponisten (Sergej Prokofjew) nach dem Roman eines russischen Schriftstellers (Lew Tolstoi), in der Aufführung eines russischen Regisseurs (Dimitri Tschernjakow) und russischen Dirigenten (Wladimir Jurowski) – und das alles in München kurz nach dem 1. Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine … Das Stück, das von zwei russischen (Verteidigungs-)Kriegen inspiriert wurde – dem Vaterländischen Krieg 1812 und dem Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 – feiere seine Premiere mitten im russischen Angriffskrieg, und das Publikum sehe sich mit der Frage konfrontiert, „wer hier eigentlich wer sein soll, wer Opfer ist und wer Täter, wer Aggressor, wer Verteidiger“. 

    Nach der Premiere hat sich Meduza in München mit dem Dirigenten Wladimir Jurowski getroffen. In einem langen Interview erzählt er über das problematische Stück von Prokofjew, über den Versuch, das „schwere kulturhistorische Gepäck“ auf die Münchener Bühne zu bringen, über die Instrumentalisierung von Prokofjew und anderen Komponisten durch die russische Kulturpropaganda und über jenes Russland, das sich lohnt, bewahrt zu werden.  

    „Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)
    „Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)

    Wladimir Rajewski: Kaum zu glauben, dass die Idee zu Tschernjakows Inszenierung von Krieg und Frieden schon vor dem Krieg aufgekommen ist – und nicht als Reaktion der Bayerischen Staatsoper auf die aktuellen Ereignisse.

    Wladimir Jurowski: Zuerst wussten wir nicht, in welcher Form wir die Oper dem Publikum präsentieren wollen, und wir hatten auch keine Ahnung von dem Konzept des Regisseurs, er selbst aber auch nicht. Wir ahnten nicht einmal, dass wir die Oper schlussendlich in dieser stark gekürzten, zerschnittenen Version spielen würden. Die ursprüngliche Idee war, Krieg und Frieden von der ersten bis zur letzten Note aufzuführen, sozusagen den Urtext.      

    Es gibt eine ganze Reihe von Opern, die in unterschiedlichen Versionen vorliegen. Auf der ganzen Welt werden meistens sogenannte Mischversionen gespielt, also, man nimmt, was den Interpreten am besten gefällt, und wirft manchmal alles durcheinander in einen Topf. 

    Kaum jemand weiß, dass die Sache mit Prokofjews Krieg und Frieden noch viel verworrener ist als mit anderen Opern. An Krieg und Frieden arbeitete Prokofjew von Frühling 1941 bis zu seinem Tod im Frühling 1953 – also zwölf Jahre. In dieser Zeit komponierte er mindestens drei Versionen. 

    Auf uns hagelte es sowohl von russischer als auch von westlicher Seite allerlei Beschuldigungen: Wir hätten Prokofjew verdreht und dem eigenen Geschmack angepasst, indem wir vor allem den Teil über den Krieg zu einem, wie sie es nannten, Dog’s Dinner gemacht hätten. Und dann hätten wir noch dem Chor das berühmte letzte Stück entrissen und seine Musik der Banda überlassen. Was die Banda spielt, ist das Thema „Groß ist unser Land“, und im Vordergrund skandiert der Chor [in einer späten Bearbeitung von Prokofjew] einen propagandistischen, geradezu stalinistischen Text. Solang es Tschernjakows Konzept noch nicht gab, haben wir einfach einen Weg gesucht, wie wir das so hinkriegen, dass wir Sergej Sergejewitsch [Prokofjew] nicht vollends blamieren und uns selbst auch nicht. Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen und alles Unnötige zu streichen. Zur Gänze kann man das natürlich nicht entfernen, das ist unmöglich, aber sehr vieles haben wir herausgenommen.    

    „Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Prokofjew hat uns kein fertiges Werk hinterlassen, sondern eine riesige Skizze, einen Torso, ein Gerüst, das nicht vollendet wurde. Es zerfällt in lauter fragmentarische Szenen, die sich fast unmöglich zu einem großen Ganzen zusammenfügen lassen. Tschernjakow ist das gelungen, aber nur dank der außergewöhnlichen Situationen und den Bedingungen, unter denen die Inszenierung entstanden ist, und weil er bewusst auf die Gegenüberstellung „Krieg und Frieden“ verzichtet hat. Und nur dank dem sehr konzeptualistischen und sehr starken Zugang, der in das Grundprinzip Tolstois und Prokofjews eingreift, gelang uns eine Inszenierung, die sich als zusammenhängende Geschichte erzählen lässt. Aber an sich ist es eine Collage. 

    Wir haben eine Art erfundene, dystopische Situation: Russen sind im Haus der Gewerkschaften im Zentrum Moskaus in der Säulenhalle eingeschlossen, in einer Art Kriegsatmosphäre. Wir erwähnen kein einziges Mal, was eigentlich passiert ist. Das ist der Ausgangspunkt des Spiels: Es fehlt die wichtigste Komponente jedes Kriegs – der äußere Feind. Wir sehen Menschen, die verängstigt sind, die sich Sorgen machen, die etwas quält, aber einen Feind als solchen gibt es nicht. Also beginnen sie, den Feind in den eigenen Reihen zu suchen und auch zu finden. Obwohl wir den Text nicht verändert haben – sie sprechen weiterhin von Franzosen, von deutschen Generälen, russischen Spionen und Partisanen.   

    Brächten wir ein Drama nach dem Roman von Tolstoi auf die Bühne, dann würden solche Freiheiten natürlich extrem stören. Aber wir inszenieren ja die Oper von Prokofjew, und wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne und in den Saal: das Jahr 1812, in dem Napoleons Russlandfeldzug stattfand, das Jahr 1856, in dem Tolstoi seinen Roman zu schreiben begann, das Jahr 1941, in dem Prokofjew anfing, seine Oper zu komponieren, das Jahr 1946, in dem die Oper aufgeführt und kritisiert wurde, das Jahr 1953, in dem Prokofjew am selben Tag wie Stalin starb, schließlich auch unsere unselige Zeit. Und eben weil wir eine Oper machen und keinen Roman, und weil wir damit einen riesigen kulturhistorischen Raum abdecken, viel größer, als wenn wir einfach Tolstois Text verfilmen oder als Theaterstück auf die Bühne bringen würden – deswegen dürfen wir uns solche Freiheiten erlauben. 

    „Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Was haben Sie mit der Musik gemacht, als Sie von dem Konzept erfuhren, dass Prokofjews patriotischer Chor so etwas sein wird wie … ein heutiger patriotischer Chor?

    Ich musste nichts Spezielles machen, weil etwas Erstaunliches und äußerst Bemerkenswertes passiert ist: Das, was mich persönlich an Prokofjew immer irritiert und sehr genervt, geärgert hat, hat sich bestätigt: dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus. Den man übrigens keineswegs nur in Krieg und Frieden findet, sondern auch in vielen anderen sowjetischen Kompositionen. 

    So wie im Oratorium Auf Friedenswache und dergleichen? 

    Ja. Da gibt es überall wundervolle Musik, aber auch immer wieder Momente, für die man sich einfach schämt. Ich habe zum Beispiel längst, lange vor dem Krieg gegen die Ukraine, bewusst aufgehört, Prokofjews Kantate Alexander Newski aufzuführen. Früher hat sie mir sehr gefallen, und als Musik zu Sergej Eisensteins großartigem Film finde ich sie immer noch absolut angemessen – es ist wirklich eine tolle Filmmusik. Aber wenn ich sie auf einer Konzertbühne als eigenständige musikalische Komposition spiele, dann treiben mir manche Seiten daraus die Schamesröte ins Gesicht. 

    „Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Diese betont patriotische Glut im vierten Teil der Kantate Steht auf, russische Leute oder das beinah sadistische Vergnügen, mit dem Prokofjew die Kreuzritter auf dem zugefrorenen Peipussee „schlägt“, lassen einen spüren, wie sehr dieses Werk trotz des unbestrittenen Talents seines Urhebers vergiftet ist mit einem üblen, beinah faschistischen Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer. Hier werden ganz offensichtlich und bewusst historische Ereignisse verwendet, um nationalistische, ideologisierte Weltbilder zu untermauern. Wenn wir das auf die Konzertbühne bringen, dann übernehmen wir einen Teil der Verantwortung für das, was die Menschen auf der Bühne von sich geben. Im Theater oder im Kino ist diese Verantwortung nicht so umfassend. Im Theater und im Kino werden reale Situationen gespielt, unter anderem aus ferner Vergangenheit. Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung. 

    Faschistischer Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer

    Im heutigen Kontext kann man keine dieser Kompositionen spielen, ohne an die Parallelen und Überschneidungen zu unserer traurigen Realität zu denken. Vor allem, weil die heutigen russischen Machthaber in einer absolut stalinistischen Tonalität handeln und Kunst, auch klassische Kunst, bewusst als schwere Propagandawaffe einsetzen. Für sie wird Puschkin genauso zum Propagandawerkzeug wie Tschaikowski und Rachmaninow, den sie ebenfalls vereinnahmt haben, obwohl er emigriert war – war er doch ein echter Patriot! Sie verwenden dieselbe Lexik wie Stalins Ideologen, als diese den verderblichen Einfluss des Westens bekämpften und gegen die eigenen Komponisten, Dichter, Schriftsteller, Künstler, Formalisten, wurzellosen Kosmopoliten et cetera wetterten.        

    Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist

    Leider werden Prokofjew und sogar Schostakowitsch mit der Zeit selbst zu Instrumenten der russischen Kulturpropaganda. Schostakowitsch etwas weniger, einfach weil er sich viele Jahre lang bewusst gegen das Regime gestellt hat. Prokofjew hat mehrere Werke geschaffen, die gerade auch im heutigen Kontext ganz schreckliche Assoziationen wecken können.

    Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist, wie er oft dargestellt wird. Er ist ein sehr komplexer Charakter.

    Zwischen 2005, als Sie Krieg und Frieden in der Pariser Oper dirigierten, und 2023 scheinen Lichtjahre zu liegen. Haben die Ereignisse seit dem letzten Jahr irgendeinen Einfluss auf Ihre Interpretation gehabt?

    Auch wenn es seltsam ist, muss ich da etwas zu den ersten Akkorden der ersten Szene sagen, mit denen das Opus beginnt. Das ist eine ziemlich einfache Quint, also ein Intervall aus zwei Noten, zerlegt auf zwei Oktaven, das von nur vier Instrumenten gespielt wird. Diese Quint klang für mich früher irgendwie … als ob jemand nachts im Wald einen Vogel aufgescheucht hätte. Aber jetzt beginnt vor allem dank Tschernjakows Idee alles mit Stille, und Fürst Andrej erwacht auf einer Matratze, umringt von diesen Menschen – vielleicht Flüchtlingen, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht – und zieht sich nach und nach die Kleider aus, bis er im Unterhemd dasteht. Dann stößt er einen unhörbaren schmerzlichen inneren Schrei aus. Und aus diesem Schrei entspringt Musik – Verzweiflung. Die Verzweiflung und Ohnmacht eines vom Leben gebrochenen Menschen. 

    Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins

    Mit den Jahren hat sich das Gefühl bei mir eingestellt, dass bei Prokofjew in der Musik oft zu finden ist, was ihm den Erinnerungen seiner Zeitgenossen zufolge als Mensch fehlte, nämlich Empathie. Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins. In der Musik aber beweint er die tote Julia oder den toten Romeo, als wären es seine eigenen Kinder. Und genau deswegen, weil das mit einer gewissen Distanz kreiert wurde, hängt das Ergebnis von uns selbst ab, von den Künstlern, den Interpreten. Wir können diese Musik in Richtung einer großen menschlichen Wärme interpretieren oder in Richtung absoluter Kälte und eisiger Emotionslosigkeit.  

    Prokofjew hat sich auch nach seiner Rückkehr in die UdSSR sehr zynisch zu einer Kooperation mit dem Regime geäußert.

    Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys. Er verhielt sich ja wie ein absoluter Schnösel, war ein großer Schachspieler, er glaubte an Sport, an die Macht des Fortschritts. Prokofjew war ein verwöhntes Kind seiner Zeit, und als es vorbei war mit der Kindheit und er sich die Nase anschlug [an der Zensur], war es zu spät. Gott sei Dank wurde er nicht als kreatives Wesen gebrochen, denn die letzten Sachen, die er geschrieben hat – die letzten Symphonien, das Symphoniekonzert für Violoncello sowie die Neunte, die letzte vollendete Klaviersonate – all das zählt immerhin zu den großen Schätzen der Musikgeschichte. In der Musik bewahrte er sich immerhin seine Freiheit, blieb er selbst.  

    Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys

    Krieg und Frieden ist leider eines der Beispiele, das veranschaulicht, wozu die innere Bestechlichkeit eines Künstlers führt. Obwohl ich Prokofjew immer noch für einen herausragenden Komponisten halte, der nicht nur erstaunliche Klangkombinationen schuf, sondern auch bemerkenswerte Aussagen tätigte, die die unbeugsame Kraft des menschlichen Geistes bezeugen. Aber gewissermaßen schrieb Prokofjew diese Musik nicht dank, sondern eher trotz seiner Eigenschaften.     

    In Österreich und Deutschland hat Prokofjew keinen so guten Ruf. Woran liegt das?

    Das hat grundsätzlich mit der Natur von Prokofjews Musik zu tun, die nicht wirklich in den österreichisch-deutschen musikalisch-psychologischen Raum hineinpasst. In Deutschland muss man Prokofjew erst einen Weg ebnen. Wenn ich in Deutschland mit seinen Partituren arbeite, dann muss ich auch in sehr guten Orchestern mit mehr Mühe den Widerstand dagegen abbauen, Prokofjew so zu spielen, wie er selbst gespielt werden wollte. 

    „Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Haben Sie auf diese Weise auch Krieg und Frieden den Weg geebnet?

    Den Weg ebnen musste ich nicht – das hat unser Theater entschieden. Aber während der Arbeit mit dem Orchester tauchten manchmal Hemmungen und irgendwelche Problemchen auf. Das hat damit zu tun, dass Prokofjew einen sehr eigenen, einzigartigen Zugang zu solchen Aspekten des Musizierens hat wie Phrasierung und Artikulation. Das kann man sich vorstellen wie einen Menschen, der Gedichte oder Prosa schreibt, aber nicht in der allgemein üblichen Syntax und abseits der gültigen Rechtschreib- und Satzzeichenregeln. Orthografie, Satzbau und Interpunktion sind bei Prokofjew ungewöhnlich, einmalig.

    Verstehe ich das richtig, dass Sie nicht nach Russland fahren?

    Ich kann da nicht einreisen.

    Weil Sie sogar jetzt eine Anstecknadel mit einer ukrainischen Flagge auf dem Revers tragen? 

    Nein, die kam erst später dazu. Nach allem, was ich gesagt habe, wird mir einfach keiner mehr ein Visum geben.   

    Ah, Sie sind ja kein russischer Staatsbürger.

    Genau. Es war daher sehr kurios zu erfahren, dass ich in der schwarzen Liste von Roskomnadsor als „Meinungsbildner des öffentlichen Lebens“ erscheine. 

    Oh, ich stehe auch auf dieser Liste. 

    Man kann das als Auszeichnung betrachten. Aber „ausländischer Agent“ kann ich nicht werden, weil ich kein russischer Staatsbürger bin. Ich hatte ein Visum, mit dem ich letztes Jahr noch einreisen konnte. Aber ich habe natürlich alle Konzerte [in Russland] abgesagt. Jetzt wäre ich, selbst wenn ich unbedingt wollte, auf die Gnade des Kulturministeriums angewiesen.   

    Das Sie jetzt nicht so gern hat?

    Das mich natürlich nie im Leben einladen würde. Wie in dem einen [russischen] Spruch: Zieh dir entweder eine Hose an oder nimm das Kreuz ab. Also, wenn du so redest, wozu fährst du dann hin? Höchstens privat, um meine Lieben zu sehen, meine Freunde. Wobei es da auch ein paar gibt, mit denen ich nur schwer reden könnte. 

    Haben Sie Leute im Umfeld, die den Krieg unterstützen?

    Das nicht unbedingt, aber sie finden zum Beispiel meine Entscheidungen auch nicht gut. 

    Ich war in Russland immer ein Fan Ihrer Aufführungen von Musik vergessener Komponisten aus der Sowjetzeit. Was wird daraus jetzt?

    Jetzt berichtet man, dass das Konzert Drugoje prostranstwo. Continuo stattgefunden hat, und dann in Klammern: „ohne Wladimir Jurowski“. Ich werde hier und da in der Presse erwähnt. Zum Beispiel, nachdem ich im Februar 2022 zum ersten Mal die ukrainische Hymne gespielt habe. Das war in Berlin. Wir haben Tschaikowskis Slawischen Marsch, der auf dem Programm stand, durch Werbizkis Hymneersetzt und sogar noch eine symphonische Ouvertüre von ihm gespielt. Wobei wir aber zum Beispiel Tschaikowskis Fünfte Symphonie oder Rubinsteins Cellokonzert nicht gestrichen haben.

    Schon damals tauchten im russischsprachigen Internet Schlagzeilen auf wie: „Jurowski ersetzt Tschaikowski durch Bandera-Hymne“. Ich beließ es nicht dabei und spielte die „Bandera-Hymne“ auch andernorts. Und ich habe sehr vieles gesagt, mit dem ich mir ganz bewusst alle Wege zurück verbaut habe. 

    Glauben Sie nicht, dass das Interesse an allem Russischen im kulturellen Sinn dann, wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, erst recht wieder aufkommen wird? Irgendwo müssen ja die Antworten auf die Fragen stecken, die früher niemand gestellt hat.  

    Dieses Interesse geht nicht verloren – es ist auch jetzt nicht verschwunden. Nach unserer Premiere von Krieg und Frieden bekamen wir sehr viele schöne Rückmeldungen, nette und auch richtig schmeichelhafte. Ein Münchner Kritiker schrieb, so viel Selbstreflexion vonseiten russischer Künstler, wie wir in dieser Inszenierung sehen und hören konnten, nährt die innere Hoffnung, dass dieses Land noch nicht endgültig verloren ist. Da bin ich mit ihm einverstanden. 

    Ich beließ es nicht dabei und spielte die ‚Bandera-Hymne‘ auch andernorts

    Ich gehe sogar noch weiter: Ich bekam gerade bei dieser Premiere das Gefühl, dass im Saal, in dem übrigens sehr viele Vertreter der neuen russischen Emigration saßen, eine Art Schulterschluss der russischen, russischsprachigen Menschen außerhalb Russlands auf Basis gänzlich anderer Ideale stattfand.

    Ich hoffe einfach sehr, dass die heutigen russischen Emigranten mehr Glück haben, dass sie sich nicht in Gezänk, Streitereien und persönlichen Geplänkeln suhlen werden wie die russischen Emigranten nach dem Bürgerkrieg. Weil damals ja doch das sowjetische Russland als moralischer Sieger aus der Schlacht hervorging. In diesem Punkt bin ich solidarisch mit Dimitri Bykow, der den Gedanken formuliert hat, dass der größte Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Emigration folgender ist: Damals rannten sie vor der Revolution davon, die zwar etwas Schreckliches, Böses war, aber gleichzeitig auch etwas Neues und Frisches. Die heutige Emigration flieht vor einer Reaktion, vor etwas, das im Inneren zerbrochen ist, das verfault, verwest und eigentlich nicht mehr lange bestehen wird. Insofern erinnert mich das eher an die Flucht der Deutschen 1848 oder die Flucht aus Frankreich und Österreich nach dem Wiener Kongress. Oder wie die Russen vor dem bereits morsch gewordenen Zarenregime der Romanows flüchteten.     

    Ein scharfsinniger Gedanke, typisch für Bykow, aber auch von einer ihm typischen Sympathie für das sowjetische Projekt begleitet. 

    Ich finde, wir müssen dieses sowjetische Atlantis jetzt, wo dieser furchtbare Krieg begonnen wurde, endgültig in uns begraben. In uns, ich klammere mich da selbst nicht aus, diese höchstgefährliche Nostalgie nach der Vergangenheit abtöten. Die wir im Grunde ja gar nicht wirklich erlebt haben. 

    Alle meine Erinnerungen an die Sowjetunion stammen aus meiner Kindheit im häuslichen Umfeld und meiner Jugend am Konservatorium. Ins echte Leben hatte ich da noch gar nicht hineingeschnuppert. Wir müssen uns mit großer Sorgfalt Rechenschaft darüber ablegen, was genau wir da so nostalgisch vermissen. Sonst kann es passieren, dass wir unwillkürlich Geister der Vergangenheit wecken, die wir dann nicht mehr so einfach mit einem Espenpflock in ihre Särge zurücktreiben können. Wobei eigentlich genau das gerade vor unseren Augen geschieht.   

    „Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Sie haben ja nicht in Russland gelebt und den neuen Alexander-Newski-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre wahrscheinlich gar nicht mitbekommen.

    Ja, das ist ehrlich gesagt an mir vorübergegangen. Der Kult um diese großen Helden der Vergangenheit: Kutusow, Peter der Große. Aber die allmähliche Rehabilitierung von Iwan dem Schrecklichen und Stalin ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Ich versuche einfach schon lange, mich von alldem fernzuhalten. Lange bevor ich 2021 aufhörte, mit dem Staatsorchester in Russland zu arbeiten, hatte ich ein sehr merkwürdiges, ein sehr ungutes Gefühl, wenn ich die russische Grenze passierte. Ich liebte meine Stadt immer noch, meine Freunde, und es war mir immer eine große Freude, für das Moskauer Publikum zu spielen, aber was gleichzeitig auf den Straßen Moskaus vor sich ging, versetzte mich immer mehr in Angst und Schrecken. Daher verkroch ich mich immer, wenn ich nach Russland fuhr, wie eine Schnecke in ihrem Haus. Ich versuchte, möglichst wenig draußen zu sein, möglichst wenig Kontakt zu fremden Menschen zu haben.

    Wenn das, was am 24. Februar begonnen hat, nicht passiert wäre, dann wäre ich natürlich trotz aller Verschlechterungen dieses internen Klimas weiterhin nach Moskau gefahren. Das steht außer Frage. Ich wurde gefragt: Wie kannst du da immer noch hinfahren, bei dem Wahnsinn, der da vor sich geht? Morde an Journalisten, Morde an Oppositionspolitikern, Nawalny im Gefängnis und immer wieder in Einzelhaft, und so weiter und so fort. Ich habe immer mit den Worten des Dirigenten Iván Fischer geantwortet, der noch immer, trotz der ebenfalls schwierigen Situation in Ungarn, das Festival Orchester Budapest leitet. 

    Er sagte auf solche Fragen: „Ja, mein Land ist krank. Aber stellen Sie sich vor, Sie haben einen kranken Verwandten, jemand in Ihrer Familie ist krank. Würden Sie ihn etwa (das war allerdings noch vor der Pandemie) isolieren? Würden Sie ihm verweigern, seine Angehörigen zu sehen? Nein, Sie bringen ihm Medikamente und Tee mit Zitrone, erzählen ihm etwas, um ihn aufzuheitern, damit er schneller gesund wird. Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied. Ich versuche, ihm mit meiner Musik etwas Wärme zu spenden und zu seiner raschen Genesung beizutragen.“ So ein herzensguter, idealistischer Gedanke.  

    Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied

    Mit diesem Gedanken habe ich noch lange auch in Russland gearbeitet. Und ich werde jetzt nicht lügen und behaupten, es hätte mir widerstrebt. Ich habe es sehr genossen. Ich fand es schön, mit meinen Musikern zu kommunizieren, und mir gefiel es, wie es uns gelang, eine Art Staat im Staat zu errichten. Denn in unserem Orchester waren die Beziehungen untereinander ganz anders als in anderen Orchestern mit anderen Dirigenten. Wir reisten auch zusammen durch Russland, hatten nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg Auftritte. Jetzt weiß ich das nicht. Aber ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.  

    Und bis dahin?

    Bis dahin müssen wir jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen. Und nach Möglichkeit dafür kämpfen oder anderen dabei helfen, dafür zu kämpfen, dass dieses Russland nicht endgültig abstürzt.  

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  • Proteste, Krieg und Solidarität: Die belarussische Diaspora in der Ukraine

    Proteste, Krieg und Solidarität: Die belarussische Diaspora in der Ukraine

    Seit Jahrhunderten sind Belarussen und Ukrainer Nachbarn. Und Belarussen sind auch immer schon gerne in die Ukraine ausgewandert. Vor allem nach den Protesten im Jahr 2020 in Belarus flohen viele Belarussen vor den Repressionen in die Ukraine. Jedoch änderte sich nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges vieles für sie: Nicht zuletzt weil der Kreml auch von belarussischem Territorium aus den Angriff führte und Alexander Lukaschenko damit in die Rolle des Ko-Aggressors geriet.

    Anna Wolynez hat die Geschichte der belarussischen Diaspora in der Ukraine recherchiert und mit Belarussen gesprochen, die auch während des Krieges dort geblieben sind.

    „Vor dem Krieg waren die Belarussen sehr beliebt, wir wurden sogar beneidet, weil Lukaschenko sehr populär war“, sagt Andrej Kuschnerow, ehemaliger Kämpfer des Kalinouski-Regiments und jetzt Mitglied des Belarussischen Veteranenverbands. Er zog 2005 von Belarus in die Ukraine und blieb dort bis 2012. Danach fuhr er ständig dorthin, und 2022 meldete er sich als Freiwilliger. Nach dem Dienst blieb er in der Ukraine.

    Die Belarussen wurden für die Stabilität in ihrem Land beneidet, für die höheren Durchschnittsgehälter und die sauberen Straßen, erklärt er, außerdem für die besseren Fleisch- und Milchprodukte und die gute Schokolade. „Die Ukrainer hatten ein sehr gutes Verhältnis zu den Belarussen, umso schwerer war der Schlag am 24. Februar. Das wurde als Verrat aufgefasst“, sagt Andrej. Seit Kriegsbeginn, meint er, sei man als Belarusse nicht mehr besonders gern gesehen.

    Trotzdem leben weiterhin Belarussen in der Ukraine. Obwohl es früher viel mehr waren: Zu Beginn der Nullerjahre waren sie in der Ukraine die zweitgrößte nationale Minderheit nach den Russen. 2001 lebten im Land 275.000 Belarussen. Rund ein Drittel davon lebte in der Ostukraine, unter anderem in Regionen, die jetzt unter russischer Besatzung sind. 

    Die Belarussen fuhren in die Ukraine, um ein bisschen Abwechslung zu haben, um Urlaub oder Einkäufe zu machen, aber ungefähr bis in die 2010er Jahre blieben sie gern auch länger. Offiziell durften sie sich zwar höchstens 90 Tage pro Halbjahr im Land aufhalten, aber bis zu einem gewissen Zeitpunkt konnte man diese Auflage leicht umgehen. Und manche Belarussen blieben lange: Sie studierten, arbeiteten, gründeten Familien, oder kamen, um künstlerisch tätig zu sein, oder auf der Suche nach politischer Freiheit. 

    Losgelöste belarussische Gemeinschaften

    Organisierte belarussische Gemeinschaften gibt es in der Ukraine seit Beginn der 1990er-Jahre, zum Beispiel die Belorusskoje kulturno-proswetitelskoje obschtschestwo (dt. Belarussische Kultur- und Bildungsgesellschaft) oder die Sjabry in Tschernihiw. Aber dass sie je eine soziale Bedeutung oder gar politisches Gewicht gehabt hätten, kann man nicht behaupten.

    Bis 2020, meint Andrej Kuschnerow, lebten die Belarussen voneinander losgelöst in der Ukraine, ohne die Zugehörigkeit zueinander zu suchen. „Die Verschlossenheit der Leute war einer der Gründe, und bis 2020 gab es wenige belarussische Communities. Die Leute interessierten sich nicht allzu sehr für belarussische Veranstaltungen, für Konzerte oder Theater“, sagt er.

    Bis 2020 (zum Teil auch später noch) agierten in der Ukraine auch Organisationen der „Pseudodiaspora“, die eng mit Lukaschenkos Regime kooperierten. Ein Beispiel dafür ist die Wseukrainski sojus belorussow (dt. Allukrainische Union der Belarussen), seit vielen Jahren von Pjotr Laischew geleitet, einem ehemaligen Mitarbeiter des sowjetischen und ukrainischen Geheimdienstes. Zu dieser Union gehörten „ein, zwei Dutzend Vereine mit einer Handvoll Mitgliedern“, heißt es in einer Studie zur Diaspora. Das formale Ziel der Organisation war die Zusammenführung von Landsleuten, faktisch ging es darum, regierungstreue Narrative als Position der gesamten Diaspora zu fördern. 

    Nach 2020 flüchteten Belarussen vor den Repressionen

    2020 zogen massenhaft politische Flüchtlinge und Fachkräfte in die Ukraine, um den Repressionen zu entkommen. Die Ukraine hatte die Wahlen in Belarus nicht anerkannt und den Belarussen das Aufenthaltsrecht auf das Doppelte verlängert – 180 Tage. Innerhalb dieser Frist musste man sich eine Aufenthaltserlaubnis besorgen.

    Die Ereignisse von 2020 veränderten die Strukturen der belarussischen Diaspora. Einerseits blieben „alte“ Organisationen wie Sjabry bestehen, deren Leiterin 2020 Lukaschenko lobte und ihre Landsleute bat, den Protesten fernzubleiben. Andererseits gründeten die frisch Zugezogenen neue Initiativen: Free Belarus Center, Belaruski Dom wa Ukraine, Belaruski infarmazyiny zentr. Ihr gemeinsamer Hintergrund ist die Flucht vor Repressionen. Diese Gemeinschaften sind aktiv prodemokratisch, orientieren sich an gegenseitiger Unterstützung. 

    Daten des Free Belarus Center zufolge passierten allein im August 2020 rund 47.000 Menschen die ukrainisch-belarussische Grenze, aber für viele war die Ukraine nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die EU. Im Juni 2022 lebten noch 10.000 bis 12.000 Belarussen in der Ukraine. Sie kauften Wohnungen, Häuser und Autos, gründeten Firmen: etwa die Bar Karma oder das Art-Pub Torwald in Kyjiw. 

    Wie Belarussen in der Ukraine leben und sich freiwillig engagieren

    Die 30-jährige Wassilina ist 2021 aus Belarus ausgereist: „Mein Mann hätte jederzeit festgenommen werden können, es war eine Frage von Tagen. Wir schafften es nicht mehr, uns um ein Visum zu kümmern, und fuhren in die Ukraine“, erinnert sie sich.

    Jetzt wohnt das Paar im Süden der Ukraine und hält Kontakt zum aktiven Teil der Diaspora – zu Menschen, die nach 2020 und auch schon nach 2010 in Belarus verfolgt wurden. Sie organisieren Aktionen und unterstützen Belarussen im eigenen Land und in der Ukraine, unter anderem bei der Wohnungs- und Jobsuche. „Das ist eine sozusagen erzwungene, aber nette Gemeinschaft. Die Menschen verbindet die Emigration und die gemeinsame Sorge um Belarus. Sie sind untereinander loyal und hilfsbereit“, sagt Wassilina. 

    Manche von ihnen kennt das Paar aus einem Telegram-Chat, in dem Belarussen Informationen zu Dokumenten und zu Fragen des Alltags austauschen – solche Chats gibt es in jeder größeren Stadt. Offline trifft sich Wassilina zufolge nicht einmal ein Fünftel der Teilnehmer. Aktionen gibt es in ihrer Stadt jetzt keine mehr, aber die gegenseitige Unterstützung besteht nach wie vor. 

    „Wir wollen in der Ukraine bleiben”

    „Ein Teil der Leute hilft der Polizei und der Territorialverteidigung bei Patrouillen in der Stadt. Ein Teil stellt nützliche Dinge für die Front her, zum Beispiel Periskope, Kerzen oder Tarnnetze“, erklärt Wassilina.

    Wem helfen die Belarussen mehr? Physisch und finanziell den Ukrainern, meint unsere Gesprächspartnerin. Obwohl, sie helfen auch anderen Belarussen „praktisch sofort“, auch finanziell. „Aber seit Kriegsbeginn sind so gut wie keine neuen Flüchtlinge aus Belarus mehr zu uns gekommen, die Einreise in die Ukraine ist für sie schwierig geworden.“

    Gelegentlich trifft man aber doch neu zugezogene Belarussen. Der Freund von Maria, einer weiteren Gesprächspartnerin von uns, war ein halbes Jahr vor dem Krieg nach Lwiw gegangen. Sie war gerade dabei, ihre Dokumente für den Umzug vorzubereiten, als der 24. Februar kam. „Mein Freund hatte gesagt, dass er [in der Ukraine – dek] bleiben will. Und ich bin Ärztin, wenn ich irgendwie helfen kann … Die Entscheidung, in die Ukraine zu gehen, lag nahe“, erzählt Maria.

    Anfang April fuhr sie über Warschau in die Ukraine. Sie wurde nicht auf Anhieb über die Grenze gelassen. Eine Zeitlang wohnte Maria in einem Lager für ukrainische Flüchtlinge und kümmerte sich um ihre Dokumente. „Ich druckte meine E-Mails von Organisationen aus, bei denen ich mich freiwillig engagieren wollte, Ausbildungsnachweise, die Daten meiner Gastgeber“, zählt Maria auf. Beim zweiten Mal schaffte sie es bis zur Bahnstation auf der polnischen Seite der Grenze. „Ich habe die falsche Strecke erwischt. Ich stieg aus und stand mitten im Wald, unter einer Laterne, mit dem ganzen Gepäck. Da verstand ich, wieso der Zugbegleiter beim Aussteigen ein Kreuz geschlagen hatte“, erinnert sie sich. Von der Bahnstation ging sie mitten in der Nacht zum nächsten Dorf, wo eine alte Dame sich ihrer erbarmte und ihren Sohn bat, Maria zur polnisch-ukrainischen Grenze zu fahren.

    Dort wurde sie mehrere Stunden vernommen, doch diesmal fiel die Entscheidung positiv aus und die Belarussin konnte weiter nach Lwiw. „Es war eine Riesenfreude, hier anzukommen, nach dieser ganzen Nacht auf den Beinen, von der ich noch meinen Enkeln erzählen werde. Und ich muss dieser Babuschka eine Postkarte schreiben, dass ich gut angekommen bin. Nach so einem Erlebnis begegnet man den Menschen mit mehr Herzenswärme.“

    Abschied von einem gefallenen Soldaten des Kastus Kalinouski-Regiments / Foto © Pressedienst des Kastus Kalinouski-Regiments
    Abschied von einem gefallenen Soldaten des Kastus Kalinouski-Regiments / Foto © Pressedienst des Kastus Kalinouski-Regiments

    Die Freiwilligen-Bataillone sind nicht Teil der Diaspora

    Belarussen kämpfen auch auf Seiten der Ukraine. Die Gesamtzahl jener, die derzeit in Einheiten der ukrainischen Streitkräfte dienen, bereits aus der Armee entlassen oder gefallen sind, beträgt höchstens eintausend, erzählt Andrej Kuschnerow vom Belarussischen Veteranenverband.

    Während sie unter Vertrag stehen, gehören diese Leute nicht zur Diaspora, und danach bleiben sie selten im Land, sagt er: „Mein Planungshorizont betrug an der Front aus objektiven Gründen 15 Minuten. Aus denselben Gründen sind die Kämpfer nicht [in die Gesellschaft] integriert.“      

    Andrej selbst ist nach seinem Dienst in der Ukraine geblieben, kennt aber ansonsten nur wenige, die das auch so gemacht haben. Viele wollten gern, sagt Andrej, bekamen aber keine Aufenthaltserlaubnis. „Wer seinen Dienst beendet hat, muss einen Grund für seinen Aufenthalt im Land haben: Arbeit, Familie und dergleichen. Ohne Aufenthaltserlaubnis darf man sich maximal 180 Tage am Stück grundlos in der Ukraine befinden, die Zeit vor und nach dem Dienst inklusive“, sagt Andrej. „Normalerweise bleiben einem nach Vertragsende ein paar Monate, dann muss man ausreisen.“ 

    Was bringt es den Belarussen, für die Ukraine zu kämpfen? Kriegserfahrung, Blutsbrüder, Kontakte, Respekt in den Augen der Ukrainer. Aber teilweise gesellt sich zu alldem eine ernsthafte posttraumatische Belastungsstörung hinzu, und manchmal auch eine Behinderung durch eine schwere Verletzung.  

    Privilegien genießt man allerdings nicht unbedingt, erklärt Andrej. Mitte Januar 2023 war ihm kein einziger Belarusse bekannt, dem es gelungen wäre, das dafür nötige Dokument zu erhalten – einen Nachweis der Teilnahme an Kampfhandlungen. Die militärischen Strukturen der Belarussen in der Ukraine kümmern sich laut unserem Gesprächspartner nicht um dieses Thema, und der Veteranenverband hat bisher keine Lösung gefunden. 

    Mit Beginn des Krieges haben viele die Ukraine verlassen

    Mittlerweile unterstützen die Belarussen die Ukrainer auf jede erdenkliche Weise, meint die Belarussin Olga, die sich in der Ukraine in der Stiftung Rajon nomer 1 freiwillig engagiert. Nach ungefährer Schätzung des Belarussischen Informationszentrums haben seit Kriegsbeginn 80 Prozent der Belarussen die Ukraine verlassen. Olga meint, ein Großteil habe sich in anderen Ländern in Sicherheit gebracht oder habe keinen Aufenthaltsstatus erhalten.

    Die verbliebenen Belarussen sind oft sehr aktiv: Sie dokumentieren Kriegsverbrechen, bauen Häuser wieder auf, evakuieren Menschen aus gefährlichen Gebieten, organisieren Crowdfundings – zum Beispiel auf dem Dokumentarfilmfestival Na mjashy [An der Grenze – dek] im Dezember 2022. Es gab Vorführungen in Kyjiw, Odessa und Lwiw, und mit dem gesammelten Geld wurden Wundheilungsapparate gekauft. 

    Olga lebt seit Anfang 2021 in der Ukraine, und abgesehen von ihrer Freiwilligenarbeit dort dokumentiert sie Menschenrechtsverletzungen in Belarus. 2022 organisierte sie in Butscha eine Ausstellung über kriegsgefangene Belarussen, die für ihre Unterstützung der Ukraine zu Schaden kamen. 

    Olga hat Ukrainisch gelernt und versucht, es im Alltag zu sprechen. Ihr Umfeld besteht größtenteils aus Ukrainern. Und obwohl sich das Verhältnis der Ukrainer zu den Belarussen mit dem Beginn des Krieges und der Rolle Lukaschenkos deutlich verschlechtert hat, bemerkt unsere Gesprächspartnerin in persönlichen Interaktionen keine Veränderung. 

    Die aktuelle Situation der Belarussen in der Ukraine   

    „Die Belarussen sind sehr schutzlos. Hier in der Ukraine arbeiten Freiwillige, Wirtschaft und Staat gemeinsam an der Lösung eines großen Problems. Aber die Belarussen bekommen keine Unterstützung vom Staat, nur von anderen Belarussen“, meint Olga.

    Mit Beginn des Krieges wurden Belarussen ohne ständigen Wohnsitz die Bankkonten gesperrt, nur Einzelne bekamen später die Möglichkeit, sie wieder zu nutzen. „Die Entscheidung, die Konten zu entsperren, trifft die Bank auf Empfehlung des Sicherheitsdienstes der Ukraine“, erklärt Olga. Um ihr eigenes Konto hat sie sich bisher nicht gekümmert.     

    Die Belarussen leben während des Kriegs in der Ukraine, weil sie dieses Land lieben und weil sie helfen möchten. Von den vielen Schwierigkeiten lassen sie sich nicht abschrecken, ob es um gesperrte Konten oder die Suche nach Arbeit geht. Arbeitsplätze gibt es in der Ukraine wenig, erst recht für Belarussen, und Geld von einem ausländischen Arbeitgeber zu beziehen, ist komplizierter geworden. Dokumente aller Art, darunter Aufenthaltsbewilligungen, werden Belarussen ungern ausgestellt, und sie können ihre Pässe nicht im Land verlängern, weil die belarussische Botschaft geschlossen ist.

    Warum andere in der Ukraine geblieben sind

    Wassilina erklärt, sie bleibe zum Teil deswegen, weil sie sich dem Land gegenüber verpflichtet fühle, das sie aufgenommen hat, und zum Teil, weil von ihr und ihrem Mann die Arbeit anderer Freiwilliger abhängt. Aber irgendwann wollen sie die Ukraine verlassen. 

    Maria bleibt in Lwiw, weil es ihr dort gut geht: Familie, Haus und Zukunftspläne. Aber ob sie weiterhin bleiben kann, hängt von ihrem Aufenthaltsstatus ab. Seit April bemüht sich Maria um die Anerkennung ihres Diploms durch das Bildungs- und Wissenschaftsministerium, ohne die sie nicht arbeiten darf und keine Aufenthaltserlaubnis bekommt. „Ich möchte nicht gehen, trotz des Krieges. Das ist eine feine Stadt, ich fühle mich hier nicht fremd“, sagt sie.


    * Die Personen haben um Anonymität gebeten, alle Namen sind erfunden.

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  • „Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“

    „Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“

    Bei einem Propaganda-Konzert im Moskauer Lushniki-Stadion am 22. Februar 2023 erscheint ein 15-jähriges Mädchen auf der Bühne. Sie heißt Anja Naumenko und kommt aus dem ukrainischen Mariupol. Sie ringt sichtlich um Fassung und sagt schließlich in Richtung eines russischen Soldaten: „Danke an Onkel Juri, dass er mich und meine Schwester und hunderttausende Kinder aus Mariupol gerettet hat.“ Auf der Bühne steht auch ihre jüngere Schwester Karolina, die sich wegen des Stadionlärms die Ohren zuhält. 

    Durch die Sozialen Medien stürmte sogleich eine Welle der Entrüstung und Fassungslosigkeit, das alles sei eine absolut zynische Instrumentalisierung leidgeprägter, traumatisierter Kinder – schließlich hatte die russische Armee Mariupol im vergangenen Jahr durch wochenlangen Beschuss weitgehend zerstört und dabei tausende Zivilisten getötet. Darunter auch die Mutter von Anja und Karolina, wie iStories später in einer Recherche feststellte.

    „[Sie haben gesagt:] ,Wer braucht euch denn in der Ukraine? Wir bringen euch ins Heim, dort werdet ihr schon alles verstehen‘“, berichtet ein Junge, den Russland nach Angaben der ukrainischen NGO Save Ukraine aus dem teilbesetzten Gebiet Cherson entführt hatte und der nun mit 16 weiteren deportierten ukrainischen Kindern in die Heimat zurückkehren konnte. Ukrainische Behörden sprechen von aktuell über 19.000 Kindern, die Russland verschleppt haben soll.

    Das Thema erhielt aktuell neue Aufmerksamkeit durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der sich nicht nur gegen Wladimir Putin richtet, sondern auch gegen Maria Lwowa-Belowa, die offizielle Beauftragte des Präsidenten für Kinderrechte in Russland. Der Strafgerichtshof sieht sie als mutmaßliche Kriegsverbrecherin, die für die Deportation ukrainischer Kinder verantwortlich ist. Zu den Kriterien für einen Genozid an einer Volksgruppe zählt die UN-Völkermordkonvention von 1948 unter anderem die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

    Anna Ryshkowa und Regina Gimalowa haben sich intensiv mit dem Werdegang von Lwowa-Belowa befasst. Auf Verstka (Wjorstka) zeichnen sie das ausführliche Porträt einer Frau, die unter Putin eine erstaunliche Karriere hingelegt hat und das Image einer liebevollen Fürsprecherin des Kindeswohls pflegt.

    Am 27. Oktober 2021 traf sich Maria Lwowa-Belowa per Videocall mit Wladimir Putin. Am Vortag hatte sie ihr Amt als Beauftragte für die Rechte des Kindes angetreten, das zuvor ihre langjährige Freundin Anna Kusnezowa innehatte. Bei dem Treffen trug Lwowa-Belowa einen zartrosa Blazer mit einer Blumenbrosche – und begann ihre Rede mit der Bemerkung, dass sie sich bereits seit über 15 Jahren für die Rechte von Kindern einsetze. Da fragte Putin sie nach ihrem Privatleben:

    „Wie viele Kinder haben Sie denn?“
    „Neun, fünf leibliche und vier Pflegekinder, dazu noch die Vormundschaft für 13 Jugendliche mit Behinderung.“
    „Wie schaffen Sie das nur alles? Ich meine, auch noch Ihr soziales Engagement.“
    „So sind kinderreiche Mütter eben – Multitasking-Talente.“

    Am 9. März fand ihr nächstes Gespräch statt. Da wütete bereits seit über zwei Wochen Krieg. Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich die neue Ombudsfrau um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“. Anfang März waren bereits über tausend Waisenkinder nach Russland verbracht worden. „Der Präsident hatte betont, dass jedes außer Landes gebrachte Kind die Chance haben muss, eine Familie zu finden“, schrieb Lwowa-Belowa damals auf Telegram.

    Neun Monate nach Kriegsbeginn gibt sie zu, dass sie, kaum hatte sie ihr Amt angetreten, sofort „mittendrin“ war: „Die Spezialoperation begann, der Donbass, das alles … Ich schäme mich nicht für dieses Jahr, denn mein Team und ich haben nicht nur 100 Prozent, wir haben 150 Prozent gegeben.“

    Zu diesem Zeitpunkt steht die Staatsbeamtin bereits auf sieben internationalen Sanktionslisten – wegen der Organisation illegaler Transporte von Minderjährigen aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland. 

    1. Die Ernennung anstelle der Freundin

    „Besserer Background, mehr Kinder“

    Als Maria Lwowa-Belowa das Amt der Kinder-Ombudsfrau antrat, hatte sie es schon ins Präsidium des Generalrats von Einiges Russland geschafft, hatte bei den Wahlen für die Stadtduma von Pensa kandidiert und auf einem Senatorenposten gesessen. Ihre Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter.

    Lwowa-Belowas Biografie sah für jedes staatliche Amt ideal aus: verheiratet mit einem Priester, Wohltäterin, kinderreiche Mutter mit Erfahrung als Pflegemutter

    „Als Anna Kusnezowa [im September 2021 in die Staatsduma] gewählt wurde, sollte sie eine Nachfolgerin vorschlagen“, sagt eine Quelle gegenüber Verstka. „Offenbar sollte es eine ganz ähnliche Person sein. Also nahmen sie Lwowa-Belowa.“

    Ein weiterer Zeuge von Lwowa-Belowas Ernennung erzählt Verstka, dass ihre Kandidatur aktiv von der Russisch-Orthodoxen Kirche gefördert wurde – im Vergleich zu Anna Kusnezowa habe sie „einen besseren Background und mehr Kinder“.

    Lwowa-Belowa mit Patriarch Kirill im Inklusionszentrum Neue Ufer, Juni 2022 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
    Lwowa-Belowa mit Patriarch Kirill im Inklusionszentrum Neue Ufer, Juni 2022 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    2. Der Weg zur Macht: Musik, Kirche und Wohltätigkeit

    „Es ist nicht richtig, sein Leben nur den eigenen Kindern zu widmen“

    Geboren und aufgewachsen ist die zukünftige Beamtin in Pensa. Als ausgebildete Orchesterdirigentin für Unterhaltungsmusik unterrichtete sie an Musikschulen und an der Hochschule für Kultur und Kunst Gitarre. 

    Mit 19 Jahren heiratete Maria Pawel Kogelman, von Beruf Programmierer und außerdem Gemeindemitglied einer Kirche in Pensa. Er verliebte sich in seine zukünftige Ehefrau, als er sie im Chor singen sah. Pawel wünschte sich viele Kinder. Damit hatte er Lwowa-Belowas Herz sofort erobert. Denn wenn sie jemanden kennenlernte, der weniger als drei Kinder wollte, so ihre Worte, traf sie ihn kein zweites Mal.

    Das erste Kind bekam das Paar 2005. Zwei Jahre später kam das zweite. 

    Ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen

    2008 erfuhr Maria von der Station für ungewollte Kinder im städtischen Kinderkrankenhaus. Damit begann ihre Karriere im NGO-Bereich. „Wir besuchten die Kleinen, badeten sie und lasen ihnen Märchen vor, stellten die eigenen Kinder hintan. Das klingt vielleicht hart, aber ich glaube, es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben nur den eigenen Kindern zu widmen. Eine Frau braucht auch andere Aufgaben“, sagte die Staatsbeamtin in einem Interview.

    Aus dieser Wohltätigkeitsinitiative heraus entstand Lwowa-Belowas erste gemeinnützige Organisation: Blagowest (dt. Glockenton). Maria Lwowa-Belowa und Anna Kusnezowa kümmerten sich fortan gemeinsam mit ihren Gatten um die Resozialisierung von Waisenkindern. Doch die beiden zukünftigen Staatsbeamtinnen zerstritten sich, Kusnezowa verließ das Projekt, und der Verein wurde bald nach seiner Gründung wieder aufgelöst. Laut Lwowa-Belowa war das Zerwürfnis allerdings rein beruflich – bei einem von Kusnezowas Kindern wurde sie sogar Taufpatin. 

    „Die beiden waren ganz normale Mädchen, nur ein wenig orthodox“, erinnert sich im Gespräch mit Verstka Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus (dt. Bürgervereinigung) in Pensa. „Nach diesem Streit scheint zwischen ihnen irgendeine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft.“

    Es scheint irgeneine dämliche Konkurrenz ausgebrochen – wer die meisten Kinder bekommt, wer die meisten Kerzen aufstellt, wer den Präsidenten am häufigsten trifft

    2014 trat Kusnezowa der Allrussischen Volksfront bei und wurde bald Leiterin der Bewegung Materi Rossii (dt. die Mütter Russlands). Zur selben Zeit gründete Lwowa-Belowa in Pensa ihr erstes großes Projekt Kwartal Lui – ein Rehabilitationszentrum, in dem Menschen mit Behinderung, die im Kinderheim aufgewachsen sind, auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden und nicht in neuropsychiatrischen Internaten landen. Für dieses Projekt bekam Lwowa-Belowa 400.000 Rubel vom regionalen Arbeitsministerium.  

    2016 wurde Anna Kusnezowa zur Beauftragten für die Rechte von Kindern ernannt. Von da an ging Lwowa-Belowas Karriere genau wie die staatliche Finanzierung ihrer Projekte steil nach oben. Lwowa-Belowa eröffnete weitere Reha-Zentren – größere und teurere.
          
    Ihr neues Projekt Dom Veroniki (dt. Veronikas Haus, ein Pensionat für junge Menschen mit schwerer Behinderung) wurde mit rund 27 Millionen Rubel gefördert – von der Regierung der Oblast Pensa, dem Fonds des bevollmächtigten Vertreters im Föderationskreis Wolga und der Stiftung des Präsidenten. In der Folge ließ Lwowa-Belowa ein ganzes Viertel für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bauen – Art-Pomestje Nowyje berega (dt. Kreativ-Dorf Neue Ufer).  

    Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte

    Ihre Bemühungen trugen auch für die Wohltäterin selbst reiche Früchte. 2016 wurde sie von der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Orden dritten Ranges des Heiligen Apostelgleichen Großfürsten Wladimir ausgezeichnet. 2017 wurde sie Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Und bei den Präsidentschaftswahlen 2018 war sie Vertrauensperson von Wladimir Putin. 

    Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich Maria Lwowa-Belowa um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“ / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
    Seit Beginn der Kämpfe kümmerte sich Maria Lwowa-Belowa um die Ausfuhr ukrainischer Kinder – sie wollte sie „vor den Beschüssen in Sicherheit bringen“ und „ihnen eine Zukunft geben“ / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    Im November 2019 fand Lwowa-Belowa ihren Platz im Präsidium des Generalrats von Einiges Russland. Gleichzeitig beendete ihr Mann Pawel Kogelman seine Karriere als Programmierer und wurde Priester. Lwowa-Belowa befürchtete, sich nun einschränken zu müssen. Aber sie musste, wie sie sagt, nur „ein paar Miniröcke wegwerfen“. In weiterer Folge wurde Pawel Vorsteher der Kirche, die im Art-Pomestje Nowyje berega gebaut wurde.

    Bald übernahm Lwowa-Belowa das Amt der Senatorin im Föderationsrat der Oblast Pensa und gleichzeitig die Vormundschaft für weitere acht Jugendliche mit intellektuell-kognitiver Beeinträchtigung.  

    3. Politik: Kompromisse

    „Schweigen oder Zustimmen“

    Lwowa-Belowa hatte wiederholt betont, dass sie die Waisenkinder vor einer Unterbringung in neuropsychiatrischen Internaten bewahren möchte. Die aktive Kampagne eines gemeinnützigen Vereins gegen den Bau geschlossener Anstalten unterstützte sie jedoch öffentlich nicht. Sie ignorierte auch einen Brief an Putin, den 115 Vertreter von NGOs unterzeichnet hatten, die Menschen mit Behinderung unterstützen.

    Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor

    „Je näher Mascha und Anja der Partei standen, desto mehr unterstützten sie die Agenda der Regierung oder hielten den Mund“, bemerkt Oleg Scharipkow, Geschäftsführer des Fonds Grashdanski sojus. „Mascha hat immer eher geschwiegen – dieser Charakterzug trat bei ihr genau zu der Zeit hervor.“

    Im Juni 2021 machte die Wohltäterin ihren Abschluss für den Nachwuchskader des Präsidenten. Das Diplom überreichte ihr der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko. Im Oktober ernannte Putin sie zur Beauftragten für die Rechte des Kindes. Im selben Jahr übernahm die Staatsbeamtin die Vormundschaft für fünf weitere Heimkinder, die nach Ablauf der Jahre im Kinderheim nicht arbeitsfähig waren.

    Lwowa-Belowa erzählt, sie habe als Kind keinen besonderen Berufswunsch gehabt, aber immer gewusst, dass sie Mutter werden will. Als sie eine Familie hatte, habe sie begriffen, dass es für Kinder besonders wichtig sei, die Wärme der Eltern zu spüren, und sie lieber „mit Umarmungen“ als „mit intensiven Gesprächen“ erzogen.

    Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen

    Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder” umarmt / Foto © kremlin.ru  unter CC BY-SA 4.0
    Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder” umarmt / Foto © kremlin.ru  unter CC BY-SA 4.0

    Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine entwickelte Lwowa-Belowa den Ehrgeiz, nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Kinder Fürsorge zu übernehmen. Am Ende ihres ersten Jahres als Ombudsfrau hat Lwowa-Belowa nach Schätzungen ihres Teams „über tausend Kinder“ umarmt.

    4. Mit dem Krieg kommt der Karriereaufschwung

    „Wir wollen die bürokratischen Hindernisse beseitigen, damit die Kinder eine normale Kindheit haben“   

    Schon in den ersten Kriegstagen wurden aus den okkupierten Regionen der Ukraine Hunderte von Kindern nach Russland „evakuiert“. Die meisten von ihnen wurden in Auffanglagern in Feriendörfern und Kinderheimen untergebracht.
    Am 11. März letzten Jahres gab Lwowa-Belowa erstmals zu verstehen, dass ukrainische Waisenkinder in russischen Familien untergebracht werden sollen. Sie erklärte, Putin unterstütze dieses Vorhaben bedingungslos und habe sie angewiesen, „im Interesse der Kinder zu handeln“. 

    Verstka hat festgestellt, dass die Russen im Jahr 2022 im Suchfeld von Yandex 30.824 mal „Kind aus Donbass aufnehmen“ eingegeben haben. Rund die Hälfte dieser Suchanfragen – über 13.000 – stammen aus dem März und April. Zum Vergleich: Im Februar interessierten sich die User nur 218 mal für dieses Thema, und im gesamten Jahr 2021 belief sich die Anzahl solcher Suchanfragen auf null.

    Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?

    Lwowa-Belowa zufolge gab es tatsächlich sehr viele Anfragen. Für alle, die ein Kind aus den besetzten Regionen aufnehmen wollten, erstellte Lwowa-Belowa eine spezielle Anleitung.
    „Genau das ist doch Einheit, genau das ist Patriotismus, wenn es keine fremden Kinder gibt, sondern alle zu uns gehören?“, lautete Lwowa-Belowas Reaktion auf das Interesse der Familien.   
     
    Die Ombudsfrau unterstützte öffentlich die Propaganda-These von der „Rettung der Kinder aus dem Donbass“. Während andere Beamte vor allem von der Bedrohung durch Nazis sprachen, erging sich Lwowa-Belowa vorwiegend im Lob der russischen Familien. Nach ihrer Interpretation befinden sich die unter den Beschüssen leidenden Kinder „an der Grenze zwischen Finsternis und Licht“, und die Russen können ihnen „Schutz“ bieten und sie „mit Fürsorge und Liebe wärmen“. Mehrfach hat Lwowa-Belowa festgestellt, dass sich die vom Krieg traumatisierten Kinder in den russischen Familien „zum Besseren“ verändern würden: „Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Kinder werden sogar äußerlich ihren [Pflege-]Eltern ähnlich.“

    Von den „evakuierten“ Kindern berichtet die Ombudsfrau in ihrem Telegram-Kanal. Zum Beispiel vom kleinen Wanja aus der Volksrepublik Donezk, der im Bildungszentrum Leader in der Oblast Woronesh untergebracht ist. Jetzt sei Wanja „genau wie die Einheimischen“ und antworte nach einem Monat in Russland auf die Frage, woher er sei: „Aus Bobrow.“ Ein anderes Beispiel ist Bogdan aus Donezk, der ebenfalls in die Oblast Woronesh „evakuiert“ wurde. Die Ombudsfrau unterstreicht: Jetzt ist Bogdan in Sicherheit, schleift auf der Werkbank seine Basteleien und verspricht, beim Aufbau seiner Heimatstadt zu helfen.     

    Offiziell können russische Familien erst seit Ende Mai 2022 ukrainische Pflegekinder aufnehmen, seit Putin einen Erlass über ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft für Kinder „aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk und aus der Ukraine“ unterzeichnet hat. Doch Lwowa-Belowa war auch davor schon mit den „Volksrepubliken“ im Gespräch, um ukrainische Waisenkinder möglichst schnell in russische Familien zu bringen. Die ersten 27 Kinder kamen schon im April unter „vorübergehende Obsorge“ in die Oblast Moskau.

    Lwowa-Belowa begleitete die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks

    Bei der „Evakuierung“ aus den okkupierten Gebieten in die Russische Föderation begleitete Lwowa-Belowa die Kinder oft persönlich. Manchmal übergab sie sie direkt ihren neuen Pflegeeltern – unter Tränen der Rührung und des Glücks. 

    Bis Oktober 2022 waren allein offiziellen Angaben zufolge mehr als 380 Kinder aus Donezk und Luhansk in russische Familien vermittelt worden. Wie viele Kinder aus der Ukraine insgesamt in Kinderheimen auf neue Pflegeeltern warten, ist unbekannt, aber Journalisten stoßen immer wieder auf solche Fälle.

    Auf ihrer Dienstreise in die russisch besetzten Donbass-Gebiete im Juli 2022 trifft Lwowa-Belowa den Chef der „Donezker Volksrepublik“ Denis Puschilin / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
    Auf ihrer Dienstreise in die russisch besetzten Donbass-Gebiete im Juli 2022 trifft Lwowa-Belowa den Chef der „Donezker Volksrepublik“ Denis Puschilin / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    So erfuhr Verstka im Januar 2023 von mindestens 14 Kleinkindern aus Cherson, die sich im annektierten Simferopol im Kinderheim Jolotschka aufhielten. Diese Einrichtung machte 2020 wegen des grausamen Umgangs mit den Schützlingen als „Kinderkonzentrationslager“ Schlagzeilen. Im Februar gelangte der Fernsehsender Doshd in den Besitz einer Korrespondenz mit regionalen Vormundschaftsbehörden, aus der hervorging, dass im August des Vorjahres 400 Waisenkinder auf 24 Waisenhäuser verteilt worden waren. Nach Angaben der Journalisten wurden nur 36 von ihnen später in Familien untergebracht.

    Lwowa-Belowa behauptet, ihre Mitarbeiter würden nicht nur daran arbeiten, ukrainische Kinder an Pflegefamilien zu vermitteln, sondern sie auch mit Angehörigen der eigenen Familie zusammenführen. Als Beispiel führt die Ombudsfrau allerdings immer nur denselben Fall an: Ein Vater, der bei der ukrainischen Armee gedient haben soll, habe nach der „Filtration“ seine Kinder aus Russland zurück nach Hause geholt.

    „Wir sind sicher nicht daran interessiert, [die Kinder] ihren Eltern wegzunehmen und in irgendwelche russischen Familien zu stecken“, beteuerte die Politikerin.

    Verschleppungen von Waisenkindern können als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht

    Menschenrechtsaktivisten haben Lwowa-Belowas Mitwirkung an der Ausfuhr von Kindern in das Gebiet des Aggressorstaates wiederholt als Verstoß gegen das Völkerrecht bezeichnet. Einem Bericht des in den USA ansässigen Newlines Institute for Strategy and Policy und des kanadischen Raoul Wallenberg Centre for Human Rights zufolge können Verschleppungen von Waisenkindern als Beweis für den Völkermord herangezogen werden, für den die Ukraine Russland bereits verantwortlich macht.

    Lwowa-Belowa reagiert auf die Kritik der internationalen Gemeinschaft mit Ironie. Im Juni, als die Ombudsfrau erstmals auf einer britischen Sanktionsliste auftauchte, veröffentlichte sie auf ihrem Telegram-Kanal einen scherzhaften Post: „Wir Russen halten als Familien und in Organisationen zusammen – und jetzt eben auch auf Sanktionslisten.“

    5. Familie: Adoptivsohn aus Mariupol

    „Sie ist der wundervollste Mensch“

    Im August erklärte Lwowa-Belowa, sie habe selbst ein ukrainisches Kind adoptiert – den 15-jährigen Filipp aus Mariupol. Der Teenager hatte sich seit Mai in Russland aufgehalten: Er war zusammen mit 30 weiteren Kindern aus Mariupol in das Sanatorium Poljana in Odinzowo [in der Nähe von Moskau] gebracht worden.

    Im Herbst brachte der TV-Sender Zargrad eine Reportage über Filipp mit dem Titel Das ist mein Kind. Darin erzählt der Junge, er habe vor dem Krieg bei Pflegeeltern in Mariupol gelebt, aber die hätten ihn nach Ausbruch des Krieges zurückgelassen. Man habe ihn daraufhin nach Russland ins Sanatorium Poljana gebracht, wo er zunächst sehr traurig gewesen sei. Aber das habe sich schlagartig geändert, als Lwowa-Belowa das Sanatorium besuchte:

    Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie

    „Auf einmal kam Mascha [Koseform von Maria – dek] herein, das werde ich nie vergessen“, erinnert sich Filipp im Gespräch mit dem Reporter von Zargrad. „Sie ist der wundervollste Mensch, den ich je in meinem Leben getroffen habe. Noch nie hat mich jemand so doll geliebt wie sie.“

    In einem der Videos von diesem Besuch in Poljana sieht man Lwowa-Belowa, wie sie zu einem jungen Mädchen ins Zimmer kommt, sich zu ihr aufs Bett setzt und sagt: „Ich bin für alle Kinder unseres Landes verantwortlich. Und solange ihr hier seid, bin ich auch für euch verantwortlich.“ Das Mädchen umklammert ihr angezogenes Bein mit den Armen, während Maria Lwowa-Belowa ihr die Hand auf das Knie legt.

    Bei ihren Treffen geht die Ombudsfrau immer maximal nah an die Kinder heran / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0
    Bei ihren Treffen geht die Ombudsfrau immer maximal nah an die Kinder heran / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

    Die Ombudsfrau geht bei ihren Treffen immer maximal nah an die Kinder heran. Sie setzt sich im Kleid mit untergeschlagenen Beinen auf Spielteppiche, nimmt Vorschulkinder auf den Arm, nimmt sie auf den Schoß, verteilt tröstende Umarmungen und Küsse. Bei Fernsehinterviews bittet sie die Journalisten, einfach Mascha zu sagen, während ihre Mitarbeiter sie „MA“ nennen – eine Abkürzung für Maria Alexejewna.Kurz vor dem Jahrestag der russischen Invasion, am 16. Februar 2023, traf sich Lwowa-Belowa mit Putin, um die Ergebnisse ihrer Arbeit zu besprechen. Sie sagte, sie wisse jetzt selbst, wie es sei, „Adoptivmutter eines Kindes aus dem Donbass zu sein“, weil sie den 15-jährigen Filipp aus Mariupol bei sich aufgenommen habe.

    „Dank Ihnen“, fügte die Kinderbeauftragte hinzu.

    6. Kinder der Ukraine: „Integration“

    „Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“

    Im Juli 2022 besuchte Maria Lwowa-Belowa Kinder, die im zerstörten Mariupol geblieben waren und erzählte ihnen, dass auch bei ihr zu Hause jetzt ein „kleiner Teil“ dieser Stadt leben würde. Bei dem gemeinsamen Foto riefen die Kinder anstatt „Cheese“ laut „Mariupol – Stadt der Zukunft“ in die Kamera.


    „Noch gestern waren wir unter Beschuss im Donbass, und heute am Meer, in der Sonne“, sagte Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten

    Nach ihrem Besuch beschloss die Staatsbeamtin, den Kindern aus dem Donbass „das Gefühl von einem friedlichen Leben“ zurückzugeben, und veranstaltete zu diesem Zweck zwischen Juni 2022 und März 2023 sechs Feriencamps im Süden Russlands und im Umland von Moskau. Lwowa-Belowa empfing die Kinder persönlich mit Karawai und einer Bühnenshow in russischen Trachten.

    „Wir begrüßen euch so, weil ihr jetzt zu uns gehört“, sagte die Ombudsfrau zu den Jugendlichen.

    In der Praxis kehren von diesen Lagern nicht alle Kinder nach Hause zurück

    In diesen Feriencamps sollten die ukrainischen Jugendlichen im Rahmen eines Integrationsprogramms eine „psychologische Rehabilitation“ durchlaufen. Danach sollten sie nach Hause zurückkehren – in die, wie Lwowa-Belowa es nennt, „besonders stark beschossenen Gebiete“. Ihrer Ansicht nach würden die zwei Wochen im Lager nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern helfen: Die Kinder würden bei ihrer Rückkehr in die Heimatstadt ihren Familien eine „Ladung Zuversicht“ mitbringen, dass Russland sie „nicht im Stich lässt“. Allerdings kehren von diesen Lagern in der Praxis nicht alle Kinder nach Hause zurück.

    Anfang März 2023 hielten sich im Süden Russlands und auf der Krim nach Lwowa-Belowas eigener Aussage noch 89 Kinder in den „verlängerten Ferien“ auf. Niemand würde gegen seinen Willen dort festgehalten, beteuerte die Politikerin. Das Problem sei die kritische Lage an der Front und der Umstand, dass die Eltern die Kinder nicht selbst abholen könnten, erklärte Lwowa-Belowa. Um welche Lager es sich konkret handelt, sagte die Ombudsfrau nicht.

    Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden

    Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten / Foto © kremlin.ru unter CC BY SA-4.0
    Lwowa-Belowa bei der Eröffnung des Feriencamps Poslesawtra (dt. Übermorgen) mit Kindern aus den russisch besetzten Donbass-Gebieten / Foto © kremlin.ru unter CC BY SA-4.0

    „Es sind Kinder aus den Oblasten Cherson und Saporishshja“, sagt ein Informant, der mit der Situation vertraut ist. „Sie können nur zurück, wenn die Eltern sie abholen. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Männer durch die Filtrationsmaßnahmen gar nicht reingelassen werden oder nicht rauskommen. Es ist ungewiss, ab wann die Kinder als von den Eltern zurückgelassen gelten, der Fürsorge übergeben und in einer Pflegefamilie oder sonstwo untergebracht werden.“In die Feriencamps werden außerdem recht merkwürdige Gäste eingeladen, wie zum Beispiel die Fernsehmoderatorin Xenja Borodina, die den Kindern erzählt, „wie man zu einem Leader der öffentlichen Meinung zu aktuellen Themen wird“, oder die Bloggerin TatarkaFM, die sich auf ihrem YouTube-Kanal darüber auslässt, ob Selensky „high“ und die Ukraine souverän sei.

    7. Kinder Russlands: Propaganda

    „Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“

    Maria Lwowa-Belowa kümmert sich nicht nur um das Schicksal von ukrainischen Kindern, sondern auch um die Erziehung der russischen Schüler – vor allem um die „patriotische“. Im Mai lud die Politikerin Jugendliche aus 82 russischen Regionen nach Moskau ein, damit sie ihre Projekte zum Thema Mobbing, zur Beziehung der Schüler untereinander und über glückliche Kindheit vorstellen konnten.

    Zu dem Forum waren, wie Verstka von den Teilnehmerinnen weiß, auch einige Jugendliche aus der sogenannten DNR (Donezker Volksrepublik) eingeladen – darunter die Zehntklässlerin Polina Tschitschkan aus Horliwka.

    Lwowa-Belowa veröffentlichte ein Foto der jungen Frau auf ihrem Telegram-Kanal mit dem Kommentar, die russischen Schüler würden P. „von den schrecklichen Ereignissen ablenken“.

    Maria Shidkowa und Alina Molodzowa, zwei Schülerinnen aus Tula, interpretierten den Aufruf auf ihre Weise und machten Polina zum Gesicht des Projekts Die Wahrheit der Kinder des Donbass. Sie veröffentlichten ein Video, in dem das Mädchen aus der „DNR“ vor der russischen und der Flagge der „DNR“ steht und gemeinsam mit anderen Schülern aus dem Donbass einen Text über das Leben unter Beschuss vorträgt.

    Verstka fragte Maria Shidkowa nach ihrem Eindruck von Treffen mit Lwowa-Belowa. Sie antwortete, die offene Art der Staatsbeamtin und ihre Liebe zu den Kindern habe sie sehr beeindruckt, und sie bezeichnete sie als Vorbild für die Jugend.

    „Ich konnte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt“, sagte die Schülerin. „Maria Alexejewna hat mir gezeigt, dass man Menschen helfen kann und es nicht schwer ist, das zu tun.“ Auf die Frage nach dem Sinn der Kampfhandlungen und dem Schicksal der Kinder, die Opfer in diesem Krieg geworden sind, wusste die junge Frau keine Antwort und fügte hinzu, dass sie „politisch ungebildet“ sei.

    Zum nächsten Schülertreffen – ein landesweites Forum der Kinder- und Jugendorganisation Bewegung der Ersten unter der Schirmherrschaft von [dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung] Sergej Kirijenko – nahm Lwowa-Belowa ihren Adoptivsohn aus Mariupol mit. Der Teenager betrat die Bühne in einem mit Messern, Rosen, Adlern, Stacheldraht und Matrjoschka-Puppen bedruckten Kapuzenpulli.

    Auch Polina Tschitschkan, die Schülerin aus Horliwka, nahm an diesem Forum teil. Gegenüber dem Fernsehsender Rossija-1 äußerte die junge Frau, sie würde ein „Zusammenwachsen der Nation und der neuen Gebiete“ beobachten. Wieder zurück in Horliwka nahm die Schülerin ein Video auf, in dem sie Gleichaltrigen von der Mission der „Bewegung“ erzählte: „Zu Russland halten“, „Mensch sein“, „Zusammen sein“, „in Bewegung sein“ und „Erster sein“.

    Im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern

    „Solche Organisationen erinnern sehr an die entsprechende Jugendbewegung im nationalsozialistischen Deutschland: Auch dort verbrachten die Kinder die meiste Zeit mit Sport, Musik und anderen unpolitischen Aktivitäten, aber in entscheidenden Momenten, unterstützten sie den Staat und die Armee“, erklärt Daniil Ken, Schulpsychologe und Leiter der Allianz der Lehrer, gegenüber Verstka. „Natürlich denkt Putin nicht so weit, die Erstklässler in ihren Feldmützen später mal zu seinen Soldaten zu machen. Aber im Grunde ist das moralischer Missbrauch von Kindern, bei dem ihre Eltern entscheiden müssen: Entweder sie wehren sich und setzen sich einer Gefahr aus, oder sie vereinbaren es irgendwie mit ihrem Gewissen und nehmen es in Kauf.“
     

    Lwowa-Belowa trifft Putin im Kreml, März 2022. / Foto © Mikhail Klimentyev/ITAR-TASS/imago-images

    Im März 2023 unterstützte Lwowa-Belowa das Adoptionsverbot von russischen Kindern durch Eltern aus „nicht freundschaftlich gesinnten“ Ländern.

    „Die Politik von ‚Cancel Russia‘ macht es sehr wahrscheinlich, dass russische Kinder im Ausland schikaniert und aufgrund ihrer Nationalität gedemütigt werden“, sagte die Ombudsfrau.

    Zur Stärkung der „internationalen Zusammenarbeit“ schlug die Staatsbeamtin vor, dieses Jahr Kindern in Afrika zu helfen. Und wie eine wahre Gläubige erbat sie dafür einen „Segen“ – allerdings nicht von einem Priester in der Kirche, sondern von Putin im Kreml.

    Verstka hat seine Fragen an das Büro von Lwowa-Belowa gerichtet. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Materials lag der Redaktion keine Antwort vor. 

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