Seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar, aber besonders seit der sogenannten „Teilmobilmachung“ im Herbst 2022 ist auffällig, wie sich der Kreml davor drückt, Männer aus den russischen Metropolen wie Moskau und Sankt Petersburg in den Krieg zu schicken. Denn schon im September war zu beobachten, wie schnell Hunderttausende fliehen und so einen harten Brain Drain verursachen.
Also mobilisiert man vorrangig in der Provinz, im Norden, in Sibirien, im Fernen Osten und in der Kaukasusregion. Offenbar reicht das jedoch nicht: Seit Frühjahr 2022 gibt es immer wieder Meldungen von Migrantenjagden und Zwangsrekrutierungen von ausländischen Arbeitskräften. Auch in Europa ankommende Geflüchtete berichten vereinzelt von Mobilisierungsversuchen russischer Behörden – womöglich eine weitere Taktik der „verdeckten Mobilmachung“.
Die Faktenlage dazu ist dünn. Einige Duma-Abgeordnete fordern populistisch, dass doch die sogenannten Gastarbaitery an die Front gehen sollen. Doch nur selten erreichen Videoaufnahmen oder andere Belege die Öffentlichkeit. Novaya Gazeta Europe hat Fakten und Zusammenhänge über die Mobilisierung von Staatsbürgerschaftsanwärtern und die Bedeutung des Passes der Russischen Föderation zusammengetragen.
Im August gab es in mehreren Regionen Russlands Razzien gegen Migranten. Unterstützt von der Polizei suchten Beamte der Militärkommissariate auf Märkten und in Gemüselagern nach neuen russischen Staatsbürgern, die noch nicht für den Wehrdienst erfasst waren. Diese bekamen einen Einberufungsbefehl oder wurden gleich auf die nächste Dienststelle mitgenommen.
Mitte August wurden zum Beispiel rund einhundert neue Bürger vom Sofiskaja-Gemüselager in Sankt Petersburg abgeholt. In einem Obst- und Gemüselager von Nishni Nowgorod wurden über 20 Männer mitgenommen. Auch aus den Oblasten Belgorod, Swerdlowsk, Tscheljabinsk und aus Tschuwaschien wurden solche Razzien gemeldet.
Laut Auskunft eines Juristen, der nicht namentlich genannt werden möchte, gibt es Polizeiaktionen dieser Art seit Februar 2023. Unter dem Vorwand, die illegale Einwanderung zu bekämpfen, organisierten die Behörden Razzien, um Migranten in die Armee zu locken. Allen Aufgegriffenen werde dann nahegelegt, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu unterschreiben.
Vom Amt an die Front
In der Oblast Kaluga geht man noch weiter und nimmt gar keine Einbürgerungsanträge mehr an, wenn der Antragssteller nicht auch eine Verpflichtung zum Kriegsdienst unterschreibt. Im August 2023 berichtete die Menschenrechtlerin Tatjana Kotljar dem Medium 7×7 von fünf solchen Fällen, wobei es, wie sie sagt, viel mehr Ablehnungen gibt.
In einem Fall wollte ein Einwanderer in der Einbürgerungsbehörde von Kaluga seinen Antrag auf Staatsbürgerschaft einreichen und sollte stattdessen erst einen Vertrag mit der Armee abschließen. Aufgrund gesundheitlicher Probleme wurde zwar seine Untauglichkeit für den Militärdienst festgestellt. Doch er bekam keine Bescheinigung und sein Einbürgerungsantrag wurde nicht angenommen. „Nachdem er Beschwerde eingelegt hatte, bekam er Probleme. Er wurde wegen eines Gesetzesverstoßes angezeigt, den er nie begangen hatte. Er sagte: ‚Wir werden hier nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Vieh. Die Staatsbürgerschaft eines solchen Landes will ich gar nicht bekommen. Ich habe schon mein Ticket und fahre nach Hause‘“, so Kotljar.
Der Gouverneur der Oblast Kaluga, Wladislaw Schapscha, kommentierte, der Betroffene habe das alles bestimmt wegen mangelnder Russischkenntnisse falsch verstanden. Die Praxis, „angehende Staatsbürger auf die Möglichkeit, als Vertragssoldat für Russland zu kämpfen sowie auf die daraus folgenden Sozialleistungen hinzuweisen“, wertete Schapscha positiv.
Migranten ohne russischen Pass im Krieg gegen die Ukraine
Im September 2022 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, wonach Ausländer, die freiwillig in den Krieg gegen die Ukraine ziehen, nach Ablauf eines Jahres in einem vereinfachten Verfahren die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation erhalten können. Gleichzeitig kündigte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin an, im Einwanderungszentrum Sacharowo Schalter einzurichten, an denen sich Ausländer zum Militärdienst melden können.
Das allerdings sind dann Söldner, weil diese Leute ja noch nicht über die russische Staatsbürgerschaft verfügten, merkt der Jurist Schuchrat Kudratow an. Mehrere Länder Zentralasiens hätten ihre Staatsbürger bereits zu Beginn der Mobilmachung im Jahr 2022 vor strafrechtlichen Konsequenzen bei einer Teilnahme am Krieg in der Ukraine gewarnt.
Wer will heute Russe werden?
Seit 2022 ist der russische Pass ein toxisches Gut: für manche möglicherweise eine Aufstiegschance, gleichzeitig ein sehr wahrscheinlicher Weg an die Front und in den Tod im Krieg. Das Innenministerium stellte 2022 sechs Prozent weniger neue Pässe aus als im Jahr zuvor, nämlich 691.045. Fast in allen Ländern, wo früher viele Menschen aktiv die russische Staatsbürgerschaft angestrebt hatten, ist die Nachfrage gesunken.
Nicht einmal durch die aktive Aushändigung russischer Pässe in den besetzten Gebieten der Ukraine vor deren „Angliederung“ an Russland konnten die Zahlen von 2021 übertroffen werden. Auch weil die Bewohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk schon seit 2019 im vereinfachten Verfahren russische Pässe erhalten. Von diesem Moment an wurde jede dritte neue russische Staatsbürgerschaft in der Oblast Rostow zuerkannt, die an die besetzten Gebiete der Ukraine grenzt. Über eine Million Ukrainer erhielten so die russische Staatsbürgerschaft − das ist mehr als die Hälfte aller neuen Staatsbürgerschaften seit 2019.
Im Juli 2022 erließ Präsident Putin dann ein Dekret, wonach alle Ukrainer die russische Staatsbürgerschaft erhalten können, ohne dass sie einen Wohnsitz in den besetzten Gebieten nachweisen müssen. Die Autoren einer Studie der NGO Grashdanskoje sodeistwije (dt. Zivile Zusammenarbeit) sehen in diesem Dekret auch den Grund für die hohen Zahlen neuer russischer Staatsbürger in der Oblast Cherson im zweiten und dritten Quartal 2022.
Nach der Annexion der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporishshja im September 2022 wurden deren Bewohner automatisch zu russischen Staatsbürgern. Sie müssen nun kein Einbürgerungsverfahren mehr durchlaufen, sondern bekommen ihren ersten Pass wie alle Menschen in Russland mit 14 Jahren. Berechnungen von Mediazona zufolge wurden im Oktober 2022 rund 40.000 Ukrainer nach dem neuen Schema zu russischen Staatsbürgern. Anfang 2023 stellte das Innenministerium jedoch die detaillierte Statistik über die Zahl der ausgestellten Pässe unter Verschluss.
Wegen des veränderten Status der besetzten Gebiete sind die Oblast Rostow und die Krim aus der Einbürgerungsstatistik so gut wie verschwunden. Im ersten Halbjahr 2023 bekamen 20 Prozent der Neubürger ihre Pässe in der Stadt (16.147) und in der Oblast Moskau (24.884). Im Vorjahr deckten diese Regionen nur elf Prozent der im ersten Halbjahr beantragten Staatsbürgerschaften ab. Sechs Prozent der Einbürgerungen gab es in Sankt Petersburg und der Oblast Leningrad (11.574), fünf Prozent in der Oblast Tscheljabinsk (9460).
Eine sehr besondere Beziehung
Das einzige Land, dessen Bewohner sich im Jahr 2023 weiterhin vielfach um die russische Staatsbürgerschaft bemühen, ist Tadschikistan. Im ersten Halbjahr 2023 wurden bereits 86.964 Tadschiken zu russischen Staatsbürgern, das sind um 17 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
In der Studie von Grashdanskoje sodeistwije wird als Erklärung für das hohe Interesse am russischen Pass die wirtschaftliche Lage in Tadschikistan angeführt. Tadschikistan ist eines der ärmsten Länder des postsowjetischen Raumes, rund 30 Prozent der Bevölkerung leiden an Unterernährung, 47 Prozent leben von weniger als 1,33 Dollar am Tag.
Valentina Tschupik, die ehrenamtlich Rechtsberatung für Migranten anbietet, sieht jedoch auch einen Grund in der in Tadschikistan verbreiteten russischen Propaganda: „Erstens wird rund um die Uhr gratis russisches Fernsehen gesendet. Die eigenen Sender bringen nur Folklorekonzerte und fetzige Reportagen über die schrankenlose Fürsorge von [Präsident] Emomalij Rahmon für das arischste und daher so glückliche Volk, was ja noch schlimmer ist als die russische Propaganda. Zweitens gibt es kaum Zugang zum Internet.“
Tadschikistan ist außerdem das einzige Land, das mit Russland ein Abkommen über eine doppelte Staatsbürgerschaft und eine Vereinbarung hat, dass Personen, die in Tadschikistan Wehrdienst geleistet haben, von der Wehrpflicht in Russland ausgenommen sind und umgekehrt.
Das betrifft jedoch nur die Wehrpflicht und keine Wehrübungen oder Mobilmachungen. Wenn ein wehrpflichtiger tadschikischer Staatsbürger mit doppelter Staatsbürgerschaft seinen ständigen Wohnsitz in Russland hat, dann kann er durchaus zur russischen Armee einberufen werden. Im Januar 2023 sagte der Leiter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, Alexander Bastrykin, dass Ausländer mit russischer Staatsbürgerschaft auch zum Krieg in der Ukraine eingezogen werden sollten. Und als im Mai 2023 das Gesetz über die elektronische Zustellung der Einberufungsbescheide in Kraft trat, tauchten erste Meldungen auf, wonach tadschikischen Staatsbürgern mit russischem Pass die Ausreise verwehrt wurde. Von diesem Ausreiseverbot erfuhren die betroffenen Tadschiken mit doppelter Staatsbürgerschaft, als sie im staatlichen Serviceportal Gosuslugi ihren Einberufungsbescheid erhielten.
Je weniger wahrscheinlich eine neue Mobilisierungswelle ist, desto stärker wird der Druck auf Migranten, glaubt Politikwissenschaftler Michail Winogradow. So wurde in der Staatsduma ein Gesetzentwurf eingebracht, der vorsieht, dass im Fall einer Wehrdienstverweigerung eine bereits erworbene Staatsbürgerschaft wieder entzogen werden kann. Eine andere Gesetzesinitiative will einen verpflichtenden Armeedienst für Ausländer einführen, bevor sie die Staatsbürgerschaft erhalten. Allerdings birgt dieser Vorschlag den Quellen von Verstka zufolge noch immer „zu hohe Risiken“, weswegen die Staatsmacht es bislang nicht eilig hat, ihn als Gesetz zu verankern.
Im Herbst 2022 − ein halbes Jahr nachdem Russland, teilweise über Belarus, die Ukraine mit einem brutalen Angriffskrieg überzog − zeichnete das Nobelpreiskomitee ausgerechnet Menschenrechtsaktivisten aus den am Krieg beteiligten Ländern gemeinsam mit dem Friedensnobelpreis aus: das im eigenen Land mittlerweile verbotene Memorial aus Russland, den in Belarus aus politischen Gründen inhaftierten Ales Bjaljazki und die ukrainische NGO Zentr hromadjanskych swobod (dt. Zentrum für bürgerliche Freiheiten).
„Die Preisträger repräsentieren die Zivilgesellschaft in ihren Ländern. Seit vielen Jahren stehen sie für das Recht, die Herrschenden zu kritisieren und die Grundrechte der Bürger zu verteidigen. Sie stecken herausragende Bemühungen in die Dokumentation von Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverstößen und Machtmissbrauch. Gemeinsam stehen sie für die Bedeutung der Zivilgesellschaft für Frieden und Demokratie”, begründete die Jury damals ihre Entscheidung. Besonders aus der Ukraine folgte heftige Kritik an der gemeinsamen Auszeichnung, weil sich die Angriffsopfer mit den Aggressoren gleichgestellt fühlten.
Im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza berichtet nun die Leiterin des ukrainischen Zentrums für bürgerliche Freiheiten, Olexandra Matwiitschuk, von ihrer jahrelangen und psychisch belastenden Arbeit, zu der stets auch die Kooperation mit Menschenrechtlern aus Russland gehörte.
Lilija Japparowa, Meduza: Frau Matwiitschuk, Sie beobachten und dokumentieren seit mehr als neun Jahren, wie Russland in der Ukraine Kriegsverbrechen begeht. Fühlen Sie sich manchmal hilflos?
Olexandra Matwiitschuk: Ein Gefühl von Hilflosigkeit ist das, was Russland in uns hervorrufen möchte. Und so ein Gefühl von Hilflosigkeit liegt dem modus operandi der russischen Gesellschaft zugrunde, die den Standpunkt einnimmt: „Was können wir schon tun?“, „Das entscheidet die Regierung, die wissen das besser“, „Wir wissen ja nicht alles“, „Ich bin nur ein kleines Rädchen“. Diese Haltung ist erbärmlich. Die Menschen in Russland können die Verantwortung nicht von sich schieben. Widerstand ist das einzig Richtige.
Als die Invasion begann, war Putin ja nicht der Einzige, der dachte, in drei Tagen sei Kyjiw erobert – unsere internationalen Partner glaubten das auch. Keiner glaubte an uns – und der Kampf für die Freiheit war die alleinige Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung. Wie man sieht, sind die Menschen viel stärker, als sie selbst erwartet hätten. Und so kann die Mobilisierung einer großen Zahl gewöhnlicher Leute den Lauf der Geschichte verändern.
In Ihrer Kolumne für Ukrajinska Prawda schrieben Sie: „In diesem Jahr ist mir plötzlich bewusst geworden, dass ich mein ganzes Leben der Arbeit für das Recht gewidmet habe, aber es funktioniert überhaupt nicht. Die Antwort ‚Gebt uns Waffen!‘ auf die Frage, wie man der Ukraine helfen könne – ist nicht das, was man von einer Menschenrechtlerin erwartet, aber es ist die Wahrheit. Weil das ganze System der UNO nicht in der Lage ist, die russischen Gräueltaten aufzuhalten.“ Haben Sie seit dem russischen Überfall Ihre Mission als Menschenrechtsaktivistin neu überdacht?
In dieser meiner Formulierung liegt kein Widerspruch. Denn ein Land, das angegriffen wird, hat das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Der Rahmen, den der Schutz der Menschenrechte vorgibt, ist Gewaltlosigkeit, und den übertrete ich nicht.
Letztes Jahr hat der Internationale Gerichtshof der UNO einstweilige Verfügungen erlassen und Russland verpflichtet, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Aber Russland ignoriert das internationale Recht. Ich glaube ja, dass das nur vorübergehend ist und wir − genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg − seine Gültigkeit wiederherstellen werden. Aber bis dahin geht es ums Überleben – und dafür braucht man Waffen. Das ukrainische Volk hat entschieden, für die Freiheit und die Menschenwürde zu kämpfen. Also gebt uns Waffen, damit wir nicht mit bloßen Händen in den Kampf ziehen müssen.
Wie wurden Sie überhaupt Expertin für Menschenrechte?
Als Schülerin lernte ich den ukrainischen Philosophen und Schriftsteller Jewhen Swerstjuk kennen. Er nahm mich unter seine Fittiche, führte mich in ukrainische Dissidentenkreise ein. Diese Menschen hatten im Kampf gegen die totalitäre Sowjetmaschinerie den Mut zu sagen, was sie dachten, und so zu leben, wie sie sagten. Sie inspirierten mich dazu, Jura zu studieren, um mich ebenfalls für die Freiheit und Würde des Menschen einzusetzen.
2007 hatten die Leiter der Helsinki-Komitees verschiedener Länder die Idee, in Kyjiw eine Organisation zu gründen, die die Rechte und Freiheiten nicht nur auf nationaler Ebene, sondern in unserer gesamten Region schützen sollte. Damals war die Ukraine in einer Reihe von Nachbarländern eine schillernde Ausnahme: Während in Russland schon damals eine repressive Gesetzgebung installiert wurde, versuchte dagegen die Regierung in der Ukraine nach der Orangenen Revolution, gewisse demokratische Entwicklungen voranzubringen. Man atmete freier, die Arbeit fiel leichter.
Wir witzelten, wir hätten einen durchgedrehten Kopierer
So entstand das Zentr hromadjanskych swobod (ZHS, dt. Zentrum für bürgerliche Freiheiten). Ich wurde seine erste Leiterin – und ich muss sagen, dass sich die Initiatoren unserer Organisation verschätzt hatten: Wenige Jahre später kam Viktor Janukowitsch an die Macht. Er begann damit, eine Machtvertikale zu errichten und Andersdenkende zu unterdrücken. Es ging ganz von selbst, dass sich das ZHS mehr um Menschenrechte und Freiheiten in der Ukraine kümmerte, und nicht, wie ursprünglich geplant, auf internationaler Ebene.
In der Ukraine wurden damals 1:1 die Gesetze der Russischen Föderation übernommen. Russische Menschenrechtler nannten ihre Staatsduma einen durchgedrehten Drucker, und wir witzelten, wir hätten einen durchgedrehten Kopierer, weil die Gesetze, die in Russland beschlossen wurden, nach einer Weile als Gesetzesentwürfe auch bei uns auf dem Tisch lagen.
2014 war das ZHS die erste Menschenrechtsorganisation, die mobile Teams auf die Krim und in den Donbas schickte. Was haben Sie dort gesehen?
Das erste Team dieser Art bildeten wir Ende Februar 2014, als auf der Krim die so genannten „grünen Männchen“ auftauchten – Russland und Putin persönlich dementierten damals, dass das russische Soldaten waren. Wir begriffen noch gar nicht, dass ein Krieg begonnen hatte: Es ging um die Revolution der Würde, wir schliefen nur drei bis vier Stunden täglich, und an unsere gerade erst entstandene Initiative Euromaidan-SOS wandten sich hunderte Menschen, die geprügelt, gefoltert und aufgrund falscher Anklagen vor Gericht gestellt worden waren. Für Reflexion hatten wir weder Zeit noch Energie.
Später, im April 2014, als in den Medien der Name Igor Girkin-Strelkow auftauchte, rief mich ein Kollege aus dem mittlerweile in Russland verbotenen Menschenrechtszentrum Memorial an. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte: „Sascha, unsere Todeslegionen sind zu euch gekommen.“
Ich wunderte mich damals sehr über diese Ausdrucksweise, die wie ein Zitat aus einem Roman klang; noch dazu aus dem Mund dieses sonst sehr beherrschten Gesprächpartners, der schon in vielen Kriegen tätig war. Erst als wir es in den von Russland okkupierten Gebieten mit Verschleppungen, Folter und extralegaler Todesstrafe zu tun bekamen, wurde mir klar, was er meinte.
Wir dokumentieren menschliches Leid
Seit dem 24. Februar 2022 haben Sie zur Dokumentation von Kriegsverbrechen des russischen Militärs viele regionale Menschenrechtsorganisationen hinzugezogen. Wie funktioniert das?
Wir haben uns mit dutzenden, vorwiegend regionalen Organisationen zur Initiative Tribunal dlja Putina (dt. Tribunal für Putin) zusammengeschlossen – und uns das ehrgeizige Ziel gesetzt, jedes einzelne Verbrechen in jedem noch so kleinen Dorf in jeder Oblast der Ukraine zu dokumentieren.
In befreiten Gebieten befragen wir Zeugen und Opfer, in besetzten Gebieten richten wir ein Monitoring ein. Und wir verifizieren Daten aus öffentlichen Quellen. In unserer Datenbank haben wir jetzt über 49.000 Fälle von internationalen Verbrechen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Wie suchen Sie nach Zeugen?
Da weiß ich von den mobilen Teams, die in den befreiten Oblasten Kyjiw, Charkiw und Cherson tätig waren: Es war für sie noch nie ein Problem, Opfer und Zeugen zu finden. Denn egal, in welches Dorf man kommt – überall ist etwas passiert. In jedem Dorf gibt es eine riesige Menge Schmerz. Wir dokumentieren menschliches Leid.
Wie steht es um die Psyche derjenigen, die das Monitoring durchführen?
Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht vorbereiten kann. Mir fehlen noch immer Worte dafür, wie man so einen vollumfänglichen Angriff miterlebt. Es ist der totale Verlust jeglicher sozialer Netze und Strukturen. Man verliert die Kontrolle über sein Leben, weil man nicht einmal die nächsten paar Stunden planen kann: Es kann jederzeit ein Luftalarm kommen. Aber du musst weiterarbeiten − in dem Wissen, dass es weder für dich noch für deine Angehörigen einen sicheren Ort gibt, um sich vor den russischen Raketen zu schützen.
Bestimmte Verbrechen erschüttern ganze Gemeinden
Jeder hat seine Grenzen. Ich zum Beispiel befrage keine Kinder. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich das nicht kann. Ich bin ein sehr empathischer Mensch, und bei Kindern … Aber viele meiner Kollegen befassen sich mit dem Schutz von Kinderrechten, und dank ihrer Arbeit habe ich von der Geschichte eines Jungen erfahren, der mit seiner Mama in Mariupol lebte. Während die russische Armee systematisch die Stadt vernichtete, versteckten sie sich in einem Keller. Der Junge wurde trotzdem verletzt, er kann nicht mehr gehen. Seine ebenfalls verletzte Mutter schaffte es mit letzten Kräften, ihren Sohn in Sicherheit zu bringen. Dann starb sie in seinen Armen. Ich weiß nicht, wie man so etwas überleben kann.
Wie kann man sexuelle Gewaltverbrechen dokumentieren?
Sie werden oft „Schamverbrechen“ genannt: Oft sind Personen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, nicht bereit, den Behörden oder Menschenrechtsaktivisten davon zu erzählen. In erster Linie muss man diesen Menschen helfen, wieder auf die Beine zu kommen – danach können sie selbst entscheiden, ob sie das Erlebte bezeugen und vor Gericht gehen wollen.
Ich habe beispielsweise Menschen befragt, die zusammen auf besetztem Gebiet festgehalten wurden. Zeugen erzählten mir von regelmäßigen Vergewaltigungen, aber das Opfer erwähnte mit keinem Wort die sexuelle Gewalt. Obwohl die Person mir alle anderen, extrem brutalen Folterungen detailreich schilderte.
Ein solches Verbrechen erschüttert die ganze Gemeinde. Das Wirkprinzip ist einfach: Die betroffene Person schämt sich, ihre Angehörigen fühlen sich schuldig, weil sie sie nicht beschützen konnten, und alle anderen haben Angst, dass ihnen dasselbe widerfahren könnte. All das verringert die Chance auf einen gemeinsamen Widerstand.
Im März 2022 haben wir auch ein Merkblatt für Menschen erstellt, die solche Gewalt erfahren haben. Da gibt es einen Abschnitt, der die aktuellen Umstände besonders gut darstellt. Wir haben ihn zusammen mit ukrainischen Gynäkologen verfasst – es geht um konkrete Selbsthilfe nach einer Vergewaltigung, wenn man sich auf besetztem Territorium befindet und sich nicht einmal gefahrlos an einen Arzt wenden kann.
Was berichten Ihnen Menschen, die in russischer Kriegsgefangenschaft waren?
Seit 2014 habe ich hunderte Menschen befragt: Ihnen wurden Nägel ausgerissen, Knie zerschmettert, mit Löffeln die Augen aus den Höhlen gepult, sie wurden in Holzkisten gepfercht, ihnen wurden Tätowierungen aus der Haut geschnitten, Gliedmaßen abgehackt, Stromkabel an den Genitalien befestigt … Alles, was dem russischen Militär und den Geheimdiensten einfiel. Das machen sie mit den Menschen einfach nur, weil sie es können. Rationale Gründe … Für Folter kann es keine rationalen Gründe geben. Aber hier gibt es nicht mal irrationale.
Das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Krieg aller Zeiten
Ein Mann erzählte mir, dass er immer noch überall das Geräusch von Klebeband hört, wie es von der Rolle gezogen wird. Weil dort, wo er eingesperrt war, die Menschen mit Klebeband gefesselt wurden – und dann geprügelt. Ein anderer sagte: Noch schlimmer als selbst gefoltert zu werden, sei es, andere leiden zu hören. Zu hören, wie sie darum betteln, umgebracht zu werden, um der Qual und Erniedrigung zu entkommen. Jemand erzählte, wie ein Vater und sein Sohn voreinander gefoltert wurden. Um es noch schmerzhafter zu machen.
Der gemeinsame Nenner ist: Die Russen machen das, weil sie es können.
Wie können Sie verfolgen, was mit Ukrainern passiert, die in besetzten Gebieten leben oder nach Russland gebracht wurden – in Auffanglager, Kinderheime, Gefängnisse?
Auf Mechanismen der Rechtstaatlichkeit können wir uns nicht immer verlassen, dafür aber auf die Menschen. Es gibt überall Leute, die jemandem helfen, jemanden retten wollen – auch in den besetzten Gebieten und in der Russischen Föderation. Zudem stehen uns hochentwickelte digitale Werkzeuge zur Verfügung – das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Krieg aller Zeiten. Um die Täter zu identifizieren, braucht man manchmal gar nicht vor Ort zu sein. Das wissen die Täter aber nicht.
Was haben Sie über die Brutalität der russischen Soldaten gelernt?
Russland setzt Kriegsverbrechen als Methode der Kriegsführung ein, versetzt die Zivilbevölkerung absichtlich in Angst und Schrecken, um ihren Widerstand zu brechen. Das ist eine Instrumentalisierung menschlichen Leids. Und das ist, wie wir im Studium gelernt haben, normalerweise eine Methode, auf die schwache Armeen zurückgreifen, die sich ihrer Stärke nicht sicher sind.
Die russische Armee hat in Tschetschenien, Georgien, Mali, Syrien und Zentralafrika Kriegsverbrechen begangen – und keiner wurde je bestraft. Diese Kultur der Straflosigkeit hat meiner Meinung nach dazu geführt, dass die Russen glauben, mit den Menschen alles machen zu können, was ihnen einfällt.
Dokumentieren Sie auch Kriegsverbrechen der ukrainischen Streitkräfte?
Wir dokumentieren alle Verbrechen, unabhängig davon, wer sie begangen hat. So lautet unsere Position seit 2014. Wir sind Menschenrechtler, und es wäre seltsam, wenn wir das anders handhaben würden.
Seit dem 24. Februar 2022 fließen alle Informationen in einer Datenbank zusammen, und so kann ich zweifellos belegen: Die von uns dokumentierten Verbrechen wurden vorwiegend vom russischen Militär begangen. Aber Menschenrechte können nicht in Prozent gemessen werden: Auch Einzelfälle sind schrecklich.
Krieg ist eine enorme Herausforderung für das menschliche Wertesystem, aber die ukrainische Gesellschaft kann immerhin eingreifen: Anklage erheben, an die Medien gehen, Besuche internationaler Organisationen in den Gefängnissen zulassen. Ich will nicht behaupten, dass das alles einfach ist: Wir sind ein Land im Transformationsprozess: Nach dem Fall des autoritären Regimes haben bei uns die Reformen im Strafvollzug und in der Justiz erst begonnen. Aber wir haben immerhin Optionen. Wenn wir hingegen von russischen Kriegsverbrechen sprechen, dann gibt es diese Möglichkeiten nicht.
Sie schrieben in derselben Kolumne, es gebe keinen einzigen internationalen Gerichtshof, der Putin für diesen Angriffskrieg zur Verantwortung ziehen könnte. Woran liegt das?
Gute Frage! Was das Regime in Russland betrifft, ist ja alles klar. Aber die Länder der so genannten progressiven Demokratie haben ebenfalls jahrzehntelang die Augen davor verschlossen, dass in der Russischen Föderation Journalisten verfolgt, Aktivisten inhaftiert und Demonstrationen niedergeschlagen werden. Man hat Putin trotzdem die Hand geschüttelt, Business as usual gemacht, Pipelines gebaut. Doch das unbestrafte Böse wächst.
Warum hat zum Beispiel der Internationale Strafgerichtshof keine solche Rechtsprechung, obwohl Russland heute alle Arten von internationalen Verbrechen verübt – sowohl militärische Verbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und diesen Angriffskrieg? Die Vertragsstaaten des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs haben eine zu enge Definition des Begriffs „Aggression“ und verbauen sich damit die Möglichkeit einzugreifen. Und das hat nicht einmal etwas mit Putin zu tun – das ist die Verantwortung der Vertragsstaaten.
Bringt Ihnen der Nobelpreis nun etwas für Ihre Arbeit?
Der Nobelpreis verschafft uns Aufmerksamkeit. Dem Menschenrechtsaktivismus unserer Region hat nie jemand zugehört, obwohl wir seit Jahrzehnten dasselbe sagen. Seit Jahrzehnten! Wir sagen, dass ein Land, das die Menschenrechte massenhaft verletzt, nicht nur für die eigenen Staatsbürger und die Nachbarländer gefährlich ist, sondern für die ganze Welt.
Viele Ukrainer haben sich daran gestört, dass in der Liste der Preisträger die ukrainischen Menschenrechtler Seite an Seite mit Vertretern von Ländern stehen, die gegen die Ukraine Krieg führen.
Wenn man in einer Schlagzeile liest „Russland, Ukraine und Belarus“, dann kommen natürlich sofort Assoziationen mit dem nach Naphthalin stinkenden Sowjetmythos der Brudervölker hoch – und der Eindruck, man wolle uns wieder in dieses Dreierzimmer stecken. Obwohl bereits klar ist, dass es in der UdSSR keine Brudervölker gab – sondern ein Volk dominierte und gab die Sprache und die Kultur vor. Den anderen wurde ein Platz auf Folklorefestivals eingeräumt.
Natürlich stößt das während eines Kriegs, in dem Russland und Belarus die Angreifer sind und die Ukraine sich verteidigt, auf Ablehnung. Wir haben unsererseits versucht klarzustellen, dass dieser Preis natürlich nicht an Länder geht, sondern an Menschen — an Menschen, die schon sehr lange zusammenarbeiten. Wir haben sowohl vor 2014 als auch danach eng mit russischen Menschenrechtsaktivisten kooperiert: Wir haben gemeinsame Werte, eine gemeinsame Mission.
Menschlichkeit können nicht einmal repressive Gesetze verbieten
Als wir unser Monitoring auf der Krim und im Donbas begannen, konnten wir die Erfahrungen mobiler Gruppen nutzen, die schon in Tschetschenien aktiv gewesen waren. Ich erinnere mich, wie ich meine russischen Kollegen anrief und sagte: Wenn ihr irgendwelche Anleitungen habt, irgendwelche Fragebögen, schickt sie uns bitte – unsere Leute sind schon unterwegs, wir organisieren uns im Galopp.
Auch jetzt, in diesen Minuten, sind von uns tausende Zivilisten in russischer Kriegsgefangenschaft – und da, wo wir keinen Zugang haben, agieren wir über russische Organisationen.
Was sollten Russen tun, die gegen den Krieg sind?
Betroffenen helfen, ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen, versuchen, dieses militärische Schwungrad zu stoppen – ich bin mir sicher, dass Menschen, die empört sind über das, was passiert, ihre Rolle finden. Mir ist klar, dass die Position „gegen den Krieg“ in Russland strafrechtlich verfolgt wird. Aber Menschlichkeit können nicht einmal repressive Gesetze verbieten.
Belarus sei „de facto unter Militärbesatzung“ sagte die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im November 2022 in Bezug auf Russlands erdrückenden Einfluss auf ihre Heimat. Auch deutsche Medien und internationale Politiker oder Beobachter sprechen nicht selten davon, dass der Kreml das osteuropäische Land faktisch okkupiert habe und dass Alexander Lukaschenko eigentlich nur noch eine Marionette Putins sei – ohne eigenen politischen Handlungs- und Entscheidungsraum. Zweifelsohne war und ist die politische Abhängigkeit von der russischen Führung groß, und sie ist seit den Protesten von 2020 noch größer geworden. Ohne Frage hat diese Abhängigkeit auch dazu geführt, dass Russland Belarus als Aufmarschgebiet für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nutzen konnte. Aber kontrolliert der Kreml wirklich die Geschicke der belarussischen Machtzentrale, hat er es geschafft, die Kontrolle über Silowiki-Strukturen und Meinungsbildung im Nachbarland zu erlangen? Bleibt Lukaschenko tatsächlich nur noch das untertänige Nicken, wenn der große Bruder ruft?
Der belarussische Journalist und Analyst Alexander Klaskowski hält diese Sichtweisen für allzu einfach und deswegen für gefährlich. Für das Online-Medium Pozirk zeigt er anhand aktueller Entwicklungen, dass man Lukaschenko – der es seit 1994 in scheinbar ausweglosen Situationen gewohnt ist, seine Handlungsspielräume zu erweitern – nicht abschreiben sollte.
Es gab eine Zeit, da vertrat ein Teil der Opposition vehement die These, Belarus sei von Russland besetzt. Jetzt aber scheint kaum mehr eine Handvoll russischer Truppen auf belarussischem Territorium zu stehen. Sollen wir also von einem Ende der Okkupation und Truppenabzug sprechen?
Wie immer ist die Wirklichkeit viel komplexer als die Politik, vor allem, wenn eine ordentliche Portion Propaganda im Spiel ist.
Lukaschenko ist selbst in die imperialistische Falle getappt
Den Daten des Monitoring-Projekts Belaruski Hajun zufolge (die von Kyjiw bestätigt werden) befinden sich derzeit in Belarus nicht mehr als 2000 russische Soldaten. Davon gehören 1450 zu der Funkstation Wolga bei Baranowitschi und zur Meldezentrale bei Wileika. In diesen zwei Anlagen ist schon jahrzehntelang russisches Personal im Einsatz. Weitere 600 Mann verteilen sich auf die beiden Flughäfen. Es liegt nahe, dass diese Kontingente auf die Betreuung und Bewachung von Objekten ausgerichtet sind und nicht darauf, Alexander Lukaschenkos Residenz in Drosdy zu stürmen.
Das hat nichts mehr zu tun mit dem Februar 2022, als der Kreml für angebliche gemeinsame Militärübungen zigtausende Soldaten mitsamt schwerer Kampftechnik in Belarus positionierte, um in Kyjiw einzumarschieren. Es gibt auch keine Trainingslager für mobilisierte Russen mehr, und die Luftwaffe der Russischen Föderation ist praktisch vollständig abgezogen.
Dass Moskau mit diesen paar tausend Soldaten nicht in der Lage ist, seinen Verbündeten rein militärisch in Schach zu halten, ist klar. Es gibt auf belarussischem Gebiet auch keine klassische Besatzungsverwaltung. Lukaschenko sitzt bereits das dreißigste Jahr auf seinem Thron und steuert alles über die von ihm selbst erschaffene Machtvertikale. Dass viele seiner Beamten und vor allem die Silowiki prorussisch eingestellt sind, ist ein anderes Thema.
Allerdings ist die Abhängigkeit des Regimes vom Kreml durch die Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 und die Beteiligung an der Aggression [gegen die Ukraine – dek] zweifellos angewachsen. Doch nicht das Imperium hat Belarus an sich gerissen, sondern der belarussische Regent hat sich dazu entschieden, sein Land enger an das Imperium zu binden, um an der Macht zu bleiben. Er ist selbst in diese Falle getappt.
Marionette – hin oder her, aber …
Jetzt kann man sagen: Ist doch egal, wenn das Ergebnis ist, dass Lukaschenko eine Marionette von Putin ist – Unabhängigkeit gibt es nicht (Belarus ist de facto bereits eine Provinz der Russischen Föderation, sagt der litauische Präsident Gitanas Nausėda).
Nun, Marionette hin oder her – jedoch hat Lukaschenko in den ganzen eineinhalb Jahren Krieg keinen einzigen seiner Soldaten dorthin losgeschickt. Obwohl diverse prominente Kommentatoren beherzt davon gesprochen haben, wie Putin seinen „kleinen Bruder“ angeblich auspresst. Als hätten sie das aus einer Ecke im Kreml oder einem Gebüsch in Sotschi heimlich beobachtet.
Ja klar, so fest presst er, dass alle wirtschaftlichen Leckerbissen sich über Minsk ergießen wie aus einem Füllhorn. Lukaschenko ist es nämlich gelungen, sein mächtiges Gegenüber davon zu überzeugen, dass das aktuelle Symbiose-Modell ihrer beiden Regime optimal ist und keine gefährlichen Experimente erforderlich sind.
Und sogar Kyjiw, das gern über die russische Besatzung von Belarus spricht, scheint hinter den Kulissen sein Spiel mit dessen Führungsmacht fortzusetzen (worüber dieser sich schon ein paar mal verplappert hat). Wieso sollten sie mit einer Marionette verhandeln?
Es stimmt zwar, dass Lukaschenkos politische Eigenständigkeit geschwächt ist, doch ganz außer Acht zu lassen ist sie nicht. Erinnern wir uns an den Abzug der Söldnertruppe Wagner nach Belarus. Verschwörungen zufolge sei das Putins schlauer Plan gewesen für einen neuen Angriff auf die Ukraine vom Norden her oder überhaupt auf Europa. Mit der stillschweigenden Annahme, dass in einem solchen Fall der „kleine Bruder“ gar nicht mal gefragt würde. Aber diese Verschwörung fällt jetzt in sich zusammen, wie vom Autor dieser Zeilen vorhergesagt. Es wird immer offensichtlicher, dass die Aufnahme der Aufständischen in Belarus ein spontaner Entschluss war. Jetzt zerlegen sie Prigoshins Baby. Das Lager bei Ossipowitschi schrumpft, und überhaupt stand es unter der Fuchtel der Silowiki von Lukaschenko, der an einer Konfrontation mit der NATO wenig interessiert ist.
Ebenso offensichtlich ist, dass er nicht will, dass die Grenzen in Richtung EU dichtgemacht werden. In den letzten Wochen gab es immer weniger Flüchtlinge aus Drittländern, die dort hinüberwollen, immer weniger; offenbar hat Minsk Regulierungsmaßnahmen ergriffen. Obwohl sehr oft und viel zu hören war, dass der Kreml diese Sache lenkt, und der „kleine Bruder“ nur brav mitspielt.
Atomwaffen: Putins Pläne passen zu Lukaschenkos Ambitionen
Indes gelangen einige Komponenten taktischer Kernwaffen aus der Russischen Föderation nach Belarus. Bestätigt wurde das jüngst von der Belarussischen Eisenbahnergesellschaft. Und dieser Tage erklärte der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Rjabkow, dass die Stationierung der taktischen Kernwaffen in Belarus „nach Plan laufe“.
Allerdings wurden laut dem ukrainischen Nachrichtendienst die ersten Atomsprengköpfe erst Ende August geliefert, davor fanden nur „großangelegte Trainings mit Kernwaffen-Attrappen“ statt. Putin und Lukaschenko hingegen waren der Welle vorausgeschwommen und hatten geprotzt, dass dieser Prozess bereits in vollem Gang sei.
Einerseits kann man auch diesen Prozess als eine Art hybride Besatzung interpretieren. Moskau macht Belarus durch die Stationierung von taktischen Kernwaffen zu seiner atomaren Geisel. Andererseits kann auch hier keine Rede von schmerzhaftem Druck sein. Während Lukaschenko 2022 bezüglich des russischen Angriffs auf die Ukraine von belarussischem Territorium aus noch so tat, als hätte er nichts gewusst (und hätte es selbst aus dem Fernsehen erfahren), so betont er bezüglich der Kernwaffen gern, dass das seine Initiative war.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der schlaue Herrscher die Idee im Hinterkopf hat, Russland dieses Arsenal abzupressen, sollte dort nach einer Niederlage in der Ukraine alles zu bröckeln beginnen. In einer solchen Situation könnte er sogar mit dem Westen aushandeln, dass die Sanktionen aufgehoben werden und er nicht nach Den Haag muss.
Analysieren statt hypen
All das ist natürlich mit Mistgabeln auf Wasser geschrieben. Noch wirkt die Anbindung des Regimes an Moskau beinahe fatal. Und die russische Militärpräsenz in Belarus kann auch bald wieder verstärkt werden. Aber obwohl der Grat viel schmaler geworden ist, fährt Lukaschenko innen- und außenpolitisch seine Manöver. Bisweilen sieht das ungelenk aus, aber in vielen Fällen durchaus geschickt.
Manche Regimegegner wollen den Usurpator so unbedingt brandmarken, dass sie ihren Refrain über die Okkupation, die Marionettenhaftigkeit und den kompletten Verlust der Unabhängigkeit beinahe genüsslich wiederholen. Eine solche Sichtweise verhindert eine objektive Analyse der Situation im Land und um das Land herum. Immerhin ist der Umstand, dass die Staatlichkeit noch nicht vollends verloren ist, ein wichtiges Plus für einen möglichen Wandel.
Jedenfalls sollten jene, die sich Gedanken zur belarussischen Frage machen (und vor allem nach einer Lösung suchen), ihre Reflexionen nicht auf verschwörungstheoretische Seifenblasen reduzieren, die sich nur allzu leicht als Hype entpuppen.
Am Wochenende wurde in Russland der sogenannte „einheitliche Wahltag” veranstaltet: In 21 Regionen wurde über die Regionsoberhäupter entschieden und die Zusammensetzung von 16 Regionalparlamenten neu bestimmt. Vor der Präsidentschaftswahl 2024 testet der Staat seine Kontrolle über das Land. Und die Opposition testet seine Schwachstellen. Unter Menschen, die dem Kreml gegenüber kritisch eingestellt sind, wird schon lange debattiert, ob die unfairen und manipulierten Wahlen boykottiert werden sollten, oder ob man sich allen Wahlfälschungen zum Trotz beteiligen sollte, um den Betrügern wenigstens so viele Schwierigkeiten zu machen wie möglich. Auch der prominenteste Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte aus dem Gefängnis heraus seine Unterstützer auf, zur Wahl zu gehen und für die Kandidaten zu stimmen, die der Kreml-Partei Einiges Russland am ehesten Konkurrenz machen.
In der Debattenschau stellt dekoder die Argumente der politischen Beobachter Alexander Kynew und Grigori Judin und der Moskauer Lokalpolitikerin Julia Galjamina vor. Ihre Beiträge haben sie bereits vor der Wahl für den Think Tank Kollektiwnoje deistwije (dt. kollektives Handeln) verfasst. Darüber, dass die Scheinwahlen, die in den besetzten Gebieten auf ukrainischem Staatsgebiet inszeniert wurden, illegal sind und boykottiert werden sollten, herrschte unter demokratischen Oppositionellen Einigkeit.
Alexander Kynew: Die Wahlen sind eine Gelegenheit, etwas über die russische Gesellschaft zu erfahren
[bilingbox]Wahlen sind keine bloße Formsache, sondern eine Gelegenheit, die Stimmung in der Gesellschaft zu messen, eine riesige soziologische Umfrage. Wie soll man etwas über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich nicht die Wahlen anschaut? Bei allen Problemen mit Wettbewerb und Abhängigkeit von der Staatsmacht zeigen Wahlen, wie repressiv ein System ist. Und sie spiegeln wider, wie homogen oder heterogen eine Gesellschaft ist. Selbst wenn das Messinstrument nicht ideal ist, kann es bei regelmäßiger Benutzung eine Dynamik aufzeigen.
Wenn wir von den Wahlen sprechen, müssen wir zunächst die föderalen Wahlzyklen verstehen. Ein Zyklus dauert fünf Jahre und beginnt mit den Wahlen in die Staatsduma. Innerhalb dieses übergeordneten föderalen Zyklus finden alljährlich in unterschiedlich vielen Verwaltungseinheiten Regionalwahlen statt. 2021, im ersten Jahr des aktuellen Wahlzyklus, haben 39 Regionen ihre Parlamentswahlen zeitgleich mit den Wahlen in die Staatsduma abgehalten. Das erhöht den Einfluss der landesweiten Propaganda insbesondere in Regionen wie Sankt Petersburg, Perm und Krasnojarsk. Die Wahlen im zweiten Jahr betrafen die wenigsten Regionen und waren am unspektakulärsten: Von sechs Regionen sind vier in fester Hand der Regierungspartei, und die Höhe der Wahlbeteiligung entspricht dem Wahlergebnis für den Sieger.
Es ist nun das dritte Jahr des Zyklus, in dem die Regionen wählen, die 2018 gewählt haben. Damals war gerade die Rentenreform beschlossen worden und Leute wie Sergej Furgal (Chabarowsk) und Walentin Konowalow (Republik Chakassien) wurden regionale Oberhäupter. Diesmal wurden 16 Parlamente neu gewählt, wenn man die annektierten Regionen in der Ukraine einmal beiseite lässt.
Was die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und die Oblaste Cherson und Saporischschja angeht, die Russland unrechtmäßig angegliedert hat: Dort gibt es keine klaren Grenzen, es gibt keine Wählerlisten, viele Menschen sind auf der Flucht, niemand weiß, wie viele Wahlberechtigte es dort überhaupt gibt. Wie soll ein Wahlkampf unter den Bedingungen von Kämpfen, Kriegszustand und Ausgangssperre aussehen? Ich bezweifle, dass überhaupt eine Wahl im eigentlichen Sinne stattfindet. Natürlich bekommen wir Protokolle, aber was bei diesen Wahlen wirklich passiert, bleibt ein Geheimnis.
Was das russische Staatsgebiet betrifft: Nur zwei der 16 teilnehmenden Subjekte wurden fest von der Regierungspartei kontrolliert – die Republik Baschkirien und die Oblast Kemerowo. Auch die Oblast Rostow gehörte bis zuletzt dazu, aber jetzt pendelt sie in Richtung Protest. Dort ist die Situation wegen der Flüchtlingsströme und der wachsenden Kriminalität angespannt, nicht zuletzt hatte Prigoshins Aufstand dort seinen Anfang genommen.
In den übrigen 13 Regionen gibt es im Zuge der Wahlen durchaus einen gewissen Wettbewerb. Die meisten dieser Regionen liegen in Sibirien oder Fernost, wie die Republiken Chakassien, Burjatien und Jakutien, die Region Transbaikalien und die Oblast Irkutsk. Auch in vielen Gemeinden, etwa in Krasnojarsk oder Abakan, gibt es unter den Kandidaten eine gewisse Konkurrenz. So auch in der Oblast Archangelsk und dem Autonomen Kreis der Nenzen, wo 2020 die Mehrheit gegen die Verfassungsänderungen stimmte. Weliki Nowgorod und Jekaterinburg sind zwei Regionen, in denen die Fraktion Jabloko vertreten sind.
In den Regionen, in denen es politischen Wettbewerb gibt, ist im Vergleich zu 2022 eine Belebung des politischen Lebens zu beobachten, wie man an den aktuellen politischen Kampagnen sehen kann. Ich sehe zwei Hauptgründe für diesen Aufschwung: Der erste Grund ist historisch und geografisch bedingt. Einige Regionen – wie der hohe Norden – waren schon immer protest- und wettbewerbsfreudiger, die dortige Bevölkerung ist aktiv. Der zweite Grund ist die Stabilisierung des politischen Systems. Im vergangenen Jahr standen viele Menschen unter Schock und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Jetzt sehen sie, dass das Regime stabil ist und nicht einfach so verschwindet. Es wird sich wahrscheinlich von innen heraus verändern, seinen eigenen Gesetzen folgend.
Unterschiede zwischen den Kandidaten in Bezug auf die „militärische Spezialoperation“ sucht man vergeblich. Die meisten sprechen darüber einfach nicht. Die Trennlinie verläuft zwischen denen, die sie aktiv unterstützen, und denen, die zur Normalität zurückkehren wollen. Niemand kämpft entschlossen für das Ende der Spezialoperation. Die Parteien verhalten sich unterschiedlich: Die einen verbünden sich mit der Regierungspartei, die anderen setzen auf die Unterstützung der Wirtschaft. Aber es gibt keine Partei, die sich für den Frieden einsetzt.
Insgesamt hat die außenpolitische Thematik nichts mit den Regionalwahlen zu tun: Die Organe auf dieser Ebene haben keinen Einfluss auf derartige Entscheidungen. Sie kümmern sich um lokale Probleme wie Straßensanierung oder den Bau von Krankenhäusern.
Bei den Gouverneurswahlen, bei denen es keinerlei Wettbewerb gibt, ist die Spezialoperation im Wahlkampf kein Thema, höchstens als Schutzreaktion: Viele Gouverneure haben Angst, jemand könnte sie denunzieren oder sich über sie beschweren, also sichern sie sich ab, ziehen Uniformen an, besuchen in Camouflage Krankenhäuser und fahren an die Front.
Der Rest der Wahlkampagne dreht sich um die soziale Absicherung: Unterstützung für die Familien derer, die eingezogen oder getötet wurden, Ferienprogramme für Kinder aus solchen Familien oder Hilfe für bestimmte soziale Gruppen aus der Ostukraine. Es gibt viele solcher Initiativen, ich würde sie als Teil der Sozialpolitik betrachten. Lokale soziologische Studien zeigen, dass Bedarf an Hilfe für Kriegsgeschädigte besteht und von den Menschen positiv aufgenommen wird. Wenn man die globalen Dinge schon nicht beeinflussen kann, will man wenigstens den Opfern helfen – diese Überzeugung herrscht auf regionaler Ebene.~~~Выборы — это не просто формальность, — это уникальный способ измерения общественных настроений, гигантский соцопрос. Как вы что то можете знать об обществе, если вы не изучаете выборы? При всех проблемах с конкуренцией и зависимостью от власти, выборы показывают степень контроля над обществом, отражают степень однородности или разнообразия общества. Даже если инструмент измерения не идеален, он может показать динамику, если используется постоянно.
Когда речь идет о предстоящих выборах, важно понимать концепцию федерального электорального цикла. Он длится пять лет и считается от выборов Государственную думу. Внутри этого федерального большого цикла ежегодно неравномерными группами проходят выборы по регионам. В 2021 году, в первый год цикла, 39 регионов провели выборы своего парламента одновременно с Госдумой. Так происходит в последние годы, чтобы использовать преимущества федеральной пропаганды, особенно в таких регионах как Санкт-Петербург, Пермский и Красноярский край. Потом идет второй год цикла, он самый маленький и самый неинтересный: из шести регионов, четыре — это жестко управляемые, где процент явки совпадает с максимальными процентами за победителя.
Сейчас третий год цикла, завершается срок полномочий в тех регионах, которые голосовали после пенсионной реформы в 2018 году. В этот период были избраны такие фигуры, как Фургал (Хабаровский край) и Коновалов (Республика Хакасия). Выборы пройдут в 16 законодательных собраниях, и если учесть объявленные присоединенными области Украины, их станет 20. Кроме того, будут выборы в городские советы крупных городов.
Что касается ЛНР, ДНР, Херсонской и Запорожской областей, объявленных присоединенными, тут есть много вопросов. В первую очередь, отсутствие четких границ делает невозможным формирование одномандатных округов. Поэтому выборы будут проводиться только по партийным спискам, как областных советах, так и на городских местных выборах. Еще одной проблемой являются списки избирателей: из-за миграции по линии фронта никто точно не знает, сколько людей находится на территории этих областей. Конкуренции там, вероятно, не будет. Какая может быть агитационная кампания в условиях военных действий, военного положения и комендантского часа? Я сомневаюсь в том, что голосование в привычном понимании этого слова вообще состоится. Конечно, будут оформлены протоколы, но что на самом деле произойдет на этих выборах, остается загадкой.
Не считая эти территории, из 16 участвующих субъектов только два — Республика Башкортостан и Кемеровская область — строго контролируются властью. Такой была и Ростовская область, но сейчас она колеблется в сторону протестности. Там сложная ситуация из-за миграции, ухудшения криминогенной обстановки, плюс там как раз начинался Пригожинский мятеж.
Оставшиеся 13 регионов являются конкурентными в плане выборов. Большинство из них находятся в Сибири и на Дальнем Востоке, включая Хакасию, Забайкальский край, Бурятию, Якутию и Иркутскую область. Кроме того, многие муниципалитеты, такие как Красноярска и Абакана, также являются конкурентоспособными. Также конкуренция есть в Архангельской области и Ненецком автономном округе — в 2020 году там голосовали против изменений в Конституции. Великий Новгород и Екатеринбург — два региона, где представлена фракция Яблоко.
В конкурентных регионах происходит оживление политической жизни по сравнению с прошлым годом, если судить по текущим политическим кампаниям. Я вижу две основные причины этого оживления. Первая причина историко-географическая. Так сложилось, что некоторые регионы, например Крайний Север, всегда были более протестны и конкурентоспособны, там живут активные люди. Вторая причина — это стабилизация политической системы. В прошлом году многие были в шоке и не знали, что делать дальше. Сейчас же стало понятно, что режим устойчив и не собирается никуда исчезать. Он, скорее всего, будет меняться изнутри, следуя своим внутренним законам. Поэтому дискурс меняется в сторону того, как выживать, и какие должны быть ставки в этом выживании.
Искать различия между кандидатами на основе их отношения к СВО бессмысленно, так как большинство из них об этом просто не говорят. Основное разделение происходит между теми, кто активно поддерживает спецоперацию, и теми, кто за возвращение к нормальной жизни. Радикальных борцов за прекращение СВО нет просто из-за рационального поведения игроков. Партии ведут себя по-разному: одни ассоциируют себя с властью, другие строят кампанию на поддержке бизнеса. Но нет такой партии, которая бы выступала за мир. Есть партии войны, которые конкурируют друг с другом. И есть несколько партий здравого смысла.
В целом, внешнеполитическая тематика не имеет никакого отношения к региональным выборам: органы этого уровня не влияют на принятие таких решений. Идти на местные выборы с внешнеполитической повесткой — это вводить избирателей в заблуждение. Региональные органы власти решают локальные задачи, такие как ремонт дорог или строительство больницы.
Там, где это выборы неконкурентные, губернаторские, СВО в избирательной кампании не для избирателей, а для системы. Это защитная реакция: многие губернаторы боятся, что на них кто-то донесет, пожалуется, поэтому они перестраховываются, надевают камуфляж, посещают госпитали и ездят на фронт.
В остальном, агитационная история касается социальной защиты. Защита семей тех кто призван или погиб, выделение путевок детям из этих семей или помощь конкретным социальным группам из Восточной Украины. Таких инициатив много, и я бы рассматривал их как часть социальной политики. Судя по локальным социологическим исследованиям, запрос на помощь пострадавшим существует и вызывает одобрение людей. Раз на глобальные вещи повлиять не могут, то надо помогать тем, кто пострадал — такое убеждение присутствует на региональном уровне.[/bilingbox]
Grigori Judin: Russland braucht erfahrene Demokraten in Freiheit, nicht im Gefängnis
[bilingbox]Für die Regierung sind Wahlen unabdingbar, weil die Legitimität in Russland auf demokratischen Prinzipien basiert. Das bedeutet nicht, dass bei uns Demokratie herrscht, aber darauf basiert eben die Legitimität der Regierung. Die Regierung behauptet, allen Entscheidungen würden auf Grundlage des Volkswillens getroffen. Daher müssen regelmäßig Wahlen stattfinden. Der Erste, der ein solches System eingeführt hat, war im 19. Jahrhundert Napoleon III. in Frankreich. Es war dem im heutigen Russland sehr ähnlich. Das gesamte Verwaltungssystem des Landes ist an der Durchführung dieser Wahlen beteiligt, um die demokratische Legitimität der Regierung zu unterstützen.
Andererseits sehe ich einen Bedarf an echter Demokratie in Russland, der vor allem von unten kommt, nämlich auf der Ebene der regionalen Selbstverwaltung. Das ist weniger die Forderung nach fairen Wahlen als vielmehr der Wunsch, auf regionaler Ebene selbständig entscheiden zu können. Vor dem Hintergrund der Wahlfälschungen bleibt dieses Bedürfnis nach Demokratie leider oft unbemerkt. Aber es ist real und stimmt optimistisch.
Ich bewundere das Engagement von Menschen, die sich derzeit aktiv am politischen Leben beteiligen, und glaube daran, dass gerade solche Menschen in der Zukunft etwas verändern können. Derzeit jedoch, unter den aktuellen Bedingungen, wird ihr Tun wohl kaum zu wesentlichen Veränderungen führen. Ich will die Aktivisten nicht kritisieren und sie nicht öffentlich von ihrer Mission abbringen, aber sie gefährden sich selbst: Während sie früher ihren Job riskierten, landen sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach im Gefängnis. Gerade weil ich ja glaube, dass sie die Zukunft in der Hand haben, will ich nicht, dass sie in Haft sitzen.
Was den Zusammenhang zwischen den aktuellen Wahlen und dem bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf betrifft, so sind die aktuellen Wahlen für die Verwaltung eine Art Probelauf. Es geht nicht nur um die Darstellung der Ergebnisse, sondern auch um das Funktionieren des Systems. Peskow nannte das eine „kostenintensive Bürokratie“, und ich gebe ihm Recht. Das ist nicht nur Bürokratie, sondern eine Investition ins System. Wenn man das billig machte, würde das System nicht funktionieren – nicht, weil es nicht billiger ginge, sondern weil genau das der Sinn dahinter ist. Jetzt, ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, ist es an der Zeit, die Funktionsfähigkeit des Systems unter den neuen Bedingungen zu testen, vor allem mit Rücksicht darauf, dass das System unter Stress steht. Doch das nächste große Plebiszit wird unter einem ganz anderen Druck stattfinden. ~~~Для правительства выборы необходимы, потому что в России легитимность строится на демократических принципах. Это не означает, что у нас демократия, но именно так устроена легитимация правительства. Правительство утверждает, что все решения принимаются на основе воли народа. Поэтому требуется регулярное проведение голосований. Такая система была впервые введена Наполеоном III во Франции в 19 веке и очень похожа на то, что происходит в России сейчас. Вся административная система страны работает на проведение этих выборов, чтобы поддерживать демократическую легитимность правительства.
С другой стороны, я вижу запрос на настоящую демократию в России, который исходит, прежде всего, снизу — с уровня местного самоуправления. Это не столько требование честных выборов, сколько желание иметь возможность самостоятельно принимать решения на местном уровне. Этот демократический запрос, к сожалению, часто остается незамеченным на фоне проблем с фальсификацией выборов. Но он реален и внушает оптимизм.
Я уважаю усилия тех, кто сейчас активно участвует в политической жизни, и верю, что именно такие люди в будущем смогут что-то изменить. Однако сейчас, в сложившихся условиях, их действия, скорее всего, не приведут к существенным изменениям. Я не критикую и публично не отговариваю активистов, но считаю, что сегодня их деятельность просто опасна для них самих, — если раньше их просто снимали отовсюду, то сейчас, вероятней всего, будут сажать. Именно потому, что я считаю, что за ними будущее, мне не хочется, чтобы их сажали.
Что касается связи между текущими выборами и предстоящей президентской кампанией, то в административной логике текущие выборы являются своего рода репетицией. Важно не просто рисование результатов, а работающая система. Песков назвал это «дорогостоящей бюрократией», и я согласен с ним. Это не просто бюрократия, это инвестиция в систему. Если делать это дешево, система не будет работать, — не потому, что нельзя сделать дешевле, а потому что именно в этом и смысл. Сейчас, за полгода до президентских выборов, — время для проверки функционирования системы в новых условиях, особенно учитывая, что система находится под стрессом. Но следующий, большой, плебисцит будет проведен с совершенно другим уровнем давления.[/bilingbox]
Julia Galjamina: Die Teilnahme an Wahlen gibt Aktivisten und Wählern Hoffnung
[bilingbox]Ich finde es wichtig, an den Wahlen teilzunehmen, weil das eine Möglichkeit ist, gegen den Autoritarismus zu protestieren. Wir können und dürfen die Hoffnung nicht verlieren und müssen jede Gelegenheit nutzen, für unsere Werte einzustehen – für Frieden, Demokratie und politische Teilhabe. In jeder Situation und in jedem Kontext kann und muss man für seine Werte einstehen und entsprechend handeln, statt nur zu warten.
Es gibt drei triftige Gründe, an den Wahlen teilzunehmen: die Unterstützung des aktiven Teils des politischen Spektrums in Russland, die Repolitisierung der Gesellschaft und die Einflussnahme in den jeweiligen Städten. Die Wahlkampagne der Jabloko-Kandidaten in Weliki Nowgorod zum Beispiel ist im ganzen Land bekannt und gibt allen ein Fünkchen Hoffnung – den Aktivisten genauso wie den einfachen Wählern.
Wie viele Kandidaten überhaupt zu den Kommunalwahlen zugelassen werden, ist regional unterschiedlich. In Krasnojarsk zum Beispiel wurden alle Kandidaten zugelassen, aber ihre Zahl lässt zu wünschen übrig. Einer der Gründe dafür ist, dass es keine politische Kultur und keine Akteure gibt, die systematisch und nicht nur vor den Wahlen an die Öffentlichkeit gehen. In Jekaterinburg im bereits erwähnten Weliki Nowgorod, und im erweiterten Stadtgebiet von Moskau, wo permanent und systematisch gearbeitet wurde, gibt es viele Kandidaten, und die meisten von ihnen wurden auch zugelassen. In Belgorod wurden die wenigen unabhängigen Kandidaten nicht zugelassen, aber dort ist die Situation auch sehr angespannt.
Generell werden derzeit nicht so viele unabhängige Kandidaten aufgestellt und registriert. Aber ich finde nicht, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. In einer konkreten Stadt kann sogar ein einziger Abgeordneter eine große Stütze für die Bevölkerung sein. So hat beispielsweise der einzige unabhängige Abgeordnete in meinem Bezirk geschafft zu verhindern, dass das Parken in den Innenhöfen kostenpflichtig wird. Auch wenn nur wenige handeln, schöpfen viele daraus Hoffnung. Deshalb muss man weiter mit gutem Beispiel vorangehen, in Übung bleiben und die über Jahre gesammelte Erfahrung mit Wahlkampagnen wachhalten.~~~Мне кажется, участие в выборах важно, потому что это один из способов сопротивления авторитаризму. Мы не можем и не должны терять надежду и использовать все возможности для продвижения своих ценностей, таких как мир, демократия и политическое участие. Сегодня с двух сторон нам навязывается двойственное видение мира: страшная тьма и прекрасный свет. Только стороны света и тьмы меняются в зависимости от того, чья это пропаганда. Но нужно противостоять этой большевистской логике. В любой ситуации, в любом контексте можно и нужно продвигать свои ценности и действовать, а не просто ждать.
Можно выделить три главных смысла участия в выборах: поддержание активной части политического спектра России, реполитизация общества и локальное воздействие в каждом городе. Пример кампании, которую показывают, например, кандидаты от «Яблока» в Великом Новгороде (участники Земского съезда) становятся известными во всей стране и дают луч надежды всем — и активистам, и простым избирателям.
Ситуация с количеством и регистрацией кандидатов на муниципальных выборах различается по регионам. В Красноярске, например, кандидаты были зарегистрированы, но их количество оставляет желать лучшего. Одна из причин — отсутствие сложившейся культуры политических партий и действующих игроков, которые работали бы системно, не только в период выборов. А вот в Екатеринбурге и упомянутом Великом Новгороде, в Новой Москве, где велась постоянная системная работа, — кандидатов много и большинство из них зарегистрировали. В Самаре и Воронеже, несмотря на системную работу оппозиции, просто мало мест разыгрывается, так как проводятся довыборы, поэтому кандидатов не регистрируют. В Белгороде немногочисленных независимых кандидатов тоже не зарегистрировали, но там ситуация тоже очень напряженная.
В общем, независимых депутатов сейчас и выдвигается и регистрируется не так много. Но я не согласна, что это капля в море. В конкретном городе даже один депутат может стать большим подспорьем для местных жителей. Например, единственный депутат в моем районе смог остановить введение платных парковок во дворах. Пусть немногие действуют, но многие испытывают надежду. Поэтому важно продолжать показывать пример, сохранять практики, навыки и предвыборный опыт, наработанный годами.[/bilingbox]
Die zwei Diktaturen Russland und Belarus sind eng miteinander verwoben. Nicht nur ist Putins Russland der Garant für Lukaschenkos Herrschaft in Belarus. Auch der kleinere Nachbar kann dem großen Kriegsherren noch innenpolitisches Vorbild sein.
Die Strategien des Machterhalts moderner Diktaturen setzen weniger auf Unterdrückung als auf eine Imitation von Demokratie. Manche Experten bezeichnen diesen Ansatz als Smart Authoritarianism. Der oppositionelle russische Ökonom Sergej Gurijew schlägt den Begriff der Spin Dictatorship vor. Demgegenüber stehen Diktaturen, die sich auf bloße Gewalt und Angst stützen.
In der belarussischen Morgen-Talkshow Obytschnoje Utro verortet Gurijew das Machthaber-Gespann Putin und Lukaschenko in diesem Konzept und skizziert Szenarien für ihr Ende.
Sergej Gurijew: Wir haben Lukaschenko von Anfang an als Diktator der Angst eingestuft. Natürlich waren die Repressionen vor 2020 nicht so heftig, aber es gab sie von Beginn [seiner Herrschaft − dek] an, und zwar offen: Oppositionelle Politiker sind nicht erst vor der Wahl 2020 verschwunden, sondern auch schon zehn Jahre davor. Präsidentschaftskandidaten wurden inhaftiert. Das waren offene Repressionen. Und erinnern Sie sich, wie Lukaschenko 2020 begann, über Propaganda nachzudenken – dazu musste er Experten aus Russland einladen. Da kamen Flugzeuge voller Propagandisten an, die ihm halfen, seine Propaganda in Schwung zu bringen. Bis dahin hatte Lukaschenko nie wirklich darüber nachgedacht, dass er irgendwelche Medienmechanismen brauchen könnte. Er hatte sich einfach auf Gewalt verlassen.
Obytschnoje Utro: Er ist also von Anfang an ein Diktator der Angst, interessant. Können Sie sich an diesen Wettlauf von Lukaschenko und Putin ab etwa 2000 erinnern: „Wer von beiden ist der größere Diktator?“ In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Putin eher ein Diktator der Täuschung ist.
Ja, jedenfalls was die Anwendung von Gewalt anging, lag Putin hinter Lukaschenko zurück. In Russland hieß es immer, man müsse nach Belarus schauen, weil das, was in Belarus jetzt passiere, Russland ein paar Jahre später erreiche. Aber wir sehen Putin bis 2021/2022 wirklich als einen Diktator der Täuschung.
Die erste Auflage unseres Buchs erschien 2022 auf Englisch. Das Manuskript war im Frühjahr 2021 fertig. Damals sagten wir, dass sich Putin anscheinend bereits in diese Richtung bewegte. Abgeschlossen war diese Transformation in der ersten Woche nach Beginn des großen Angriffs auf die Ukraine 2022, als alle unabhängigen Medien geschlossen, Facebook, Twitter und Instagram blockiert wurden und Putin eine offizielle Zensur installierte, sodass man für solche Gespräche, wie wir sie gerade führen, für viele Jahre im Gefängnis landen kann. Das ist etwas, was es in Russland in den Jahren davor noch nicht gab. Aber diesen Wettlauf, den gab es tatsächlich.
Insgesamt bewegt sich das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu
Wir beschreiben auch, wie Diktatoren voneinander lernen. Diktatoren der Täuschung lernen voneinander, wie man Propaganda und Zensur am besten einsetzt. Diktatoren der Angst wiederum bilden andere Diktatoren der Angst sowie Diktatoren der Täuschung weiter. Insofern studieren nicht nur wir die Diktatoren, sondern auch sie tauschen untereinander ihre Erfahrungen aus.
Seit Beginn des großangelegten Angriffskriegs 2022 wetteifern sie jetzt, wer der Abgebrühtere ist? Zum Beispiel, wenn es um das Foltern der Bevölkerung geht? Oder wer die meisten politischen Gefangenen hat? Wer ist denn der größere Herodes, wie sehen Sie das?
Na ja, so weit wie Lukaschenko geht Putin definitiv noch nicht. Russische Oppositionelle haben noch Kontakt zur Außenwelt, wenn auch sehr beschränkt. Sogar Alexej Nawalny kann aus dem Gefängnis heraus Botschaften schicken und mit seinem Anwalt reden. Von den belarussischen Oppositionellen hört man seit Monaten gar nichts mehr. Putin macht nicht, was Lukaschenko macht: Aufnahmen aus dem Jahr 2020 durch Gesichtserkennungsprogramme jagen und die Protestierenden von damals verhaften und foltern lassen. So etwas gibt es in Russland bisher nicht. Aber insgesamt bewegt sich auch das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu.
Einige Politologen, wie zum Beispiel der Belarusse Waleri Karbalewitsch, der häufig bei uns zu Gast ist, sind der Meinung, dass Lukaschenko heute sehr fest auf seinem Thron sitzt und nicht vor hat abzudanken. Gleichzeitig werden die Schrauben [der Repressionen − dek] von Tag zu Tag fester angezogen. Sie aber schreiben im Vorwort zu Ihrem Buch, dass Einschüchterung immer ein Zeichen von Verzweiflung ist, das eher auf Schwäche als auf Stärke hindeutet. Je mehr Belarus zu einem Konzentrationslager werde, desto sicherer könne man davon ausgehen, dass Lukaschenkos Kräfte mit jedem Tag schwinden.
Ja, weil es eine Sackgasse ist. Man kann nicht mehr dahin zurückkehren, wo Belarus noch vor 2020 stand. Trotz aller Unzulänglichkeiten des Wirtschaftsmodells gab es doch einen Sektor für Spitzentechnologie, der Dienstleistungen in die ganze Welt exportierte. Belarus hatte trotz aller Probleme einen konkurrenzfähigen Wirtschaftszweig. Natürlich war das Land abhängig von Hilfe aus Russland, aber trotzdem − das, was früher war, wird nicht mehr wiederkommen. Und jetzt, wo im Land russische Truppen stehen, hat Belarus natürlich seine Souveränität verloren. Putin kann, wann immer er will, den Staatschef austauschen. Auch in diesem Sinne führt das, was Lukaschenko macht, sein eigenes Regime in die Katastrophe. Er hat keine wirkliche Wahl mehr, er ist direkt von Putin abhängig, nicht nur von Putins Geld, sondern auch von Putins Soldaten. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass sein Modell gescheitert ist.
Apropos scheitern, nicht nur sein Regime scheitert, er stürzt auch uns ins Verderben, nicht wahr? Er ist schon seit fast 30 Jahren an der Macht. Dass er seit 2020 nicht mehr abdanken kann, ist klar. Aus Ihrer Sicht als Wirtschaftswissenschaftler, wie teuer kommt uns Lukaschenkos Wunsch zu stehen, bis zu seinem Tod an der Macht zu bleiben? Kann man sagen, je länger er auf dem Thron sitzt, desto weiter wird er Belarus herunterwirtschaften?
Das sowieso, mit Sicherheit. Das haben wir auch 2011 und 2012 gesehen, als die Regime in Nordafrika und im Nahen Osten gestürzt wurden. Wir haben gesehen, dass es in einem Land, in dem jahrzehntelang ein brutaler Diktator an der Macht war, weder eine Zivilgesellschaft noch eine Opposition gibt. Und je länger der Diktator an der Macht war, desto schwieriger ist das Schicksal des betreffenden Landes nach seinem Ende. Das heißt nicht, dass die Demokratisierung schädlich ist. Das bedeutet, dass die Perspektive eines Landes schlechter wird, je länger ein Diktator an der Macht ist. Und die Schuld daran liegt nicht bei jenen Menschen, die nach dem Diktator kommen, sondern beim Diktator, der die Zivilgesellschaft zertrampelt und ausmerzt und die Wirtschaft ruiniert. Daher ist in einem Land, in dem ein brutaler Diktator jahrzehntelang alles Lebendige und Unabhängige im Keim erstickt hat, nichts Gutes zu erwarten.
Was könnten wir der Welt anbieten, sagen wir mal, wenn Lukaschenko nicht mehr wäre? Landwirtschaft? Also, wenn zum Beispiel die Schweiz für Käse und Schokolade steht und Belgien für Bier und Schokolade, womit könnte Belarus sich nützlich machen für die normale Welt?
Wie gesagt, Belarus hatte eine konkurrenzfähige Branche, nämlich die Programmierung. Aber generell ist Belarus ein ganz normales europäisches Land. Man kann sich ansehen, was in Polen oder den baltischen Nachbarländern von Belarus in diesen besagten 30 Jahren passiert ist. Das sind Länder mit hohen Einkünften geworden. Zwar jammern viele Leute, sie hätten Probleme, die Jugend wandere ab, die Wirtschaft bleibe immer noch hinter der deutschen zurück. Das stimmt alles. Aber welchen Weg zum Beispiel Polen in diesen 30 Jahren zurückgelegt hat, zeigt, um wieviel reicher Belarus sein könnte. Polens Pro-Kopf-Einkommen lag vor 30 Jahren auf demselben Niveau wie das der Ukraine vor dem Krieg. Heute ist es dreimal höher. Und Polens Beitritt zur EU und dass es trotz aller Probleme irgendwie die Korruption in den Griff bekommen und demokratische Institutionen geschaffen hat, zeigt, wie viel auch ein Land wie Belarus gewinnen könnte, wenn es den demokratischen europäischen Weg einschlagen würde.
Könnte da sozusagen die Export-Marke des „belarussischen IT-Fachmanns“ entstehen, die man auf der ganzen Welt kennt, oder …
Diese Marke gab es ja schon, nämlich bis 2020. Der High-Tech-Park war tatsächlich eine Marke, da gab es Firmen auf globalem Spitzenniveau, darunter natürlich EPAM, das man auf der ganzen Welt kennt. Natürlich litt die belarussische Wirtschaft unter der staatlichen Dominanz, aber gerade der High-Tech-Park war so eine Insel der Freiheit und der Orientierung am Weltmarkt. Aber der Gedanke, dass Belarus nur ein einziges Produkt liefern soll, ist ja eigentlich Unsinn. Belarus ist ein ganz normales europäisches Land und könnte Teil der Weltwirtschaft werden. Daran ist nichts Übernatürliches. Wir haben gesehen, wie verschiedene Länder in der globalen Arbeitsteilung ihren Platz gefunden haben. Die Slowakei zum Beispiel produziert Autos. Hätte man vor 30 oder 40 Jahren ahnen können, dass die Slowakei einer der führenden Autoproduzenten der Welt sein wird? Ja, da wurde der Tatra hergestellt, aber der war ja, wie Sie wissen, nicht das qualitativ beste Auto der Welt. Und trotzdem werden heute in der Slowakei alle möglichen Marken hergestellt. Belarus war, wie gesagt, ein Exporteur von Spitzentechnologien und hochqualifizierten IT-Dienstleistungen. Und man kann davon ausgehen, dass Belarus auch andere Sachen produzieren könnte.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie wichtig die Unterstützung durch echte demokratische World Leader für Länder ist, die diesen Weg erst noch beschreiten wollen. Wir Belarussen haben große Angst, dass es Lukaschenko nach Russlands Niederlage im Krieg, wenn es denn eine geben wird, gelingen wird, trocken aus dem Wasser zu steigen. Kürzlich hatten wir Ekaterina Schulmann in der Sendung, die mutmaßte: „So schlau, wie er ist, könnte er es durchaus schaffen, mit den Ländern des Westens in eine Art Dialog zu treten.“ Gleichzeitig finden wir in Ihrem Buch den Satz: „Wenn der Mythos der Diktatur einmal entlarvt ist, kann man ihn nicht mehr wiederherstellen.“ Wie sehen Sie das, wie wahrscheinlich ist ein Szenario, in dem Lukaschenko unbescholten bleibt und obendrein vielleicht sogar noch als Friedensstifter wahrgenommen wird?
Ja, das ist eine berechtigte Frage. Das hatten wir 2015 schon, als er sich freute: „Ich bin nicht mehr Europas letzter Diktator.“ Da gab es die Minsker Abkommen, und Lukaschenko sagte: „Der Westen braucht mich, weil ich nicht ganz so übel bin wie Putin.“ Ich habe den Eindruck, dass so etwas seit 2020 nicht mehr möglich ist. Nach den Massenrepressionen, die wir gesehen haben, nach der Folter, nach Lukaschenkos Beteiligung an dem Großangriff auf die Ukraine 2022 sehe ich keinen Weg zurück mehr. Obwohl wir auf der Welt auch schon alles Mögliche gesehen haben.
Lukaschenkos Schicksal hängt von Putins Schicksal ab
Insofern, wenn es ein größeres Übel als Lukaschenko gibt, nämlich Putin, dann kann es durchaus passieren, dass der Westen wieder nach Abstufungen von Irrsinn und Brutalität unterscheidet. Aber ich glaube nicht, dass Lukaschenko in den Klub der Zivilisierten zurückkehren kann, weil die Welt die Folter gesehen hat, weil die Welt die Misshandlungen gesehen hat, weil die Welt die gestohlenen Wahlen gesehen hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Belarus von Russland: Denn in Russland gibt es keine legitimen Politiker, die eine Wahl gegen Putin gewonnen hätten. Aber in Belarus gibt es sie. Und es hat natürlich seinen Grund, warum 2022 nicht nur gegen das Putin-Regime Sanktionen verhängt wurden, sondern auch gegen Lukaschenkos Regime. Dann war da noch die Flugzeugentführung. Da macht es schon nochmal einen Unterschied, ob man die eigene Bevölkerung foltert oder Staatsbürger westlicher Länder in Gefahr bringt. Also, ich glaube, für Lukaschenko gibt es keinen Weg zurück.
Wie stellen Sie sich dann sein Ende vor? Muss er vielleicht doch nach Den Haag? Oder gibt es ein anderes Szenario? In Belarus gibt es ja genug Menschen, die gern Gaddafis Schicksal für Lukaschenko sehen würden.
Ich glaube nicht, dass in Belarus dasselbe passieren wird wie in Libyen. Ich glaube, dass irgendwann ein Haftbefehl gegen Lukaschenko erlassen wird. Doch das Ende des Regimes wird davon abhängen, wie es in Russland weitergeht. Ein mögliches Szenario ist, dass Putin und Lukaschenko sich überwerfen. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass Putin Lukaschenko an der Macht lässt und Lukaschenko ab dem Moment, da Putin weg ist, weder Soldaten noch Geld haben wird, um sich im Sattel zu halten. Dann wird er sich irgendwohin nach Dubai oder Venezuela absetzen und das Regime in sich zusammenbrechen.
Ich glaube nicht, dass er festgenommen und umgebracht wird. Ich glaube, dass er versuchen wird zu flüchten. Jedenfalls wurde bereits 2020 deutlich, dass dieses Regime ohne Putins Unterstützung nicht lebensfähig ist. Für Russland sind das keine hohen Geldbeträge, mit denen es Lukaschenko stützt, das könnte es sich bis in die Ewigkeit leisten. Aber für Belarus ist die Unterstützung durch Russland entscheidend. Also hängt Lukaschenkos Schicksal von Putins Schicksal ab.
Auf diese Ewigkeit möchte ich genauer eingehen. Was passiert momentan mit Russlands Wirtschaft? Seit Kriegsbeginn sind schon eineinhalb Jahre vergangen … Mein Gott, seit 2014! Und dann kamen Sanktionen und nochmal Sanktionen, immer mit der Erwartung, gleich ist es mit der russischen Wirtschaft aus und vorbei – aber es geht immer weiter. Was hat Russland da zum heutigen Tag für eine Knautschzone?
Die Wirtschaft in Russland durchläuft keine Krise, sie steht nicht vor dem Untergang, aber sie wächst auch nicht, und Putin geht langsam das Geld aus. Wenn die Sanktionen weiter verschärft werden, wird er noch weniger Geld haben. Das wirkt sich unmittelbar auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld aus. Putin hat nicht Geld und Munition ohne Ende, daher kann er auch nicht immer wieder neue Gebiete erobern. Andererseits sehen wir, dass die Menge an Soldaten und Munition, die Putin zur Verfügung hat, ausreicht, um die aktuelle Frontlinie zu halten. Deswegen muss der Westen, wenn er Putin wirklich auf dem Schlachtfeld besiegen will, auch mehr liefern − mehr Waffen an die Ukraine liefern, die Sanktionen verschärfen und auch die Schlupflöcher stopfen und den Preisdeckel für den Export russischen Erdöls senken.
Stars sind immer auch Identifikationsfiguren. Die russische Gesellschaft beobachtet sehr genau, wie sich Musikerinnen und Musiker, Künstlerinnen und Künstler zum Krieg positionieren. Lassen sie sich vor den Karren der Propaganda spannen wie der Rockbarde Grigori Leps, die Sängerin Polina Gagarina oder der einstige Skandalrocker Sergej Schnurow? Ziehen sie sich zurück und schweigen, wie die Pop-Sängerin Olga Busowa? Oder sprechen sie sich klar gegen den Krieg aus und nehmen dafür auch Konsequenzen in Kauf, wie die Schlager-Ikone Alla Pugatschowa und ihr Mann, der Comedy-Star Maxim Galkin? Und was sind die Motive für die eine oder andere Haltung? Echte Überzeugung, Anbiederung oder Zwang vonseiten der Staatsmacht?
Wer sich öffentlich gegen den Krieg positioniert, dessen Karriere ist in Russland schnell beendet, Konzerte sind nicht mehr möglich. Ende August hat der Fall des Pop-Rockers Roman Bilyk für Aufsehen gesorgt, bekannt unter dem Künstlernamen Zver (dt. Raubtier). Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Bilyk wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen. Dann tauchte plötzlich ein Video auf, in dem Zver ein Konzert vor russischen Soldaten hinter der Front gibt und sich ansieht, wie die Artillerie ein paar Schüsse abfeuert. Für viele Fans eine schmerzhafte Enttäuschung. Wie auch für den Autor der Novaya Gazeta Europe, Wjatscheslaw Polowinko.
Am 21. August 2023 hat der Propangandist Semjon Pegow (auf Telegram bekannt unter dem Pseudonym War Gonzo) ein Video mit Roman Bilyk alias Roma Zver, dem Frontmann der Band Zveri verbreitet, auf dem zu sehen war, wie dieser seine Songs in der „Volksrepublik Donezk“ vor Soldaten hinter der Front spielte. Und Zver singt da nicht nur, sondern führt sich auf wie ein echter Kämpfer. Das rief heftige Reaktionen hervor, weil die Band Zveri bis dahin den umfassenden Krieg gegen die Ukraine scharf verurteilt hatte.
Um die Metamorphose von Roma Zver zu verstehen, werfen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit. Ende Mai machte der Zveri-Leadsänger in einer Bar in Samara heftig Randale, warf mit Stühlen und Sonnenblumenkernen (!), fluchte derb – mit einem Wort, er führte sich auf wie ein echter Punk. Wie steht es um die psychische Verfassung eines Menschen, der sich so verhält? Entweder ist ihm von Vornherein klar, dass das für ihn keine Folgen haben wird, oder er kann sich aufgrund von Stress (und einer nicht zu verachtenden Menge von hartem Alkohol) nicht mehr beherrschen. In Zvers Fall ist Zweiteres wahrscheinlicher: Der Musiker hatte nach Kriegsbeginn über ein Jahr lang im Netz antimilitaristische Statements veröffentlicht, und obwohl sich die Zahl seiner Konzerte nicht wirklich verringerte, standen die Zveri vonseiten der „patriotischen“ Öffentlichkeit doch ordentlich unter Druck. Ein paar Wochen nach dem Vorfall in Samara wurde ein geplantes Konzert auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum abgesagt und durch die eindeutig staatskonforme Band Tschish & Co ersetzt. Parallel dazu wurde gefordert, zu überprüfen, ob Roma Zver die ukrainischen Streitkräfte finanziell unterstützt hat. Die absolute Katastrophe für einen, der Russland nicht verlassen will.
Und plötzlich taucht Bilyk vor ein paar Wochen in Anton Beljajews Projekt LAB mit einem Song von Jegor Letow auf: Pro duratschka – (dt. Über einen Dummkopf). LAB ist ein Großprojekt zur Produktion von Coverversionen, sozusagen von Neuinterpretationen. Wichtig ist jedoch: Zu Beginn werden diese Coverversionen auf VKontakte veröffentlicht, und Roma Zver ist der einzige Interpret mit explizit antimilitaristischer Haltung.
Sowohl Zvers Teilnahme an diesem Projekt als auch das Lied darüber, dass es „im Feuer des Schützengrabens keine Atheisten“ gebe, waren bereits ein Signal, dass sich etwas verändert hatte – aber was da genau passiert war, war nicht ganz klar.
Und jetzt ist Roma Zver in die „Volksrepublik Donezk“ gefahren und ist nicht nur vor Soldaten aus Russland aufgetreten, sondern hat auch in Helm und Panzerweste beim Kanonenbeschuss mitgemacht (nur die Munition hatte ihm schon jemand zurechtgelegt). „Sehr tiefe Frequenzen, und dann das ganze Spektrum“, kommentierte er den Sound. Und dann sang er:
Genieße deine Siege, rede, verdränge, dass du schwach bist. Spar dir deine Ratschläge, Kleiner! Erzähl, erzähl, wie toll du bist.
Die ehemaligen Fans verbergen im Netz ihren Schock hinter Spott: „Der harte Alkohol zeigt Folgen“, „Alles, was mit dir zu tun hat, geht den Bach runter“, „Mädels und Jungs kämpfen – eins-zwei-drei“, „Iskander-Regen“ – und so weiter. Mit einer Zeile aus einem Zveri-Song lässt sich auch erklären, was mit Bilyk los ist: So ist es einfacher, so ist es leichter. Du löschst die Postings gegen den Krieg, singst für Russlands Soldaten, bekommst Anerkennung von Sachar Prilepin und hast mit deinen Konzerten von nun an keine Sorgen mehr. Zwei Konzerte in Moskau und Sankt Petersburg sind ausverkauft.
Doch das Drama besteht bei Roman Bilyk nicht nur darin, dass er seine Instagram-Posts gelöscht hat und an der Front für die Russen singt. Vor dem Krieg trat Roma Zver zum Beispiel für Kirill Serebrennikow ein, als dieser mit seinem Theaterlab Sedmaja studija vor Gericht stand. Dort äußerte Roma Zver Folgendes:
„Dieser Prozess lässt erkennen, was die Staatsmacht von uns hält. Wir zählen für sie gar nicht.“
„Alle Massenmedien, alle staatlichen Kanäle verbreiten Propaganda.“
„Es fühlt sich an, als wären wir alle für sie nichts als Vieh, lauter ungebildete Leute: Ihr seid Vieh, haltet still und schweigt.“
„Peskows Märchen glaube ich nicht und will sie nicht hören, weil das auch wieder lauter Geschichten für Leute sind, die Lichtjahre entfernt sind von dem, was tatsächlich bei uns passiert.“
Alles, was Zver da beschreibt, wurde nach dem 24. Februar 2022 nur noch schlimmer – und bis zu seiner Fahrt in die „Volksrepublik Donezk“ war ihm das auch völlig klar. Und trotzdem sagte er sich bewusst von seinen eigenen Ansichten los, knickte ein und verbog sich. Bedenkt man, dass Roman einen beträchtlichen Teil seiner Jugend in Mariupol und Kyjiw verbracht hat, wird sein Sinneswandel umso fataler.
Möglicherweise sitzt der Zveri-Frontmann dem Irrglauben auf, dass „es mein Land ist, auch wenn es Fehler begeht“. Vielleicht versucht Roman Bilyk, sich damit zu beruhigen, dass auch Russland offiziell gegen Kriege ist: Wie uns das staatliche Fernsehen erzählt, fängt Russland ja Kriege nicht an, sondern beendet sie nur.
Es ist nicht auszuschließen, dass Bilyk ein Strafverfahren angedroht und ein Angebot gemacht wurde, das er nicht ausschlagen konnte. Wir wissen es nicht, aber das ist jetzt auch egal.
Wie ein wucherndes Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs
Der Kompromiss, zu dem viele Prominente gezwungen sind, die in Russland geblieben sind, ließ Roman in Schäbigkeit und Heuchelei abrutschen (was den „Patrioten“ nach wie vor missfallen könnte, aber mit ihrem Repertoire an Negativität werden sie sich Bilyks Meinungsumschwung mit der Phrase „Hat er’s endlich kapiert“ erklären). Was mit dem Frontmann von Zveri passiert, ist zudem insofern doppelt traurig, als hier vor unseren Augen ein Mensch bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Wie bei einem wuchernden Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs. Und es bleibt einem nichts anderes übrig als zuzusehen, wie das Ende naht.
Roma Zver ist natürlich nicht der Erste, der sich so verändert. Nicht nur durch psychologische Manipulation sagt man sich von seiner Meinung und seiner Vergangenheit los, sondern auch aus banaler Dummheit: Erinnern wir uns nur an Maria Schukschina, die ihr Gedenken des eigenen unter Stalin erschossenen Großvaters gegen eine Vergötterung Stalins für seine „Bewahrung der Kirche“ (!) eintauschte. Aber weder Schukschina noch Grigori Leps oder Dima Bilan, die in Videos über Kinder aus dem Donbass mitspielen, noch Valentina Talysina und Alexander Paschutin lösen eine so schwere Enttäuschung aus: Von denen war nichts anderes zu erwarten. Hier jedoch wird ein Jugendidol dekonstruiert – noch dazu ein Rocker (wenn auch ein sehr poppiger). Viele glauben – übrigens zu Unrecht –, dass einer, der Rock spielt, automatisch etwas vom Leben begriffen hat. Das ist eine absolute Illusion: Die Leute aus der Rock-Szene, die sich gegen den Krieg geäußert haben, kann man an einer Hand abzählen. Auf jeden Juri Schewtschuk kommt ein Dutzend Bands wie KnjaZz und Tschaif.
Das größte Unglück für Roma Zver aber ist, dass er mit dem Bewusstsein weiterleben muss, dass eine Kanone seiner ersten Heimat seine zweite Heimat beschossen und er mit Vergnügen dabei zugesehen hat. Schlimm ist nicht nur, dass Roma Zver den Krieg unterstützt, sondern dass er das auch noch geil findet. Kannibalismus ist ekelhaft – bis du den ersten Bissen Menschenfleisch kostest. Roman Bilyk scheint tief in sich drinnen einen tierischen Hunger verspürt zu haben.
Wessen Jugend beim Sound von Rajony-kwartaly (dt. Bezirke und Wohnblocks) blühte, der steht jetzt ebenfalls vor der Wahl. Die Musik der Zveri weiterhören, als ob nichts gewesen wäre, weil es „einfach eine so große Liebe“ ist? Oder „Sorry, Roma, ich hau ab“? Die Entscheidung scheint eindeutig – aber das scheint nur so, denn wir wissen nicht, wie viele Menschen, die eine ähnliche Verzweiflung durchgemacht haben wie der „echte Punk“ Roma Zver, genau solche Kompromisse eingehen wie ihr Idol. Nachdem auch „Helden bereit sind, für Geld zu sterben“, wieso sollen die anderen besser sein? Erst recht, wo doch die Menschen in der großen Masse gar keine Helden sind.
Alexander Gronsky ist einer der wenigen Fotografen, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Russland geblieben sind. Er arbeitet an einer Serie von Bildern, auf denen der scheinbar kaum veränderte Moskauer Alltag untergründig im Zeichen unterschiedlicher Formen aggressiver militaristischer Propaganda verläuft.
dekoder sprach mit dem berühmten Moskauer Stadtlandschaftsfotografen über sein aktuelles Arbeiten, das anschließt an Moskau während des Krieges, eine Sammlung vom Juli 2022.
dekoder: Hast du das Gefühl oder beobachtest du, dass sich die Atmosphäre auf den Straßen Moskaus in diesen eineinhalb Jahren Krieg verändert hat?
Alexander Gronsky: Es wirkt, als hätte sich gar nichts verändert. Nur die Kriegspropaganda ist mehr geworden, aber davon gab es eigentlich auch vor dem 24. Februar 2022 schon viel, nur hat sie niemand ernst genommen. In vielerlei Hinsicht waren diese fehlenden sichtbaren Veränderungen in meinem Umfeld für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich befinde mich gewissermaßen inmitten der Prozesse und Ereignisse, doch die sind als solche fast unsichtbar.
Was bringen dir deine Streifzüge durch Moskau mit dem Fotoapparat persönlich, wofür nimmst du das alles auf, welchen Sinn siehst du darin?
Für mich persönlich ist das eine Möglichkeit, mich zu konzentrieren und weniger in Panik zu geraten. Die Frage nach dem Sinn ist schwieriger, die verschiebe ich in die Zukunft. Das heißt, für mich ist klar, dass das Geschehen zur „unbequemen Geschichte“ gehören wird, die man lieber vergessen wollen wird, also müssen wir jetzt „unbequeme Archive“ für die Nachwelt anlegen.
Fallen dir auf den Straßen Moskaus, abgesehen von den Propagandaplakaten und anderen „neuen“ Elementen „städtischer Ausgestaltung“ in Kriegszeiten, die deine Fotos zeigen, noch andere Spuren des Kriegs auf? Kriegsversehrte, Z-Aufkleber, Kriegsgerät, Folgen von Drohnenattacken, „Z-patriotische“ T-Shirts und dergleichen? Sind auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten Gespräche über den Krieg zu hören?
Die Drohnenattacken sind die ersten Zeichen eines realen Kriegs, die in Moskau aufgetreten sind. Doch ich glaube, die, die hier geblieben sind, haben sich gedanklich schon auf das Schlimmste vorbereitet – diese Explosionen haben niemanden wirklich schockiert. Ansonsten ist alles wie immer, man geht shoppen und Cocktails trinken.
Ist es im Vergleich zu den Jahren davor schwieriger geworden, auf der Straße zu fotografieren? Hat sich die Reaktion der Passanten oder vielleicht auch der Polizei auf einen Mann mit Fotoapparat verändert?
Nein, den Eindruck habe ich nicht.
Wofür lebt derzeit die Moskauer oder generell die russische Fotografenszene?
Die russische Fotografenszene lebt jetzt im Ausland. Die paar Fotografen, die geblieben sind, leisten eine wichtige Arbeit, aber sie bilden keine Szene. Es fühlt sich leer an. Allerdings hilft das, die Faulheit zu überwinden, auf einmal wirkt das Argument: „Wenn ich das jetzt nicht fotografiere, wird es womöglich keiner je fotografieren.“
Die USA hätten Russland einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, Putin gehe gegen eine globale Verschwörung der Eliten vor, die NATO betreibe in der Ukraine geheime Labore zur Herstellung von Biowaffen … Nicht nur in Russland, auch im Westen können solche Erzählungen in Teilen der Gesellschaft verfangen.
Will man sie mit Fakten vom Gegenteil überzeugen, wird man nicht selten selbst zum Teil der Verschwörung und Gehilfen der „Lügenmedien“ abgestempelt. Redet man nicht miteinander, riskiert man weitere Polarisierung.
Die Redaktion von Cherta versucht, dieses Dilemma aufzulösen und greift auf eine alte britische Rechtspraxis zurück.
Bei Begegnungen mit Menschen, die den Krieg unterstützen und die Thesen der russischen Propaganda reproduzieren, finden wir oft keine Basis für ein konstruktives Gespräch. Bei aller Überzeugung, es besser zu wissen, stehen wir diesen Thesen, die Fakten und Realität absichtlich verzerren, doch hilflos gegenüber. Aber was, wenn wir mal das Weltbild unseres Gegenübers annehmen und auf Grundlage seiner Realität mit ihm diskutieren?
Realitäten
1843 fügte der Glasgower Unternehmer Daniel M'Naghten in London Edward Drummond, dem Privatsekretär von Premierminister Robert Peel, eine tödliche Verletzung zu.
Vor Gericht stellte sich dann heraus, dass M'Naghten unter Verfolgungswahn litt. Er glaubte, die Regierung und der Premierminister persönlich wollten ihm auf jede erdenkliche Weise schaden und hätten es auf seine Geschäfte und sein Leben abgesehen. Um sich und sein Unternehmen zu schützen, hatte M'Naghten seinen Feind töten wollen und auf Edward Drummond geschossen, im Glauben, es handle sich um Robert Peel.
Das Gericht sprach M'Naghten frei, was in der britischen Gesellschaft für Empörung sorgte. Königin Victoria schrieb zornige Briefe, und das House of Lords machte sogar von dem Recht Gebrauch, eine Erklärung der Richter einzufordern (ein als formal geltendes Recht, das kaum je in Anspruch genommen wurde), ob ein unzurechnungsfähiger Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden könne und nach welchen Kriterien das Gericht diese Verantwortung beurteilen wolle.
So entstand ein Dokument, das im Weiteren „M'Naghten rules“ genannt wurde und nicht nur die Theorie und Praxis des Rechtswesens, sondern auch die Entwicklungen in Psychologie und Soziologie maßgeblich beeinflusste.
Die Schlüsselfrage der Adeligen an die Richter lautete: „Wenn ein Mensch, dessen Wahrnehmung durch einen krankhaften Wahn beeinträchtigt ist, ein Verbrechen mit schweren Folgen begeht, ist er dann von seiner juristischen Verantwortung befreit?“ Darauf antworteten die Richter: „Wir müssen die Schuld so beurteilen, als wären die der krankhaften Verwirrung geschuldeten Annahmen tatsächlich real.“ Über solche Menschen sei also nicht anhand der realen Fakten zu urteilen, sondern anhand der „Fakten“ ihrer krankhaften Vorstellung.
Wenn M'Naghten in seinem Verfolgungswahn glaubte, der Premierminister wolle ihn vernichten und er habe keine andere Möglichkeit sich zu wehren, als ihn zu ermorden – dann kann man das als Notwehr betrachten. Auch wenn Robert Peel nichts dergleichen gemacht und nicht mal von M'Naghtens Existenz gewusst hat.
Hätte M'Naghten jedoch Drummond in der Annahme ermordet, dieser schlafe mit seiner, M'Naghtens, Frau, dann hätte man ihn verurteilen müssen, weil es für einen solchen Mord nicht einmal in der imaginierten Realität des Wahns eine juristische Legitimität gebe.
Raus aus der Komfortzone
Wenn wir jetzt mit Z-Patrioten oder einfach mit Menschen, die das Weltbild der russischen Propaganda übernommen haben, diskutieren und in eine Sackgasse geraten, dann liegt das an diesen Diskrepanzen in der grundsätzlichen Beziehung zur Realität. Sie sagen: „Die Ukraine wollte Russland angreifen“, wir antworten: „Wollte sie nicht.“ Damit ist das Gespräch zu Ende oder besteht nur mehr darin, sich gegenseitig sinnlose Versatzstücke um die Ohren zu schlagen. Sinnlos deswegen, weil wir nicht in derselben Realität leben: In der Realität unseres Gegenübers gibt es einfach keine Fakten, die widerlegen, dass die Ukraine Russland angreifen wollte oder dass die USA böse Absichten verfolgen.
Genauso bestand M'Naghtens Weltbild ausschließlich aus Beweisen dafür, dass der Premierminister sein Leben und sein Unternehmen zerstören wollte.
Was aber, wenn man nun in Gesprächen mit der gegnerischen Seite die M'Naghten rules befolgen würde? Wenn man also die Rechtmäßigkeit, Angemessenheit und Notwendigkeit des Kriegs auf Grundlage jenes Weltbildes beurteilt, das unser Opponent vertritt?
Wozu man in Gesprächen mit Opponenten die M’Naghten rules beachten sollte
Wozu sollte man das tun? Erstens sind wir überzeugt, dass es für die, die diesen umfassenden Angriffskrieg entfesselt haben, in keinem Weltbild eine Rechtfertigung gibt und nicht geben kann. Auch nicht in einem völlig verqueren. Das heißt, am Ende dieses Gesprächs wird unser Opponent entweder völlig aus der Bahn geworfen oder gezwungen sein, sich seine offen menschenfeindliche Logik einzugestehen. Beide Fälle drängen ihn aus seiner Komfortzone heraus.
Was uns zum zweiten Grund führt: Spätestens seit Grigori Judin und andere kluge Köpfe uns das klar und deutlich erklärt haben, wissen wir, warum eine große Mehrheit das Weltbild der Propaganda so bereitwillig annimmt. Weil ihnen das nämlich hilft, an ihrem inneren Komfort festzuhalten. Für die Menschen ist es bequem und wohltuend, das Gefühl zu haben, dass das Land, in dem sie leben und arbeiten, die Regierung, der sie sich fügen, immer richtig und gerecht handelt. Äußerst unbequem und unangenehm wäre hingegen die Einsicht, dass das eigene Land ein Aggressor ist, der einen blutigen Krieg ohne Aussicht auf ein Ende angezettelt hat.
Versucht man, jemandem mit diesen Grundeinstellungen direkt vor den Kopf zu stoßen, so ruft das nichts als Abwehr hervor. Geht man jedoch nach der Logik der M'Naghten rules vor, ist es durchaus möglich, jemanden aus der Komfortzone herauszuholen und dafür zu sorgen, dass die gewohnten Abwehrmechanismen nicht mehr das schöne Gefühl erzeugen, alles laufe perfekt und geschehe im Dienste des Guten.
M'Naghten rules im Praxistest
Im Sinne der M'Naghten rules versetzen wir uns nun also in das Weltbild unseres Gesprächspartners hinein. Wir verzichten darauf, die Ausgangsposition zu bestreiten: Der Westen verfolgt unter Führung der USA das Ziel, Russland zu vernichten, und zwar mithilfe der Ukraine, die mit Sicherheit unser Land angegriffen hätte.
Zu der Logik der Unvermeidlichkeit des Kriegs angesichts des ukrainischen Angriffs kann man Folgendes fragen:
Wo hätte die Ukraine angegriffen? Es ist völlig klar, dass sie nicht unmittelbar in russisches Territorium einmarschiert wäre. Russland ist eine einflussreiche, gefürchtete Atommacht. Gefürchtet sowohl von der Ukraine als auch von ihren westlichen Herrschern. Sogar jetzt noch, nach eineinhalb Jahren Krieg, lassen sie lieber die Finger von russischem Territorium: ein paar wenige Diversionsgruppen und verirrte Geschosse – mehr nicht. Dabei hätten sie die Krim angreifen können! Da aber unsere Truppen, die von der Krim her anrückten, gleich in den ersten Tagen [des Krieges] ein riesiges Gebiet rund um die Halbinsel einnahmen, fasste die Ukraine nie einen Angriff auf die Krim ins Auge: Sie hatte dort kaum Truppen oder Verteidigungssysteme.
Die Ukraine hatte es also offenbar auf Luhansk und Donezk abgesehen, wir aber lassen unsere Leute nicht im Stich.
Aber Russland hätte doch den Schlag gegen diese Republiken abwehren können, wenn es einfach seine Truppen auf deren Gebiet stationiert hätte. Dafür hätte es ja auch nicht diesen großen Angriffskrieg gebraucht, all diese Todesopfer und Zerstörungen.
„Die ukrainische Regierung ist doch so unversöhnlich und hasserfüllt, dass sie trotzdem angegriffen hätte, trotz russischer Truppen.“
Russland würde dann viel besser dastehen als jetzt. Ist es denn nicht viel besser, einen Verteidigungskrieg zu führen als einen Angriffskrieg? Die Ukraine hat nicht einmal jetzt, nach mehreren Wellen der allgemeinen Mobilisierung, ausgebildet, kampferprobt und mit westlichem Kriegsgerät bewaffnet bis an die Zähne, eine Chance gegen die befestigten Abwehranlagen der Russen. Im Februar 2022 hätte sie einfach innerhalb weniger Wochen ihre ganze Armee dort verpulvert.
Und ist es etwa nicht günstiger, vor aller Welt nicht als Aggressor dazustehen, der auf fremdes Territorium einmarschiert ist, um Tod und Zerstörung zu bringen, sondern als Beschützer?
Wir lassen unsere Leute nicht im Stich! Aber eigentlich haben wir durch den Krieg doch die mobilisierten Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk erst recht in den Kampf gegen die befestigten Stellungen der ukrainischen Armee geschickt. In den vergangenen eineinhalb Jahren Krieg sind in diesem Gebiet um ein Vielfaches mehr Menschen ums Leben gekommen als zuvor in acht Jahren Widerstand gegen die Ukraine.
„Wir mussten den USA und der NATO einen Riegel vorschieben, die bis an unsere Grenzen vorrückten und uns unmittelbar bedrohten.“
Natürlich mussten wir das. Aber hat der Krieg dieses Problem etwa gelöst? Ganz im Gegenteil. Finnland und Schweden sahen sich durch den Krieg dazu veranlasst, der NATO beizutreten, und damit sind es von Sankt Petersburg bis zu möglichen Stützpunkten der Allianz nur mehr höchstens 200 Kilometer. Von „Anflugszeiten“ braucht man jetzt gar nicht mehr anzufangen. Noch wurde die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen, aber sie wird bereits mit deren Waffen ausgerüstet, und dieser Prozess ist nicht mehr aufzuhalten.
Und was die USA betrifft, die sind mittlerweile eigentlich die größten Nutznießer der russischen Aggression gegen die Ukraine. Noch dazu vor allem der unsympathischste und unverschämteste Teil der Eliten dieses Landes: Die Rüstungsindustrie und die Erdölkonzerne. Die amerikanischen Waffenproduzenten hätten am 24. Februar ein rauschendes Bankett zu Putins Ehren geben müssen – er hat ihnen für viele Jahre im Voraus Milliardeneinkünfte gesichert. Und die Erdölkonzerne haben kurz vor dem Krieg alle Aktiva im Bereich der Schiefergasförderung aufgekauft und unfassbare Gewinne eingefahren, als wegen des Kriegs die Gaspreise durch die Decke gingen. Vielleicht haben sie ja auch wirklich die Ukraine gegen Russland scharfgemacht, aber nie hätten sie so profitiert, wenn Russland nicht selbst diesen vollumfänglichen Krieg begonnen hätte.
Wie es aussieht, gab es für die militärische Spezialoperation keine Grundlage. Der Krieg war nicht nur nicht unvermeidlich, sondern sogar der schlechteste Ausweg aus der Situation. Weder hat dieser Krieg die USA geschwächt, noch hat er die Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk geschützt, noch Russland vor der NATO bewahrt. Dafür hat er zehntausenden Menschen das Leben gekostet und viele Millionen in die Flucht geschlagen. Und je länger er dauert, desto schlimmer werden die Folgen für Russland.
„Jetzt, wo der Krieg nun mal begonnen und am Laufen ist, müssen wir unserem Land einzig den Sieg wünschen.“
Stimmt. Aber was genau verstehen wir unter Sieg? In diesen eineinhalb Jahren hat uns keiner gesagt, was das Ziel dieses Kriegs ist und worin der Sieg bestehen soll. Ständig ertönt das Wort Sieg, ohne dass wir uns Gedanken über die Bedeutung dieses Wortes machen. In Wirklichkeit haben wir keine Ahnung und können nicht beschreiben, was der Sieg ist. Keiner kann das. Weil dieser Krieg keinen Sinn hat und es nicht um Russlands Interessen geht. Nur um Tod und Zerstörung.
„Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt die Redaktion des russischsprachigen Exilmediums Meduza über den Artikel, in dem sie Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt.
Darunter sind Aussagen von Personen aus Russland und seinen Nachbarstaaten, aber auch aus Deutschland und Österreich. In vielen finden sich Sorgen um die eigene Zukunft im Falle einer militärischen Niederlage Russlands. Einige spiegeln auch Phrasen und Narrative aus der russischen Propaganda wider. Auffällig ist, dass in nur einem der veröffentlichten Kommentare die ukrainische Bevölkerung vorkommt.
Ähnliche Erkenntnisse gewann auch das russische Forschungskollektiv Laboratorija publitschnoi soziologii (dt. Labor der öffentlichen Soziologie) in zwei Studien zur Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine. In ihrem Fazit Ende 2022 heißt es: „Ein erheblicher Teil der Unterstützung für den Krieg ist in der heutigen russischen Gesellschaft eine passive Unterstützung. Die Nicht-Gegner des Krieges würden es vorziehen, dass dieser nie begonnen hätte und wünschen sich, dass er bald endet. Und ein russischer Sieg ist für viele von ihnen sogar nur das geringere ,Übel‘.“
Der Krieg ist zu Ende, wenn eine der beiden Seiten gewonnen hat. Eine Niederlage würde für Russland eine nationale Demütigung bedeuten, das darf man nicht zulassen. Folglich müssen wir gewinnen – wir haben keine andere Wahl mehr. Die Ukraine will keinen Frieden. [Meduza: Ist das so? Das offizielle Kyjiw behauptet nur, es wolle alle von Russland annektierten Gebiete wieder zurückholen.] Die Ukrainer fordern immer mehr Waffen und beschießen russische Städte. Es ist schon viel zu viel Blut vergossen worden, um jetzt zu sagen: „Danke, das war’s. Lasst uns auseinandergehen.“
Alexej, 24, Jakutsk
Die Frage [von Meduza an die Leser nach Gründen, den Krieg zu unterstützen] ist nicht korrekt formuliert. Ich unterstütze den Krieg nicht, aber ich will auch nicht, dass Russland verliert. Dann wird es für alle noch schlimmer. Die Welt, wie wir sie kennen, wie wir sie gewohnt sind, wird mit Sicherheit zusammenbrechen, und es kommen noch dunklere Zeiten. Der Krieg ist ein Fehler, aber es darf keine Niederlage geben.
Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg
Pawel, 30, Deutschland
Ich unterstütze den Krieg nicht, habe aber beschlossen, diesen Kommentar zu schreiben, weil die, die versuchen, Rechtfertigungen für diesen Krieg zu finden, oft mit Unterstützern gleichgesetzt werden.
Ich bin wütend auf beide Seiten in diesem Konflikt. Auf Russland, weil es diesen dummen, blutrünstigen Krieg begonnen hat, der jeden Tag zu sinnlosem Töten führt. Auf die Länder, die die Ukraine unterstützen, bin ich wütend, weil sie nicht dazu aufrufen, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen, also das sinnlose Töten zu beenden. [Meduza: Ist das so? Nein. Die westlichen Partner haben mehrfach von den russischen Machthabern gefordert, den Krieg zu beenden.] Stattdessen versorgen sie [diese Staaten] das Land immer weiter mit Waffen, obwohl sie wissen, dass das nur noch mehr Opfer bringen wird.
Anonymer Leser, 38, ohne Ortsangabe
Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es war ein irrsinniger Fehler, ihn zu beginnen, aber jetzt muss man ihn gewinnen, sonst wartet auf uns das Leid der Besiegten. Putin unterstütze ich nicht, zum Teufel mit ihm.
Oleg, 27, ohne Ortsangabe
[Ich unterstütze den Krieg], weil ich denke, dass der „Friedensplan“, den Selensky vorgebracht hat und den der „kollektive Westen“ unterstützt, Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit einen solchen Schaden zufügen würde, dass es daran zerbrechen könnte. Und mir ist bewusst, dass sich [in diesem Fall] mein Wohlstand, meine Sicherheit und meine Perspektiven stärker verschlechtern, als wenn die russische Armee den ukrainischen Streitkräften so sehr schadet, dass sie danach bei einem Friedensschluss mehr Kompromisse eingehen müssen.
Mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt
Anonymer Leser, 36, Tjumen
Ich unterstütze den Krieg nicht im Sinne der Z-Patrioten. Am 24. Februar [2022] war ich geplättet. Als Bürger der Russischen Föderation halte ich den Einmarsch der Truppen in die Ukraine zwar für einen Fehler, aber ein Abzug wäre ein Verbrechen. Ich habe nicht vor, die nächsten 20 Jahre Reparationen für Fehler zu bezahlen, die andere begangen haben. Mit der Verliererseite wird niemand reden.
Zur Waffe greifen werde ich nicht. Man kann sagen, ich bin ein Beobachter, der nicht für die Ukraine ist. Ich war vor dem Maidan dutzende Male dort, ich weiß Bescheid, wie sich die Stimmung und Gesetze [im Land] verändert haben. Wenn dort ein europäischer Staat entstehen sollte, dann einer, der mit Francos Spanien oder Portugal unter Salazar vergleichbar ist und sich keinen Deut von Putins Russland unterscheiden würde.
Viktoria, 28, Sankt Petersburg
Am Anfang habe ich [den Krieg gegen die Ukraine] abgelehnt, wie alle kriegerischen Aktivitäten. Aber mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt, die Schadenfreude über den Beschuss der Krim-Brücke, die aktive Aufrüstung der Ukraine durch den Westen – da wurde mir klar, dass die Russophobie und andere Dinge, die ich früher für stumpfe Propaganda gehalten hatte, nicht immer gelogen sind. Krieg bedeutet immer Leid, aber manchmal sind die unpopulären Entscheidungen die richtigen.
Nikolaj, 27, Österreich
Ich finde den westlichen Standpunkt nicht ganz korrekt und stimme Putins Terminologie von der monopolaren Welt mit doppelten Standards zu. Meiner Meinung nach hat der Westen das Boot selbst ins Wanken gebracht und macht nun Russland dafür verantwortlich. Darüber hinaus führen die stetige finanzielle Unterstützung der Ukraine und die kontinuierlichen Waffenlieferungen dazu, dass das ukrainische Regime den Krieg weiterführt und sich nicht auf Verhandlungen einlässt.
Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke
Artjom, 40, Berlin
Ich unterstütze nicht in erster Linie den Krieg, sondern das russische Volk und Russlands Interessen. Ich war zuerst entschieden dagegen, aber im Laufe der Entwicklungen habe ich meinen Standpunkt geändert.
Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland und habe noch nie solche Propaganda gesehen. Die westlichen Politiker und Medien haben eine absolut einseitige Position eingenommen: Russland ist der Aggressor, die Ukraine ein Heldenstaat; Putin hat immer Unrecht, und Selensky redet man nach dem Mund. Alle, die eine andere Position vertreten, werden aus dem Informationsfeld gedrängt und „gecancelt“.
Die westeuropäischen Staaten erweisen sich als vollkommen willenlos und handeln auf Befehl der USA. Die Ukraine wird direkt von den Amerikanern kontrolliert. Dieser Konflikt beweist endgültig, dass es in Westeuropa keine und auch in Osteuropa kaum noch unabhängige Staaten gibt.
Sergej, 27, Perm
Ich stehe hinter dem Vorgehen meines Präsidenten und meines Landes. Ja, anfangs habe ich den Sinn dieser ganzen „Operation“ nicht wirklich verstanden, aber mit der Zeit habe ich die russophoben Äußerungen vonseiten der Ukraine als auch der EU und der USA gesehen. Jeder, der kritisch denken kann und auch nur irgendwie bei Trost ist, weiß: Russland ist kein „Terrorstaat“, wir verteidigen nur unsere Interessen und unsere Souveränität. Daher unterstütze ich wie die meisten russischen Staatsbürger diese militärische Spezialoperation in vollem Umfang, und wenn es erforderlich ist zu kämpfen – werde ich kämpfen.
Anonymer Leser, 30, Astana
Innerhalb eines Jahres sind [meine] Autoritäten und moralischen Vorbilder zu Verrätern geworden (die den Bürgern des eigenen Landes Böses wünschen, die zu Sanktionen aufrufen, anstatt zu versuchen, sie aufzuheben), zu Schandmäulern (die finden, wir sollten uns ergeben und die Schuld auf uns nehmen), zu Schwächlingen und Lügnern.
Ich finde auch jetzt noch, dass Russland diesen Krieg nicht hätte beginnen sollen, das war ein großer Fehler. Aber die Art von Ausgang, den jene [Politiker] vorschlagen, auf die ich [früher] gehofft habe, ist peinlich, schmerzhaft, erniedrigend und verlogen. Da warte ich lieber auf Putins Nachfolger: In Russland gibt es genug kluge Köpfe.
Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke. Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist und möglichst wenige Menschen darin umkommen – vor allem keine Russen, aber auch keine Ukrainer.
Ruslan, 28, Kasan
Ich bin nicht für den Krieg, aber verurteile Russland auch nicht dafür. Meines Erachtens hat Russland dadurch, dass es diesen Krieg angefangen hat, seine diplomatische Schwäche und Unfähigkeit zur Einigung mit seinen Nachbarländern gezeigt. Ich teile aber nicht die Sichtweise jener, die Russland schon mit dem faschistischen Deutschland vergleichen.
Erstens hatte die Ukraine die Wahl, sie hätte in den ersten Tagen des Krieges, als alles noch nicht so weit fortgeschritten war, mit uns verhandeln und unsere Forderungen erfüllen können. Sie hätte Territorium verloren, aber wäre als Staat bestehen geblieben. Ist etwa Territorium wichtiger als Menschenleben? Daher trägt auch die Ukraine eine Teilschuld am Tod jener Menschen, die getötet wurden. Ich bin mir sicher, dass die Menschen in jenen Gebieten, die an Russland fallen würden, keinesfalls schlechter leben würden. Vielleicht sogar in mancher Hinsicht besser. [dekoder: Die seltenen Berichte aus bereits von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine zeichnen ein anderes Bild. Sie thematisieren häufig Verfolgung, Haft und Folter von Angehörigen ukrainischer Soldaten und zivilgesellschaftlichen Aktivisten.]
Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen
Murad, 28, Moskau
Mag unsere Regierung auch korrupt und ineffektiv sein, so stellt die Ukraine doch eine Gefahr für unsere Grenzen im Süden dar. Ohne die Schwarzmeerflotte auf der Krim verlieren wir den Einfluss im Schwarzen Meer und im Kaukasus. In den Jahren 2014 bis 2022 haben alle ukrainischen Regierungen aktiv verkündet, dass sie die Krim und die Gebiete im Osten mit Gewalt oder auf diplomatischem Wege zurückholen werden. Das sind unmissverständliche Drohungen.
[Zum Vergleich:] Jedes beliebige Land in Europa oder den USA wendet selbstverständlich Gewalt an, wenn es seine Grenzen bedroht sieht. Ihre aktuelle Rhetorik zeigt, dass sie mit zweierlei Maß messen.
Dimitri, 24, Moskau
Die Idee, diesen Krieg zu beginnen, unterstütze ich nicht, aber ich bin auch nicht dafür, ihn jetzt zu beenden. Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen. Die Staatsmacht lässt alle in Ruhe, die studieren oder etwas machen, das zur Verteidigung beiträgt, daher lässt sich der Krieg unter dieser Regierung überleben.
Aus dem Ausland hört man nur Gerede über die finstere Zukunft [Russlands] oder über unsere Entmenschlichung. Da bleibe ich lieber bei meinen Landsleuten, als auf das Wohlwollen irgendeines Podoljak [Mychajlo Podoljak, Berater des Leiters des ukrainischen Präsidialamts] oder eines amerikanischen Beamten zu hoffen, der am Krieg verdient.
Dass ein Vertrauter von Putin den Kreml direkt herausfordert und mit schweren Waffen auf die Hauptstadt zumarschiert, erschien am 23. Juni ungeheuerlich. Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“.
Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben.
War das nun ein Militärputsch? Еine Spaltung der politischen Elite? Ist Putin wirklich angezählt? The Bell hat mit dem Politikwissenschaftler Grigori Golossow gesprochen.
Denis Kassjantschuk: Gleich nach dem Aufstand waren sich westliche Experten relativ einig, dass Putins Regime einen schweren Schlag erlitten habe. Ist das tatsächlich so?
Grigori Golossow: Ich weiß nicht, wieso sie das denken. Eigentlich hat Putin ein ernstes Problem, das ihm schon lange bewusst war, verhältnismäßig leicht gelöst – das Problem Prigoshin. Wie hätte Putin denn sonst erreichen können, dass sich die Wagner-Strukturen dem Verteidigungsministerium unterordnen, was ganz klar das Ziel der russischen Staatsmacht war.
Wie wird Prigoshin nun einen neuen Platz für sich finden?
Das ist die Frage. Aber Tatsache ist, dass jene, die am Aufstand beteiligt waren, nicht mehr wie früher Putins Vertrauen genießen werden (wenn sie es denn je genossen haben). Und insgesamt hat der russische Präsident infolge der jüngsten Ereignisse seine Kontrolle über die Sicherheits- und Machtstrukturen eher gestärkt.
In Russland wird oft von einem Kampf der Eliten gesprochen, von einem „Krieg zwischen unterschiedlichen Türmen des Kreml“. Aber wirklich manifestiert hat sich dieser Kampf für das breite Publikum nie. Ist Prigoshins Aufstand eine solche Manifestation? Oder ist Prigoshin eine zufällige Erscheinung, eine Randfigur, deren Handlungen die Prozesse in den russischen Eliten nicht widerspiegeln?
Ein Großteil dessen, was über die „Türme des Kreml“ gesagt wurde, war reine Phantasie. Was Prigoshins Handlungen betrifft, ist klar, dass er von der herrschenden Klasse ziemlich weit entfernt stand und dort kein sonderlich großes Vertrauen genoss. Mehr noch, er machte nie einen Hehl aus den tiefen Zerwürfnissen, die zwischen ihm und dieser Klasse bestehen. Prigoshins Aufstand lässt sich also nur im weitesten Sinne als Manifestation dessen interpretieren, was in den russischen Medien normalerweise als „Spaltung der Eliten“ bezeichnet wird.
Viele Beobachter fragten sich in den Monaten vor dem Aufstand: Warum stopft Prigoshin keiner das Maul? Warum lassen sie ihn vor aller Welt den Verteidigungsminister und den Generalstabschef grob beschimpfen? Und bedeutet das, dass die Situation für den Kreml außer Kontrolle gerät? War dem so?
Das ist eine ziemlich naive Frage, wenn man bedenkt, welch kolossale Rolle die Söldnertruppe Wagner bis zuletzt auf dem Schlachtfeld spielte. Wie hätte man sie aus dem Weg räumen können, wenn doch sie es waren, die Bachmut eingenommen haben. Und das war die entscheidende Schlacht in der vorangegangenen Etappe der Kampfhandlungen.
Genau das ist ja der Punkt, dass Prigoshin für Putin zum Problem wurde, weil man ihn nicht ausschalten konnte. Man musste ihn aber ausschalten, weil seine politischen Ambitionen offensichtlich wurden.
Wie kamen diese Ambitionen zum Ausdruck?
Prigoshin strebte danach, als politische Figur in der Öffentlichkeit zu stehen. Er machte zutiefst politische Vorwürfe – die Regierung sei ineffektiv, deshalb sei die herrschende Klasse ineffektiv, korrupt und unfähig, die Interessen von Volk und Staat zu vertreten. Das ist eine populistische Position, die bei Wahlen gut funktioniert. Ich glaube zwar nicht, dass Prigoshin in nächster Zeit bei irgendwelchen Wahlen kandidieren wollte. Aber dass er schon begonnen hatte, sich nicht nur als militärischer Führer, sondern auch als Politiker einen Namen zu machen, das war ganz offensichtlich.
Und ich nehme an, für Putin war das ein Teil des Problemkomplexes, der mit Prigoshins mangelhafter Loyalität zu tun hatte. Dieses Problem ist aus Putins Sicht jetzt gelöst. Und ich sehe das genauso.
Es zeigt sich: Solange Putin an den Kontrollhebeln sitzt, hat Prigoshin keine Chance, in Russland eine politische Rolle zu spielen. Wenn sich die Situation grundlegend ändert und Prigoshin dann noch lebt und er sein in den letzten Monaten erarbeitetes politisches Kapital weiterentwickeln will, dann können sich für ihn durchaus realistische Perspektiven auftun. Sein politisches Kapital ist zwar nicht gerade groß, aber unter bestimmten Bedingungen durchaus ausbaufähig.
Wahrscheinlich ist Putin die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber dafür sind sie so loyal
Was meinen Sie, was war Prigoshins Ziel? Und warum hat er es nicht erreicht?
Prigoshin hat klar gesagt, dass sein Ziel ein Führungswechsel im Verteidigungsministerium ist. Das glaube ich ihm. Wenn Prigoshin das gelungen wäre, dann wäre sein Einfluss nicht nur auf das militärische Establishment, sondern auch auf Putin kolossal gestiegen: Die Personen, die Schoigu und Gerassimow abgelöst hätten, hätten mehr in Prigoshins Gunst gestanden als unter der Kontrolle des Präsidenten.
Das ist der Grund, warum Putin sich darauf nicht einließ. Wahrscheinlich ist ihm die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber er schätzt sie für ihre Loyalität und glaubt, dass er sich rückhaltlos auf sie verlassen kann. Ich glaube, dass für ihn deshalb ein Rücktritt von Schoigu und Gerassimow nicht in Frage kam.
Eine weit verbreitete Meinung über Putin ist, dass er Verrat nicht verzeiht. Bedeutet das, dass Prigoshin keine Ruhe mehr finden wird?
Sobald Putin der Meinung ist, dass er seinen Teil der Abmachungen erfüllt hat und dass alle Fragen zu den Aktivitäten der Söldnertruppe Wagner in und außerhalb Russlands geklärt sind, kommt der Moment, von dem an Putin zu dem Schluss kommt, dass er mit Prigoshin nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Und dann kann es durchaus sein, dass er sich an ihm rächen wird. Doch Prigoshin – der kann für seine Sicherheit sorgen. Was weiter mit ihm geschehen wird, ist also nochmal ein eigenes Thema.
Wird es jetzt Säuberungen geben?
Möglicherweise werden einige Offiziere mittlerer und sogar höherer Ränge ausgetauscht. Doch wenn es Umstellungen auf höchster militärischer Führungsebene gäbe, dann hieße das, dass Prigoshin sein Ziel erreicht hat. Deswegen sind solche Umbesetzungen nicht zu erwarten.
Im Westen ist die Meinung verbreitet, dass es für Putin schwer, wenn nicht sogar unmöglich sein wird, sein Ansehen bei den Russen wiederherzustellen. Was denken Sie darüber?
In der politisierten Öffentlichkeit ist das Bild entstanden, die russische Führung sei geschwächt. Aber diese Vorstellung gab es auch früher schon. Sie wurde von einflussreichen Bloggern wie Girkin-Strelkow und anderen, die für den Krieg sind, kultiviert. Weit verbreitet war auch eine Skepsis gegenüber den Methoden, mit denen die Militäroperation geführt wurde. Diese Skepsis wurde auf die allgemeine Vorstellung von der Effektivität der russischen Regierung projiziert.
Wahrscheinlich hat sich diese Skepsis nach dem Aufstand ein wenig verstärkt. Aber man muss wissen, dass es sich da um eine vergleichsweise kleine Gruppe extrem politisierter Bürger handelt. Natürlich gibt es auch eine andere Gruppe von Bürgern, die Putin schon lange nicht unterstützt und seiner Regierung gegenüber immer skeptisch eingestellt war. Ich nehme an, dass sie zahlenmäßig größer ist als die der „Turbopatrioten“. Aber bezüglich jener Gruppe, die Putin nie unterstützt hat, hat sich ganz bestimmt nichts verändert: Sie waren früher nicht für ihn und sind es auch jetzt nicht.
Eine landesweite Unterstützung für Putin war während des Aufstands auch nicht zu sehen. Wie so oft musste der Kreml Staatsbedienstete mobilisieren, um Unterstützung vorzutäuschen. Was bedeutet das? Dass Putins Rückhalt übertrieben dargestellt wird?
In Russland gab es nie eine Unterstützung für Putin, die in irgendeiner politischen Handlung hätte zum Ausdruck kommen können. Das liegt in der Natur des russischen Regimes, das darauf setzt, dass die Bürger sich aus der Politik heraushalten. Es wäre seltsam, wenn die Leute spontan auf die Straße gehen, eine Niederschlagung des Aufstands fordern und ihre Begeisterung für Putin zum Ausdruck bringen würden. Für Massenaktionen braucht es organisatorische Mechanismen. Doch das russische Regime ist so angelegt, dass unabhängig davon, wie viel Unterstützung Putin erfährt, derartige Demonstrationen gar nicht möglich sind.
Die Mehrheit der Russen hat ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen
Welche Schlüsse können die Russen aus den Ergebnissen dieses Aufstands überhaupt ziehen? Und bringt das die Staatsmacht ins Wanken?
Die überwiegende Mehrheit der Russen hat meiner Einschätzung nach ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen. Das ist alles, was der großen Masse der Bevölkerung durch das Geschehen klar geworden ist. Ich glaube, viele haben diesen Aufstand als Bedrohung empfunden, vor allem die Moskauer. Aber es hat sich ja alles erledigt, na wunderbar.
Und die Eliten? Kommt es da zu einer Spaltung oder rücken sie jetzt noch näher um Putin zusammen?
In der herrschenden Klasse herrscht schon lange eine negative Einstellung bezüglich Putins Handlungen. Die meisten in der russischen Elite fühlen sich von Putin hintergangen.
Was lernen sie daraus? Die meisten neigen, nehme ich an, zu der Ansicht, dass Putin ihnen Probleme eingebrockt hat. Aber diese Probleme sind ihrer Meinung nach wiederum leichter unter Putins Mitwirkung zu lösen, wenn er an der Macht bleibt. Und sie glauben, dass das immer noch möglich ist. Und Putin nährt diesen Glauben natürlich nach Kräften.
Was ist jetzt Putins größte Herausforderung?
Seine größte Herausforderung besteht darin, aus der Situation wieder herauszufinden, die er letztes Jahr im Februar geschaffen hat. Offenbar vor diesem Hintergrund schenkt Putin dem wachsenden Unmut in der herrschenden Klasse einiges an Aufmerksamkeit, er erwartet von seinen Sicherheitsdiensten, dass sie eventuell auftretende Unmutsbekundungen rasch unterbinden.
In seiner Rede hat Putin den Westen beschuldigt, diesen Aufstand organisiert zu haben. Worin besteht die Logik dieser Vorwürfe, wenn wir doch genau wissen, wer der Organisator und die Hauptperson des „Marsches der Gerechtigkeit“ war?
Nun, hier gibt es keine Logik. Das ist die übliche Rhetorik: An allem Schlechten, was in Russland passiert, ist der Westen schuld.
An der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko hat sich nichts geändert
Einige sagen, dass es für Putin die größte Erniedrigung war, sich auf Alexander Lukaschenkos Vermittlung verlassen zu müssen. Welche Rollen spielen die beiden jetzt füreinander ?
Ich glaube nicht, dass Putin das als Erniedrigung empfindet. Er betrachtet Lukaschenko schon lange als seinen Juniorpartner. Wenn der Juniorpartner dem Senior bei der Lösung von Problemen helfen kann, dann ist das aus dem Blickwinkel der geschäftlichen und politischen Logik Russlands ein völlig normales Phänomen. Und da hat sich in der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko auch nichts geändert.
Lukaschenko hat Putin einen wichtigen Dienst erwiesen und ist jetzt womöglich der Meinung, dass der russische Präsident in seiner Schuld steht. Aber die Balance ihrer Beziehung hat sich keineswegs verändert. Das ist eine ungleiche Partnerschaft mit Putin in der Führungsrolle.
Für den militärischen Aufstand und die Piloten, die dabei umkamen, wurde niemand bestraft. Was denken Sie, warum verzichtet die Staatsmacht hier auf Ermittlungen?
Wegen diverser Umstände, die uns im Detail nicht bekannt sind, hat Putin beschlossen, sein Versprechen gegenüber Prigoshin zu halten. Dazu gehört, dass die Anschuldigungen gegen ihn fallengelassen werden und Prigoshin sich mit einem Teil seiner Anhänger nach Belarus absetzen kann. Aber das ist nur das, was wir wissen.
Vielleicht hat Prigoshin noch weitere Garantien bekommen. Tatsache aber ist, dass Putin ganz einfach Wort hält, und zwar jenseits jeder Rechtslogik, auf die Sie verweisen. Das sind in höchstem Maße politische Handlungen. Dass Justiz und Verwaltung in Russland politisiert sind, ist nichts Neues. Jetzt sehen wir ein weiteres Mal, dass politische Erwägungen weit über dem Gesetz stehen.
Prigoshins Aktion war kein versuchter Militärputsch. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen
Sie haben bereits vor dem Aufstand geschrieben, dass eine militärische Revolte eines der Zukunftsszenarien Russlands sei. Sehen Sie das immer noch so? Oder werden jetzt die Schrauben angezogen, damit das so schnell keiner mehr versucht?
Dass es eine militärische Revolte geben wird, habe ich nicht geschrieben. Allerdings musste man kein Prophet sein, um mit radikalen Aktionen von Prigoshin zu rechnen.
Was eine weitere Verschärfung der Sicherheitskomponente in der russischen Politik angeht, so folgt sie aus der Entwicklungsdynamik eines politischen Regimes, das sich unter Bedingungen des Krieges immer stärker auf die Streitkräfte und den Sicherheitsapparat verlassen können muss. Und wenn ein Land von einer solchen Dynamik erfasst wird, dann erhöht das generell die Möglichkeit einer militärischen Revolte.
Aber wie sieht eine solche Revolte aus? Das wiederum ist eine Frage, die von der Dynamik des Regimes abhängt. Militärische Revolten können ganz unterschiedlich sein. Es gibt Situationen, in denen die Sicherheitsstrukturen zusammen mit den Streitkräften die Macht an sich reißen und ein konsolidiertes Regime errichten, das ziemlich lange bestehen kann, wie das etwa in den 1970er Jahren in Chile der Fall war. Eine solche Wendung halte ich in Russland für extrem unwahrscheinlich.
Aber es gibt auch Situationen, in denen sich innerhalb der Sicherheitsstrukturen schwere Spannungen bemerkbar machen. Und dann kann eine unkonsolidierte Militärregierung entstehen. Solche Regimes halten nicht lange. Häufig lösen sie einander ab, ohne sich grundlegend voneinander zu unterscheiden. So etwas ist in Russland durchaus möglich, zeichnet sich aber derzeit nicht ab.
Ich möchte aber noch einmal betonen, dass Prigoshins Aktion kein versuchter Militärputsch war. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen. Und selbst wenn die Aufständischen erfolgreich gewesen wären, hätten sie nicht ein Militärregime installiert, sondern einen Ausbau des Sicherheitsapparats in den Strukturen des russischen Regimes forciert.