дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die große Relativierung

    Die große Relativierung

    Im zweiten Jahr des russischen Angriffskrieges fiel nicht nur die Gegenoffensive der Ukraine enttäuschend aus. Auch unter den Unterstützern Kyjiws bröckeln die Einheit und die Entschlossenheit. Dazu habe auch der neue Krieg im Nahen Osten beigetragen, argumentiert Alexander Baunow von der Carnegie-Stiftung. Kriegsgegner in Russland und außerhalb würden einander zunehmend fremd.

    Panzersperren vor der „Mutter Ukraine“ in Kyjiw. Die Statue wurde 1981 in der Sowjetunion als „Mutter Heimat“ errichtet und 2023 umbenannt / Foto: © IMAGO, EST&OST

    Das Jahr 2023 ist zum Jahr der großen Relativierung geworden. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter 2022 erlebte Europa einen Schock: Russland, das größte und militärisch stärkste Land des Kontinents, ist tatsächlich fähig, genau wie es die heutigen Erwachsenen als Kinder erzählt bekamen, einfach so, ohne jeden Vorwand, Panzer, Raketen und Kampfjets über die Grenze zu schicken, Städte zu bombardieren und unter Beschuss zu nehmen, Gebiete zu erobern und zu annektieren, um den Lebensraum für das eigene ungerechtfertigt gekränkte Volk zu vergrößern, und seine Politiker können reden wie wahnsinnig gewordene Diktatoren aus historischen Kinofilmen.   

    Ganz Europa erfasste das Gefühl: Das ist ein Angriff auf uns alle. Sogar in Russland selbst war diese Gefühl verbreitet. Ukrainische Flaggen wurden gehisst, wo früher nicht einmal Nationalfahnen hingen – an Museen und Theatern, an europäischen Botschaften in fremden Hauptstädten, an Baustellen und Autobahnraststätten. Ukrainischen Staatsbürgern standen die Grenzen offen wie niemandem je zuvor – ohne Einschränkungen, ohne dass sie einen Aufenthaltstitel beantragen mussten, sogar mit einer Arbeitserlaubnis in jeder beliebigen Branche.

    Schließlich hatte genau jene Armee angegriffen, deren Manöver man jahrzehntelang gefürchtet und von der man gesagt hatte, dass ihr Marsch auf europäische Hauptstädte auch ohne Atomwaffen nur wenige Tage dauern würde. Und sie benahm sich stellenweise noch grausamer, als man es von ihr erwartet hatte. Der Einsatz von Bodentruppen eines europäischen Staates gegen sein Nachbarland löste schon für sich genommen einen Schock aus, doch der Anblick zerstörter Städte, von Menschen, die sich bei Kerzenlicht in den Metrostationen drängten, von Gräbern in den Innenhöfen von Wohnblocks mit Namensschildern aus Pappe übertraf alle Filme und Serien, die je von einem Einmarsch der Russen gehandelt hatten.

    Die augenblickliche Identifizierung mit den Opfern motivierte zu entschlossenem Handeln. Sanktionen in Handel, Finanzwirtschaft und Verkehr, die vor dem Einmarsch noch sehr unwillig und nur als äußerste und hypothetische Maßnahmen diskutiert wurden – der Ausschluss aus Zahlungssystemen, die Einstellung des Flugverkehrs, das Einfrieren von Vermögen, ein Embargo, das der eigenen Wirtschaft schadet –, wurden mit einer Geschwindigkeit beschlossen, die alle überraschte. Als die ukrainischen Streitkräfte überraschend hartnäckig Widerstand leisteten, flossen finanzielle und militärische Hilfen in die Ukraine, deren Dimensionen man vor dem Krieg nicht annähernd in Betracht gezogen hatte.               

    Nach mittlerweile knapp zwei Jahren hat diese Anteilnahme ihre Intensität verloren. Europa und Amerika sehen die Ukraine zwar noch immer als Opfer, das Hilfe und Mitleid verdient, die US- und EU-Bürger fühlen sich jedoch selbst nicht mehr unmittelbar bedroht. Ein Verbündeter wurde angegriffen, ein Protegé, aber nicht sie selbst. Nicht, dass sie von Russland sofort den Anfang des Dritten Weltkriegs erwartet hätten, aber die Verschiebung wichtiger politischer und moralischer Grenzen deutete auf seinen möglichen Ausbruch hin und ließ einen schnellen Verlauf befürchten. Doch er blieb aus.  

    Die Stärke des ukrainischen Widerstands hat erst überrascht. Dann führte sie dazu, dass man sich im Westen entspannte

    Auf paradoxe Weise spielte die Stärke des ukrainischen Widerstands, die entscheidende Erfolge für Russland verhinderte, zumindest in einer Hinsicht gegen die Ukraine: In Europa und Amerika entspannte man sich wieder. Die Russen sind einmarschiert und sie marschieren weiter, aber man weiß jetzt, dass sie noch lange nicht ankommen werden, vielleicht auch nie. Was wie der Anfang eines Dritten Weltkriegs aussah, entpuppte sich als zweiter Jugoslawienkrieg – wieder ein lokaler Konflikt an der europäischen Peripherie, der mit dem Zerfall eines verspätet sterbenden autoritären Imperiums zu tun hat und mit dem man sich schwer identifizieren kann. 

    Es kam zu einer Entfremdung, zu seiner teilweisen Verdrängung aus dem eigenen Alltag/Erleben/Leben. Die ukrainischen Flaggen werden weniger, mancherorts sieht man bereits mehr palästinensische, und an Solidaritätskundgebungen mit der Ukraine nehmen immer weniger Menschen teil. Die These von der praktisch vollständigen Identifikation mit dem Opfer wurde von der Antithese der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.

    Nach dem Schema These und Antithese: Die praktisch vollständige Identifikation mit dem Opfer wurde von der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.      

    Der erste Auftritt Selenskys vor einem fremden Parlament beeindruckte. Mit jedem weiteren Auftritt nimmt die Wirkung ab

    Genauso wie der gesamte Krieg hat auch das Image von Präsident Selensky eine Relativierung erfahren. Dadurch, dass der Krieg so langsam, so weit weg und so fremd geworden ist, hat sich das Bild verändert, das die Welt von Selensky hat. So wie der Krieg ist er [dem Westen – dek.] fremd geworden, ein eigenartiger, peripherer Held. Ein Held – durchaus, aber keiner, der „zu uns gehört“.  

    Eine Heldentat ist immer leichter zu begreifen, wenn es sich um ein einmaliges Ereignis handelt. Klassische Tragödien sind rund um einmalige Heldentaten konstruiert. Der Präsident des Landes, das sich so tapfer verteidigt, verlässt unter Kugelhagel die Hauptstadt, um in Felduniform in einem ausländischen Parlament aufzutreten, wo er tosenden Applaus erntet und widerstandslos ein Hilfspaket entgegennimmt. Beim ersten Mal. Beim zweiten, dritten und vierten Mal ist es schwieriger, denselben Effekt zu erzielen.

    Wahlen zu gewinnen ist einfacher, als populär zu bleiben. Selensky verschwindet allmählich von den Titelblättern. Das unangenehme Bild des russischen Präsidenten in einem normalen Anzug erscheint weltweit dem Normalbürger auf einmal doch geläufiger als das angespannte, heroische Image Selenskys, der allein durch seinen Anblick eine emotionale Reaktion einfordert, zu der immer mehr die Kraft fehlt – Spannung hält man ja nicht so lange aus.              

    Die Abkühlung im Außen hat die Situation im Inneren angeheizt. In die ukrainische Politik ist die gewohnte (und ganz natürliche) Konkurrenz zurückgekehrt, und damit einhergehend der Verdacht, dass der aktuelle Held womöglich nicht der Einzige ist, dass an seiner Stelle ein anderer stehen könnte, und wer weiß, vielleicht sogar ein noch tapfererer.

    Der Heroismus des Staatsoberhaupts birgt noch einen weiteren gefährlichen Aspekt: Mit seiner eigenen Heldenhaftigkeit verlangt er auch von anderen Heldentum. Als Zielscheibe Nummer eins sieht er jedoch, anders als die Könige im Mittelalter, davon ab, seiner Truppe vorauszugaloppieren oder in einem Baldachin über dem Schlachtfeld zu thronen. Vom beherzten Retter ist er zu einem geworden, der andere in den Tod schickt.            

    Die Stabilisierung des Bösen

    Der Stillstand an der Front schwächt die Argumente jener, die dazu aufrufen, die Aggression durch entschiedenes Handeln zu stoppen. Immerhin hat die Aggression ja quasi von selbst nachgelassen.

    Putins Truppen sind nur zu lokalen Offensiven in der Lage, die die Front fast nicht verschieben. Auch die Ukraine verteidigt sich derzeit eher, als Land zu befreien. In Moskau will man keine Mobilmachung, man hofft einfach, dass der Ukraine bald die Soldaten für die Verteidigung ausgehen, und dann reichen die russischen für den Angriff. 

    Als klar wurde, dass ein verpatzter Anfang nicht automatisch ein verpatztes Ende bedeuten muss, ist Putin regelrecht aufgeblüht. Nachdem er selbst mutwillig die Stabilität zerstört hat, derer er sich früher rühmte, ist eine neue Form der Stabilität auf den Trümmern der alten entstanden. In diesem neuen Gleichgewicht spielen dieselben Gruppen eine Rolle. Es bringt sowohl Neues als auch unwiderbringliche Verluste, aber es hält. Die Antwort auf die Frage, wie lange Russland noch Krieg führen kann, bleibt unterdessen vage: Solange es muss, kann es auch.     

    Man könnte meinen, die russische Wirtschaft sei aufgrund der enormen Militärausgaben überhitzt, sie leide unter hoher Inflation und einem Mangel an Technologien, die Zinsen der Zentralbank seien höher als je zuvor. Doch nicht einmal hier denkt jemand an die „Sanktionen aus der Hölle“, die so schlimm geklungen hatten. Das Verbot von Überweisungen an ausländische Banken und internationale Börsen provozierte einen Boom von Investitionen im Inland: Geld einfach auf dem Konto liegen zu haben, ist in Zeiten extrem hoher Kriegssteuern zu riskant. Staatliche und private Rüstungsinvestitionen brachten 2023 ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent, die verarbeitende Industrie verzeichnete ein Wachstum von 7,4 Prozent, und ganz nebenbei glich sich das Gefälle zwischen armen und reichen Regionen aus.  

    Während sich die Russen, die dem Krieg entflohen, mit der Eröffnung von Bankkonten herumschlugen, konnte Russland dank der Form der Sanktionen mit dem Verkauf von Gas nach Europa 200 Milliarden Dollar zusätzlich einnehmen. Und russisches Erdöl, das an Bord eines  nicht versicherten Tanker eines Zwischenhändlers einen russischen Hafen verlässt, wird zum internationalen Produkt und, wenn auch mit Preisnachlass, auch von westlichen Verbrauchern bezahlt. Die Frage, die alle quälte, ob denn das gewohnte Leben mit dem Krieg vereinbar sei, wurde positiv beantwortet – in Russland wie im Rest der Welt.        

    Der moralische Schock, den die Bevölkerung westlicher Länder beim Anblick der zerstörten zwar ost-, aber doch europäischen Städte erlebte, konnte Gesellschaften in weiterer Entfernung von Europa nicht erfassen. Für sie sind getötete Ukrainer ungefähr so wie für den westlichen Durchschnittsbürger getötete Afghanen: relativ ferne Opfer. Auch die Sanktionen werden nicht von allen mitgetragen. Tiefgreifende und flächendeckende sekundäre Sanktionen des Westens gegen Drittländer sähen aus wie ein Wirtschaftskrieg gegen Entwicklungsländer und sind somit undenkbar.    

    Durch die relativ geringe Intensität des Kriegs und Putins bevorstehende Wiederwahl als Präsident mit breiter Unterstützung führt kein Weg an einer langfristigen Nachbarschaft mit einer neuen, übleren Version von Russland vorbei. Es kehrt die Idee zurück, dass man mit Russland – egal in welcher Version – ein Auskommen finden muss, und damit wird die Krieg führende Diktatur durch internationale Kontakte sowohl im Osten als auch im Westen legitimiert werden.  

    Wenn diese Kontakte zum Westen wieder aufgenommen werden, dann werden die Sanktionen angesichts der russischen Staatseinnahmen in internationalen Handelsgeschäften wie eine Bestrafung einzelner Bürger wirken – sie treffen diejenigen, die man eben erwischen kann. Wobei es doch auch in solchen Fällen üblich ist, dass die Bürger mit dem Staat gemeinsam leiden und nicht an seiner statt. Und keiner hat eine Antwort auf so verfluchte Fragen wie: Was, wenn in Russland aufgrund der fehlenden technischen Wartung ein Passagierflugzeug abstürzt? 

    Die gleichzeitige Unterstützung Israels und der Ukraine ist weniger widersprüchlich, als Kritiker behaupten. Es geht hier weniger um Kriegsgegner, die auf einmal zu Kriegsbefürwortern geworden sind (allerdings trifft das längst nicht auf alle zu), sondern um Menschen, die in beiden Konflikten jeweils die Seite unterstützen, die trotz all ihrer himmelschreienden Unvollkommenheiten Zivilisationen westlichen Typs repräsentiert. Darüber hinaus sind, wenn man die alles verkomplizierenden Vorgeschichten außer Acht lässt, beide Kriege eine Reaktion auf Aggression.   

    Israels Krieg gegen Gaza hat den proukrainischen Konsens zerschlagen

    Dennoch hat der Krieg Israels gegen Gaza die Kräfte der Bündnispartner der Ukraine zerstreut, die weltweite Aufmerksamkeit abgezogen und den proukrainischen Konsens zerschlagen. Jene, die sich einig waren über die Verurteilung Russlands und die Unterstützung der Ukraine, sind sich über Israel und Palästina in die Haare geraten und werfen einander vor, die falsche Meinung zu vertreten. Die angespannte Diskussion über den neuen Konflikt hat Anlass zum Zweifel gegeben, ob es nicht auch bezüglich Russland und Ukraine sein kann, dass keiner vorbehaltlos recht hat.   

    Der Nahostkrieg hat den in der Ukraine nicht nur von den Titelblättern verdrängt. Legt man die beiden Konflikte übereinander, dann stimmen bei gewissen Fragen die Konturen nicht überein: bei der Annexion von Territorium, der Fremdverwaltung von dessen Bevölkerung, bei zivilen Opfern im Zuge von Kampfhandlungen. Der Vergleich mit Israel ist gerade da unvorteilhaft für Kyjiw, wo man Länder abseits des Westens davon überzeugen will, die Ukraine zu unterstützen.  

    Russland ist es gelungen, die Welt in jene zu spalten, die den Einmarsch in die Ukraine als eigenes Drama erlebt haben, und jene, die gleichgültig blieben. Für die einen geht es hier um Fragen der allgemeinmenschlichen Moral, für die anderen um ganz normale Geopolitik wie eh und je und überall. Zu Letzteren zählen die meisten nicht westlichen Länder, und der Nahostkonflikt machte es ihnen leichter, bei ihrer Meinung zu bleiben. Die Antwort auf die Frage, „ob man leben kann, wenn nebenan Krieg ist“, fiel positiv aus – sowohl für die meisten Menschen als auch für die meisten Staaten. Es geht, sogar wenn es zwei Kriege sind.

    2022 schien es, als sei mit einem Mal die große Klarheit ausgebrochen. Eineinhalb Jahre später bildet diese Klarheit keine tragende Basis mehr

    Vor einem Jahr schien es, als sei die große Klarheit ausgebrochen. Der Krieg zerstörte Leben, vernichtete Pläne, entriss vielen ihr Zuhause, lieferte dafür eine unerschütterliche moralische Stütze und ein maximal belastbares Fundament für eine neue Einigkeit über unwichtig gewordene Unterschiede hinweg. Zuvor war die Möglichkeit einer solchen Einigkeit unklar, unter anderem aufgrund unterschiedlicher Ideen, mit der perfiden Diktatur zu koexistieren, die trügerische Hoffnungen nährte. Die Ablehnung des Kriegs brachte die verschiedensten Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen zusammen, und es sah so aus, als würde dieses sie verbindende Wichtige nie mehr verschwinden.     

    Eineinhalb Jahre später ist diese Klarheit vielleicht auf individueller Ebene noch da, bildet  jedoch keine einende Grundlage mehr. Die gemeinsame moralische Basis gleicht mittlerweile einem zerbrochenen Spiegel, in dem jede Scherbe zwar dasselbe widerspiegelt, aber jeweils für sich. Die Ablehnung des Kriegs wurde vom Maß aller Dinge zu einer Meinung, die man je nach Lebenslauf, Wohnort, Umfeld und sogar Staatsbürgerschaft annimmt oder auch nicht.

    Russische Kriegsgegner werden in Kyjiw nicht mehr als Verbündete gesehen

    Von der spontanen, intuitiv richtigen Geste, russische Kriegsgegner automatisch als Verbündete zu sehen – wie Selensky es tat, indem er für eines seiner ersten Interviews russische Journalisten einlud –, ist ein beachtlicher Teil der ukrainischen Gesellschaft dazu übergegangen, eine solche Verbundenheit gar nicht erst für möglich zu halten, und ein Teil der russischen Gesellschaft folgte. Andere wiederum schotteten sich ganz ab: Na gut, dann müsst ihr es eben ohne uns schaffen.  

    In beiden Fällen geht es nicht um alle, vielleicht nicht einmal um die Mehrheit, doch allein das Aufkommen solcher Ideen reichte aus, um ein eventuelles ukrainisch-russisches Bündnis gegen den Krieg im Keim zu ersticken. Aus Angst davor, die Opfer des Angriffs zu verletzen, begannen viele im Westen, sich von Gleichgesinnten in Russland abzugrenzen. Die eine, absolute Ablehnung von Krieg und Diktatur hat sich in mehrere relative verwandelt.        

    Wenn die vorbehaltlose Verurteilung der Aggression als einziges Kriterium, das unter den neuen Bedingungen zählt, in Zweifel gezogen wird, wird automatisch auch das Neue und Einzigartige dieser Bedingungen in Zweifel gezogen. Und somit wird die aktuelle Aggression relativiert: „Der Krieg hat bereits 2014 begonnen, wo wart ihr damals? Wir kannten Putin doch genau, Russland hat sich immer so verhalten und so weiter. Und wenn es schon immer so war, gibt es auch keinen Grund, sich jetzt aufzuregen.   

    Das zum Schweigen verurteilte Russland empfand lange Zeit Dankbarkeit, dass einige ihr Zuhause aufgaben, um vom Ausland aus ihre Stimme zu erheben

    Die grenzübergreifende Einheit der Kriegsgegner begann ab Mitte September 2022 zu bröckeln und setzte dies das ganze Jahr 2023 auch innerhalb der russischen Gesellschaft fort. Viele Monate nach Kriegsbeginn empfand das auf sich selbst zurückgeworfene und zum Schweigen verurteilte Russland so etwas wie Anerkennung jenen gegenüber, die ihr Zuhause aufgaben, um einer zum damaligen Zeitpunkt allgemeinen Stimmung Ausdruck zu verleihen. Auf diese Haltung – danke, dass ihr sprecht und schreibt, ihr rettet unsere Würde – trifft man jetzt seltener.

    Die Lage ist so gut wie aussichtslos. Die freie Presse und generell das intellektuelle öffentliche Leben konnten nach Kriegsbeginn in Russland nicht in bisheriger Form weitergehen. Und außerhalb der Staatsgrenzen hörten sie mit der Zeit auf, jene zu repräsentieren, die im Land geblieben sind. Das liegt nicht nur an Internet-Sperren und auch nicht am unterschiedlichen Alltag. Innerhalb Russlands bildet sich schrittweise eine neue Sprache heraus, eine neue Art, über schmerzhafte Themen zu sprechen, neue Modi, mit anderen Worten und anderen Intonationen seinen Widerspruch zu markieren. Die innere und die äußere Sprache sind nicht komplett unterschiedlich, aber auch nicht komplett gleich. Dass man also in verschiedenen Sprachen vom selben sprechen wird, scheint unausweichlich.       

    Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres ist die Trennung der beiden russischen Gesellschaften diesseits und jenseits der russischen Staatsgrenze abgeschlossen. Die Macht und Bedeutung von Statements gegen den Krieg hat sich indessen ebenfalls abgenutzt. Im Frühling und Sommer 2022 war jedes Wort, jedes Interview maßgeblich und dreist, man wurde bestraft oder auch nicht, aber jetzt wirken dieselben Worte wie eine Wiederholung von bereits Gesagtem.   

    Die Entwicklung von russischen Staatsbürgern, die gegen den Krieg protestiert haben, und die von Präsident Selensky sind sich in dieser Hinsicht ähnlich. Die Zeit, die gefüllt werden muss und daher Wiederholungen verlangt, zerreibt, verwischt und entwertet die Worte und Taten. Und genau wie für Selensky gilt für jeden Kriegsgegner, der seine Stimme erhebt: Je länger der Krieg dauert, desto größer wird das Risiko, einen Fehler zu machen, etwas Falsches zu sagen. Der Aggressor hat weniger Risiko, vor dem schwarzen Hintergrund der Aggression fällt ein verbaler  Fauxpas nicht so auf, der Hauptfehler ist schon begangen, ihn zu vertiefen ist schwer.         

    Die Separation der beiden Kriegsgegner in und außerhalb Russlands wird durch das Vorgehen der westlichen Bürokraten beschleunigt. Mit dem nachvollziehbaren Wunsch, die Kriegsbefürworter nicht einfach in Ruhe weiterleben zu lassen, als wäre nichts gewesen, zielen sie darauf ab, die Verbindung zwischen dem Innen und dem Außen endgültig abreißen zu lassen. Drei potenziell enorm wichtige Verbindungen – die russisch-ukrainische, die russisch-europäische und die russisch-emigrantische sind zu Opfern der Relativierung geworden.

    Der ideale Beobachter, das ideale Opfer und das ideale Mitleid sind Vergangenheit

    Im Frühling 2022 erzeugte der Schock über den Angriff eine künstliche Reinheit der Atmosphäre. Details rückten in den Hintergrund, ermöglichten es vorübergehend, dass ideale Beobachter einem idealen Opfer ideales Mitleid entgegenbringen, ohne einander zu kritisieren. Ideales Leid, ideale Solidarität. Wie leicht und schön ist es doch, die richtige Entscheidung mitzutragen, wenn plakative Gerechtigkeit siegt, das Böse bestraft wird, das Opfer sich treu bleibt und die Zeit und die Menschen das Bild nicht verderben. 

    Aber dieser Punkt ist überschritten. Die beinahe laborhafte Reinheit konnte sich unter natürlichen Bedingungen nicht lange halten. Anscheinend erleben wir in der dunklen Jahreszeit the darkest hour. Heute müssen wir die unter Theologen vielzitierte unitas in necessariis (dt. Einmütigkeit im Notwendigen) mit bewusster Anstrengung aufrecht erhalten, indem wir das vom Lauf der Zeit aufgezwungene soziale und politische Durcheinander überwinden. Andererseits wiegt eine unter natürlichen Bedingungen getroffene moralische Entscheidung schwerer, und der dabei herausgebildete ethische Maßstab für die Politik könnte zur universellen Norm werden.

    Weitere Themen

    „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Recht auf Zerstörung

    Die Unsichtbaren

    „Du krepierst hier und keiner kriegt es mit“

    Warum Lukaschenko von einer Pattsituation in der Ukraine profitiert

  • Gaunersprache im Kreml

    Gaunersprache im Kreml

    Mit den immer gravierenderen Verstößen gegen Menschen- und Völkerrecht in Russland ging in den vergangenen Jahren auch eine Verrohung der Sprache und der Umgangsformen der politischen Elite einher. Selbst Diplomaten verwenden heute Formulierungen, die ursprünglich aus der kriminellen Unterwelt stammen. Wladimir Putin brüstet sich damit, in seiner Jugend selbst ein Rowdy gewesen zu sein. Nicht zuletzt in Verbindung mit einer populären Streaming-Serie wurde zuletzt wieder viel über die Kultur gewalttätiger Jugendgangs diskutiert, deren Mitglieder sich selbst als Pazany bezeichnen. Sie handeln nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem eigenen Kodex, po ponjatijam. Dort zählen allein Stärke und Skrupellosigkeit, Nachgeben ist ein Zeichen von Schwäche, wer sich entschuldigt, hat verloren. Die Soziologin und Kriminologin Svetlana Stephenson von der London Metropolitan University hat die Entstehung solcher krimineller Jugendgangs in den 1980er Jahren der Sowjetunion erforscht und in ihrem Buch Gangs of Russia beschrieben. In einem Beitrag für das Online-Magazin Holod erklärt sie, wie Sprache und Umgangsformen dieser kriminellen Subkultur Eingang in die russische Politik fanden.

    Ein Anführer darf keine Schwäche zeigen. Er muss bereit sein, mit allen Mitteln um die Macht zu kämpfen. Szene aus der Serie Slowo pazana / © Rostelecom
    Ein Anführer darf keine Schwäche zeigen. Er muss bereit sein, mit allen Mitteln um die Macht zu kämpfen. Szene aus der Serie Slowo pazana / © Rostelecom

    Ein Paradox im öffentlichen Auftritt der russischen Staatsmacht ist der Graben zwischen den Beteuerungen über Russlands Größe, seine Geschichte, Kultur und Moral einerseits, und dem Straßenbanden- und Knastsprache, die eben jene Staatsmacht oft und gern verwendet. Wobei ausgerechnet Personen diesen Kreml-Fenja verwenden, die selbst nicht in der Gosse aufgewachsen sind, sondern ganz im Gegenteil in gebildeten, ja geradezu elitären Kreisen ihre Erziehung genossen.

    Die Hinwendung dieser „Elite“ zur Sprache der Hinterhöfe und Gefängnisse begann allerdings nicht in den 1990ern, in denen der Einfluss der Kriminalkultur auf die Gesellschaft seinen Höhepunkt erreichte. Damals wurden Film und Literatur von der düsteren Tschernucha überschwemmt, und aus jedem Radio dudelten Lieder aus der Lagerfolklore. Doch Jelzin (wie auch seine Vorgänger) und sein Umfeld benutzten keinen Gefängnisjargon, wenn sie sich an die Bevölkerung oder ausländische Amtskollegen wandten. Zur Staatssprache wurde Kreml-Fenja erst unter Putin. Die Gewalt der Straße, die in den 1990ern blühte, wurde von staatlicher Gewalt abgelöst, die sich der Sprache der Hinterhöfe und der Unterwelt bedient.

    Die Elite spricht eine Sprache der Drohungen und Erniedrigungen

    Begonnen hat diesen Trend Putin, der mit stolzer Brust seine Kindheit im Sankt Petersburger Hinterhof heraufbeschwört. Im Gespräch mit den Verfassern seiner ersten Biografie Aus erster Hand erzählte er: „Ich war ja ein Rowdy, kein Pionier […] Ich war eigentlich ein Rabauke.“ Die Sprache der Straße, der Drohungen und Erniedrigungen („im Klo abmurksen“, „wer uns beleidigt, überlebt keine drei Tage“), die Vorstellung von Gewalt als Beziehungsgrundlage („wir haben Schwäche gezeigt, und Schwache kriegen Prügel“, „wenn eine Schlägerei unvermeidbar ist, schlag als erster zu“) – all das gehört mittlerweile zu dem Stil, den die Entourage des Präsidenten an den Tag legt. 

    Seit Jahren bedienen sich die russische Führung und die Kreml-Propaganda des Gaunerjargons. Erinnern wir uns etwa daran, wie Viktor Solotow, der Befehlshaber der Nationalgarde, Alexej Nawalny eine otwetka (dt. wörtl. „eine kleine Antwort“) in Aussicht stellte, als dieser ihn der Korruption bezichtigte. Kürzlich lieferte sich der bekannte Moderator Wladimir Solowjow einen Schlagabtausch mit dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk, Jewgeni Kujaschew, in einem Jargon, der wörtlich ins Deutsche übertragen etwa so klingen würde: „Schlägst du mir etwa einen Uhrzeiger ein, Gouverneur?“ (was so viel heißt wie: Willst du mir etwa vorschreiben, wann wir uns treffen?). Worauf dieser den Moderator ermahnte: „Passen Sie auf, was Sie da sagen.” Was ähnlich klang wie der Jargon-Ausdruck: „Passen Sie auf, was Sie da zum Basar tragen.” Was so viel heißt wie: Seien Sie bloß vorsichtig.

    Als der Schanson-Sänger Alexander Nowikow daraufhin Solowjow in noch ausgefeilterem Fenja den Marsch blies, bewies das einmal mehr, dass mittlerweile Gouverneur und Staatspropagandist und Schanson-Sänger denselben Kriminaljargon sprechen.

    Wenn der Außenminister, an die internationalen Regierungschefs gewandt, sagt: „Der Pazan hat’s gesagt, der Pazan hat’s getan“, wenn der Fernsehmoderator mit einem Eimer Kot ins Studio kommt und droht, ihn über seinen Opponenten zu kippen, und der UNO-Botschafter des Landes sein Gegenüber harsch auffordert: „schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, dann fühlen wir uns wie in einem schlechten Gangsterfilm.

    Ein Befreiungsschlag gegen den Anstand 

    Der Einsatz von Redewendungen aus dem Knast und aus der Gosse und generell die saloppen Verhaltensweisen haben etwas Karnevaleskes, einen Show-Effekt, sie wirken wie ein erleichternder Befreiungsschlag gegen den Anstand. Allerdings ist die Karnevalskultur, wie der Philologe Michail Bachtin schrieb, traditionell eine niedere, eine Volkskultur. Hier jedoch haben wir es ganz deutlich mit karnevaleskem Verhalten von Angehörigen des Establishments zu tun, die öffentlich und genüsslich gesellschaftliche Normen übertreten. Und wenn die Lachkultur des Volkes auf Tollerei beruht, die die Ketten der Kontrolle und Unterdrückung durch die Machthaber sprengt, so ist der Karneval der Machthaber ein Fest des Todes, der Gewalt und Unterwerfung. Dem Eros des Volkes, der Leben hervorbringt, stellt sich der Thanatos der Macht entgegen.           

    Ein auf brutaler, überbordender Gewalt basierendes Verhalten hat tatsächlich viel mit dem Verhalten gemein, das in dem Milieu üblich ist, in dem „echte Pazany“ am Werk sind, Mitglieder von Straßenbanden. Da der Pazan der Souverän seines Territoriums ist, ist er dem ungeschriebenen Gesetz der Straße folgend – po ponjatijam – immer im Recht. Was auch immer er getan hat, selbst wenn es keine Absicht war, irrtümlich, aus Dummheit oder so genannter Willkür (wenn also die Gewalt durch nichts zu rechtfertigen ist) – er muss darauf bestehen, im Recht zu sein. Unter keinen Umständen darf er sich entschuldigen.   

    Dieser Regel folgt ganz offensichtlich auch die russische Regierung (erinnern wir uns an die abgeschossene Boeing der Malaysia Airlines und an all die Versionen von „wir sind dort nicht“, [mit dieser Formulierung wurde nach 2014 der Einsatz russischer Soldaten im Donbass geleugnet – dek]). Das Eingeständnis einer Schuld bedeutet Gesichtsverlust, daher werden alle Vorwürfe sofort zurückgewiesen. Sogar da, wo es im eigenen Interesse gelegen hätte, die Situation zu entschärfen – wie zum Beispiel nach Lawrows ungeheuerlichen Äußerungen über Hitlers jüdische Wurzeln und antisemitische Juden –, blieb das Außenministerium noch eine Weile bei dieser These und beschuldigte Israel, in der Ukraine Neonazis zu unterstützen. Dass Putin sich beim israelischen Premierminister entschuldigte, ist eine große Ausnahme und auf existenzielle Interessen eines Regimes zurückzuführen, das einen Verbündeten braucht. Zudem erfolgte die Entschuldigung heimlich: Dass der russische Präsident mit Naftali Bennett telefoniert hatte, wurde nicht aus dem Kreml berichtet, sondern aus Israel. 

    Angegriffen werden nur Schwächere

    Das Wort des Pazans hat sofortige und unmittelbare Gültigkeit. Er darf keine leeren Drohungen aussprechen. Wenn Putin der Welt mit Atomwaffen droht, dann behauptet er durchaus po ponjatijam: „Wir spucken keine großen Töne, wir tun das, und fertig.“ Wem die Banditenlogik fremd ist, dem erscheint eine solch bedingungslose Entschlossenheit, wenn es um Leben und Tod von Millionen Menschen geht, moralisch unmöglich. Aber po ponjatijam ist alles ganz einfach: Ein Pazan darf nicht nur mit der Waffe herumprahlen, sonst riskiert er einen Gesichtsverlust. Sobald er sie zeigt oder auch nur erwähnt, muss er auch bereit sein, sie einzusetzen. 

    Steht ein Pazan jedoch ganz unerwartet auf der Straße einer überlegenen Gruppierung gegenüber oder gerät in eine Schießerei, so verhält er sich ganz anders. Er fängt an zu bluffen: Er tut, als erwarte er jeden Moment Verstärkung, beult seine Taschen aus, um gar nicht wirklich vorhandene Waffen vorzutäuschen. Auf solche Bluffs ist man hinterher unheimlich stolz, sie finden genauso wie Geschichten über Straßenkämpfe und Massenschlägereien Eingang in die Bandenfolklore. Einer stärkeren Bande erklärt niemand absichtlich den Krieg – man greift immer nur scheinbar Unterlegene an. Zusammenstößen mit überlegenen Gegnern versucht man lieber auszuweichen.   

    Eine Konfrontation auf der Straße beginnt oft mit der Forderung: „Schau mich gefälligst an!“ (Oder auch umgekehrt: „Was glotzt du mich so an?“) Auf diese Weise ergreift ein Pazan die Initiative und demonstriert, dass er es ist, der die Regeln der Interaktion bestimmt. Nur wer ein Pazan ist, hat einen Namen und ist den anderen ebenbürtig. Wer zu keiner Bande gehört, zu keinem Clan, keine Macht hinter sich hat, der ist ein namenloser Niemand. Deswegen nimmt Putin auch Nawalnys Namen nicht in den Mund, weil er ihn damit als ebenbürtig anerkennen würde. 

    Ein Anführer in diesem Milieu muss ständig seine Macht und Stärke demonstrieren 

    Bei unseren Recherchen zur organisierten Kriminalität in Kasan fasste ein Bandenmitglied die Ordnung innerhalb der Bande im Interview so zusammen: „Der Anführer muss ein harter, selbstsicherer Mann sein, der die Macht liebt und bereit ist, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.“ Schwäche zu zeigen oder die Gruppe durch Kämpfe mit Gegnern zu schwächen, kann für den Anführer den Verlust seiner Macht oder sogar seines Lebens bedeuten. 

    Anführer und Autoritäten, die sich von Straßenbanditen zu Bossen krimineller Vereinigungen hochgekämpft haben, müssen auf jede erdenkliche Art ihre Macht demonstrieren: mit Brutalität, Unberechenbarkeit und Grobheit, um nicht nur Gegnern Angst einzujagen, sondern auch den Respekt seiner eigenen Mitstreiter zu verdienen. Während der allseits bekannten Versammlung des russischen Sicherheitsrats am Tag vor der Invasion in die Ukraine spielte Putin den skrupellosen Mafiaboss, der in seinem Umfeld keine Zweifel duldet und über Leichen geht. 

    Auch gemäßigtere Autoritäten machen demonstrativ harte Ansagen, um weiterhin zur herrschenden Elite zu gehören. Zum Beispiel Ex-Präsident Dimitri Medwedew, der einst als liberal galt, jetzt aber den ukrainischen Gegnern rät, „sich nach allen Seiten gründlich umzusehen“, und überlegt, wie man „den [nach Westen orientierten] Sapadniki die Nasen in den Dreck stoßen“ könnte.

    Aus einer Bande kommt man nur sehr schwer ohne Verluste heraus. Wenn einer geht, wird er kollektiv „abgefertigt“, verprügelt, noch dazu wird ihm alles Geld abgeknöpft, das er angeblich der Gruppe schuldet. Manchmal enden solche „Abfertigungen“ mit schweren Verletzungen oder sogar dem Tod ehemaliger Mitglieder der Pazan-Bruderschaft. Dieses „Abschiedsritual“ veranschaulicht, dass die Einigkeit der Gruppe über der früheren Freundschaft und über geleisteten Verdiensten steht. Hier kann man Parallelen zu Vergeltungsaktionen sehen, die Mitgliedern der herrschenden Elite drohen, wenn sie beschließen „zu gehen“, auszuwandern oder es wagen, die Staatsmacht zu kritisieren. 

    Die Staatsspitze ist selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden

    Natürlich ist die Struktur des russischen Staates komplexer als die einer kriminellen Bande. Der Stil der Pazany und die entsprechende Verhaltenslogik der Regierung lässt jedoch auf ihre tiefgreifende Primitivisierung schließen. Insofern ist die Staatsspitze rund um Putin, die den Rechtsstaat und die gesellschaftlichen Institutionen zerschlagen hat, universelle moralische Normen großkotzig mit Füßen tritt und das soziale Gefüge zerstört, selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden.     

    Primitiv ist auch die russische Gesellschaft geworden. Die Sprache und die Praxis der Gewalt können ethische Inhalte nicht ersetzen, sie können keinerlei positives Programm liefern. Hinter dem barbarischen Karneval verbirgt sich Leere. Diese Leere beginnt allzu leicht der Faschismus auszufüllen, der einerseits das Böse und die Zerstörung verkündet, andererseits die Primitivität und Leere „mit intensivierter Vergeistigung und Moralismus“ stopft, wie Merab Mamardaschwili schrieb.

    Diesen Kult der nackten Gewalt hat die Staatsmacht mit einem Kult der Ahnen umgeben, mit der heiligen Geschichte, der ethnischen Exklusivität und in letzter Konsequenz dem Krieg. Aus primitiven, kriminellen, mafiösen Formen werden vor unseren Augen ultrarechte, faschistische Phänomene. 

    Derzeit ist schwer vorstellbar, wie und wann die Primitivisierung ein Ende findet und das Wachstum von sozialen Bindungen und institutionellen Beziehungen wieder einsetzt, die nicht auf ponjatija gründen und nicht allein aus Herrschaft und Unterdrückung bestehen. Aber eins ist klar – solange Krieg ist, müssen wir in den Abgrund der Verrohung blicken, der sich hinter dem jahrelangen Karneval der Gewalt aufgetan hat.

    Weitere Themen

    Wie Merkel lernte, mit dem Gopnik zu reden

    Hinterhof-Diplomatie

    Wörterbuch des Krieges

    Im Netz der Propaganda

    Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land

    Der Krieg und seine Opfer

    Die falsche Welt

    Exportgut Angst

    „Schau mich gefälligst an!“

  • Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land

    Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land

    Die achtteilige Serie Slowo pazana war das Kulturereignis des Jahres in Russland, und auch ein enormer Erfolg in vielen Nachbarländern, in denen Russisch verstanden wird. Selbst in der Ukraine stand der Titelsong der Gruppe Aigel an der Spitze der Charts. Der Regisseur Shora Kryshownikow erzählt die Geschichte krimineller Jugendgangs in der Sowjetunion der 1980er Jahre. Unter Jugendlichen entstand in kürzester Zeit ein enormer Kult um die Serie, die auf der Plattform wink.ru gestreamt werden kann. Auf der Straße, in Cafés, in den Sozialen Medien, in der Staatsduma und in Propaganda-Talkshows wird über sie gesprochen. Allein im November wurde auf dem russischen Google-Pendant Yandex häufiger nach Slowo pazana gesucht als im gesamten Jahr nach Informationen zum Krieg in der Ukraine – das zeigt ein Vergleich der Suchanfragen, den das Onlinemedium Verstka durchgeführt hat.

    Nachdem Anfang Dezember im Gebiet Irkutsk ein 15-Jähriger von Gleichaltrigen getötet wurde, die dabei ein Zitat aus Slowo pazana verwendeten, wurden Forderungen laut, die weitere Ausstrahlung zu verbieten. In russischen Medien und im Internet wurde heftig debattiert, ob die Serie unterschwellige Kritik an den Verhältnissen in Russland übt, die von dieser kriminellen Bandenwelt geprägt sind, oder ob sie im Gegenteil im Sinne des Regimes ein Bild von der guten Staatsmacht zeichnet, die die Kriminalität bekämpft und sich rührend um Jugendliche kümmert, die vom rechten Pfad abkommen. Für die eine Lesart spricht zum Beispiel, dass die Sängerin des Titelsongs den Krieg in der Ukraine öffentlich mit deutlichen Worten verurteilt hat. Den Liebhaber einer Polizistin spielt ausgerechnet Iwan Makarewitsch, der Sohn des Musikers Andrej Makarewitsch, der wegen seiner kritischen Haltung zum Kreml und seiner Ablehnung des Krieges im Exil leben muss. Für die andere Lesart gibt es aber auch gewichtige Argumente. Nicht zuletzt wurde die Serie vom Institut zur Entwicklung des Internet gefördert, eine Organisation, die in staatlichem Auftrag eine patriotische Agenda vorantreibt und unter anderem auch den Z-Pop-Sänger Shaman und Militärblogger unterstützt hat. Die Redaktion von Holod hat Svetlana Stephenson gefragt, was an der Serie authentisch ist und was fehlt. Die Professorin für Soziologie und Kriminologie an der London Metropolitan University hat in ihrem Buch Gangs of Russia. From the Streets to the Corridors of Power die Geschichte der Straßengangs untersucht. Es war auch eine Inspiration für die Autoren der Serie.

     
    Wowa Adidas ist aus dem Krieg in Afghanistan heimgekehrt und führt jetzt eine Straßengang in Kasan an / Plakat: Rostelecom
    Wowa Adidas ist aus dem Krieg in Afghanistan heimgekehrt und führt jetzt eine Straßengang in Kasan an / Plakat: Rostelecom

    Der Erfolg der Serie Slowo pazana liegt in hohem Maße am Thema. Die kriminelle Kultur ist für Außenstehende eine verborgene Welt und macht allein deshalb schon sehr neugierig. Einerseits ist die Welt von Banden, Gangs und Mafia beängstigend; ein Verbrechermilieu, das unsere friedliche Existenz bedroht. Andererseits stellen sich viele diese Welt als eine Welt vor, in der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit herrschen und das Individuum sich in einer Gemeinschaft auflöst (selbst wenn das mit Kriminalität und Gewalt einhergeht).     

    Die Serie entführt die Zuschauer in ein von manchen schon fast vergessenes, von den meisten nie gekanntes Leben in einer sowjetischen Stadt in den 1980er Jahren. Gelungen ist die Vermittlung des schäbigen sowjetischen Alltags mit seiner ewigen Mangelwirtschaft und der stolzen Brühwurst auf dem Tisch, wo der Verlust der Pelzmütze zu einer echten Tragödie werden kann (weil sie Unsummen kostet und auch nirgendwo zu kriegen ist). Gut getroffen ist auch die unwirtliche urbane Landschaft, in der die jungen Protagonisten leben und um deren Straßenpflaster sie so verbissen kämpfen. Der Zuschauer spürt die feuchtkalten Straßen und Treppenhäuser regelrecht auf der Haut, er taucht ein in die Atmosphäre einer Zeit, in der es überall grob zugeht – vom harschen Ton der Verkäuferinnen bis zum erniedrigenden Umgang der Lehrerinnen und sogar der Putzfrauen mit den Schülern. Nur kleine Inseln der Kultur – Musikschulen – heben sich irgendwie von der allgegenwärtigen Gewalt ab, doch auch sie sind nicht in der Lage, ihre Schützlinge vor der magnetischen Anziehung der Straße zu bewahren. Dort gründen die Jungs ihre kriminellen Bruderschaften.        

    Diese Welt ist sehr glaubwürdig dargestellt. Als Expertin für Straßenbanden in Russland kann ich sagen, dass die Serie die Lebensweise und soziale Organisation der Kasaner Jugendgangs jener Zeit äußerst genau abbildet. Auch der Jargon ist gut getroffen, genau so die Rituale: Die Versammlungen der Straßengangs, von denen Außenstehende ausgeschlossen sind, Schießereien und Racheakte, Initiation und  Ausschluss-Rituale für jene, die sich nicht nach den Regeln (po ponjatijam) verhalten.

    Ein ganz normaler Teenager beginnt nach den Regeln der Straße zu leben

    Die Serie vermittelt wahrheitsgetreu, wie sich die Bandenmitglieder als  Herren über ihr Territorium verstanden und sich berechtigt fühlten, von allen, die es betraten, Schutzgeld zu erheben – vor allem von Jugendlichen, die keiner Bande angehörten und von Leuten, die dort ihre Firmen gründen wollten.

    Den Machern von Slowo pazana gelingt es, ohne belehrend oder moralisierend zu wirken die Geschichte eines ganz normalen Teenagers zu erzählen, der sich einer Bande anschließt, nur weil er sich sonst nicht sicher fühlen kann. Dann beginnt er, wie es damals hieß, „mit den Pazany zu leben“: Er gerät in eine Gesellschaft, in der die Illusion einer männlichen Gerechtigkeit geschaffen wird, in der einer für alle einsteht und alle für einen, und in der das Gaunerehrenwort als unanfechtbares Gesetz gilt.

    Je tiefer der Held jedoch in diese Welt eintaucht, desto mehr Gefahren ist er ausgesetzt. Das Risiko, im Gefängnis zu landen, die Gesundheit oder gar das Leben zu verlieren, ganz zu schweigen vom Leid der Angehörigen – das ist es, was die Jungs in ihrem neuen Leben erwartet. Und Gerechtigkeit suchen sie in den Banden vergeblich.

    Obwohl das nicht alles in der Serie vorkommt, gehörten interne Konflikte bis hin zur Ermordung der einen Bandenführer durch die anderen, der Raub der Gemeinschaftskasse jüngerer Gruppen und deren gnadenlose Ausbeutung durch ältere Banden zur Norm. Die männlichen Bruderschaften erwiesen sich in einer Gesellschaft, in der auch Beziehungen innerhalb der Gruppen mit Gewalt reguliert wurden, als äußerst unzuverlässig. Ein junger Mann, der sich von seiner Bande bereits losgesagt hat, und den ich zu Forschungszwecken interviewt habe, beschrieb es so:

    „Was ich damals bemerkenswert fand: Da ist zum Beispiel ein Typ von der Straße, den man kennt, man ist richtig befreundet mit ihm, verbringt viel Zeit zusammen, er gilt als Kumpel. Doch dann baut er irgendwie Scheiße, und auf einmal wird er geschasst, alle verprügeln ihn, pressen ihm Kohle ab. Gerade noch war man gut Freund, lag sich in den Armen, und auf einmal spuckt man ihn an und schlägt ihn. Das ist doch eine Schweinerei, das geht doch nicht. Ich brachte so etwas nie zustande, mir war das irgendwie zu arg. Mehreren von uns ging es ähnlich, die konnten das auch nicht. Aber zum Teil waren da Leute, für die war man heute ein Freund und morgen einfach nur ein Niemand.“

    Auf das berüchtigte Gaunerehrenwort – in der Serie hört man den Begriff Slowo pazana ständig – war in jenen Jahren auch nicht wirklich Verlass. Es funktionierte nur in Bezug auf ebensolche Pazany, alle anderen konnte man ohne jegliche Konsequenzen damit verarschen – auf Betrug und Diebstahl an Außenstehenden war man besonders stolz.

    Die Verflechtung krimineller Gangs mit der Polizei fehlt in der Serie

    Die Serie wird von liberal gesinnten Kritikern sehr gelobt. Von den künstlerischen Vorzügen abgesehen, lesen sie eine politische Botschaft heraus, die sich ihnen klar erschließt: Die jungen Serienhelden sind als Opfer des morschen sowjetischen Systems dargestellt, mit seiner Korruption und Verlogenheit, mit seinen wachsenden wirtschaftlichen Problemen. Diese Jungs der 1980er werden als Vorboten der weiteren Entwicklung von Putins Russland gesehen, in dem Putins hinfälliges System, das noch dazu einen unnötigen Krieg angezettelt hat, das Land fast unweigerlich in ein Chaos von Straßenbanden, Gewalt und krimineller Umverteilung des Eigentums stürzen wird.

    Ich sehe aber auch, wie die Serie bei all ihrem Wahrheitsgehalt mal wichtige Realien der damaligen Zeit außen vor lässt, mal dem sowjetischen Alltag etwas hinzufügt, das es gar nicht gab. Die Gopniki und ihre Eltern und Lehrer sind äußerst überzeugend dargestellt, doch gleichzeitig stechen bei der Darstellung der damaligen Silowiki ziemliche Unstimmigkeiten ins Auge.

    Die Miliz ist durch zwei unglaubwürdige Typen vertreten: ein wunderschönes Turgenjewsches Mädchen, das Andrej, den Pionier und Gopnik, mit beinah liebevoller Fürsorge bedenkt, und ein infernalischer Ermittler, der Anzüge einer damals nicht vorhandenen Preisklasse trägt (er scheint eher einem heutigen, ebenfalls der Kinoleinwand entsprungenen und allmächtigen FSB-Agenten nachempfunden als einem sowjetischen Milizionär). 

    Die Autoren der Serie zeigen zwar die Sitten und Gebräuche der Straße, versäumen dabei aber, zu beschreiben, wie sich dieses Milieu in das große Ganze einfügt, wo es komplexe Wechselbeziehungen zwischen kriminellen und legalen Machtstrukturen gab. Solche Verbindungen zwischen Polizei und kriminellen Autoritäten sind in Kasan dokumentarisch belegt. Der Kriminalfall Tjap-Ljap zum Beispiel (eine berühmte Bande, die in den 1970ern in Kasan Massenprügeleien und Morde zu verantworten hatte und als Ausgangspunkt des so genannten Kasan-Phänomens gilt – Anm. Cholod) enthält Beweise, dass die Miliz die Bande gedeckt hat. Nach der Verurteilung ihrer Anführer wurden fünfzig Beamte gekündigt. Davon ist in Slowo pazana an keiner Stelle die Rede. Dafür wartet die Serie mit einem primitiven Antiamerikanismus auf, den es in jenen Jahren nicht gab. Im Gegenteil, Ende der 1980er war alles Ausländische heiß begehrt, Amerika wurde – wie überhaupt der ganze Westen – von Ferne geliebt. Und in der Diskothek tanzten die Gopniki nicht zu Laskowy maj, sondern zu Pop aus dem Westen.

    Schön wäre es, eine Fortsetzung der Serie zu sehen, mitzuverfolgen, wie die Banditen und ihre Bosse im neuen kapitalistischen Russland aufsteigen, wie sie die Gewinne der privatisierten sowjetischen Betriebe und privater Firmen kassieren, wie sie Chefsessel von Unternehmen, hohe Funktionen in der Staatsverwaltung und Rektorenposten an Universitäten besetzen. Aber eine solche Fortsetzung werden wir wohl kaum zu sehen bekommen, zumindest nicht in nächster Zeit.

     

    Weitere Themen

    Schwanensee – Ballett, Requiem und Protestsong

    Im Netz der Propaganda

    Kino #3: Brat

    Alexej Balabanow

    Auf der Leinwand: großes Kino

    Gopniki

  • „Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt“

    „Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt“

    Seit 2022 gibt es in Russland Menschenrechtsorganisationen, die Soldaten und von der Mobilmachung betroffene Männer bei der Fahnenflucht unterstützen. Eine davon ist Idite lessom (dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!). Auf iStories sprechen ein Funker aus dem Ural und ein Militärarzt aus Burjatien anonym darüber, wie sie mit Hilfe der Organisation dem Fronteinsatz in der Ukraine entkommen konnten.

    „Ich denke, dass man immer eine Wahl hat“, sagt ein Militärarzt aus Burjatien, der einem Fronteinstatz entkommen konnte / Foto © IMAGO / SNA

    „Ich bekam Angst und unterschrieb den Vertrag”

    Funkmelder aus dem Ural. Desertierte nach sechs Monaten an der Front

    Ich bin in einer ganz normalen Familie im Ural aufgewachsen. Wenn mir Zeichentrickfilme vorgesetzt wurden, schaltete ich um auf Kriminelles Russland. Ich träumte vom Himmel, wollte auf die Fliegerschule und Pilot werden, weil mich Flugzeuge und Kampfjets faszinierten. 

    2018 ging ich zum Wehrdienst, dachte, es sei nichts dabei, ein Jahr meines Lebens der Armee zu schenken. Ich war MG-Schütze in den Truppen der Nationalgarde, habe dort die Fußball-WM miterlebt – meine einzige positive Erinnerung an diese Zeit. 

    An meinen Händen klebt Blut bis zu den Ellenbogen

    Nach der Entlassung suchte ich mir eine normale Arbeit, während meine Kameraden zum FSB, ins Ermittlungskomitee und zur Staatsanwaltschaft gingen. Als die Mobilmachung begann, haben sie mir gesagt, dass ich das Land nicht mehr verlassen könne. Sie rieten mir, den Vertrag freiwillig zu unterschreiben und versprachen mir Tipps, wie ich die Front meide und am Leben bleibe. Ich hatte Angst, dass meine Familie Probleme kriegen würde, wenn ich mich weigerte (sie hatten dem FBK Geld überwiesen, das könnte ihnen womöglich zum Verhängnis werden) und unterschrieb den Vertrag. Ich wollte bei nächster Gelegenheit sofort aussteigen. Dann erfuhr ich, dass der Vertrag automatisch bis zum Ende der „Spezialoperation“ verlängert wurde. Ich konnte weder kündigen noch Urlaub nehmen – es gab keine Rotation. Oder wie man uns später sagte: Im Verteidigungsministerium herrscht Leibeigenschaft.

    Ich kam [mit Hilfe meiner ehemaligen Kameraden] in eine Sonderabteilung der Aufklärungsgruppe, offiziell hieß meine Funktion „Funkmelder der Gruppe für Korrespondenz und Kommunikation für kleinere Funkstationen der Sondereinsatzgruppen“. Ich stand auf der Sendestation und funkte der Artillerie die Richtung durch. Ja, an meinen Händen klebt Blut bis zu den Ellbogen von diesem Artilleriefeuer. Aber ich habe nie selbst auf jemanden geschossen.  

    Wie landen die Leute an der Front? Mein Kamerad verdiente zum Beispiel im Bergbau 150.000 Rubel [rund 1500 Euro – dek]. Das war ihm zu wenig, also wurde er Vertragssoldat. Ich hab auch andere gefragt, warum sie hier sind. Manche der Mobilisierten sagten, Hauptsache weg von zu Hause, von der Ehefrau. Manche sind einfach nur Gesocks. Einer sagte: „Ich hab eine große Familie und wusste nicht, wie ich sie ernähren soll, und dann wurde ich einberufen.“ Er hat sich also einfach damit abgefunden, das bricht mir das Herz.

    Ein anderer Vertragssoldat hat geantwortet, zu Hause sei ihm langweilig gewesen. Ich sagte zu ihm, er sei ein kompletter Vollidiot. Später, nach einem Beschuss, sah ich die Angst in seinen Augen und dass er erkannt hatte, wo er da gelandet war und dass sein Leben keinen müden Heller wert ist.

    Und dann gibt es die sogenannten Patrioten. Ich kann mich an einen Jungspund erinnern, der zu unserer Brigade kam und sagte, er wolle was erleben, „die Chochly aufschlitzen, von einem Ohr zum anderen“. Ein paar Tage später konnte ich zusehen, wie es ihm den Kopf abriss – er wurde von einem Granatsplitter getroffen, „von einem Ohr zum anderen“.

    Ich war nicht der Einzige, der sich entschloss, zu fliehen: Bei uns waren es vier, in anderen Einheiten einer oder zwei. 

    Anfang April 2023 gerieten unsere Stützpunkte unter Beschuss: Ein Kamerad, der erst seit einem Monat dabei war und nicht wusste, wie man unbemerkt zum Stützpunkt zurückkehrt, hatte eine ukrainische Drohne angelockt. Sechs Personen, mich eingeschlossen, wurden verletzt – ich hatte eine leichte Gehirnerschütterung und Splitter im Arm. Wir liefen zu Fuß bis zum Evakuierungspunkt, dann brachte man uns ins Spital. Dort traf ich unseren Kommandanten (er war schon früher verletzt worden) und sagte zu ihm: „Ich gehe nicht mehr dahin zurück, du weißt selber, warum.“ Ich wusste, dass er ebenfalls keine Illusionen mehr hatte. Er antwortete: „Ja, ich verstehe dich“, und drückte mir die Hand. 

    Mein verletzter Kamerad bekam zu hören: ,Laufen kannst du ja‘ – und wurde wieder in die Schlacht geschickt

    Von anderen Soldaten erfuhr ich, dass ein Entlassungsschein drei Millionen Rubel [ca. 30.000 Euro – dek] kostet. Das heißt, man wird verletzt und steckt dann die ganze Entschädigung in die Vertragsauflösung. Aber das geht nur über Angehörige im Kaukasus, und ich bin vom Ural. 

    Sie zogen mir die Splitter raus, operierten mich. Mein Arm funktionierte nicht mehr richtig, Sehnen und Muskeln waren beschädigt. Im Fall einer Verletzung bekommt man 30 Tage frei, in dieser Zeit engagierte ich Juristen, die mir helfen sollten, da rauszukommen. Mein Kamerad, der eine Verletzung am Bein hatte, bekam zu hören: „Egal, laufen kannst du ja“ – und wurde wieder in die Schlacht geschickt. 

    Einmal kamen vier „Kontrabässe“ aus meiner Einheit zu meinem Haus – das sind Kontraktniki [Vertragssoldaten – dek], die versucht haben, den Dienst zu verweigern, aber aufgrund der folgenden Drohungen dann doch geblieben sind. Sie dienten sozusagen als auswärtige Wachhunde und passten auf, dass ich nicht abhaue. Zwei Tage hingen sie vor meiner Tür herum, einer saß die ganze Zeit auf einem Pappkarton und lauerte.  

    Neben meinem Haus stand ein Baum. Ich beschloss, mir Jägermeister und ein paar Schmerzmittel einzuwerfen und vom dritten Stock auf diesen Baum zu springen. Ich hatte sogar mit einem Freund abgemacht, dass er mich unten aufsammeln würde, falls ich mir die Beine breche. Aber ich musste zum Glück nicht springen: Die Nachbarn gaben Bescheid, dass die beiden Wachhunde weg waren, und ich verließ die Stadt.

    Einer von meinen Verwandten erzählte mir dann von der Organisation Idite lessom und schickte mir eine Videoreportage von iStories über fahnenflüchtige Offiziere. Was eine solche Flucht betraf, war ich skeptisch, zudem dachte ich ja, meine Juristen würden mir helfen. 

    Ich tauchte ein paar Monate unter. Es wurde sogar ein Fahndungsfoto von mir überall in der Stadt aufgehängt. Ein Kamerad, mit dem ich im Krieg gewesen war und der nach einem Urlaub mit Hilfe von Bekannten in den Ural versetzt wurde, erzählte mir, dass man ihm Geld und einen Posten versprochen hätte, wenn er mich verrät. Als wir zusammen gedient haben, lieh ich ihm immer wieder Geld, damit er es seinen Eltern nach Hause schicken konnte, wenn er mal wieder kein Gehalt bekam. Und er erzählte mir, dass die Spionageabwehr nach mir fahnden würde – weil ich ja ein Staatsgeheimnis unterzeichnet habe. Aber er sagte auch, diese Suche würde eine gewisse Zeit dauern, und die sollte ich nutzen, um mir „einen Fluchtplan auszudenken“. Da schrieb ich an Idite lessom. Gleich am nächsten Tag schickten sie mir einen Plan mit einer Fluchtroute, und ich verließ das Land. 

    Inzwischen bin ich in Russland wegen Artikel 337 angeklagt: Unerlaubtes Entfernen von der Truppe. Meinen Verwandten, die noch immer in Russland sind, hat man jedoch gesagt: „Er kriegt Artikel 275, Landesverrat. Wenn ihr uns nicht sagt, wo er ist, dann obendrein noch Artikel 338, Fahnenflucht.“ Bislang lebe ich von dem Geld, das ich als Soldat verdient und in Cryptowährung angelegt habe. Für die Verletzung habe ich drei Millionen bekommen. Damit habe ich meiner Familie geholfen, ihre Kredite abzuzahlen, der Rest ging bei dem Versuch drauf, eine Kündigung aus medizinischen Gründen zu erwirken – als Honorar für die Anwälte, die mir nicht helfen konnten.

    Ich kenne Leute, die über Soldaten sagen: Das sind Trottel, Arschlöcher. Kann man das auch über mich sagen? Ja, von mir aus, nur zu. Ja, es war mein Fehler, dass ich da hingegangen bin und nicht sofort versucht habe, abzuhauen.

    Wir müssen alles tun, damit ihr nicht kämpft

    Jetzt muss ich erst mal weiter, einen Ort finden, an dem ich sicher bin. Ich fühle mich sehr allein. Ich kann mich schwer mit meiner Vergangenheit abfinden, schwer damit leben. Ich würde am liebsten alles vergessen und niemandem davon erzählen. Euch erzähle ich das, weil es vielleicht jemandem bei der Entscheidung hilft, jemandem zeigt, dass es Möglichkeiten gibt. Oder wie sie bei Idite lessom gesagt haben: „Wir müssen alles tun, damit ihr nicht kämpft.“
    Wahrscheinlich klingt das, als wollte ich auf zwei Stühlen gleichzeitig sitzen. Aber verdammt. Ich habe mir von Anfang an geschworen, jede Möglichkeit zu nutzen, um nicht an diesem Krieg teilzunehmen. Aber das System hat mich gebrochen. Ich habe meine geliebte Heimat verloren, meine Verwandten, Eltern, Freunde, obwohl sie mich unterstützen. Meine Leute wissen, dass ich kein kompletter Vollidiot bin. Aber ich habe das Gefühl, dass ein Teil von mir dort geblieben ist. Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt.  

    „Ich wollte nicht Handlanger für diese Kriegsverbrechen sein”

    Militärarzt aus Burjatien. Flüchtete vor seinem Einsatz an der Front aus Russland

    Ich bin in Ulan-Ude geboren und aufgewachsen. Meine Familie gehört statistisch gesehen zur Mittelschicht: Die Mutter Lehrerin, der Vater Fabrikarbeiter. Ich war noch ganz klein, als sie sich scheiden ließen. Als Schüler war ich in einem militär-patriotischen Klub, das war mein Einstieg. Ich nahm mir vor, zum Militär zu gehen, ich fand, das war ein gefragter Männerberuf.

    Nach der Schule studierte ich an der militärmedizinischen Akademie. Im dritten Studienjahr fing ich an, mich näher mit der Kultur meines Volkes zu befassen, die burjatische Sprache zu lernen und das alles ernster zu nehmen. Der Wunsch, Offizier der russischen Armee zu werden, ließ gleichzeitig nach, weil mir bewusst wurde, dass Russland der direkte Rechtsnachfolger der Sowjetunion und des zaristischen Imperiums ist. Es kam mir plötzlich sehr dumm vor, unbedingt in die Armee zu wollen. Ich wollte mein Studium abbrechen und stellte einen Antrag auf Exmatrikulation. Erfolglos: Die Akademie schrieb meinen Eltern einen Brief mit der Aufforderung, „Maßnahmen zu ergreifen“. Meine Eltern sagten, es sei doch mein Plan gewesen, Offizier zu werden, also solle ich erst mal meinen Abschluss machen: Was man anfängt, das muss man auch durchziehen. Ich schloss also mein Studium ab und arbeitete dann meiner Ausbildung entsprechend als Arzt.    

    Als der Krieg begann, war ich gerade im Außendienst: als Bereitschaftsarzt für Soldaten, die in Russland ein Infrastrukturobjekt sanierten. Ehrlich gesagt, hat mich das kalt erwischt, und das gab den Ausschlag dafür, dass ich beschloss zu kündigen.

    Der Außendienst dauerte bis zum Sommer, nach meiner Rückkehr reichte ich die Kündigung ein. Die Entlassung eines Militärangehörigen – und erst recht eines Offiziers – ist nicht gerade ein einfacher und schneller Vorgang. Es hilft, sich bei den Vorgesetzten unbeliebt zu machen, damit sie selbst daran interessiert sind, einen loszuwerden. Ich hatte gerade damit angefangen, aber dann kam die Mobilmachung und alle Kündigungen wurden aufgehoben. Wieder musste ich in den Außendienst, in den Fernen Osten, als Chefarzt einer Division.

    Ich versuchte, eine Entlassung aus gesundheitlichen Gründen zu erwirken. Verbrachte fast drei Monate im Spital, wo sie ein paar Erkrankungen feststellten. Aber für eine Entlassung reichte es nicht. Ich wurde in Kategorie B eingestuft – tauglich mit leichten Einschränkungen.  

    Im Februar 2023 kehrte ich an meine permanente Dienststelle zurück. Im Frühjahr wurde mir mitgeteilt, dass wir nach Zentralrussland versetzt werden, eine neue Einheit bilden und in der Ukraine kämpfen sollen. Mir blieben gerade mal zwei Wochen, in denen ich mich noch relativ frei im Land bewegen konnte.

    Ich schrieb auf Instagram der Mitbegründerin der Stiftung Swobodnaja Burjatija (dt. Freies Burjatien) Viktoria Maladajewa, fragte sie um Rat. Sie gab mir ein paar Tipps und empfahl mir das Team von Idite lessom. Ich erklärte ihnen meine Situation und dass ich keinen Reisepass habe. Sie schlugen mir eine Route vor. 

    Ich hatte Angst vor den Konsequenzen, falls ich erwischt würde, aber ich bemühte mich, diese Gedanken wegzuschieben und einem exakten Plan zu folgen. Von meiner Familie wurde ich sehr unterstützt. Meine Schwester kam extra zu mir nach Moskau, buchte meine Tickets, mietete Unterkünfte an – sie machte alles. 

    Es hat geklappt. Jetzt bin ich weder in Russland noch in der Ukraine. Laut Gesetz der Russischen Föderation bin ich ein Deserteur, und das ist ein strafrechtlich relevantes Verbrechen. Das Land, in dem ich jetzt bin, kann mich nach Russland ausliefern. Deswegen habe ich Angst, einen Reisepass zu beantragen. Ständig rechne ich mit einem Anruf von zu Hause, dass sie sagen: Das war’s, du wirst gesucht. Aber noch ist meine Familie von Hausdurchsuchungen und Verhören verschont geblieben. 

    Ich wollte nicht als einer der vielen Kriegsversehrten zurückkehren, die danach weiter Gräueltaten verüben

    Warum ich mich zur Flucht entschieden habe? Ich wollte einfach nicht Handlanger sein für diese Kriegsverbrechen, die dort begangen werden. Ich wollte nicht als einer der vielen Kriegsversehrten zurückkehren, die in weiterer Folge auch immer wieder Gräueltaten verüben. Auch das ist eine Art Beihilfe.

    Ja, ich bin Offizier, ich stehe unter Vertrag und ich dachte bis zu einem bestimmten Moment, dass ich meine Pflicht erfüllen muss. Doch sobald sich eine Möglichkeit geboten hat, habe ich sie genutzt. Ich habe viele Studienkollegen, die gleich nach der Ankündigung der Mobilmachung das Land verlassen haben. Das heißt, zumindest von jenen, zu denen ich noch Kontakt habe, ist der Großteil nach Möglichkeit abgehauen. Bisher ist keiner meiner Freunde und guten Bekannten in den Krieg gezogen und hat es auch nicht vor. Was sie da über die Burjaten schreiben, ist mir egal. Ich glaube, die meisten Burjaten wollten von Anfang an nicht kämpfen und wollen es auch jetzt nicht. 

    Ich denke, dass man immer eine Wahl hat. Ich will keine Namen nennen, aber ich kenne Leute, die sich einen Finger abgehackt haben, um ins Krankenhaus zu kommen und nicht an die Front. Auch eine Entscheidung.

    Weitere Themen

    Kanonenfutter: „Wenn sie sterben – umso besser“

    Mobilmachung für die Planzahl

    „Sie trinken aus Angst. Aber das hilft nicht“

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

    Putins Ökonomie des Todes

  • „Wir wollen jedes Kind erreichen“

    „Wir wollen jedes Kind erreichen“

    Wladimir Putin setzt auf die junge Generation. Seine Strategen haben bereits Mitte der 2000er Jahre die Jugendbewegung Naschi (dt. Die Unsrigen) ins Leben gerufen. Als deren Funktionäre älter wurden, wurden sie ersetzt durch Iduschtschije Wmeste (dt. Wir gehen gemeinsam). Es folgte Set, „Das Netz“ für die Generation Social Media und natürlich die militaristisch-patriotische Junarmija, die unter der Aufsicht des Verteidigungsministeriums Wehrsport betreibt.

    Das neueste Projekt heißt Bewegung der Ersten, was nicht von Ungefähr an die Pioniere erinnert. Das Portal Verstka hat recherchiert, mit welchen Versprechen Schülerinnen und Schüler zu den Aktionen der Ersten gelockt werden und was sich der Staat die Formung der jungen Generation im Geiste von Patriotismus und Putinismus kosten lässt. 

    Bald soll eine neue Jugendorganisation an allen Schulen in Russland ihre Tätigkeit aufnehmen. Was steckt hinter der Bewegung der Ersten, und wie ist sie aufgebaut?

    Seit zwei Jahren existiert in Russland eine landesweite Organisation für Kinder und Jugendliche – die Bewegung der Ersten (Dwishenije perwych). Aktuell gibt es 30.000 Standorte im ganzen Land und in den besetzten Gebieten der Ukraine. Bis Anfang Herbst waren mehr als eine Million Menschen der Organisation beigetreten, und im laufenden Jahr ist geplant, zusätzlich sieben Millionen Schüler und Studenten als Mitglieder zu gewinnen. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, „jedes Kind zu erreichen“, deshalb sollen Ableger an allen Schulen, in den meisten Universitäten, Colleges, weiterführenden Bildungseinrichtungen und sogar in Unternehmen entstehen. Verstka hat recherchiert, wie die Bewegung Kindern die Staatsideologie einpflanzt und allmählich allgegenwärtig wird.

    „Das sind Pioniere, oder?“

    „Wir haben diese Organisation ins Leben gerufen, um Russland eine große Zukunft zu sichern. Um allen Generationen ein würdiges und glückliches Leben zu ermöglichen. Um die Welt zum Besseren zu verändern. Wir sehen uns als Pioniere unseres Vaterlandes.“ Neun Schüler einer Schule in Lipezk tragen auf der Bühne der mit Luftballons in den Farben der Trikolore geschmückten Aula das „feierliche Gelöbnis“ der Aktivisten der Bewegung der Ersten vor. „Unsere Mission ist es, für Russland zu sein, Menschen zu sein, zusammen zu sein, in Bewegung zu sein, die Ersten zu sein.“

    Der offiziellen Legende nach geht die Gründung einer russischen Kinder- und Jugendbewegung (RDDM), der Bewegung der Ersten auf Diana Krassowskaja zurück – eine Schülerin aus Sewastopol, die 2014 von Luhansk auf die Krim gezogen ist. Wladimir Putin „unterstützte“ die Idee. Im Juli 2022 unterschrieb der russische Präsident einen entsprechenden Erlass und übernahm persönlich den Vorsitz im Aufsichtsrat der Bewegung. Laut dem Erlass können sich der Bewegung Mitglieder zwischen 6 und 18 Jahren anschließen sowie Erwachsene (einschließlich volljährige Studenten), die als Mentoren fungieren und Veranstaltungen organisieren können.

    Der Name Bewegung der Ersten wurde auf der ersten Vollversammlung der Organisation im Dezember 2022 gewählt – allerdings erst im dritten Anlauf. Die anderen Vorschläge waren: Pioniere, Gagarin-Bewegung, Neue Generation und Großer Wandel. Nachdem die Wahl gefallen war, soll Putin gefragt haben: „Die Ersten – was soll das heißen? Das sind Pioniere, oder?“ Woraufhin die Vize-Premierministerin Tatjana Golikowa sagte: „Ja. Früher hießen die so.“ Und obwohl der Präsident vorschlug, den Namen noch einmal zu „überdenken“, blieb es dabei.

    Vorstandsvorsitzender der russischen Kinder- und Jugendbewegung (RDDM) wurde Grigori Gurow, der seit 2017 in der föderalen Agentur für Jugendangelegenheiten gearbeitet hatte und seit 2021 stellvertretender Minister für Wissenschaft und Hochschulbildung war.

    Der neuen Bewegung wurden die Russische Schülerbewegung (Rossiiskoje dwishenije Schkolnikow RDSch) und andere große Kinderverbände angegliedert. Dazu gehören die Junarmija (dt. Junge Armee), der Wettbewerb Großer Wandel, die Nowosibirsker Union der Pioniere und die Pioniere von Baschkortostan, die alle zu Mitbegründern der RDDM wurden.

    Die Bewegung der Ersten entstand also nicht aus dem Nichts. Die Russische Schülerbewegung gab es in Russland bereits seit 2015. Sie wurde auf eine Initiative von Wladimir Putin hin gegründet und widmete sich der „Erziehung und Lebensgestaltung“ von Schülern auf Basis des „Wertesystems der russischen Gesellschaft“. Finanziert wurde die Bewegung von der Föderalen Agentur für Jugendangelegenheiten Rosmolodjosh. Mit der Gründung der Bewegung der Ersten wurde das alte Format aufgelöst.

    Die militaristisch-patriotische Bewegung Junarmija untersteht formell nun auch der neuen Organisation. Um in die Bewegung der Ersten einzutreten, müssen sich die Mitglieder jedoch gesondert registrieren. In vielen Regionen sind die Standorte der Junarmija weiterhin autonom, auch wenn sie anlässlich militaristisch-patriotischer Veranstaltungen mit der neuen Bewegung zusammenarbeiten.

    Sie pflanzen Bäume und sehen eine Videobotschaft von Putin

    Lisa ist 15. Seit der zweiten Klasse ist sie Mitglied einer Jugendbewegung im Gebiet Krasnojarsk. Sie führt biologische Untersuchungen durch und tritt bei Konferenzen auf. 2022 erzählte ihr der wissenschaftliche Leiter von dem Forum Ökosystem, das auf der Halbinsel Kamtschatka stattfand. Dort konnten Mitglieder der Bewegung der Ersten teilnehmen, die das Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen hatten. Die Schülerin bewarb sich und wurde eingeladen. Im Auswahlgespräch gab sie an, dass sie sich seit ihrer Kindheit für Biologie und Ökologie interessiert.

    Bei der Eröffnung wurde eine Ansprache von Wladimir Putin übertragen, als Redner waren der [Erste stellvertretende – dek] Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Kirijenko und andere Staatsbeamte eingeladen. Die Vorträge handelten jedoch nicht nur von Ökologie. „Die Redner kamen, um mit uns über die Welt zu sprechen, über das, was jetzt im Land passiert. Sie drückten ihre Unterstützung für unsere Bewegung aus und motivierten uns, weiterzumachen“, erinnert sich Lisa im Gespräch mit Verstka. „Sie sagten, dass jetzt nicht die günstigste Zeit für das Land sei, und dass man auf der Hut sein müsse und aufpassen, was man sagt: Man weiß ja nie, wer vor einem steht. Sie sagten auch, dass im Internet alle möglichen Leute unterwegs wären und man nicht auf jeden hören sollte, weil viele Falschinformationen verbreitet würden.“

    Die am weitesten verbreitete Form der Arbeit der Bewegung der Ersten sind Aktionen, die anlässlich staatlicher Feiertage durchgeführt werden. Hier: Hissen der russischen Flagge am Tag des Wissens in Moskau, im September 2023 / Foto © Konstantin Kokoshkin/IMAGO, Russian Look

    Inhaltlich umfasst die Bewegung der Ersten insgesamt zwölf Bereiche: Bildung und Wissen; Wissenschaft und Technik; Arbeit, Beruf und Wirtschaft; gesunde Lebensführung; Kultur und Kunst; Freiwilligenarbeit und ehrenamtliches Engagement; Sport; Medien und Kommunikation; Diplomatie und internationale Beziehungen; Tourismus und Reisen; Ökologie und Umweltschutz; Patriotismus und historisches Gedächtnis. Zu jedem Bereich initiieren die Aktivisten landesweite, regionale und schulische Projekte, Festivals, Konzerte, Wettbewerbe und Contests – im Programm der Bewegung füllen die möglichen Formate zwei ganze Seiten.

    Auch wenn nicht alle Bereiche in direktem Zusammenhang mit Patriotismus und Wehrerziehung stehen, definiert das Programm der Bewegung als Ziele ihrer Bildungsarbeit „Formulierung und Verteidigung der Interessen des Vaterlandes, Selbstverwirklichung und zivile Bildung von Kindern und Jugendlichen im Kontext der russischen Identität“. So lief beispielsweise den ganzen Sommer über die Kampagne Ein Buch für einen Freund: Schüler sammelten ihre Lieblingskinderbücher und schickten sie zu Beginn des Schuljahres an Schulen in den [okkupierten] Regionen Cherson und Saporishshja und in die sogenannten Volksrepubliken DNR und LNR.

    „Das Ziel der Bewegung der Ersten ist Patriotismus“, erklärt ein Gesprächspartner von Verstka freiheraus, der als Erziehungsberater für 17 Schulen im Föderationskreis Nordwest verantwortlich ist. „Indem man die Wissenschaft voranbringt, verbessert man den Status seines Landes. Alles ist miteinander verknüpft. Es gibt keine Erziehung ohne Bildung und keine Bildung ohne Erziehung.“

    Die Bewegung der Ersten verfolgt jedoch auch offen militaristische Projekte. Zum Beispiel die militärischen Ausbildungscamps Der Verteidiger als Mentor, in denen junge Teilnehmer der Militärischen Spezialoperation Kinder unterrichten. Oder Sarniza 2.0 – eine moderne Version des seit Sowjetzeiten bekannten militärisch-patriotischen Rollenspiels. Nach Angabe von Grigori Gurow lernen die Teilnehmer, wie man Drohnen steuert, mit Funkgeräten umgeht und Fakes entlarvt.

    Die am weitesten verbreitete und einfachste Form der Arbeit der Bewegung der Ersten sind jedoch Aktionen, die anlässlich staatlicher Feiertage durchgeführt werden. Am Tag des Vaterlandsverteidigers wurden Schulkinder beispielsweise aufgefordert, Briefe an russische Armeeangehörige zu schreiben, und am Tag der russischen Flagge sollten sie die Trikolore zeichnen. Bei einer anderen Aktion mit dem Namen Wir sind Bürger Russlands erhalten Jugendliche, die ihr 14. Lebensjahr vollendet haben, ihre Pässe an einem besonderen Datum (zum Beispiel am Tag Russlands am 12. Juni oder zum Tag des Wissens am 1. September) und in einer feierlichen Atmosphäre: mit gehisster Flagge und zur russischen Hymne.

    Daniil Ken, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Aljans utschitelei, ist der Meinung, dass auch der Sinn scheinbar neutraler Aktionen und Projekte letztlich auf Ideologiearbeit mit den Schülern hinausläuft. „Manche durchschauen das vielleicht nicht“, sagt er zu Verstka, „manche lassen sich vielleicht davon täuschen, dass ziemlich viele der Aktivitäten quasi unpolitisch sind. Sie spielen ja auch Volleyball, gehen ins Museum, pflanzen Bäume. Aber wie funktioniert das: Zuerst gibt es ein Event zu einem ganz neutralen Thema, und dann streuen sie eine Videobotschaft von Putin mit Glückwünschen zum Jubiläum ein. Alles, was mit dem Staat oder der Geschichte zu tun hat, zielt auf Loyalität“.

    Die Illusion eines sozialen Aufstiegs

    Wassilissa aus der Oblast Orenburg geht in die zehnte Klasse. Bei der Bewegung der Ersten ist sie seit einem halben Jahr. Es sei ihr sehr wichtig gewesen, Mitglieder aus anderen Regionen kennenzulernen, erzählt sie Verstka. Wassilissa hat im Wettbewerb Universitärer Nachwuchs (Universitetskije smeny) gewonnen und bekam eine Reise nach Moskau bezahlt, wo sie nicht nur andere Schüler und Schülerinnen, sondern auch Prominente traf.      

    Wassilissa möchte Journalistin werden und bat die Organisatoren des Projekts, am Moskauer Kulturinstitut Marketing-Team für Social Media mithelfen zu dürfen. „Ich habe bei den meisten der Veranstaltungen die Beleuchtung gemacht“, erzählt sie stolz. „Jetzt bin ich im Block für Öffentlichkeitsarbeit und würde gern in den sozialen Medien mithelfen, wenn ich darf. Ich habe große Pläne, möchte mehr über die Entstehung der Bewegung erfahren und meine Kenntnisse vertiefen.“

    Um der Bewegung der Ersten beizutreten genügt es, sich auf deren Website zu registrieren, als Teilnehmer oder als Mentor (diese Option steht Erwachsenen offen – Pädagogen, Eltern, volljährigen Studierenden), dort einen Fragebogen auszufüllen und einen Aufnahmeantrag hochzuladen. Laut Tatjana Kossatschjowa, der Vorsitzenden der Zweigstelle Rjasan, wird in der Regel jedes Kind aufgenommen.

    Ihr zufolge liegt die Motivation der Kinder darin, Neues zu lernen, sich weiterzubilden, kostenlos in andere Regionen zu reisen und dort die allrussischen Kinderzentren zu besuchen. Wer an Freiwilligenprojekten teilnimmt, bekommt ein Freiwilligenbuch, anhand dessen ihm an manchen Hochschulen Zusatzpunkte angerechnet werden (gleichwertig mit einem goldenen GTO-Abzeichen und einer guten Note für die Abschlussarbeit). Außerdem können die Sieger des Wettbewerbs Großer Wandel (Bolschaja peremena) auf Staatskosten an russischen Hochschulen studieren und bei der Aufnahmeprüfung Zusatzpunkte erhalten. Umgekehrt können Studierende, die Mitglieder der Bewegung sind, zusätzliche Bildungsangebote nutzen und dafür Bildungsnachweise nach staatlichem Muster erhalten. 

    Daniil Ken, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft  Aljans utschitelei merkt an, dass die Bewegung der Ersten „die Illusion eines sozialen Aufstiegs für die Jugend“ erzeuge. Wer sich ausprobieren möchte, bekomme hier die Gelegenheit. Die Kinder könnten an Medienprojekten teilnehmen, dem Schulkomitee beitreten und den Leiter der Bezirksverwaltung treffen. Eine Funktion in der Bewegung bekämen aber nur einige Wenige anvertraut, sagt der Experte. 

    „Welche Perspektiven haben Oberschüler in einer Kleinstadt? Sie wissen, wie niedrig die Gehälter sind, sie kennen den Zustand der Betriebe. Ihre Aussichten sind nicht allzu rosig. Und da kommt der Staat auf sie zu und sagt: ‚Alles gut, das wird schon. Ihr werdet Karriere machen, Anerkennung bekommen und Status. Mit uns gemeinsam wachsen. Wir sind stark, stell dich unter unsere Fahne, dann wird alles gut.‘ Auf diese Weise versuchen sie, mögliche Proteststimmungen bei Oberschülern oder Studierenden einzudämmen“, sagt Ken.   

    Wie viel lässt sich der Staat die Bewegung der Ersten kosten?

    Die Bewegung hat eine föderale, eine regionale, eine lokale und eine Ebene in den Schulen und Hochschulen. Auf föderaler und regionaler Ebene gibt es Koordinationsräte. Auf föderaler Ebene hat Kirijenko den Vorsitz, auf regionaler jeweils das Oberhaupt der Region. Des Weiteren sitzen Vertreter regionaler Behörden aus den Bereichen Kultur, Sport, Wirtschaft, Medien, Bildung und Jugendpolitik in den Koordinationsräten. 

    Die allrussischen Projekte der Bewegung der Ersten sowie die Gehälter der Mitarbeiter des zentralen Apparats werden aus dem staatlichen Budget sowie mit Zuschüssen aus unterschiedlichen Haushaltsebenen finanziert. Grigori Gurow zufolge kostet die Bewegung vier Milliarden Rubel jährlich [etwa 41 Millionen Euro – dek]. Zudem werden den regionalen Zweigstellen im Wettbewerbsverfahren Subventionen zugesprochen, laut Gurow in Höhe von rund zehn Milliarden Rubel jährlich [mehr als 100 Millionen Euro – dek]. 6000 Menschen sind insgesamt in der Organisation beschäftigt, sagt er. 

    Schüler werben Schüler 

    Darja aus Omsk ist 15 Jahre alt. Vor drei Jahren ist sie der Bewegung der Schüler Russlands beigetreten und hat bereits am ersten Kongress der Bewegung der Ersten 2022 teilgenommen. Danach überzeugte sie sechs weitere Kinder aus ihrer Schule, Aktivisten der Bewegung zu werden. Sie baten ihre Schulleitung, an ihrer Schule eine Primärzelle zu registrieren, gründeten einen Sowjet perwych (dt. Rat der Ersten) und treffen sich seitdem alle paar Monate, um zukünftige Projekte zu planen. Derzeit entsteht an Darjas Schule zum Beispiel ein Naturfreunde-Verband. 

    In vielen Regionen wurden an den meisten Schulen und Colleges Vertretungen eröffnet. Jeder Pädagoge kann eine solche Zelle leiten. Meistens übernehmen diese Rolle jedoch die pädagogischen Berater, erfährt Verstka von einem Kurator des Föderationskreises Nordwestrussland. Das ist ein neues schulisches Amt, das 2023 russlandweit in allen Bildungsstätten eingerichtet wurde. Pädagogischer Berater kann werden, wer an der Ausschreibung Navigator der Kindheit (Nawigator detstwa) teilnimmt, von denen es bereits drei gab, und die jedes Jahr im Frühling neu ausgeschrieben wird. In der Stellenbeschreibung steht, dass man in dieser Funktion für das Zusammenspiel zwischen Schulen und gesellschaftlichen Organisationen zuständig ist. 

    Nicht nur an Schulen, auch an Hochschulen plant die Bewegung über hundert neue Zellen. Primärzellen entstehen an Colleges, technischen Lehranstalten und Weiterbildungsinstituten: an Sportschulen, in Kulturpalästen, Jugendzentren – und sogar in Unternehmen. Mitarbeiter all dieser Organisationen, aber auch Eltern von Studierenden melden sich als Mentoren. So führen etwa Kadetten der Militärakademien militärisch-patriotische Projekte an und Studierende der Medizin leiten ein Erste-Hilfe-Projekt. „Die Primärzellen bewegen sich über den Rahmen der Schulen hinaus, um jedes Kind zu erreichen“, sagt Tatjana Kossatschjowa, Vorsitzende der Zweigstelle Rjasan.  

    Grigori Gurow betonte mehrmals, dass die Teilnahme an der Bewegung der Ersten nicht erzwungen werden darf. Gemäß Artikel 34 des föderalen Bildungsgesetzes muss die Teilnahme an jeglichen gesellschaftlichen Vereinigungen im Rahmen der Tätigkeit von Bildungseinrichtungen freiwillig erfolgen. Formal entspricht die Tätigkeit der Bewegung an Schulen einem außerschulischen Angebot und ist nicht Teil des Lehrplans. 
    Daniil Ken berichtet Verstka allerdings, dass bei der Lehrergewerkschaft  bereits Beschwerden von Eltern eingetroffen seien, deren Kinder zu Veranstaltungen der Bewegung mitgenommen wurden, obwohl sie keine Mitglieder sind. „Manchmal macht die ganze Klasse oder Schulstufe irgendeine Aktivität, die unter der Schirmherrschaft der Bewegung und mit ihrer Symbolik stattfindet“, erzählt Ken. „Die Ressource Kind ist super-verfügbar. Man braucht nur ins Sekretariat zu gehen und zu sagen: ‚Morgen legen alle neunten Klassen am Grab des unbekannten Soldaten Blumen nieder oder kommen zum Schaman-Konzert in die Aula‘ – dann stehen alle bereit.“

    Weitere Themen

    „Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“

    „Patrioten gibt’s bei euch also keine?“

    Geschichte als Rummelplatz

    Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

  • Warum Lukaschenko von einer Pattsituation in der Ukraine profitiert

    Warum Lukaschenko von einer Pattsituation in der Ukraine profitiert

    Waleri Salushny, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sorgte mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem Economist und mit seiner Analyse von einer Pattsituation im Krieg in seiner Heimat für kontroverse Diskussionen. Sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Was aber würde ein langanhaltender Stellungskrieg, in dem sich die Ukraine und Russland gegenseitig über längere Zeit aufreiben, für Belarus und für den dortigen Machthaber Alexander Lukaschenko bedeuten und vor allem für einen politischen Wandel, auf den die belarussische Opposition im Exil hofft? Dies fragt sich der Politanalyst Artyom Shraibman in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium Zerkalo.

    „Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk“, so Shraibman / Foto © Sven Simon/IMAGO

    Salushnys Aussagen müssen durch das Prisma seiner Rolle als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gelesen werden. Er ist dafür zuständig, sein Land zu befreien. Er ist weder Militäranalytiker noch hat er Spaß daran, das heimische und das westliche Publikum in tiefe Depressionen zu stürzen. Wenn dieser Artikel und das Interview veröffentlicht werden, dann bedeutet das, dass dahinter konkrete militär-politische Ziele stehen.

    Diese werden offensichtlich, wenn man die ungekürzte Fassung des Textes auf Ukrainisch liest: Salushny erklärt ruhig und methodisch, welche Arten von Waffen und Kriegstechnik die ukrainischen Streitkräfte benötigen, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Sein Text ist ein Versuch, den Bündnispartnern der Ukraine klarzumachen, dass sie keine besseren Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erwarten können, wenn sie die Unterstützung Kyjiws mit Waffen nicht ernster nehmen. Dafür muss er den Westen wachrütteln, auch wenn das bedeutet, die unangenehme Wahrheit laut auszusprechen. Welche Folgen diese kalte Dusche haben wird, wissen wir nicht. Entweder die westlichen Partner helfen der Ukraine, aus dem von Salushny beschriebenen Dilemma herauszukommen, und der Krieg nimmt eine Wende. Oder sie machen weiter damit, die ukrainische Armee nicht für einen Sieg auszurüsten, sondern nur für die Vermeidung einer Niederlage. Wir wissen auch nicht viel über den Erschöpfungsgrad der russischen Truppen oder darüber, wie sehr ihnen die aktuelle Kriegsform langfristig schaden wird – mit regelmäßigen Angriffen mit Langstreckenraketen und Drohnen auf Lager, Schiffe und Stabsquartiere seitens der Ukraine. Ich sage das, damit wir den wichtigsten Aspekt jedes und insbesondere dieses Kriegs nicht aus den Augen verlieren: Wir können nicht in die Zukunft blicken. Was heute wie eine neue Realität auf Jahre aussieht, kann in ein paar Wochen ganz anders sein, und dann können wir alle Pläne und Prognosen, die wir in Erwartung einer jahrelangen Pattsituation erstellt haben, wieder vergessen.

    Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine

    Aber es wäre auch falsch, ein solches Szenario zu ignorieren, und ich finde, es ist an der Zeit, ernsthaft darüber zu sprechen. Viele Belarussen, die sich den Wandel wünschen, so auch ich selbst, sind daran gewöhnt, sich die Zukunft im Format „vorher – nachher“ vorzustellen, mit Russlands Niederlage im Krieg als Zeitenwende. Auf lange Sicht hat diese Auffassung durchaus ihre Berechtigung. Doch Salushnys Artikel und eine nüchterne Analyse der Situation auf dem Schlachtfeld sowie der wirtschaftlichen Lage der kriegführenden Parteien legen nahe, dass das „Vorher“ noch viele Jahre lang andauern könnte.

    Diese Jahre müssen nicht einmal von Waffenstillstand oder Feuerpausen begleitet sein. Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Putin hat von sich aus keine Motivation, die Kampfhandlungen einzustellen – sein Regime ist untrennbar mit dem Kriegszustand verschmolzen, bezieht daraus Legitimität und Langlebigkeit. In der Ukraine wiederum ist es unmöglich, der Regierung oder den Wählern beizubringen, warum sie dem Kreml glauben sollten, dass er auch nur irgendwelche Vertragsbedingungen erfüllen und die Pause nicht für eine Nachrüstung nutzen und dann erneut zum Angriff übergehen wird.

    Was die Aussicht auf Veränderungen in Belarus betrifft, ist diese Pattsituation wohl das aussichtsloseste Szenario. Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk. So haben jene Belarussen, die im Land geblieben und leicht zu verunsichern sind, stets ein Abschreckungsbeispiel vor Augen, dass das Leben noch schlimmer werden kann. Russland ist weiterhin mit dem Krieg beschäftigt und hat keine Zeit für andere Abenteuer wie etwa die Eingliederung von Belarus. Dabei ist Russlands Antrieb, Lukaschenko finanziell zu unterstützen, stärker als in Friedenszeiten, wenn eher die Buchhaltung den Ausschlag gibt. Gleichzeitig arbeitet die russische Rüstungsindustrie weiterhin auf Hochtouren und sichert auch für die belarussische Produktion eine stabile Auftragslage. Was könnten Triebfedern für einen Wandel in Belarus sein, wenn ein schwelender Konflikt im Ukrainekrieg auf Jahre zur Realität wird?

    Mal abgesehen von Putins oder Lukaschenkos Tod, der irgendwann unausweichlich, aber nicht allzu vorhersehbar eintreten wird, gibt es zwei mögliche Problemquellen für Minsk: die Wirtschaft und das Wohlwollen Russlands. Wobei man sich eine Situation, in der nur einer dieser Pfeiler wegbricht und der andere bestehen bleibt, schwer vorstellen kann. Ja, eine hausgemachte Finanzkrise nach dem Muster von 2011, hervorgerufen lediglich durch Fehler der Wirtschaftsorgane, ist in Belarus durchaus möglich. Das Wachstum zum höchsten Ziel erhoben, überschwemmt die Regierung den Markt schon jetzt mit billigem Geld und hält die Preise mithilfe von administrativen Maßnahmen niedrig. Wirtschaftsexperten warnen vor der Gefahr, dass diese Blase platzen könnte.

    Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten

    Doch für sich genommen bringt eine Wirtschaftskrise zwar noch mehr Volatilität in die allgemeine Situation im Land, aber nicht zwangsläufig politische Probleme für Lukaschenko. Solange er die Gesellschaft fest in seiner Gewalt hat und die Loyalität zu Moskau aufrechterhält, wird Putin immer ein paar Milliarden übrig haben, um in Belarus einen Brand zu löschen. 

    Schlimmer für ihn wäre es, wenn die Krise durch eine bewusste Entscheidung Moskaus ausgelöst würde, den Hahn abzudrehen: Weniger Hilfe zu leisten, als Minsk gerne hätte, oder die Verluste durch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage weltweit und in Russland nicht mehr auszugleichen. Eine solche Verschlechterung könnte vieles provozieren – von stark fallenden Rohölpreisen und einer neuerlichen russischen Rezession bis hin zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt durch die Konkurrenz aus China. 

    Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten. Erstens, wenn Putin etwas fordert, das Lukaschenko ihm nicht geben will (eine stärkere Integration oder allzu unangenehme militärische Zugeständnisse), und zweitens, wenn Minsk allzu offen den Dialog mit dem Westen wiederherzustellen versucht. Ersteres hängt in hohem Maße von den Launen der russischen Regierung ab und ist deswegen schwer prognostizierbar. Hier gibt es viele Variablen – von Putins persönlicher Lust, den Retter zu spielen, bis hin zur Kriegsmüdigkeit der russischen Gesellschaft, die dazu führen könnte, dass der Kreml die Aufmerksamkeit auf neue außenpolitische Siege lenken will, etwa die Vereinigung mit Belarus. Beim zweiten Szenario – Moskau fühlt sich von einem neuerlichen Flirt zwischen Minsk und dem Westen provoziert – gibt es ebenfalls viele Unbekannte. Doch je länger der Stellungskrieg in der Ukraine dauert, desto höher stehen die Chancen für eine solche Neuaufnahme des Dialogs. 

    Nach den Wahlen 2025 werden die Proteste und die Gewalt von 2020 für die neue Generation europäischer und amerikanischer Politiker in ferner Vergangenheit und für die meisten vor ihrer Zeit liegen. Die politischen Gefangenen werden zum Teil wieder frei sein, also ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl im Vergleich zu heute geringer sein wird. Die belarussische Beteiligung am Einmarsch in der Ukraine 2022 wird den westlichen Regierungen, wenn Lukaschenko sie nicht selbst daran erinnert, noch weniger präsent sein als der Krieg selbst. In diesem Szenario wird der Krieg für den Westen leider genauso zur Routine werden wie vor dem 24. Februar 2022. Im Westen wird es immer mehr und immer einflussreichere Stimmen geben, die eine gezielte Lockerung der Sanktionen für Belarus wollen und dafür nur eine Forderung stellen: die Freilassung der restlichen politischen Häftlinge.

    Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? 

    Bis dahin wird die Idee, dass man Lukaschenkos Regime mit Sanktionen zu Fall bringen kann, wenn man nur noch ein kleines bisschen ausharrt, endgültig verworfen sein. So werden die Sanktionen allmählich ihre heutige „Immunität“ verlieren. Minsk wird seinerseits immer noch an der Aufhebung dieser Beschränkungen interessiert sein, vor allem, wenn sich der wirtschaftliche Effekt durch das explosionsartige Wachstum der russischen Rüstungsindustrie und ihrer Nachfrage nach belarussischen Gütern langsam erschöpft. 

    Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? Werden diese roten Linien wiederum noch unflexibler werden, je älter Putin wird und je mehr sein Regime verpuppt? Wird es neue Phänomene geben, die den zivilen Widerstand in Belarus anheizen, so wie 2020 die Pandemie? An den „Krieg im Hintergrund“ wird sich mit der Zeit nicht nur der Westen gewöhnen, sondern auch die belarussische Gesellschaft, sodass das Argument von „Lukaschenko als Friedensgarant“ an Überzeugungskraft verlieren wird. 

    All diese Fragen sind für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Im Moment müssen wir jedoch davon ausgehen, dass ein Wandel in Belarus kaum vorstellbar ist, solange Putin und Lukaschenko an der Macht und die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau intakt sind. Was die Aussicht auf eine Demokratisierung in Belarus betrifft, so wird diese wiederum nur möglich, wenn sich Moskau entweder als unfähig erweist oder das Interesse daran verliert, eine prorussische Diktatur in unserem Land aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung eines festgefahrenen Stellungskriegs in der Ukraine, wie von Salushny beschrieben, befreit Lukaschenko nicht von allen potenziellen Problemen der nächsten Jahre. Von allen Alternativen dürfte sie jedoch das entspannteste Szenario für ihn sein. 

    Weitere Themen

    „Wenn es zur Demokratisierung kommt, dann aus Versehen“

    Wie der Krieg Belarus verändern wird

    Welchen Preis hat der Krieg für Belarus?

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    „Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor”

    Reise in das grausige Russland der Zukunft

  • „Für die Z-Blogger ist Putin ein Trottel“

    „Für die Z-Blogger ist Putin ein Trottel“

    Mit dem Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich auf Telegram ein regelrechtes Ökosystem sogenannter Z-Kanäle entwickelt: Sie werden betrieben von Militärbloggern, Frontberichterstattern, Kadyrow-Anhängern und Propagandisten aus den Staatsmedien, die alle den Krieg gegen die Ukraine befürworten und sich meist ein noch entschlosseneres Vorgehen des Kreml wünschen.

    Der Schriftsteller Iwan Filippow verfolgt diese Szene genauestens und berichtet auf seinem eigenen Telegram-Kanal darüber. Im Interview mit dem Portal Republic spricht er darüber, wie diese sogenannten „Z-Blogger“ ihre Enttäuschung über den Kriegsverlauf zeigen, warum sie Putin für einen Trottel halten und was sie zum Gaza-Krieg schreiben. 

    Fenster an einem Gebäude in Moskau formen den Buchstaben Z – das inoffizielle Symbol für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine / Foto © Russian Look/imago images

    Jewgeni Senschin: Gibt es so etwas wie eine Z-Ideologie, oder ist das ein Mosaik aus Meinungen, Positionen, Stimmungen und Äußerungen, die nur die Idee vereint, gegen die Ukraine zu kämpfen?

    Iwan Filippow: Die Z-Ideologie ist eine Ideologie des Kriegs, die auf jeden Fall die militärische Niederlage Kyjiws und den Sieg Russlands in seiner „militärischen Spezialoperation“ umfasst. Auf dieser Basis sind sich alle einig, aber dann beginnen die „ideologischen Unstimmigkeiten“. Je nach Themengebiet haben alle unterschiedliche Vorstellungen. Wie sieht der Sieg aus? Soll die ukrainische Sprache verboten werden oder nicht? Soll die gesamte ukrainische Bevölkerung ausgerottet werden, oder kann man manche am Leben lassen? Was soll man mit Kyjiw machen: es russifizieren oder in einen gigantischen Friedhof verwandeln?

    Da gibt es viele Kannibalen, die einen Genozid befürworten

    Soll man es bei der Ukraine belassen oder auch das Baltikum und Polen erobern? Welche postsowjetische Republik soll nach der Ukraine „bestraft“ werden – Kasachstan, Armenien, Georgien? Sogar die Gründe für den Krieg sehen die Betreiber von Z-Kanälen manchmal völlig unterschiedlich.

    Nachdem Sie diese Community jetzt so lange beobachtet haben, was können Sie über deren psychische Verfassung sagen? Sind die ganz bei Sinnen oder nicht? Vielleicht ist die Eroberung Polens ja eine durchaus rationale Idee, für die es knallharte Argumente gibt? Wir verstehen sie nur einfach nicht und halten ihre Verfechter deswegen zu Unrecht für Psychos und Menschenfresser? 

    Ja, da gibt es viele Kannibalen, die einen Genozid befürworten und für Konzentrationslager und sonstige Scheußlichkeiten Stimmung machen. Zu den Ärgsten gehören da Goworit TopaZ (dt. Hier spricht TopaZ) oder Alex Parker Returns

    Der Grat ist natürlich schmal – dass Russland den Krieg gewinnt, wollen sie ja sowieso alle, aber trotzdem rufen noch lange nicht alle Autoren zu Kriegsverbrechen und bestialischen Ungeheuerlichkeiten auf. So mancher glaubt ehrlichen Herzens und nicht nur, um sich vom Kreml finanzieren zu lassen, an die Größe des Imperiums, an Russlands Waffen, an die Überlegenheit der Russen über alle anderen. Von Schlagwörtern wie „Entnazifizierung“ und sonstigen propagandistischen Klischees halten sie genauso wenig wie die Kriegsgegner, gleichzeitig glauben viele von ihnen aber tatsächlich an das zugrundeliegende Narrativ von der „Bedrohung durch die NATO“, der „Verteidigung nationaler Interessen“ und so weiter. 

    Was Militärblogger betrifft, so gibt es unter ihnen sehr viele Ideologen, die seit 2014 kämpfen und sich ein Leben ohne Krieg gar nicht mehr vorstellen können. Obwohl man auch über die Armeeangehörigen nichts Fixes sagen kann: Es gibt Zweifler, es gibt Gleichgültige, und es gibt richtige Menschenfresser.

    Der Betreiber des Kanals Ubeshischtsche №8 (dt. Schutzbunker Nr. 8) schrieb zum Beispiel einmal einen sehr prägnanten Text über die Stimmung in der Armee, der auf den einfachen Gedanken hinausläuft: Zwar sehe ich keinen Sinn in diesem Krieg, mir ist die Ukraine absolut egal, aber wenn sie mich schon losschicken und mir Geld dafür zahlen, dann kämpfe ich eben.

    Sie sehen ein Problem, bleiben aber buchstäblich einen Meter vor der richtigen Schlussfolgerung stehen

    Solche Stimmungen zu erforschen, ist deswegen interessant, weil wir daran die Entwicklung der Gedanken beobachten können. Wie Zweifel entstehen, wie sich Sichtweisen verändern, wie Reflexion beginnt. Zusammen mit Kollegen, die ebenfalls die Kreml-Propaganda untersuchen, bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Die Denkweisen all dieser Autoren haben eine Gemeinsamkeit. Sie sehen ein Problem, das eine Lösung erfordert, bringen einleuchtende und vernünftige Argumente vor, denken logisch über das Problem nach und … bleiben buchstäblich einen Meter vor der richtigen Schlussfolgerung stehen. 

    Seht nur, schreiben die Z-Autoren, ringsum gibt es nichts als Probleme, vor allem Korruption und Willkür, es fehlt an Meinungsfreiheit, an Rechtsstaatlichkeit, an fairen Wahlen. Darüber gibt es tausende Z-Beiträge, doch keiner der Verfasser antwortet auf die Frage: „Wie kam es denn dazu?“ Tja, offenbar ist das ganz von selbst so gekommen.

    Wahrscheinlich kann man so gut wie alle Z-Blogger als Imperialisten bezeichnen. Nicht unbedingt Monarchisten, obwohl es auch die massenhaft gibt, aber generell Menschen, die davon träumen, in einem großen, mächtigen Land zu leben, einer Art neuer Sowjetunion. Als Staatsbürger von diesem Imperium auf Händen getragen zu werden und sich erhaben zu fühlen, allein durch Geburt. Amüsant war, wie sich etwa vor einem Jahr gleich mehrere Blogger verbittert über die neue Einstellung des Westens gegenüber Russland beklagten: Dass sie uns nicht mögen können, verstehen wir ja, aber warum fürchten sie uns nicht mehr? Wie können sie es wagen, keine Angst vor uns zu haben?

    Sie sprechen von einer Art Entwicklung der Ansichten. Welche Ereignisse haben diesbezüglich Einfluss? Wahrscheinlich solche wie die Verhaftung von Strelkow, Prigoshins Meuterei und seine anschließende Ermordung, dann diverse Misserfolge an der Front. Wie spiegelt sich all das in dieser „Evolution“?  

    Hierzu gehören auch der Rückzug aus der Oblast Charkiw, die Übergabe von Cherson, das Scheitern der Eroberung von Kyjiw, Prigoshins Kritik, Bachmut, Prigoshins Konflikt mit Schoigu, Prigoshins Ermordung.

    Die Geschichte mit Igor Strelkow ist für die Z-Community extrem wichtig. Es gab offenbar ein unausgesprochenes Tabu, Putin persönlich zu kritisieren. Das betraf nur Putin höchstselbst, nicht etwa seinen „Furniermarschall“. Aber je miserabler die Lage an der Front war, desto zorniger richtete sich Strelkows Kritik gezielt gegen Putin, und kurz vor seiner Verhaftung artete das schon in regelrechte Beschimpfungen aus. Und mit ihm fingen auch andere damit an … Doch kaum befand Strelkow sich in U-Haft, breitete sich ein vielsagendes Schweigen aus. Wenn man jetzt auf einem Z-Kanal eine Beleidigung oder Kritik liest, die direkt gegen Putin gerichtet ist, dann lebt der Verfasser garantiert im Ausland.

    Für sie ist Putin ein Trottel

    Ein unerwartetes Ergebnis dessen, wie sich die Z-Meinungen angesichts der Ereignisse entwickelt haben, ist Enttäuschung über Putin. Diese wird sehr dezent formuliert und nie direkt geäußert (zumindest nicht von Leuten, die noch in Russland leben), aber generell wiegt die Enttäuschung schwer. Putin hat sich als Schwächling erwiesen. Seine Anhänger wollen ihn als Feldherren sehen, als Visionär, der die Soldaten an der Front besucht und jede Sekunde seines Lebens dem Sieg Russlands widmet. Aber er ist ein Piepmatz. Es macht sie rasend, dass Putin ständig lamentiert, wie ihn der Westen betrogen hat. Darüber, dass Putin übers Ohr gehauen wurde, kursieren in der Z-Community bereits Memes. Sie und ich, wir können darüber nur schmunzeln, aber die Z-Community lacht breit und schadenfroh aus vollem Halse. Für sie ist Putin ein Trottel. Wer wird über den Tisch gezogen? Ein Trottel. Und wen können die „geschätzten Partner im Westen“ zum x-ten Mal reinlegen? Einen Trottel.       

    Gleichzeitig wird seit der Sache mit Strelkow und seit Prigoshins Tod jetzt nur mehr unpersönlich und in Andeutungen geschrieben, oder man wendet sich dem altbewährten Mythos zu: Gut ist der Zar, die Bojaren sind böse. Und wer Putin „Pynja“ oder „Pypa“ nennt, lässt uns wissen, dass er im Ausland lebt.

    Wo denn zum Beispiel?

    Eine Bloggerin lebt in England. Zwei in Spanien. Ein radikaler Autor schreibt, er lebe in Kanada. Ein anderer in Armenien. Sie lieben ihre Heimat und unterstützen den Krieg aus sicherer Entfernung. 

    Kürzlich sind an der Front ATACMS-Raketen aufgetaucht. Wie reagierte das Z-Publikum darauf?

    Der Angriff mit ATACMS auf den Flugplatz im besetzten Berdjansk, der je nach Quelle zu einem Verlust von bis zu sieben Helikoptern führte, hat die Z-Community erschüttert. Man ist aber nicht nur frustriert, sondern auch empört, und buchstäblich jeder Blogger monierte, dass es nirgendwo – weder in Russland noch in den besetzten Gebieten – Schutzbauten für Hubschrauber und Flugzeuge gebe. Sie regen sich auf, dass es seit über einem Jahr keiner schafft, diese einfachste aller Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Und sie fordern (wie immer) die Erschießung der Verantwortlichen. Die Diskussion über Perspektiven des Kriegs angesichts dieser ATACMS-Lieferungen verläuft ruhiger. Man geht davon aus, dass sie zwar keine Wende im Kriegsverlauf, aber trotzdem allerhand Probleme bringen werden. 

    Vor allem aber ärgert die Z-Blogger, dass Russland zuerst mit Tod und Teufel droht und rote Linien zieht, wenn Langstreckenraketen ins Spiel kommen sollten, und dann auf einmal: Pffft. „Was können wir denn machen? … ordentlich kämpfen (wie Israel gerade) traut sich keiner, die roten Linien gehen durch die Unterhosen der Kinder eines Tuwiners und einer Turnerin. Dafür stopfen sie den eigenen Leuten das Maul immer fester, statt den Feind zu vernichten“, schreibt der Betreiber des Channels DschRG Russitsch.

    Die Z-Community speist sich aber nicht nur aus der Ukraine. Die Weltpolitik hat auch noch die Konfrontation zwischen Hamas und Israel für sie in petto. Was sagen die denn dazu?

    Etwa 70 Prozent reagierten auf die tragischen Ereignisse in Israel mit Begeisterung. Sie hegen starke Antipathien gegen Israel, zumal dort viele Russen Zuflucht vor der Mobilmachung gefunden haben. „Ihr habt unsere Verräter aufgenommen, das habt ihr nun davon.“ Sie feiern jeden Tod in diesem Krieg, posten unzensiert die furchtbarsten Videos, die die Hamas verbreitet. Sie freuen sich über die Vernichtung israelischer Zivilisten und wünschen der Hamas den Sieg. Zugleich schreiben sie über Verbrechen des israelischen Militärs in Gaza. Und hier und da schimmert der alte banale Antisemitismus durch. Wie Sie wissen, hatte die Hamas für Freitag, den 13. Oktober, einen weltweiten Pogrom gegen Juden angekündigt, doch nichts geschah. Einer der Z-Blogger war sogar enttäuscht: „Wie denn das, kein einziger Toter, ich dachte, wenigstens die Muslime sind effektiv, aber auch die sind faul geworden und können nicht mal mehr Juden ermorden.“

    Ich betone, das ist nicht die Haltung des Mainstreams, aber der Antisemitismus nimmt in den Z-Kanälen tagtäglich zu. Zum Beispiel die aussagekräftige Reaktion nach dem Fernsehauftritt von Amir Weitmann, dem Vorsitzenden der libertären (die Hälfte schrieb irrtümlich: liberalen) Fraktion der Likud-Partei, in dem dieser versprach, nach dem Sieg Israels müsse Russland seine Rechnung zahlen. „Glauben Sie mir, Russland wird bezahlen. Russland unterstützt Israels Feinde. Russland unterstützt Nazis, die einen Genozid unseres Volkes wollen. Und Russland wird dafür bezahlen, genauso wie die Hamas bezahlt hat.“ Der Blogger von Grey Zone schrieb: „Lck mcham Arsch, eine sprechende Seife … Wir können das wiederholen.“ Oder, formal weniger radikal, Shiwow Z: „Ihr habt selber noch etliche Rechnungen offen, von der Ermordung des russischen Zaren bis zur Ausmerzung der russisch-orthodoxen Kirche und Auslöschung ganzer Klassen aus unserer Gesellschaft.“

    Die größte Freude bezüglich des Hamas-Angriffs auf Israel macht jedoch die Hoffnung, dass Amerika nicht gleichzeitig zwei Kriege unterstützen und seine Waffen statt in die Ukraine nach Israel liefern wird – was Russland natürlich zugute käme. 

    In den letzten Wochen bestand der Content von Z-Channels zu circa 40 Prozent aus Beiträgen über Israel.

    Doch in diesem Z-Strom passiert auch Skurriles. Es gibt Autoren, die ihren politischen Überzeugungen nach absolut proisraelisch sind. Doch in der aktuellen Situation wird ihnen plötzlich bewusst, dass das Land, das sie medial bedienen, nicht für Israel ist, sondern für die Hamas. Das ist für sie ein schwerer Schock. Im Fernsehen ist das Jakow Kedmi, auf Telegram Jewgeni Satanowski, der den Kanal Armageddonytsch betreibt. Wo er die Frage stellt: „Wie kann ein Land, das Budjonnowsk, Nord-Ost, Beslan hinter sich hat, die Hamas unterstützen?“ Er ist aus der Bahn geworfen und versucht, die Balance wiederzufinden. Und er kommt zu der Lösung: In der Ukraine werde ich Russland unterstützen, im Nahost-Konflikt Israel.     

    Meiner Ansicht nach sind das zwei unvereinbare Positionen, diese Haltung ist schizophren. Das vorhersehbare Ende kennen wir. Satanowski nannte in einem Interview [Außenamtssprecherin] Maria Sacharowa eine „versoffene Schlampe“ und wurde von Solowjow umgehend entlassen. Die Z-Community interpretiert diesen Vorfall durchweg dahingehend, dass „ein schlafender Agent des globalen Zionismus enttarnt wurde“. Nicht ohne immer wieder auf die Nationalität von Jewgeni Janowitsch Satanowski hinzuweisen, und ungefähr jeder zweite Text ist – mal heftiger, mal weniger – antisemitische Hetze.  

    Wie lassen sich die Stimmungen zusammenfassen, die in dieser Szene derzeit vorherrschen?

    Ich habe für mich längst beschlossen, ihre Stimmungen nicht nur anhand dessen einzuschätzen, was sie an einem konkreten Tag schreiben. Sie sind wie hyperaktive Kinder, ihre Launen schwanken in einer gigantischen Amplitude. Heute schreiben sie vielleicht: „Alles verloren, Chef!“, und morgen schon: „Klar wird Kyjiw erobert!“ Wobei natürlich sehr wohl eine allgemeine Richtung auszumachen ist. Die Gefühle, die die Z-Community heute vorwiegend durchlebt, sind Fassungslosigkeit und Besorgnis. 

    Fassungslosigkeit, weil sie nicht verstehen, wieso – so scheint es ihnen – „keiner versucht, den Krieg zu gewinnen“. Daraus wächst Misstrauen, vor allem an die Adresse Putins – er will diesen Krieg nicht so richtig führen. Außerdem kann er der Gesellschaft nicht einmal ein Bild des Sieges bieten. Der Krieg dauert nun schon weit über 600 Tage, und noch immer erhalten wir, wenn wir zwanzig Z-Bloggern die Frage stellen, wie ein Sieg Russlands in dieser „Spezialoperation“ aussieht, ganz unterschiedliche oder gar keine Antworten. Gleichzeitig ist Bitterkeit und Enttäuschung darüber zu verspüren, dass die „Spezialoperation“ irgendwie nur für den Schein sei, aber die Menschen tatsächlich darin umkommen.  

    Sie fürchten, dass sich der Kreml auf ein faules Abkommen einlassen könnte

    Die Tendenz der letzten Tage ist, dass die Z-Blogger ihre Beiträge von vor einem Jahr ausgraben, in denen sie sich über Probleme in der Armee beklagten, um damit zum Ausdruck zu bringen: „Seitdem ist nichts besser geworden.“

    All das zusammen führt zu Besorgnis. Sie befürchten, dass der Kreml sich auf ein faules Abkommen einlassen und damit die nationalen Interessen verraten könnte. Manche rechnen sogar ernsthaft damit, dass Russland die Krim abtreten könnte, was für sie einer Katastrophe gleichkommt.   

    Eine meiner wichtigsten Schlussfolgerungen, die sich auf tausende Z-Postings stützt, lautet: Heute unterstützt nur eine Minderheit der russischen Gesellschaft den Krieg. Trotz aller weit verbreiteten Mythen und Behauptungen der Propaganda ist der Krieg unpopulär, wurde nie und wird auch jetzt nicht von der großen Masse unterstützt. Die Kriegspartei ist eine marginale Minderheit, die die Interessen eines sehr kleinen Segments der russischen Gesellschaft vertritt. Und das Wichtigste, die Z-Blogger wissen das eigentlich, und es macht ihnen sehr zu schaffen, weswegen sie endlos darüber jammern.  

    Wollen Sie sie nur beobachten wie ein Biologe das Verhalten von Mäusen? Oder muss man sie als würdige Opponenten betrachten und versuchen, mit ihnen in einen Dialog zu treten, zu diskutieren, sie von etwas zu überzeugen?

    Ich glaube schon, dass man mit ihnen diskutieren sollte. Die Z-Community besteht ja aus realen Menschen. Und wie schon gesagt, viele von ihnen zweifeln, sind enttäuscht von der Regierung, ihr Denken entwickelt sich weiter. Es ist absolut nicht ausgeschlossen, auch wenn es jetzt naiv klingt, dass es manchen von ihnen sogar irgendwann dämmert, wie sinnlos und kriminell dieser Krieg ist.

    Und natürlich muss es eine Möglichkeit zum Dialog mit ihnen geben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie dazu bereit sind, aber eine solche Möglichkeit, auch wenn sie vielleicht nur theoretisch besteht, vom Tisch zu wischen, das fände ich nicht richtig. Was meinen eigenen Kanal betrifft, so weiß ich ganz bestimmt, dass die Z-ler ihn lesen und hier und da auch beeindruckt davon sind. Das merkt man an den Kommentaren. Wobei jedoch ein Austausch mit Kriegsverbrechern, die einen Genozid rechtfertigen, nicht möglich ist. 

    Welche Prognosen könnte man ausgehend vom Content der Z-Kanäle zu den Perspektiven des Kriegs anstellen?

    Am allerwenigsten will ich ein Professor Solowei sein, Prognosen sind eindeutig sein Metier. Ich verfüge über kein geheimes Wissen. Aber die Stimmung in den Z-Kanälen ist nicht siegessicher. Der letzte Beitrag, in dem es um die Besatzung von Kyjiw ging, liegt, wenn ich mich recht erinnere, ein Jahr zurück. Sie haben schon die Rechtfertigung dafür gefunden, warum das so ist – weil Russland gegen die ganze Welt kämpft. Es herrscht Enttäuschung über Putin, über den Kriegsverlauf: Wir gehen nicht auf Angriff, und wenn doch, dann wird es ein Fleischwolf à la Awdijiwka, wir sind ständig in der Defensive, und da gewinnt man nicht, wir bekommen unser Land kriegstechnisch nicht auf Schiene … Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

    Kann man daraus schließen, dass sie einsehen, dass Russland diesen Krieg schon verloren hat? 

    Ich glaube, so ganz stimmt das nicht. Obwohl – während zu Beginn sehr viel vom Sieg die Rede war, wird dieses Thema mittlerweile tatsächlich einfach ignoriert. Jetzt sind andere Themen aktuell: Hoffentlich überleben wir heute den nächsten Streubombenangriff, und was übermorgen passiert, werden wir ja dann sehen. Mit einem Wort: Kaum jemand will weit vorausdenken, weil die Zukunft völlig im Ungewissen liegt. 

    Weitere Themen

    Cancel Culture im Namen des „Z“

    „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    Die unzivile Gesellschaft und ihre Rolle im Krieg

    Die Unsichtbaren

    Wir danken den Schamanen für die Stärkung der Streitkräfte!

  • „In jedem Haus ein Toter“

    „In jedem Haus ein Toter“

    Am 5. Oktober 2023 hat die russische Armee das Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw angegriffen. Die Rakete traf eine Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten aus dem Dorf. 59 Menschen kamen ums Leben, alle Opfer waren Zivilisten. Journalist Schura Burtin war am Ort der Tragödie und hat für Cherta eine Reportage über die Toten und Überlebenden von Hrosa geschrieben.

     
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Frühmorgens, mein Kollege und ich gehen gerade in unser Hotel in Charkiw, da gibt es plötzlich einen lauten Knall. Dann einen zweiten, so dicht nacheinander, dass sie fast zu einem verschmelzen. Die Fensterscheiben zittern, wir stürzen nach draußen und sehen unseren Taxifahrer, der ganz benommen neben seinem Auto steht. Wir wissen noch nicht, wo es eingeschlagen hat, also unterhalten wir uns weiter mit der Dame an der Rezeption, frühstücken in Ruhe. Als wir schließlich an die Einschlagstelle kommen, ist die Straße schon mit Polizeiband abgesperrt. Wir sind mitten in Charkiw, in seiner schönen, beschaulichen Altstadt. Auf dem Bürgersteig liegen die zerborstenen Fensterscheiben der umstehenden Häuser.

    Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt vor sich hin

    Rettungskräfte räumen grad die Trümmer aus dem Loch, das die Rakete in das zweistöckige Backsteingebäude geschlagen hat. Das Gebäude und die Häuser daneben wirken ohne Fenster unbewohnt und verlassen. In Wirklichkeit wurden die Opfer bereits mit Krankenwagen weggebracht. Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt geistesabwesend vor sich hin. In den Taschen sind irgendwelche Sachen. Auf die Frage, wohin sie fahre, sagt sie schluchzend: „Nach Amerika. Sie sehen ja, hier geht es nicht. Gut, dass ich diese Tasche gekauft habe, eine gute Tasche ist das …“ Sie wird offenbar von einem Fluchtinstinkt getrieben. Wenn im Nachbarhaus eine Iskander-Rakete einschlägt, ist man nur noch Instinkt. Während wir mit ihr sprechen, ziehen die Helfer die Leiche eines zehnjährigen Kindes aus den Trümmern.

    Die zweite Rakete hat hundert Meter vom Puschkin-Park entfernt eingeschlagen. Die Autos sind schon ausgebrannt, die Opfer weggebracht, die Iskander-Splitter auf einer Plane ausgebreitet. Die Sonne der russischen Dichtung blickt von seinem Podest in einen Krater von fünf Metern Durchmesser. Von den Balkonen der umliegenden Häuser sind nurmehr Fetzen übrig, wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen. Ein paar Dutzend Bewohner wurden im Schlaf lediglich von Glassplittern getroffen.

    Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten auf einen Berg von Leichen stürzen?

    Als mir am Vorabend ein Freund erzählte, dass in einem Dorf bei Charkiw 50 Menschen getötet wurden, wurde mir übel. Ich dachte daran, hinzufahren, aber dann fragte ich mich, wozu eigentlich. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten wie die Aasgeier auf einen Berg von Leichen stürzen? Wenn jemand imstande ist, schockiert zu sein, dann kann er das auch ohne uns; Reportagen machen das Geschehene nur noch alltäglicher.

    Unser Fixer rast über die Autobahn – wir wollen vor den anderen Journalisten in Hrosa ankommen. Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man jemanden mit Fragen löchert, der gerade einen nahen Menschen verloren hat. Soll man sich etwa erkundigen, was der Tote noch gestern gemacht hat? Die Soldaten beim Kontrollposten lassen uns ohne Weiteres passieren: Die Interessen des Präsidialbüros decken sich heute mit unseren.

    Als wir ankommen, sind bereits mehr Kameras als Menschen da. Der Ort ist winzig, es gibt nur drei Straßen. Grüppchen von jungen Psychologinnen in blauen Westen gehen herum und sprechen leise mit den Dorffrauen. Außerdem sieht man: Polizisten, UNO-Mitarbeiter in weißen Jeeps und ein paar Freiwilligen-Brigaden. Die Journalisten versuchen, einander nicht in die Quere zu kommen; wir scharen uns um die nächste verweinte Frau und stellen ihr ein und dieselben dummen Fragen: „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, „Warum waren Sie nicht da?“, „Was denken Sie, warum die das getan haben?“ Dabei versuchen wir, uns möglichst so hinzustellen, dass wir nicht in einen fremden Bildausschnitt geraten. Was kann man einen am Boden zerstörten Menschen noch fragen, wenn man ihm aussagekräftige Details entlocken muss?

    Gestern, am Donnerstagmorgen, hatten sich Menschen hier zur Totenfeier für Andrij Kosir zusammengefunden, ein Dorfbewohner, der an der Front gefallen war. Vor den Trümmern sitzen drei alte Männer. Der eine, der am wichtigsten aussieht, hat einen schweren kantigen Kiefer und ein grobes, grimmiges Gesicht. Auf die Frage nach seinem Namen reagiert er misstrauisch: „Kolja …“ – „Und mit Nachnamen?“ – „Fomenko …“ Dann klären uns die drei über die Umstände auf.

    Es war dem Sohn wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden

    „Andrij war in Polen, er war immer irgendwo zum Arbeiten. Als der Krieg ausbrach, sind er und [sein Sohn] Dennis sofort zurückgekommen und [an die Front] gegangen. Sie haben im selben Schützengraben gekämpft. Dann hat es sie erwischt – der Vater war sofort tot, er [der Sohn] hat überlebt. Er ist erwachsen, über zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Andrij wurde in Dnipro beerdigt, sein Sohn kämpfte noch ein halbes Jahr. Als er sein Geld bekommen hat, beschloss er, den Vater herzuholen. Der Vater war also gefallen, jetzt ist auch der Sohn tot, seine Frau auch, und die Schwiegermutter, und sein Schwager Hrib auch, alle tot …“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Dennis hatte den Tod seines Vaters mitangesehen. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden. Um mit der quälenden Frage abzuschließen, ob er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er steckte den gesparten Kampfsold in die Feier. Die Organisation übernahm Andrijs Schwager Hrib, er kaufte ein, kümmerte sich um die Räumlichkeiten in dem Café, das seit Kriegsbeginn geschlossen war, karrte Gasflaschen heran und engagierte ein paar Frauen, die beim Kochen halfen. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Tage, rund einhundert Gäste wurden erwartet. Offenbar sehnten sich in diesen schwierigen Zeiten viele Dorfbewohner nach einem Gefühl von Gemeinschaft, es kamen fast alle.

    „Hrib hat schon vor Wochen eingeladen“, sagt Kolja Fomenko. „Das ganze Dorf, ob Säufer oder nicht. Hrib war leitender Ingenieur hier im Büro, in der ehemaligen Kolchose. Ich hab ihn nie gemocht, diesen Schwager, er hat nie gegrüßt. Darum bin ich nicht hingegangen.“

    „Haben Sie die Explosion gehört?“

    „Was heißt gehört, ich bin plötzlich über den Boden gekugelt wie Tscheburaschka. Ich denk, was ist denn das. Ich wusste ja, dass meine Frau dort war. Ich rannte hin, aber hier lagen nur noch Leichen, Fleischfetzen, eine menschliche Leber, sowas hab ich noch nie gesehen. Die hatten da ja Gasflaschen, zum Kochen. Meine Frau wurde nicht gefunden. Das ist das Schlimmste, wenn man nicht mal was zu beerdigen hat …“ Sein grobes Gesicht wird von einem Heulkrampf verzerrt, wie bei einem kleinen Kind. Und in diesem Moment sehe ich tatsächlich das Kind in ihm, das jeder von uns ein Leben lang bleibt.

    Ich versuche, etwas über sein Leben herauszufinden. Er sagt, dass er nicht von hier stammt, sondern aus Luhansk, dass er früher einen Tanklaster gefahren ist, auch nach Russland, dann zwanzig Jahre lang Taxifahrer war (daher wohl seine grimmige Mine). Als sie in Rente gingen, beschlossen sie, in die Heimat seiner Frau zurückzukehren: „Also sind wir hergekommen, hier gibt es ja Land, man kann für sich selbst sorgen. Ich hab ein paar Schweine gehalten, meine Frau hatte den Garten, sie hat alles eingelegt, lauter Konserven, Marmelade und so, diesen ganzen Mist eben …“

    „Was hat Ihre Frau gestern gemacht?“

    „Morgens hat sie Bliny mit Quark gebraten. Ich sag zu ihr: ‚Was machst du hier für einen Wirbel?‘ Und sie: ‚Ich muss doch gleich zur Feier.‘ Also hat sie sich beeilt und ist mit den Nachbarn los. Mein Nachbar Tolik ist mit, wir wohnen Zaun an Zaun. Sie wollte mich noch überreden, aber ich hatte keine Lust. Ich kannte da keinen, warum soll ich mich da durchfüttern lassen?“

    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Offenbar hat diesem Mann die Tatsache das Leben gerettet, dass er sich hier immer noch wie ein Fremder fühlt.

    „Und was haben Sie vorgestern gemacht?“, bohre ich weiter.

    „Na, das Gleiche wie immer, Unkraut gejätet, Tomaten ausgerissen, Äpfel gepflückt, gegessen, ausgeruht vor der Glotze. Nach dem Mittagessen zu den Hühnern, dies und das, gerecht, Laub zusammengefegt.“

    „Und Ihre Frau?“

    „Na, auch das Gleiche wie immer: gekocht, gewaschen, geputzt.“

    „Was war sie von Beruf?“

    „Sie hat vierzig Jahre lang im Lokwerk von Luhansk geschuftet, ihre Rente verdient, jeden Groschen umgedreht. Und jetzt? Alles für’n Arsch, alles umsonst … Ich bin runter in den Keller – alles vollgestopft bis obenhin, wozu? Ich kann das doch nicht essen …“

    Kolja weint wieder. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist für ihn, die Konserven zu sehen, die seine Frau hinterlassen hat, und beim Essen zu wissen, dass sie nie wieder etwas einmachen wird.

    Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen

    „Warum ist das passiert?“, fragt einer der anderen Journalisten.

    „Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen. Obwohl da gar keine anderen Soldaten waren.“

    Es gibt zwei Versionen. Das ist die erste, die naheliegende: Die Russen haben gehört, dass ein Militärangehöriger beigesetzt wird, und dann beschlossen, ein paar von ihnen zu töten. Die zweite Version ist, dass sie einfach auf eine Stelle gezielt haben, wo es viele Mobiltelefone gab. An ein schreckliches Versehen glaubt hier niemand. Ich habe ja erst heute Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee eine Iskander-Rakete dazu benutzt, einen zehnjährigen Jungen im bunten Pyjama und seine Großmutter zu töten. Und gleich danach noch eine, um eine friedliche Straße mitten in Charkiw zu verwüsten.

    ***

    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. Ich will da nicht hin. Mein Kollege erzählt, dass unser Fixer einen Arm gefunden hat, den er uns zeigen will.

    „Das war eine Szene – schrecklich und komisch zugleich“, sagt der Kollege philosophisch. „Die Rettungskräfte sammelten die menschlichen Überreste ein und wussten nicht, wohin damit. Also legten sie alles in eine große Bratpfanne, die sie dort gefunden hatten. Und alle machten Fotos davon. Dann fiel ihnen auf, dass das ziemlich makaber aussieht, und baten: ‚Die Bilder, die sie grad gemacht haben, bitte verwenden sie die nicht. Wir legen das woanders hin, dann können Sie neue Fotos machen …‘“

    ***

    Das Gebäude, das den Trümmern des Cafés am nächsten liegt, ist das besagte Büro des Landwirtschaftsbetriebs, der ehemaligen Kolchose. Die Fenster und Türen sind bei der Explosion zerborsten, das Dach ist eingestürzt. Im Vorgarten sehe ich drei Frauen stehen, die die Ruine anstarren, als wollten sie etwas verstehen. Eine der Frauen ist Tamara. Sie ist Buchhalterin im Betrieb und hat überlebt. Ihre beiden Kolleginnen waren bei der Trauerfeier und sind tot.

    Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks

    „Wir waren auf der Arbeit. Ich wollte auch [zu der Feier] gehen, aber ich habe eine bettlägerige Großmutter. Ich war noch schnell bei ihr, um sie umzuziehen – und war dann spät dran“, erinnert sich Tamara.

    „Und ich hab noch die Kuh gemolken. Da fragt meine Nachbarin: ‚Was ist, Valentina, kommst du auch mit?‘ Und ich: ‚Nee, Ira, heut nicht, ich geh nicht.‘ Sie wollte unbedingt hin, das war ja ihr Kollektiv, da muss man zusammenhalten.“

    „Wir hatten eine Betriebsprüfung, ich wollte nachmittags noch was durchrechnen.“

    „Und ich sag noch zu ihr: ‚Olja, bleib doch hier und ruh dich aus!‘ Sie war immer so nervös, so verantwortungsbewusst, was soll man da sagen.“

    Plötzlich merke ich, dass die anderen beiden Frauen Mutter und Tochter sind. Die Tochter, eine füllige junge Frau, bricht in Tränen aus. Ich frage: „War jemand von Ihren Verwandten dabei?“, aber sie schüttelt den Kopf. Ich wundere mich, dass sie so bitter um fremde Menschen weint.

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Die Tür geht wohl nicht mehr zu?“, fragt die ältere Frau Tamara und deutet auf das ramponierte Türschloss.

    „Nein, wir haben den halben Tag rausgeholt, was wir tragen konnten. Da ist ja die ganze Buchhaltung drin, wir sind dafür verantwortlich. Wir sammeln die Papiere ein und weinen: ‚Hrib, Hrib, was hast du nur angerichtet!‘ Einen Menschen wollten wir beerdigen und begraben jetzt das ganze Dorf. Die, die gleich tot waren, wussten zum Glück gar nicht, was da passiert. Aber die, die noch lange im Sterben lagen …“

    „Andrij ist wiedergekommen und hat alle mitgenommen …“

    Ich spüre, dass sich vor den Frauen ein Abgrund aufgetan hat. Die Todespforten haben sich geöffnet, und der zurückgekehrte Andrij Kosir hat ihre halbe Welt dorthin mitgenommen.

    Die Frauen sagen, sie hätten seit gestern nicht mehr geschlafen: „Ich habe einfach Angst zu Hause“, gesteht Tamara. „Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig, ich weiß nicht, wohin mit mir. Wir werden ja immer weniger, die meisten sind in alle Himmelsrichtungen davon …“

    Deshalb kommt Tamara immer wieder zu ihrem zerstörten Büro, hält sich am Gartentor fest und starrt auf die Stelle, wo früher das Café war.

    Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen

    „Wie hießen die beiden?“

    „Irina und Galina“, antwortet Tamara widerwillig.

    Ich spüre, dass sie sagen will: Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung, wie sie hießen? Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks. Ich versuche, aus ihr herauszukriegen, wie die Verstorbenen gelebt, was sie gemacht haben.

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Lebten ein ganz normales Leben. Was Buchhalterinnen eben so machen. Auf dem Feld draußen arbeiten Mechaniker, wir sammeln die Berichte ein, teilen Treibstoff zu, je nach dem, wer was braucht.“

    „Könnten Sie von einer konkreten Person erzählen?“

    „Wie, konkret? Alle lebten einfach ihr Leben. Standen am Zaun und unterhielten sich: Was gibt’s Neues, brauchst du irgendwas – so was halt. Die jungen Mädels hatten ihren Freundeskreis, wir hatten unseren. Partys gefeiert haben sie, geträumt, Reisen gemacht, fremde Länder bestaunt und uns dann davon erzählt. Auch die Besatzung haben wir friedlich durchgestanden, niemand war niemandem Feind. Und dann innerhalb einer Minute …“

    „Vielleicht könnten Sie von einer Person genauer erzählen?“

    „Twerdochleb Iryna, Chaibako Tetiana, Pantelejewa Iryna, Taran Halja, Tanja, die Frau von Andjussowytsch Mykola, ist auch dahin … Tut mir leid, ich kann das nicht.“

    „Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen.“

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Das wird sie nicht zurückbringen. Man kann nicht nur von einem konkret erzählen, man muss von allen konkret erzählen. Aber an alle zu denken, das ist schwer …“

    Offenbar versucht die Frau zu erklären, dass die Menschen nicht getrennt voneinander existieren, und das ganze verlorene Leben in fünf Minuten erzählen, das kann sie nicht.

    ***

    Wir sehen einen Mann mittleren Alters in Jogginghosen und Badelatschen. Er geht leicht wankend auf das Café zu, das es nicht mehr gibt.

    „Ich will mir mal ansehen, wie meine Frau gestorben ist“, lallt er. „Sonst nichts. Sonst einfach gar nichts. Was soll ich denn tun? Mich einfach total volllaufen lassen wie ein Russe …“, er sieht uns an, „wie ein Ukrainer – und drei Tage nicht mehr aufhören …“

    „Wie heißen Sie?“

    „Juri. Meine Frau ist tot, unser Haus ist leer. Und ich kann nichts machen! Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Ich war gerade auf der Arbeit, als mich die Jungs anriefen: ‚Hrosa hat‘s voll abgekriegt, das Café ist im Arsch.‘ Und meine Frau arbeitet dort im Büro. Ich hab sofort gespürt, das geht nicht gut aus. Als ich ankam, lag da meine Frau. Kurz dachte ich, sie ist davongekommen, ist sie aber nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf, ihr Bauch war aufgerissen, das Bein … Ach, Jungs …“

    Der Mann umarmt meinen Kollegen und mich und weint. So stehen wir mitten auf der Straße da, zu dritt umschlungen mit einem betrunkenen Fremden. 

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Ihr seid also aus Russland? Richtet diesem Putin aus, diesem Idioten, ich komm mit einer MG … Was soll ich tun? Betrink mich eben, ich hab Wodka im Haus, kommt mich besuchen.“

    Ich würde tatsächlich furchtbar gern jetzt trinken.

    „Geht nicht, sind im Dienst.“

    „Ah, ihr seid aus den USA? Richtet diesem Biden aus, diesem Idioten, er soll den Krieg beenden. Als ob wir heiß drauf wären. Also ich geh mal …“

    Der Mann geht zu dem Trümmerhaufen. Wie es aussieht, macht er seit gestern nichts anderes, als sinnlos zwischen den Ruinen und seinem leeren Zuhause hin und her zu wanken.

    ***

    Zwei Frauen stehen abseits der Bar. Eine hübsche junge Dame vom Fernsehen fragt sie:

    „Was meinen Sie, warum haben die das gemacht? Gibt es hier militärische Objekte?“

    „Das wissen wir nicht …“

    Eine von ihnen ist schüchtern, klein, ungefähr 70 Jahre alt. Auf die Frage nach ihrem Namen antwortet sie zögerlich: „Tanja … Lukaschewa.“ Bei der Trauerfeier sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen. Die zweite Frau heißt Alla Sosulja, sie ist Schulbibliothekarin und um die 60. Sie erzählt mir von diesem Schwiegersohn, einem Mathematiklehrer, und was für ein guter Mensch er war. Wie er mit den Kindern wandern war und im Wald, nach Odessa fuhr und nach Swjatohirsk, was für Ausflüge er mit ihnen gemacht hat, „und die Kinder hatten ihn von Herzen gern …“.

    „Einmal ist die Katze auf seinen Schreibtisch gesprungen“, lächelt Tanja. „Er machte gerade Online-Unterricht, am Computer. Da haben die Kinder aus der zweiten Klasse alle angefangen, ihre Katzen herzuzeigen: ‚Ich hab auch eine! Ich auch …‘“ Als sie das erzählt, sieht Tanja glücklich aus, fast selig. 

    Alla sagt, ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg. Sie hätten den Dienst gemeinsam angetreten: Ihr Sohn wurde einberufen, ihr Mann ging mit. Solche Geschichten, wo der Vater an die Front geht, weil er den Sohn nicht alleinlassen will, höre ich oft.

    Ich frage Tanja, was sie von Beruf ist. 

    „Stukkateurin“, sagt sie stolz. „Obwohl ich eigentlich Schweißerin gelernt habe, aber in dem Beruf war ich nicht lange, sondern mein Leben lang Stukkateurin. Mein Mann ist Pflasterer und Fliesenleger, wir waren immer auf den Bahnhöfen im Einsatz. Egal wo man hinfährt – das haben wir gemacht. Meine Enkelin fragt immer: ‚Wie kann das sein, dass ihr das alles gebaut habt?‘“ Tanja lacht glücklich.

    Es wirkt, als befinde sie sich außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht real ist

    Es wirkt, als sei sie komplett aus der Situation herausgefallen, als befinde sie sich irgendwo außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht wirklich real ist. „Ich hab meine Tochter nicht tot gesehen“, sagt Tanja gedankenverloren. „Den Schwiegersohn haben sie gefunden und identifiziert, aber meine Tochter und ihre Schwiegermutter nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Zu Hause liegen ihre Sachen herum, Dinge, die sie gemacht hat …“

    Tanjas Verstand kann den Tod ihrer Tochter offenbar nicht fassen. Gerade noch war sie da, und plötzlich ist sie komplett verschwunden.

    ***

    Ein Auto hält an, der Mann fragt nach Walerka. Von Walera habe ich schon gehört; er hat sechs Angehörige verloren: seinen Bruder, seine Schwester, seine Tochter, seinen Schwiegersohn und dessen Eltern.

    Der Mann nimmt uns mit zu ihm. Unterwegs erzählt er, dass heute Morgen Schewtschenkowe beschossen wurde, ein Dorf ein paar Kilometer entfernt von Hrosa. Obwohl die Front weit weg ist, fünfzig Kilometer: „Ich kam gerade aus dem Haus, als sie einschlugen, fünf Stück, Streubomben. Eine ist bei den Nachbarn auf der Pokrowskaja Straße direkt in den Hof geflogen, bei einem Ehepaar mit einer Blumenhandlung, die Frau ist verletzt.“

    Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher

    Walera Kosir ist ein Mann um die 65, mit rundem Kopf, Händen wie Baggerschaufeln und, wie bei Bauern üblich, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Er sitzt auf einer Bank vor dem Haus seiner toten Tochter und ihres toten Mannes. Als hätte er uns erwartet, beginnt er sofort aufgeregt zu erzählen und zu gestikulieren: 

    „Auf einen Schlag, meine Tochter, ihr Mann, seine Eltern, mein Bruder, meine Schwester – sechs Verwandte und die Taufpaten dazu, alle an einem Tag! Mein Schwiegersohn, Tolik Pantelejew, was der für ein Mann war! Ich sag nur eins: Wenn ich mit dem in die Stadt fahre, da grüßen ihn alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Polizeichef. Ein einwandfreier Mensch, wenn der zum Laden kommt, um Waren zu liefern und Wodka, fangen die Jungs zu betteln an: ‚Tolja, wir verdursten.‘ Er zieht eine Flasche raus, gibt sie ihnen, geht zur Kasse und bezahlt sie: ‚Eine Flasche hab ich genommen.‘“

    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Walera spricht energisch und gestenreich. Er ist nüchtern, fast ungewöhnlich klar.

    „Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher, hat auch den Tag der Lieferfahrer organisiert, 200 Hrywnja pro Nase hat er eingesammelt und selber 1000 draufgelegt, damit’s für alle reicht. Rund um die Uhr hat er geackert: Schweine angekauft, gekühlt, zerlegt, verkauft. Den ganzen Tag, von vier Uhr früh bis neun am Abend. 20 Schweine hat er gehalten. Sie sind nicht vom Land? Das ist schwere Arbeit, zu Silvester, zu Weihnachten – selber isst er nichts, aber die anderen versorgt er: ‚Ich mach das für die Kinder – sollen ihren Papa in guter Erinnerung behalten, dass sie nicht arbeiten mussten …‘ Wenn beim Töchterchen die Gangschaltung am Fahrrad kaputtging, da kauft er gleich am nächsten Tag eine neue. Und sein Telefon stand nicht still, ein Pfundskerl war das!“

    Waleri kann gar nicht aufhören, von seinem Schwiegersohn zu reden und zu reden. Ich habe den Eindruck, wenn er ihm ein Denkmal setzt, dann braucht er nicht über das Geschehene nachzudenken.

    „So ein schönes Paar, hoch angesehen auf dem Land wie in der Stadt. Alle nannten sie Oletschka, wirklich alle, nicht Olja und nicht Olga – das sagt doch was aus, oder? Vor einem halben Jahr hat Tolja gejammert, da war er beduselt: ‚Ich werde mal sterben, und du, schöne Olja, wirst mit nem anderen anbandeln.‘ Und sie so: ‚Nein, Tolja, sterben werden wir schön zusammen.‘ Und so ist es gekommen, in derselben Sekunde.

    Er wollte gar nicht hingehen, hatte keine Zeit. Musste mit seinem Vater nachts aufs Feld fahren, Wache schieben. Ich sag noch: ‚Geh halt nicht hin, musst ja noch fahren.‘ – ‚Ich trink ja nichts, will nur ein wenig mit den Jungs beisammen sitzen.‘ Sein Vater und ich sind zusammen groß geworden, haben als kleine Bengel unsere Schniedel verglichen. Ihr wisst ja, oft gibt es bei Schwiegereltern diese Streitereien, wessen Kind das Bessere ist oder wer spendabler ist. Wir haben alles zusammen gemacht, die Armee, dann wieder zurück, und so ist es gekommen, dass unsere Kinder geheiratet und uns Enkelchen geschenkt haben.“

    Mit seinem aufgeregten Bericht zeichnet Walera uns das Bild einer wunderbaren Familie, die jetzt nur mehr als Erinnerung existiert.

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf

    „Oletschka war am feinsten rausgeputzt, hatte sich die Haare gemacht. Bei uns gilt ja: Essen musst du nicht unbedingt, aber wenn du unter Leute gehst, musst du was hermachen. Nicht mal in der Stadt sind sie so angezogen wie bei uns auf dem Dorf, wenn Feiertag ist. Hrosa ist diese Art von Dorf, da wird man geboren, getauft, alle halten zusammen, klein aber fein, jeder Zaun ordentlich gestrichen. Erst die letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt es Zuzug aus den anderen Oblasten, bis dahin war das Dorf wie fünf Finger an einer Hand. Drum sind auch alle zu der Beerdigung gekommen. Waren erst zehn Minuten drin, die meisten hatten noch nicht mal ein Gläschen, hatten grade mal das Vater Unser gebetet. Unser Kirchendiener sollte singen. Weißt du, hat Kassewitsch gesungen?“

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf.

    „27 Personen konnten sie noch erkennen, den Rest nicht mehr … Ich denk: Vielleicht eine Gedenktafel, ein gemeinsames Grab und ein Grabstein für alle? Na, wie sie halt wollen. Meine halben Kontakte kann ich aus dem Handy löschen, ins Jenseits gibt’s keine Verbindung. Ich wär ja auch dabei gewesen, aber ich musste zur Arbeit. Das ist schon das zweite Mal, dass mich das Schicksal rettet. Ich bin Wächter bei einer Tankerkolonne. Als unsere Gegend noch okkupiert war, habe ich mein Essen nicht mit zur Arbeit genommen, fuhr in der Mittagspause hierher, vier Kilometer. Hatte mir gerade Erbsensuppe genommen, da schlug dort eine HIMARS-Rakete ein. Dann der Anruf: ‚Von deinem Arbeitsplatz ist nichts mehr übrig.‘“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Es kommen noch mehr Journalisten. Walera wiederholt seine Geschichte: „Wir waren Freunde, und dann haben unsere Kinder geheiratet“, „Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre, hupen alle …“, „Bei meiner Tochter ging die Gangschaltung kaputt, da hat er gleich eine neue gekauft …“, „Sie waren gerade erst angekommen, noch beim ersten Glas …“ Ljuba sitzt schweigend neben ihm auf der Bank und starrt mit leerem Blick durch die Journalisten hindurch.

    „Oma und ich, wir ach egal … Wir wissen nicht, wohin mit uns, versteht ihr? Wenn es einen Ausweg gäbe …“ Walera reibt sich energisch die grauen Stoppel auf dem Kopf. „Ich weiß, es gibt keinen, ich muss da durch! Seht euch meine Hände an.“ Walera zeigt seine Handflächen her, auf einer hat er eine Narbe. „Ich hab zwanzig Jahre lang Gasflaschen geschleppt, hab in den Dörfern Flüssiggas ausgeliefert. Dann bin ich in Rente gegangen, dachte, die Kinder würden für mich da sein … Tja, wir haben keine Wahl, es geht nur noch um die Kleinen.“

    Ich merke, dass die drei Enkelkinder, die seine Obhut brauchen, für ihn eine wahre Rettung sind.

    ***

    Gegen Mittag werden die Journalisten und UNO-Mitarbeiter immer weniger, ein großer Jeep nach dem anderen rumpelt durchs Dorf Richtung Landstraße. Freiwillige verteilen von einer Ladefläche herab Hilfsgüter an die Betroffenen: Bretter, Spanplatten, Decken. Die Dorfbewohner kommen herbei und bilden eine wuselige Schlange. Viele Frauen tragen schwarze Kopftücher, drängeln, drücken, schnattern aber genauso wie alle anderen – es entsteht ein Gewusel, das nicht zur Situation passt. So eng zusammengedrängt sehen die Dorfleute hilflos und mitleiderregend aus. Wenn sie drangekommen sind und dann beim Weggehen wirken sie froh, in ihren Gummistiefeln, ein paar Gratisdecken in den Händen.  

    „Onkel Wassja! Ich hatte Sie im Geiste schon begraben …“

    „Großmutter sitzt zu Hause – drei Kinder tot, das vierte in Russland.“

    „Alinka ist jetzt auch ganz allein, vielleicht haben sie sie weggebracht. Ich wollte ihr Geld bringen, aber das Haus war zugesperrt.“

    „Ach, woher das Geld denn nehmen, und wem geben? In jedem Haus ein Toter.“

    „Halja Chodak konnte sich retten, zwischen zwei Kühlschränken. Als die Decke einbrach, war sie geschützt.“

    „Oxana kam zu sich und hatte was am Bein, am Kopf und am Kiefer. Kam zu sich und schrie immer nur ‚I! I! I ..!‘ Rief nach ihrem Igor, aber der ist tot.“

    Wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht

    „Ja, der lag da, wär er doch dort liegengeblieben, wozu ihn herbringen. Jemand hat darauf abgezielt. Die Polizei kam dann, hat die Handys kontrolliert, angeblich haben sie drei Personen mitgenommen. Vielleicht hatten die russische Nummern drauf oder was weiß ich …“

    „Die heutige Technik eben, Handykontrolle! Sie hatten sich gerade erst zu Tisch gesetzt … Als Erstes müssen die doch die kontrollieren, die nicht dort waren. Ich weiß nicht …“

    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Eine Frau mit schwarzem Kopftuch lädt mit ihren beiden Kindern Platten und Bretter auf den Anhänger eines uralten Shiguli. Ich frage sie, wen sie verloren hat, sie nennt zwei Namen, die ich mir nicht gleich merken kann. Ich bitte Sie, mir von ihnen zu erzählen, biete an, ihr dafür beim Ausladen zu helfen. Sie stimmt zu. Ich hole meinen Rucksack, aber da sehe ich den Shiguli schon wegfahren, der Alte am Steuer wirft mir einen schiefen Blick zu. Als ich ihnen entschlossen hinterher will, sehe ich an der Kreuzung drei alte Frauen auf einer Bank sitzen.

    „Lasst die Fragerei“, sagt eine, „wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht.“

    Ich gehe durchs Dorf, schaue in die Höfe. Selbst lackierte Autos stehen vor jedem dritten Haus, hinter den Zäunen blicken mir düstere Minen entgegen. Ich muss an die Reporterin von vorhin denken, die auf ihre rhetorischen Fragen brauchbare Antworten erwartete. Geh doch verfickt nochmal einfach mal durch dieses Dorf, Schnalle.

    Es fängt an zu regnen, ich setze mich zu spanischen Journalisten ins Auto und fahre mit ihnen weg. Am Abend werden alle weg sein und das Dorf sich selbst überlassen bleiben, klein, grau und menschenleer.

    ***

    Zwei Tage später meldete der SBU, der Inlandsgeheimdienst der Ukraine, er habe zwei Verdächtige ausfindig gemacht. Angeblich waren es die Mamon-Brüder, zwei Polizisten aus Schewtschenkowe, die für die Besatzer gearbeitet hatten und nach Russland gegangen waren. Aus den veröffentlichten Chats geht hervor, dass der jüngere Bruder Dmitri, gebürtig aus Hrosa, mit den Dorfbewohnern Kontakt aufgenommen und seinem Bruder dann mitgeteilt hat, dass eine Beerdigung für einen Soldaten geplant war. Wladimir, der selbst nicht im Dorf wohnte, gab die Informationen dann an die Russen weiter. Und die freuten sich, eine Ansammlung von Soldaten plattzumachen.

    „Ich hab klargestellt, dass da Zivilisten sein werden, da werden sie wohl keine Geschenke hinschicken, obwohl wahrscheinlich viele aus der ukrainischen Armee kommen werden“, schrieb Wladimir seinem Bruder. Letzterer machte sich offenbar doch ein wenig Sorgen um seine alten Nachbarn aus dem Dorf. Trotzdem gaben sie Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier preis, und den Russen waren die Zivilisten scheißegal, sie schickten sehr wohl ihre „Geschenke“. Ich finde, dieses kleine Wörtchen sagt alles darüber, wie der Krieg die Seelen der Menschen tötet. Alle Opfer waren Zivilisten.

    Weitere Themen

    Russland und die Ukraine

    „Das unbestrafte Böse wächst“

    Die Unsichtbaren

    Bilder vom Krieg #14

    Karrieren aus dem Nichts

    Archipel Krim

  • Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus

    Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus

    Warum konnte die Belarussische Volksfront (BNF) ab 1988 entstehen und sich zu einer wichtigen politischen Kraft entwickeln, obwohl das Nationalbewusstsein der Belarussen im Vergleich zu den Bevölkerungen in anderen Sowjetrepubliken eher schwach ausgebildet war? In seinem Stück geht der Journalist Yury Drakakhrust, einer der Mitgründer der BNF, dieser Frage auf den Grund. 

    Warum war Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre die Belarussische Volksfront (BNF) die stärkste Oppositionskraft in Belarus? Ideologisch folgte diese Organisation einem kulturell-ethnischen Nationalismus. Ähnliche Bewegungen formierten sich, oft ebenfalls unter dem Namen „Volksfront“, Ende der 1980er in zahlreichen Republiken der UdSSR – von Aserbaidschan bis Estland (allerdings nicht in der RSFSR). Und sie waren die treibende Kraft, die sowohl demokratische Entwicklungen als auch schließlich die Unabhängigkeit von der Sowjetunion herbeiführte. 

    Wer spricht in Belarus Belarussisch?

    Auf den ersten Blick hatte dieser kulturell-ethnische Nationalismus im Vergleich zu allen anderen Sowjetrepubliken in Belarus den schlechtesten Stand. In der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 betrug der Anteil jener Einwohner der BSSR, die die Sprache der Titularnation (hier also Belarussisch) als Muttersprache angaben, nur 65 Prozent – einer der niedrigsten Werte im Vergleich zu anderen Sowjetrepubliken. Viele Soziologen und Personen des öffentlichen Lebens, darunter Funktionäre der BNF, sprachen immer wieder von einem schwach ausgeprägten Nationalbewusstsein der Belarussen. Im Hinblick auf die Sprachpräferenzen der Bevölkerung wurde diese These durch spätere, nunmehr im unabhängigen Belarus durchgeführte Volkszählungen nur bekräftigt. 1999, 2009 und 2019 wurde dabei folgende Frage gestellt: Welche Sprache sprechen Sie normalerweise zu Hause? 1999 war nur bei 36,7 Prozent der Bevölkerung die Antwort Belarussisch, 2019 waren es sogar nur noch 26 Prozent.  
    Bemerkenswert ist auch eine weitere Besonderheit, die die Volkszählungen zum Vorschein brachten, nämlich der Zusammenhang zwischen Mutter- bzw. Alltagssprache und sozial-demografischen Faktoren: Der höchste Anteil des Belarussischen als Mutter- und Alltagssprache ist bei älteren Menschen, Menschen mit niedrigem Bildungsstand sowie der Dorfbevölkerung zu verzeichnen. Überträgt man diese Daten rückwirkend auf die 1980er Jahre, so kann man davon ausgehen, dass die BNF bei ihrer Gründung keine besonders breite und erfolgversprechende Ausgangsbasis hatte.    

    Die Wurzeln des belarussischen Nationalismus

    Dennoch waren Ende der 1980er Jahre einige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Nationalismus in Belarus erfüllt. Eine davon war die relativ hohe ethnische Homogenität. In der Volkszählung von 1989 betrug der Anteil der Belarussen in der Bevölkerung 77 Prozent, die ethnischen Russen machten 13,2 Prozent aus. Bereits in den 1970er Jahren bildeten sich die ersten Kreise von Anhängern des nationalen Diskurses. Das waren keine offiziellen Organisationen (die in der UdSSR nur unter Aufsicht der KPdSU gestattet waren), sondern ein informelles Netzwerk von Menschen mit ähnlichen Ansichten und Überzeugungen. In den späten 1980er Jahren, mit dem Beginn der Perestroika, weitete sich dieses Netzwerk aus und nahm immer mehr organisierte Formen an. Aus diesem Netzwerk gingen auch die Gründer der BNF hervor – Juras Chodyko, Michail Tkatschow, Viktor Iwaschkewitsch, Winzuk Wjatschorka, Ales Bjaljazki (Friedensnobelpreisträger 2022) und natürlich ihr Vorsitzender, Sjanon Pasnjak.
    Gleichzeitig erwiesen sich die Befürworter demokratischer Entwicklungen, die jedoch keinen Akzent auf nationale Werte legten, als viel weniger fähig zur Selbstorganisation. Im Wettbewerb um die politische Führung war die BNF ihren ideologisch anders gesinnten Konkurrenten damals ein gutes Stück voraus. Dieser Vorsprung war unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass die Ideologie der BNF sowohl nationalistische als auch demokratische Komponenten umfasste. Die nationalistische Komponente sorgte für einen, wenn auch kleinen, aber umso treueren harten Kern als Basis, während die demokratische Komponente eine breite gesellschaftliche Unterstützung ermöglichte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Vorbildwirkung anderer Sowjetrepubliken. 
     

    Yury Drakakhrust (links mit Megaphon) und BNF-Boss Sjanon Pasnjak bei einer Kundgebung in Minsk im Februar 1990 / Foto © privat

    Wie der nationalistische David den kommunistischen Goliath besiegte

    Ich kannte einige Mitbegründer der Estnischen Volksfront persönlich und war von der Energie und Größe dieser Bewegung zutiefst beeindruckt. Unter diesem Eindruck rief ich 1988 anlässlich einer Kundgebung in Kurapaty zur Gründung einer Belarussischen Volksfront auf, die wenige Monate später tatsächlich erfolgte. Ich will meinen Beitrag nicht überbewerten, der Verweis auf meine persönliche Erfahrung soll nur zeigen, dass die Impulse zur Gründung und zum Erfolg der BNF nicht ausschließlich aus dem national-demokratischen Netzwerk der 1970er und 1980er Jahre kamen. Andererseits waren hier aber auch nicht nur Antikommunisten am Werk, wie ich 1988 einer war. Die Unabhängigkeitserklärung, ihre Aufnahme in die Verfassung sowie schließlich die Auflösung der UdSSR und Gründung der Republik Belarus – all diese Entscheidungen traf das gesetzgebende Organ der Sowjetrepublik, in dem die Kommunisten die überwiegende Mehrheit stellten, während nur ein paar Dutzend von insgesamt 360 Abgeordneten die BNF vertraten. Aber es war die BNF, die diese Themen erst auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Das lässt sich einerseits auf das politische Können der führenden BNF-Politiker zurückführen, andererseits ist auch eine andere Erklärung denkbar, in der das Narrativ vom „nationalistischen David“, der den „kommunistischen Goliath“ besiegt, nicht ganz treffend erscheint. 
    Ein erheblicher Teil der kommunistischen Elite der BSSR war keineswegs gegen die Ausweitung der Rechte der Republik und, in einer bestimmten Phase, auch nicht gegen ihre Unabhängigkeit. Goliath machte David schöne Augen, überließ ihm nach außen hin die Führungsrolle, ging jedoch fest davon aus, auch unter den neuen geopolitischen Bedingungen an der Macht zu bleiben. 
    Paradoxerweise gab es Situationen, in denen der nationalistische Impuls aus Moskau kam. Von Abgeordneten des Obersten Sowjets in Belarus wissen wir, dass 1990 die Initiative zum Beschluss der Souveränität der Republik vom Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow ausging. Er sah, dass viele Republiken solche Deklarationen bereits verabschiedet hatten, und bevorzugte es, diesen Prozess auf Initiative der Kommunistischen Partei und unter ihrer Aufsicht einzuleiten, als es dem unkontrollierbaren Zufall zu überlassen, welchen Weg Belarus in seinem Streben nach Unabhängigkeit einschlägt. Aber wie es die Geschichte manchmal so will, war der Versuch, dieses Ereignis abzuwenden, erst recht ein Katalysator dafür.
    Nichtsdestoweniger war es die BNF, die das Thema Unabhängigkeit in Belarus aufgebracht hatte. 

    Wurde der Kommunismus vom Nationalismus gestürzt?

    Der Nationalismus war überall [in der späten UdSSR] die treibende Kraft zum Sturz des Kommunismus – so auch in Belarus. Die gesellschaftliche Basis war hier jedoch schwächer ausgeprägt als in anderen Sowjetrepubliken. Das stand zwar der Erlangung der Unabhängigkeit schließlich nicht im Weg – auch Länder wie Turkmenistan (wo in den Jahren der Perestroika keine Spur einer Bewegung für nationale Unabhängigkeit und Demokratie zu sehen war) wurden unabhängig –, bestimmte aber den weiteren Verlauf der Ereignisse im nunmehr souveränen Belarus.
    Hier sehen wir ein weiteres Paradox: Während das sowjetische Imperium noch existierte, fuhr die BNF im Widerstand gegen die fünf-Millionen-köpfige KPdSU und das mächtige totalitäre System, vor dem die ganze Welt Angst hatte, einen Sieg nach dem anderen ein und gestaltete die Geschichte mit. Als der wichtigste Sieg errungen war, sah sich die BNF einem provinziellen Fragment des imperialen Systems gegenüber. Dieses Fragment, dieser Überrest, hatte weder Struktur (die belarussische kommunistische Partei war liquidiert worden) noch Ideologie (der Kommunismus war auf der Müllhalde der Geschichte gelandet). Die belarussische kommunistische Elite hatte auch zu Sowjetzeiten nicht mit besonderen politischen Talenten oder politischem Willen geglänzt.

    Und trotzdem war es genau in diesem Moment – als die BNF im nun unabhängigen Belarus mit diesen Anti-Bismarcks allein dastand – vorbei mit ihren Siegen. 1992 legalisierte das belarussische Parlament die kommunistische Partei und blockierte ein Referendum über vorgezogene Parlamentswahlen, für das die BNF fast eine halbe Million Unterschriften gesammelt hatte.  
    So blieben ungefähr jene Kreise an der Macht, die auch schon vor der Unabhängigkeit regiert hatten. Eine Weile spielte die BNF noch die Rolle der Partei, die den politischen Stil vorgab und die Idee der Unabhängigkeit vorantrieb. Aber bei den Präsidentschaftswahlen 1994 schlug das Pendel in die ideologische Gegenrichtung aus, als mit Alexander Lukaschenko ein UdSSR-Romantiker und konzeptioneller Gegenspieler der BNF an die Macht kam. Bei den Parlamentswahlen 1995 musste die BNF eine bittere Niederlage einstecken, und noch im selben Jahr ließ Lukaschenko auf Basis einer Volksabstimmung die Staatssymbolik ändern. Die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen, die mit der BNF assoziiert wurden, mussten weichen. 

    „Der belarussische Nationalismus spricht Russisch“

    Übrigens ist Belarus kein Einzelfall – die sogenannten Volksfronten und ähnliche Bewegungen haben nirgendwo lange über die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Länder hinaus existiert. Das Schicksal des belarussischen Nationalismus erwies sich jedoch als komplexer und weitreichender. 1998 veröffentlichte ich den Artikel Der belarussische Nationalismus spricht Russisch, der sich auf Umfrageergebnisse des Unabhängigen Instituts für sozial-ökonomische und politische Studien bezog. Diese hatten gezeigt, dass die Unabhängigkeit Belarus’ mehr Zuspruch unter der russischsprachigen Bevölkerung des Landes erfahre als unter der belarussischsprachigen. In meinem Artikel erklärte ich diesen Umstand mit sozial-demografischen Faktoren: Der Anteil der Belarussischsprachigen war, wie wir bereits gesehen haben, unter Dorfbewohnern, älteren und weniger gebildeten Menschen höher. Und genau das waren die Schichten, die eher dazu tendierten, den Sowjetzeiten nachzutrauern. 
    Hier sollten wir uns die Entwicklung der öffentlichen Meinung zur Sowjetunion ansehen: Umfragen zufolge war in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit die Mehrheit der Belarussen für die Wiedererrichtung der UdSSR (siehe Tabelle 10). Doch bereits 2002, in den frühen Jahren von Lukaschenkos Regierung, verschob sich dieses Verhältnis: Der Anteil derer, die nicht mehr in der UdSSR leben wollten, überwog und wurde im weiteren Verlauf von Jahr zu Jahr höher.   

    „Nation als Schicksalsgemeinschaft“

    Sehr anschaulich wurden die Metamorphosen des belarussischen Nationalismus bei den Protesten 2020 illustriert. Die Leitfiguren des Widerstands waren Viktor Babariko, langjähriger Manager einer Gazprom-Bank, und die russischsprachige Lehrerin Swetlana Tichanowskaja. Doch schon bald nach Beginn der Proteste wählte das kollektive Bewusstsein der Belarussen die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol – das Markenzeichen der längst vergessenen und zu diesem Zeitpunkt wenig populären BNF. Die Proteste von 2020 hatten einen explizit nationalen Charakter im Sinne von Ernest Renans „Nation als Schicksalsgemeinschaft“. Die Sprache, die die Mehrheit der protestierenden Belarussen 2020 sprach, untermauerte übrigens meine These aus dem Jahr 1998. 


    Und noch ein Paradox verdient Aufmerksamkeit: 1993 forderte Lukaschenko, damals noch Parlamentsabgeordneter, die Einheit von Belarus und Russland. Als Präsident traf er nach 1994 mehrere Integrationsvereinbarungen mit der Russischen Föderation; eine neue Sowjetunion, und sei es nur aus zwei Republiken, konnte jedoch nicht einmal ein solch großer Fan der UdSSR wie er erzielen. Die Unabhängigkeit, so zeigte sich, wird man gar nicht so leicht wieder los. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser glühende Opponent der BNF, der Belarus nun schon beinahe 30 Jahre lang regiert, gewissermaßen die Ideen seiner Gegner umsetzt. 


    Hier lassen sich wiederum Parallelen zur deutschen Geschichte ziehen: 1848 kämpfte der „aggressive Junker“ Otto von Bismarck mit dem Säbel gegen die deutschen Demokraten, doch später als Kanzler war ausgerechnet er es, der jenes geeinte Deutschland schuf, von dem das Frankfurter Parlament 1848 geträumt hatte. Zwar nicht der Form nach, aber immerhin ein geeintes.
    So hat sich die „List der Vernunft“, von der einst Hegel schrieb, sowohl in der deutschen als auch in der neusten belarussischen Geschichte manifestiert – hier zu sehen am Beispiel der erstaunlichen Metamorphosen des ideellen Erbes der Belarussischen Volksfront. 

    Weitere Themen

    Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

    Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Diktatoren unter sich

    „Putin und Lukaschenko sehen sich als Sieger“

    Von wegen russische Besatzung