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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zuflucht Theater

    Zuflucht Theater

    Diejenigen, die sich noch an Michail Borsykin erinnern, nennen ihn eine Legende. Aber es erinnern sich nicht mehr viele an den Musiker, der in der Zeit des großen Umbruchs Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde. Kein Wunder: Während andere Bands Stadionhits komponierten, wollte er sich keinem Trend anpassen. Das galt auch politisch. Wladimir Putin war ihm von Anfang an suspekt. 2014, als Russland nach der Krim-Annexion im patriotischen Taumel lag, schrieb er das Lied „Vergib uns, Ukraine“. Als Putin acht Jahre später den großen Angriff startete, verließ er das Land. In einer kleinen Stadt an der Küste von Montenegro betreibt er gemeinsam mit einem Schauspielerpaar aus der Ukraine ein Theater. Die Vorstellungen sind ausverkauft. 

    Michail Borsykin auf einem Konzert in Budva am 19. Januar 2024 / Foto © Waleri Wassilewski
    Michail Borsykin auf einem Konzert in Budva am 19. Januar 2024 / Foto © Waleri Wassilewski

    Neulich rief während der Theater-Aufführung jemand die Polizei. Das Stück Almar von Alexander Gelman wurde in Montenegro gespielt, in einem kleinen Saal zwischen Budva und Bečići. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Eine Mitarbeiterin des Theaters bat die Polizisten, die Schauspieler noch zu Ende spielen zu lassen, es würde nur noch eine halbe Stunde dauern. Die Polizisten sagten: Gut, aber der da soll nicht so laut singen. Wer da so laut gesungen hatte, war Michail Borsykin.   

    Die Sankt Petersburger Band Telewisor ist eine besondere Band. Auch wer kein dezidierter Fan ist, kennt die Songs S wami goworit telewisor (dt. Hier spricht Ihr Fernseher) und Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist). In den 1990er Jahren, als in Russland Rock vorübergehend zum Showbusiness wurde, blieb Telewisor sich treu. Sie mussten nicht unbedingt Stadien füllen und schrieben keine Songs, zu denen man sich auf den Tribünen in den Armen lag und brennende Feuerzeuge schwenkte. 

    Seit zwei Jahren lebt Michail Borsykin im montenegrinischen Urlaubsort Budva und vermisst Sankt Petersburg kein bisschen – die Ästhetik einer Megapolis bedrückt ihn, wie er sagt, während ihn die kleinen Städtchen hier irgendwie an seine Kindheit in Pjatigorsk erinnern. 

    Zusammen mit den ukrainischen Schauspielern Katarina Sintschillo und Wiktor Koschel gründete er in Budva das European Art Community Theater (EuroACT). 

    Anfang der 1990er Jahre – es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen

    „Anfang der Neunziger war ich euphorisch, so wie alle damals“, erzählt Boryskin. „Das war eine Zeit der Innenschau: Wir dachten, wir könnten unser soziales Umfeld vergessen und uns endlich mit uns selbst beschäftigen. Doch auch da trat allerhand Schreckliches zutage. Also, es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen. Als in der zweiten Hälfte der Neunziger der Tschetschenienkrieg begann, wurde mir klar, dass keineswegs alles so eindeutig ist, wie es heute so schön heißt. Irgendwo war Jelzin falsch abgebogen und kriminelle Energien wurden frei, die vorher geschlummert hatten – all diese Geheimdienstler und Geschäftsmänner.

    Unübersehbar verschmolzen Banditenmilieu und Geheimdienste, man erinnere sich nur an Kumarins und Putins gemeinsame Partys in Sankt Petersburg. Und dann trugen die plötzlich alle Schulterklappen, und es wurde ungemütlich. 

    Im Jahr 2000 war ich noch in einer Art Schockstarre. Putin konnte ich vom ersten Tag an nicht leiden – auf psychophysiologischer Ebene. Aber ich hielt ihn für eine temporäre Erscheinung, eine technische Übergangsfigur, die man als nichts Besonderes ausgesucht hatte. Dabei hat er anscheinend sein ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, niemand Besonderer zu sein. 2002 begann schon die Panik, und nach Chodorkowskis Verhaftung war endgültig alles klar. 2017 ging ich mit einem Guest-Writer-Programm für ein paar Jahre nach Schweden. Ich sah bereits, dass die Zeit der friedlichen Proteste vorbei war und wir zum bewaffneten Widerstand übergehen müssten. Dazu war ich aber innerlich nicht bereit, weswegen ich anfing, über Emigration nachzudenken. Zehn Jahre, von 2007 bis 2017, hatte ich aktiv an Demos teilgenommen, die sukzessive zum Schweigen gebracht wurden, obwohl es natürlich auch Highlights gab. Dann kamen die weißen Luftballons und die Gummi-Enten – ich lief nur noch mit, um mein Gewissen zu beruhigen, denn die Zwecklosigkeit dieses Zivilgesellschaft-Spielens war mir sonnenklar. Russland war nicht Indien, ein Gandhi fand sich bei uns nicht. Es gibt die Ansicht, dass gewaltlose Proteste effektiver sind, das bestätigen sogar statistische Daten. Aber das gilt nicht für alle und nicht immer. Auf Russland trifft diese Statistik nicht zu. Während wir mit Taschenlampen und Gummi-Enten marschierten, wurden sie nur noch stärker und sammelten Kräfte, bis sie uns alle schließlich zerschmetterten. Ich schob meine Abreise lange hinaus. Ich hoffte, dieser große Krieg würde doch noch ausbleiben. Obwohl alles darauf hinwies, dass er jeden Moment beginnen würde. Aber so viele politische Analysten ringsum behaupteten netterweise das Gegenteil. Als es losging, besorgte ich mir ein Ticket und flog davon.“          

    Es gibt keine Rechtfertigung, den Bruder als Feind zu sehen.
    Das bedeutet jahrelanges Leiden und Jahrhunderte der Schande.
    Du und ich, wir sind schuld,
    der Freiheit unwürdige Söhne,
    mit Watte im Kopf,
    die Herzen in Gefangenschaft des Kriegs. 

    Das ist von Borsykin. 

    An Protesten hat Michail Borsykin immer teilgenommen. Als 1988 in Leningrad ein Rock-Festival abgesagt wurde, war er es, der die Leute, die sich Eintrittskarten kaufen wollten, zum Smolny führte. Auf dem Weg dahin schlossen sich ihnen Passanten an, die fragten, wohin sie gingen. Als sie vom Verbot des Rock-Festivals erfuhren, liefen sie mit. Beim Taurischen Park wurden sie von der Polizei gestoppt, der Vorsitzende des Rock-Clubs wurde zu einem Gespräch zitiert, man wartete ohne große Hoffnungen draußen, doch zu aller Überraschung wurde das Festival genehmigt und nicht einer der Demonstranten wurde festgenommen.

    Dann ging Telewisor auf Europa-Tournee, richtete sich ein eigenes Tonstudio ein und nahm ein Album auf. Und wechselte fast alle Bandmitglieder aus.  

    Wir wollten zur globalen Musikkultur gehören

    „Wir fingen an, das Album aufzunehmen“, erinnert sich Borsykin, „und merkten, dass die Musik einiger unserer Kollegen einen kommerziellen, massentauglichen Touch bekommen hatte. Da trafen wir die snobistische Entscheidung, das alles nicht mitzumachen. Wir hatten nichts gegen große Auftritte, spielten manchmal auch in Stadien, wollten uns aber von diesem Trend nicht vereinnahmen lassen.

    Sie kennen ja diesen Einheitsbrei – eine simple Melodie und die ewige Verbrüderung mit dem ganzen Volk. Seichte Hits wie Oj-jo sind ein typisches Beispiel. Viele Musiker prägten später den Begriff gownorok (dt. Kackrock) für so etwas – für diese stadionfüllenden Schlager mit gemeinsam gegröltem Refrain zum Mitklatschen. Dieser Weg widerstrebte uns: Wir sahen uns als Absolventen der europäischen Schule und wollten zur globalen Musikkultur gehören. Es ging alles in die falsche Richtung, und das passte uns nicht. Unsere Songs waren zu individualistisch und sogar misanthropisch – damit lässt sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und auch kein Geld verdienen. Das wirkte sich natürlich auf die Zahl unserer Konzerte aus und führte zu gewissen Problemen untereinander. Deswegen verabschiedeten wir uns von unserer bisherigen Besetzung. Einer ging zu Nautilus, ein anderer zu Grebenschtschikow, und ich suchte mir neue Leute.“



    Die Band Telewisor bei einem Live-Auftritt mit ihrem Song „Twoi papa – faschist“

    Das Album Metschta samoubizy (dt. Traum eines Selbstmörders), das die Band nach ihrer Rückkehr von der Europa-Tournee 1991 aufnahm, enthält die phänomenale Nummer Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist), die nie an Aktualität verliert und nicht nach der guten alten Zeit klingt, in der die Mädchen noch jünger waren. Borsykin sagt, dass sie alle zwei, drei Jahre einfach wieder zu schwingen beginnt, zu vibrieren, mit der Umgebung zu interagieren und in neuen Farben zu schillern. Doch in den 1990er Jahren waren solche Lieder wirklich nichts für große Konzerthallen. Und Michail Borsykin wurde so was wie ein weißer Rabe oder ein schwarzes Schaf, er hob sich von der Masse ab, war unkonventionell, zu hart und zu wütend für die damalige Zeit. Und als sich zehn Jahre später die Zeiten änderten, bemerkten das viele erst einmal gar nicht.                

    Den Song Verzeih uns, Ukraine schrieb Michail Borsykin 2014

    Den Song Ty prosti nas, Ukraina (dt. Verzeih uns, Ukraine) schrieb Michail Borsykin 2014. Acht Jahre später nahm er im Sommer 2022 an einem Benefiz-Festival für ukrainische Flüchtlinge teil, das der Fonds Pristanischte (dt. Dock) in Budva in Montenegro veranstaltete. Er übte mit montenegrinischen Musikern zwei Songs ein – die bereits erwähnten Ty prosti nas, Ukraina und S wami goworit telewisor. Sie waren am Schluss an der Reihe, als es schon dunkel war. Die Scheinwerfer gingen aus, nur das Diskolicht flackerte. Der Beleuchter war aber nach Bali geflogen, erzählt Borsykin, und man konnte ihn nicht anrufen und fragen, wie man diese kitschigen Funzeln bedient. Also sang er fast im Dunkeln, griff am Keyboard immer wieder daneben. Im Publikum saßen Katarina Sintschillo und Viktor Koschel, zwei Schauspieler aus der Ukraine. An dieser Stelle würde man gern schreiben: Und damit nahm alles seinen Anfang.   

    Viktor Koschel ist verdienter Künstler der Ukraine, er spielte viele Jahre lang im Kyjiwer Lessja-Ukrajinka-Theater. Zusammen mit Katarina hatte er 13 Jahre zuvor das KChAT gegründet – das Klassische Alternative Künstlertheater, eines der landesweit größten unabhängigen Ensembletheater mit 13 Stücken im Repertoire. Als der großangelegte Einmarsch begann, wurden alle Theater geschlossen. 

    Katarina rief im Kulturministerium an und schlug vor, in der Metro Konzerte zu organisieren, weil es in vielen Häusern keine Bunker gab und die Kyjiwer unten in den Stationen Schutz suchten.

    Im Ministerium hatten sie aber gerade andere Sorgen, also begannen Katarina und Viktor, jeden Abend kleine Sendungen mit Gedichten, Liedern und Ansprachen aufzunehmen und zur moralischen Unterstützung der Menschen, die sich der Territorialverteidigung anschlossen, ins Netz zu stellen. Die Concierges waren geflüchtet, die jungen Männer waren an der Front oder in der Territorialverteidigung, und die restlichen paar Männer mittleren Alters teilten sich die Wachdienste auf, um das Haus vor Saboteuren und Plünderern zu schützen.      

    „Ich war vor allem im Nachtdienst“, erinnert sich Viktor Koschel. „Wenn ich nach Hause kam, war Katja wach. Sie schlief nicht mehr. Dann fing sie an, übertrieben heftig zu reagieren, sogar auf ganz kleine Alltagssorgen. Sie war am Durchdrehen, hielt das alles nervlich nicht aus. Wir wollten nicht weg, aber es war an der Zeit, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern. Vor dem Krieg waren wir acht Jahre hintereinander in den Urlaub nach Montenegro gefahren, immer in dasselbe Ferienhaus in Dobrota bei Kotor. Der Vermieter der Apartments hatte uns gleich am Tag nach Kriegsbeginn geschrieben, dass wir kommen sollen, er nehme uns auf. Kostenlos. Hier wisse man, was Krieg bedeutet. Innerhalb von einer Stunde hatten wir gepackt.“  

    In Montenegro blieben Katarina und Viktor nicht am Strand sitzen, um ihr Trauma zu bewältigen, sondern begannen sofort, nach Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. Sie wandten sich mit der Idee, ein Konzert mit ukrainischen Liedern zu veranstalten, an die Direktorin einer Galerie in der Altstadt von Budva. Die Direktorin sagte dasselbe wie der Vermieter des Ferienhauses: Wir wissen, was Krieg ist. Plakate und Flyer druckte die Galerie auf eigene Kosten, und jeden Monat gab es ein oder sogar mehrere Konzerte. Doch das Theater fehlte trotzdem.     

    Nach 50 Tagen Krieg in Kyjiw war es schwierig, die posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden. Viktor und Katarina konnten kein Russisch mehr hören, sprachen nur noch Ukrainisch miteinander, obwohl ihr Kyjiwer Theater zweisprachig gewesen war: Die Hälfte der Vorstellungen war Ukrainisch, die andere Russisch.

    Psychologen meinten, sie müssten sich ausweinen, aber sie konnten nicht. Ihre Augen brannten vor Trockenheit. Und dann besuchten sie jenes Musikfestival in Budva, hörten Michail Borsykins „Verzeih uns, Ukraine“, und endlich flossen die Tränen.

    „Eine so kraftvolle Kombination aus Musik und Text habe ich noch nie gehört“, sagt Katarina. „Viktor und ich weinten uns aus und bekamen Lust, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten. Und – stellen Sie sich vor: Am selben Abend, es war schon ganz dunkel, bemerkten wir an einer Kreuzung eine Silhouette, in der wir Borsykin erkannten, und riefen: ‚Maestro!‘ Auf der Bühne war es genauso dunkel gewesen wie jetzt auf der Straße, trotzdem hatte Viktor ihn erkannt. Wir gingen zu ihm hin und sagten, dass wir gern mit ihm arbeiten würden. Obwohl das angesichts unseres Repertoires bedeutete, das Unvereinbare zu vereinbaren. Doch Mischa macht nun Mal tolle Rock-Versionen ukrainischer Lieder.“

    Die Konzerte bestanden immer aus drei Teilen: zuerst sang Viktor Koschel ukrainische Lieder, dann kamen ukrainische Lieder in Borsykins Bearbeitung und gemeinsamer Interpretation und dann eigene Songs von Borsykin. Viktor war ein guter Ukrainisch-Lehrer: Geduldig brachte er Borsykin die Aussprache bei, der jetzt jedes paljanyzja so aussprechen kann, dass er nicht von einem Ukrainer zu unterscheiden ist. Im Gegenzug war Borsykin Viktor ein strenger und anspruchsvoller Gesangslehrer.         

    Sehr schwer war es, erzählt Katarina, einen Gitarristen zu finden. Viele wurden beim Bewerbungsgespräch oder während der ersten Probe ausgesiebt. Eben wegen der hohen Ansprüche, die Borsykin an ihre musikalische Ausbildung stellte. Mit vereinten Kräften fanden sie schließlich Dima aus Dnepro, und endlich kann Borsykin sich auf der Bühne ganz dem „Zappeln und Winken“ widmen, wie er es selbst nennt.

    Viktor Koschel und Katerina Sintschillo im Stück "Jewreisskije Tschassy" am 26. Januar 2024 / Foto © Walerie Wassilewski
    Viktor Koschel und Katerina Sintschillo im Stück „Jewreisskije Tschassy“ am 26. Januar 2024 / Foto © Walerie Wassilewski

    Als das Programm fertig war, begann Katarina, nach Bühnen für mögliche Auftritte zu suchen. Sie ging in große Restaurants und sagte: „Im Winter ist bei euch sowieso nichts los, lasst uns einen Art-Club gründen!“ Fast ein Jahr lang tingelten sie von Bühne zu Bühne, die Katarina fand. Zum Tag des Theaters am 27. März wollten sie dann ein Stück spielen. Indessen hatten in Montenegro Schauspieler Fuß gefasst, die aus verschiedenen Städten und Theatern Russlands gekommen waren: aus Sankt Petersburg, Ischewsk, Krasnodar. Katarina und Wiktor entschieden sich für Tschechows Tschaika (Die Möwe) – zum Tag des Theaters sollte auch das Stück vom Theater handeln. In Kyjiw hatten sie für eine Produktion immer neun Monate eingeplant, hier schafften sie es in einem. Obwohl viele Schauspieler auf Baustellen und in Bäckereien arbeiteten und nur in ihrer Freizeit proben konnten. Aber alle hatten ihren Beruf so sehr vermisst, dass sie innerhalb eines Monats bereit für die Aufführung waren. Den Proberaum hatte Marat Gelman zur Verfügung gestellt, der ihn sich einmal als Lager für seine Bilder gekauft hatte. So befand sich die Bühne in einer Art Lager oder Galerie. Es kamen so viele Leute, dass sie auf Teppichen auf dem Boden sitzen mussten, weil nicht genug Stühle da waren, und in der Loge stehen mussten. Am zweiten Abend schlug Gelman vor: Gründet ein Theater, einen Raum habt ihr ja schon, ihr kriegt alles hin.    

    „Zur Eröffnung wollten wir etwas aus der ukrainischen Klassik spielen: Johanna von Lessja Ukrajinka. Die Möwe hatten wir schon, und dann kam noch Alexander Gelmans Stück Almar dazu – über die Liebe zwischen Albert Einstein und Margarita Konjonkowa. Plus ein abendfüllendes Konzert mit Michail Borsykin. Marat Gelman fragte: Mögt ihr Borsykin? Wollt ihr ihn zum musikalischen Leiter des Theaters machen? Natürlich wollen wir das, natürlich, wir lieben ihn!“

    So entstand innerhalb von nur drei Monaten ein Theater. Der Saal, in dem jetzt gespielt wird und früher Bilder aufbewahrt wurden, funktioniert wie ein Baukasten. Es gibt keine Bühne, die Schauspieler spielen eine Armlänge vom Publikum entfernt, und jedes Mal stehen die Stühle anders. Bei Almar längs, bei der Möwe quer, bei Pridurki (Dummköpfe) im rechten Winkel. Im Saal haben maximal 50 Zuschauer Platz, wenn sie sich quetschen wie die Sardinen. Das Bühnenbild ist minimalistisch – logisch, wenn das Theater lediglich über Tische und Stühle verfügt. Katarinas und Viktors Fantasie kennt allerdings keine Grenzen.    

    Nur bei Almar steht in der Ecke noch ein Keyboard, an dem Michail Borsykin sitzt. Das Zusammenwirken seiner Lieder mit Gelmans Drama und Sintschillos und Koschels glänzendem Spiel als Konjonkowa und Einstein ist nicht nur ein Theaterstück, sondern eine überraschend harmonische Kombination aus Rock-Konzert und Drama. „Mit unserem Krieg retten wir uns vor einem noch schrecklicheren Krieg“ [Swojeju woinoi my budem spassatsja ot boleje straschnoi woiny] klingt, als wäre es extra für dieses Stück verfasst worden. Doch Borsykin hat nichts extra geschrieben – Katarina hat die Songs für die Inszenierung ausgesucht.

    Viktor Koschel sagt, er habe Borsykin schon fast gehasst, weil seine Frau mehrere Wochen lang jeden Morgen Telewisor aufdrehte und bis zum Abend hörte. Die Songs, die sie aussuchte – von Schestwije ryb (dt. Marsch der Fische) aus dem ersten Album bis Krasny sneg (dt. Roter Schnee) aus dem letzten –, klingen tatsächlich ähnlich aktuell und wichtig sowohl für heute als auch für gestern oder jenen Frühherbst 1945, in dem Einstein sich von Margarita verabschiedete.

    Auf dem Plakat zu Almar steht: mit der Rock-Legende Michail Borsykin. Doch zu Ehrentiteln wie Rock-Legende oder Grundpfeiler des sowjetischen Rock sagt Michail immer nur: „Schreibt lieber so was wie ‚stand am Ursprung der Neoromantik‘ oder ‚an der Quelle von Dark Wave‘. Telewisor ist stilistisch nicht wirklich Rock, eher New Wave. Reiner, klassischer Rock war nie das, wofür sich meine Band begeisterte.“ Aber was mal auf einem Plakat steht, ist fix.        

    „Bei Almar wollte ich nur mitspielen. Das war mein Beitrag zur tätigen Reue. Ich bezwang meine Star-Allüren: Ich war immer mein eigener Herr gewesen, hatte selbst Regie geführt, auf meiner eigenen Bühne. Und auf einmal wurden meine Songs zurechtgeschnitten und anders zusammengebaut: Hier zwei Strophen, hier drei, und hier ohne Refrain. Ich fügte mich dem Ton, den Katarina vorgab.“

    Jetzt hat das Theater Tschechows Medwed (Der Bär), das Ein-Mann-Stück Tri goda (Drei Jahre), ebenfalls nach Tschechow, Jewreiskije tschassy (Die jüdische Uhr) der ukrainischen Dramenautoren Sergej Kisseljow und Andrej Ruschkowski und Pridurki (Dummköpfe) von Alexander Karabtschijewski im Repertoire. Insgesamt in diesem knappen Jahr sieben Stücke und drei Konzerte.    

    „Wir wiederholen jetzt, in einem fremden Land, was wir in Kyjiw schon einmal geschafft haben“, sagt Katarina. „Wir hätten in Kyjiw eigentlich noch eine kleine Bühne eröffnen wollen, es war schon fast soweit. Unsere Hauptbühne befand sich im Haus des Schauspielers, das sie immer abreißen wollten, um stattdessen eine Bank hinzubauen oder einfach, um es zu verkaufen. Das gab uns den Anstoß, auf die Barrikaden zu gehen, zu protestieren, uns an den Kyjiwer Bürgermeister Vitali Klitschko zu wenden. Er nannte uns ‚aggressive Intelligenzija‘. Er verstand uns einfach nicht: ‚Wollt ihr sagen, ihr habt keine 30 Millionen für eine anständige Sanierung?‘ 

    Wir saßen wie Studenten mit einer Flasche Wein am Strand und schmiedeten Pläne 

    Und dann saßen wir zu dritt da, Viktor war traurig, Mischa Borsykin war traurig, der eine ein verdienter Künstler, der andere eine Rock-Legende, und alle sahen sich gezwungen, von Null anzufangen und ihr ganzes Leben zurückzulassen. Ich sagte: ‚Was habt ihr denn bloß? Darin steckt unsere große Chance, wieder jung zu sein. Wir sind wieder wie Studenten, bei denen noch nichts fix ist, die mit einer Flasche Wein am Strand sitzen und Zukunftspläne schmieden. Zurück an den Start, ein neues Leben!‘“   

    Ein neues Leben. Auf den Ruinen des alten. Eine Flasche Wein für drei. An allen Enden der Welt sitzen sie jetzt genauso im Sand, auf dem Asphalt, auf dem Sofa – Menschen, die vor Krieg und Gefängnis geflüchtet sind, bei denen genauso nichts fix ist, die nicht wissen, wie es weitergeht. Vorerst in einem kleinen Dorf zwischen Budva und Bečići, in einem halbdunklen Saal, in dem noch vor einem Jahr Bilder gelagert wurden und sich jetzt Sintschillo als Arkadina aus der Tschaika mal im feurig folkloristischen Tanz dreht, mal als Phaidra Trigorin zu Füßen sinkt, während Koschel als Einstein die Eifersucht quält und Borsykin in der Ecke am Keyboard mal vom Tod und mal vom Glück singt. Dann scheint alles möglich, und die Verzweiflung schwindet mit der Ebbe. Der Weltuntergang ist ausgeblieben – Borsykin hat ihn abgewendet. 

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  • Operation „Deportation“

    Operation „Deportation“

    Melitopol im Süden der Ukraine war eine der ersten großen Städte, die im Frühjahr 2022 von russischen Truppen eingenommen und besetzt wurden. Bis dahin lebten dort fast 150.000 Menschen. Im September 2022 veranstaltete der Kreml ein Scheinreferendum. Seitdem betrachtet er das Gebiet als Teil Russlands. Anfangs wehrten sich die Bewohner gegen die Besatzung. Dann wurden die Aktivsten deportiert, wer nicht freiwillig ging, wurde bedroht oder gefoltert. Olga Mussafirowa hat mit einigen von ihnen gesprochen. Sie schildert, wie Russland eine Stadt nach und nach in seine Gewalt bringt. 

    An der Stadtgrenze von Melitopol hat sich im Frühjahr 2022 eine lange Schlange gebildet. Wenige Kilometer entfernt verläuft die Front. Der Fahrer dieses Wagens hat groß das Wort „Kinder” auf die Frontscheibe geschrieben / Foto © Imago, SNA

    Im frontnahen Saporishshja heulen Tag und Nacht die Sirenen, oft schlagen Artilleriegeschosse ein. Vierzig Kilometer von hier Richtung Orichiw wird gekämpft, aber leider nicht nur dort … 

    Iwan Fedorow, gebürtig aus Melitopol und Gouverneur der Oblast Saporishshja, nennt es im ukrainischen Fernsehen seine Hauptaufgabe, eine Verteidigungslinie und Befestigungsanlagen zu bauen. Daran wird, sagt Fedorow, rund um die Uhr gearbeitet.  

    Am 11. März 2022 wurde der 33-jährige Fedorow (damals Bürgermeister von Melitopol, der sich weigerte, sich zu ergeben) vom russischen Militär entführt. Die Aufnahme einer Überwachungskamera zeigt, wie er von Männern mit Maschinenpistolen aus dem Amtsgebäude gezerrt wird. 

    Trotz der Besatzung reagierte die Stadt sofort: Die Bewohner gingen auf die Straße und forderten die Freilassung ihres Bürgermeisters. Die „Befreier“ wunderten sich: Haben die keine Angst zu protestieren? Von wem werden sie bezahlt? Am nächsten Tag verkündete Präsident Selensky, dass Fedorow gefoltert werde, damit er vor laufender Kamera sage: Russland bleibt für immer, und Widerstand ist zwecklos. Bald wurde der Entführte gegen mehrere 2002 und 2003 geborene russische Soldaten im Grundwehrdienst eingetauscht. Vor kurzem [im Februar 2024 – dek] wurde er zum Verwaltungschef der Oblast ernannt.  

    Den neuen Verwaltungschef nennen die Ukrainer „Gauleiter“ 

    Melitopol hingegen wurde zur „Hauptstadt“ des okkupierten Teils der Oblast Saporishshja. Als Verwaltungschef (in der Ukraine nennen sie solche Leute „Gauleiter“) bestimmten die Russen einen Einheimischen mit militärischem Stammbaum, Jewhen Balyzky. Er war Volksdeputierter der Ukraine und des Rats der Oblast Saporishshja, Mitglied von Janukowitschs Partei der Regionen und in weiterer Folge des Oppositionsblocks. Als einer der Ersten in der Oblast erhielt er einen russischen Pass und schloss sich Putins Partei Einiges Russland an. Er war es, der sich die „Operation Deportation“ in Melitopol und anderen besetzten Gebieten ausdachte und sie auch umsetzte.  

    „Wir haben zahlreiche Familien ausgesiedelt. Das war alles andere als einfach“, erinnerte sich der „Gauleiter“ kürzlich und meinte damit offensichtlich moralische Hürden, mit denen sein Team zu kämpfen hatte. „Und zwar die, die gegen die Spezialoperation waren, die die russische Flagge, die Hymne oder den Präsidenten der Russischen Föderation diffamiert haben. Wir nutzten den Status, den wir damals hatten – rechtlich gehörten wir noch nicht zur Russischen Föderation –, und wiesen solche Leute mitsamt ihren Familien aus. Das taten wir, weil wir wussten: Die können wir nicht umstimmen. Und dann müssten wir noch brutaler gegen sie vorgehen. Es könnte höchste Gefahr für ihr Leben bestehen, deswegen sollen sie sich doch lieber in ihren Banderastaat verziehen und sich dort ihre ideale Welt zusammenbauen.“  

    „Was meinen Sie mit Lebensgefahr?“, fragte eine Journalistin eines staatlich kontrollierten Senders.            

    „Sie hätten einfach von Nachbarn umgebracht werden können“, erklärte Balyzky. „Leider gab es in der ersten Phase der Spezialoperation bedauerliche Fälle von Selbstjustiz. Wo Leute fremde Wohnungen bezogen, fremde Häuser ausraubten, es gab Plünderungen, auch von Einkaufsläden … Wir ließen sie gehen. Manche mussten wir dazu zwingen. Die brachten wir bis zum ‚Bändchen‘ [gemeint ist der Checkpoint, hinter dem die graue Zone beginnt – dek], dort verlasen wir den Aussiedelungsbescheid, gaben ihnen eine Flasche Wasser mit und … Aber was macht man mit einer Frau mit drei Kindern, die andere Überzeugungen hat? Die Russland eben nicht als ihre Heimat sieht. Die das, was passiert, nicht richtig findet. Sollen wir die etwa umbringen?“ Der neue russische Regionalchef wirbt beim Publikum um Verständnis. „Wir haben unseren Bescheid verlesen und sie losgeschickt. Sollen sie machen, was sie wollen.“           

    „Sind Ihnen solche Entscheidungen schwergefallen?“, fragte die Interviewerin.  

    „Ja, was denn sonst? Wenn ich doch gerade erst mit diesen Leuten Silvester gefeiert habe!“ Balyzky wirkte direkt ein bisschen gekränkt. „Wir haben an einem Tisch gesessen. Wir leben doch alle in derselben Stadt, ich bin seit 1998 in der Lokalpolitik. Ich kenne 15.000 Menschen persönlich, per Handschlag.“  

    Jahrelang saßen sie an einem Tisch. Heute kollaboriert der eine mit den Russen, der andere ist ins Ausland geflohen 

    Einen der Ersten, die aus Melitopol ausgewiesen wurden, konnte ich in Israel ausfindig machen. Mychailo Wolodymyrowytsch Kumok passt genau in die Beschreibung des „Gauleiters“: „Wir haben an einem Tisch gesessen.“ Wenn man nämlich an die Tische im Sitzungssaal des Regionalrats denkt, an denen offizielle, aber auch andere Veranstaltungen stattfanden. Eigentlich sahen sie sich fast täglich. Die Adresse der Medienholding Melitopolskije wedomosti (dt. Melitopoler Nachrichten), die Kumok gegründet und als fortschrittlichster Herausgeber der Region drei Jahrzehnte lang geleitet hat, befand sich unmittelbar neben dem Amtsgebäude des Exekutivkomitees mit dem Empfangszimmer des Volksdeputierten Balyzky. Noch dazu waren die Ehefrauen der beiden befreundet – bis zur russischen Invasion.   

    Auf die Besatzung von Melitopol reagierte Kumoks Familie eher verärgert als verängstigt. Tatjana, die älteste Tochter, wurde sogar zur Chronistin der Ereignisse. Sie war gerade erst nach vielen Jahren in Israel in die Ukraine zurückgekehrt, um eine Zweigstelle ihres Unternehmens zu eröffnen, ein Geschäft für Brautmode. Ihre Blogeinträge und Facebook-Postings über tägliche Entführungen, Enteignungen und andere Errungenschaften der „neuen Staatsgewalt“ wurden von Medien weltweit aufgegriffen.  

    Die Familie nahm an proukrainischen Demonstrationen teil, zu der größten kamen 7000 Menschen. Tatjana stellte oft Livestreams davon ins Netz. Dann begannen die Besatzer, die Proteste gewaltsam aufzulösen, und die Menschen standen vor der Wahl, entweder stillzuhalten oder über die Krim das Weite zu suchen. Eine Überquerung der hart umkämpften Frontlinie wäre wohl keine gute Idee gewesen.  

    Die Website der Medienholding war weiterhin in Betrieb, dort wurden die Dinge beim Namen genannt. Auch der redaktionsinterne Chat wurde weitergeführt. Mitte März wurden in einer Vorstadt zwei Journalisten festgenommen. Es war klar, es würden alle drankommen, auch der „Chef der ganzen Bude“, meinte Kumok selbstironisch.                         

    Mychailo Kumok bekam am 21. März 2022 Besuch von den Besatzungsbehörden. Nicht nachts, sondern gegen zehn Uhr vormittags. Seine Tür wurde nicht aufgebrochen, man wartete draußen auf ihn.  

    Kumok schlussfolgerte: Wenn sie ohne Türaufbrechen und sonstige Special Effects auskommen, dann ist das hier die Light-Version. Er ließ die fünf Bewaffneten in Sturmhauben ein.  

    Während der Hausdurchsuchung mussten er und seine Frau in getrennte Zimmer gehen. Die Männer packten den Rechner und diverse Geräte ein und forderten Kumok auf, mitzukommen – „gleich hier um die Ecke“. Tatjana, die ein bisschen aufmüpfig war, musste auch zum Verhör.    

    „Es begann ganz klassisch mit: ‚Wir befreien euch doch …‘“, äfft Mychailo Kumok, ein fabelhafter Erzähler, sein damaliges Gegenüber nach. „‚Warum nennt ihr uns in eurer Zeitung Orks und Okkupanten?‘ – ‚Die Orks sind eine Metapher. Aber Okkupanten – was seid ihr denn sonst? Meine Festnahme macht in Israel bereits Schlagzeilen. Viel Spaß mit dem internationalen Skandal. Bald kriegt ihr den Befehl aus Rostow – freilassen!‘ So kam es dann auch, nach sechs Stunden Nervereien. Unsere Geräte bekamen wir aber erst nach und nach zurück.“ 

    Kumok beriet sich mit der Geschäftsführerin seiner Holding, und gemeinsam beschlossen sie, die Website „stillzulegen“, um die Mitarbeiter nicht zu gefährden. Israelische Pässe hatte nur seine Familie. Dafür veranstalteten die „Befreier“ in seinem Betrieb ein Pogrom: Sie ruinierten die Überwachungskameras und klauten aus allen Büros die alkoholischen Getränke. Tatjana blieb ihrer Mission treu und stellte ein Video mit entsprechenden Kommentaren zum ‚Appetit des Russki Mir‘ ins Netz. Bei Mychailo Kumok klingelte danach wieder das Telefon: „Wir müssen uns treffen!“ – „Zweck?“ – „Bezüglich Ihrer Tochter.“ – „Das überzeugt mich. Wann sehen wir uns?“ Tatjana engagierte sich damals mit einem Wohltätigkeitsfonds für alte Menschen in Melitopol. Das „Rendezvous“ fand auf dem Friedhof statt, für die passende Atmosphäre.            

    Flucht oder Folterkeller – Sie haben die Wahl 

    Der Repräsentant der neuen Herrschaft bot ein paar Varianten zur Auswahl an, die „direkt mit Balyzky“ abgestimmt waren. Erstens: Wohltätigkeit schön und gut, aber aus der Politik soll Tatjana sich raushalten, wenn Sie in Melitopol bleibt. Zweitens: Als Geste des guten Willens bekommt die Familie die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Oder drittens: Die ganze Familie ab in den Keller. Wofür entscheiden Sie sich? 

    Die meisten, die ausgewiesen wurden, durften sich das nicht aussuchen. 

    Im Netz findet man einiges an Videomaterial zur letzten Etappe der Deportation. Diese Beiträge mit immergleicher Handlung verbreitet die Okkupationsverwaltung, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Es gibt weder Ermittlungen noch Gerichtsverfahren, nicht einmal pro forma: Balyzky entscheidet allein über jedes Schicksal. 

    Flüchtlinge müssen zu Fuß die Front passieren 

    „Vom russisch besetzten Tokmak bis nach Saporishshja sind es 80 Kilometer. Auf der Strecke liegen noch die okkupierte Bezirksstadt Wassyliwka und Dörfer, die ebenfalls von den Okkupanten kontrolliert werden“, erzählte mir Olha Bohlewska, Journalistin aus Saporishshja. „Dahinter liegt die graue Zone, dann die Zone, die von der Ukraine kontrolliert wird, Dörfer und Felder. Da wird überall geschossen, praktisch verläuft da die Front. Die Leute werden in der nackten Steppe ausgesetzt, ohne Gepäck. Wenn sie Glück haben, haben sie ihre Dokumente dabei. Sie müssen die weiteren feindlichen Checkpoints auf eigene Faust passieren und sich einen Weg durch vermintes Gelände bahnen, das jederzeit aus der Luft beschossen werden kann.“        

    September 2022. Angesehene ältere Bürger werden ausgewiesen. Der 74-jährige Viktor Romanow, ein bekannter Unternehmer aus Melitopol, Eigentümer der Mineralwassermarke Mirnenskaja, Inhaber von Baufirmen, Cafés und Verkaufsstellen. Außerdem der 76-jährige Nikolaj Kischko, Direktor des Agrarunternehmens Mogutschi, verdienstvoller Landwirt der Ukraine, Abgeordneter im Regional- und Bezirksrat, Ordensträger. Vor seiner Ausweisung wird Kischko drei Tage lang eingesperrt. Betroffen sind auch Wassili Massalabow, Chef der landwirtschaftlichen Genossenschaft Drushba, emeritierter Professor an der Universität für Agrotechnik in Melitopol und Doktor der Ingenieurwissenschaften, und Anatoli Hrybko, Abgeordneter des Dorfrats von Wessele und Leiter von Irida, einem Kommunalbetrieb für Wasserversorgung.  

    „Alles klar? Naaach rechts! Lauft!“ Die Alten lassen sich Zeit. Romanow trägt eine Wasserflasche. Seine Firma kann er nicht mitnehmen. Heute meins, morgen deins. Wie viele Menschen sich in die Ungewissheit begeben mussten und wie viele von ihnen es bis zu den ukrainischen Checkpoints geschafft haben, ist statistisch nicht erfasst. Die Melitopoler schätzen die Zahl auf Hunderte. Nicht alle sind bereit, an die Öffentlichkeit zu gehen oder gar mit Journalisten zu sprechen.  

    Das Dorf Wessele im Bezirk Melitopol liegt versteckt abseits der Autobahn. Bis April 2022 – die umliegenden Siedlungen waren bereits von Russen besetzt – wehte auf dem Amtsgebäude die blau-gelbe Flagge. Doch gerade diese Zeit brachte eine schwere Enttäuschung, sagte Anatoli Hrybko: 

    „Die Hälfte der Bevölkerung hatte offenbar auf Russland gewartet. Der Rest sah bedrückt drein.“ 

    Der ehemalige Militärkommissar im Ruhestand glaubte nicht, dass die Besatzung lange dauern würde.     

    „Meine Firma Irida kümmerte sich um die Wasserversorgung und den Export von Industrieabfällen. Ich komme zum Stützpunkt und treffe auf beunruhigte Schlosser: Die Russen haben Sie schon gesucht, die Pistolen im Anschlag, wir sollen bloß nicht auf die Idee kommen, kein Wasser zum Checkpoint zu leiten. Auch das benachbarte Nowoolexandriwka, wo an die sechzig Soldaten im Sportsaal einer Schule lagerten, sollen wir mit Wasser beliefern. Und sie wollten einen Bagger zum Schützengräben ausheben. Aber das geht endgültig zu weit“, Hrybko zieht mit der Handkante eine Linie über den Tisch, „keine Schützengräben für die Raschisten. Da habe ich unbezahlten Urlaub bis Kriegsende beantragt.“  

    Doch hin und wieder besuchte er seine Kollegen, machte ihnen Mut: „Das geht vorbei, die Ukraine wird wiederkommen.“ Und er beobachtete, was in Wessele geschah.  

    Die Metzgerin läuft von Haus zu Haus und sammelt Unterschriften für den Anschluss an Russland 

    Da wurde gerade das Referendum über den Anschluss an Russland vorbereitet. Als Agitatorin lief die Metzgerin mit Heft und Kugelschreiber von Haus zu Haus: „Wofür werden Sie stimmen?“ Auch bei Hrybko klingelte sie. Und wurde weggeschickt. Die Kampagne für die Dumawahlen verlief noch revolutionärer. Mitglieder der Wahlkommission brachten die Wahlurnen in Begleitung von MP-Schützen zu den alten Leuten nach Hause: „Hier ankreuzen!“         

    „Einerseits hat die Bevölkerung Angst, ihre Jobs und ihr Einkommen zu riskieren. Andererseits sind sie es gewohnt, den Mund aufzumachen: ‚Sind die Wahlen denn frei?‘ – ‚Na klar …‘ – ‚Dann bin ich für die Kommunisten und nicht für Einiges Russland!‘“, erinnerte sich Anatoli Hrybko an die Aneignung der „neuen Gebiete“ und die Einführung einer neuen Ordnung durch die Russische Welt. „Wessele ist sehr dicht mit russischem Militär bevölkert. Leerstehende Häuser werden sofort von Soldaten besetzt, die von ihren Positionen im Wald abgelöst werden und sich ausruhen wollen.“ 

    Alles, was Anatoli Hrybko, der immer noch als Abgeordneter wahrgenommen wurde, tun konnte, war, bei freiwilligen Evakuierungen nach Saporishshja zu helfen und von dort aus humanitäre Hilfe zu organisieren. Er musste konspirative Fähigkeiten entwickeln, um weder sich noch seine Landsleute zu gefährden. Gegen Denunziation aber war er machtlos.   

    An einem frühen Samstagmorgen Anfang September 2022 rollten drei Autos vor Hrybkos Haus. Fünfzehn MP-Schützen stellten sich rund um den Hof auf. „Habt ihr euch nicht in der Adresse geirrt?“, fragte seine Frau im Hinausgehen. 

    Valentyna war Sachwalterin im Bezirksrat und verfügte über eine beneidenswerte Gelassenheit. Es war die erste demonstrative Hausdurchsuchung im Dorf. 

    Ein altes Abzeichen mit dem ukrainischen Wappen? Aha, ein Nazi-Symbol! 

    Abgesehen von Computern, Handys und Dokumenten nahmen sie auch Hochschul-Abzeichen mit, zum Beispiel die Anstecknadel des Dnepropetrowsker Regionalinstituts für staatliche Verwaltung, das Hrybko abgeschlossen hat.    

    „Da ist ein ukrainisches Wappen drauf, also war es für die gleich Nazi-Symbolik. Sie krallten sich auch die sowjetischen Medaillen mit Hammer und Sichel, aber dann fanden sie ein Namensschild und einen Souvenir-Pin von der UNO! Was sich über die Jahre eben so in den Schubladen ansammelt. Na, das war der Knüller: ‚Aha, du bist an dem Biolaboratorium beteiligt?!‘ Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte“, Hrybko hob ratlos die Schultern. „Zum Lachen war mir nicht. ‚Los, erzähl mal, was da gemacht wurde, wird‘s bald!‘ Die glauben das allen Ernstes. Dann entdeckten sie das Abschlussalbum von dem bereits erwähnten Regionalinstitut. Einige Kollegen trugen auf den Fotos Uniform. ‚Der ist beim SBU, und ihr habt Kontakt! Was ist sein Deckname?‘“ 

    Sie verbanden Anatoli Hrybko mit einem Handtuch die Augen, brachten ihn nach Melitopol und sperrten ihn in eine Zelle. Er wusste nicht, wo genau er sich befand – auf der Polizeidienststelle oder im Untersuchungsgefängnis.    

    „Am nächsten Morgen verhörten sie mich, mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Sie schlossen mir irgendwelche Kabel an, angeblich einen Lügendetektor.“ 

    „Und wozu die Tüte?“ 

    „Damit mich keiner erkennen konnte. Den, der mich verhörte, nannten sie Jegor. Ich hatte den Eindruck, dass sie aus mir einen Partisanenführer machen wollten, den sie somit entlarvt hatten. Offenbar hatten die Denunzianten ihnen das so berichtet.“ 

    Anatoli ist bereit, alles zu sagen, wenn nur die Stromschläge aufhören 

    Bei den nächsten Verhören schalteten sie dann den Strom ein. Sie fesselten ihm die Hände mit Klebeband und steckten ihm Klemmen an die Finger. Er konnte nicht sehen, was passierte, er spürte es nur: 

    „Der Strom geht an. Aua! ‚Mit wem hast du kooperiert?‘ Sie lesen die Chats in meinem Handy, verstärken den Strom bis ich zu zucken begann. Und wieder fragen sie nach dem Biolaboratorium. Am nächsten Tag dasselbe noch einmal. Ich bin herzkrank, leide an Bluthochdruck, ich hatte keine Medikamente dabei und sie gaben mir keine.“

    Anatoli Hrybko fragt sich, wie er nach einer Befreiung seines Heimatortes dorthin zurückkehren und mit den Menschen zusammenleben soll, die ihn denunziert haben? / Foto © Olga Mussafirowa, Novaya Gazeta Europe
    Anatoli Hrybko fragt sich, wie er nach einer Befreiung seines Heimatortes dorthin zurückkehren und mit den Menschen zusammenleben soll, die ihn denunziert haben? / Foto © Olga Mussafirowa, Novaya Gazeta Europe

    Anatolis Frau Valentyna warf einen Blick in das Zimmer, wo wir uns unterhielten. Sie war besorgt: Erinnerungen sind genauso schmerzhaft wie Stromschläge. In der Zelle war seine größte Angst, dass sie auch Valentyna festnehmen würden. 

    „Das ging so weit, dass ich selbst den Vorschlag machte: ‚Sagt mir an, was ihr hören wollt‘“, seufzte Hrybko. „Ich schwärzte mich selbst an, nach dem Motto, ja, ich habe Informationen zu russischen Truppenbewegungen weitergegeben, Flugrouten und dergleichen. Darauf steht laut geltender russischer Gesetzgebung eine Haftstrafe von mindestens 15 Jahren. Sie fragten mich auch nach meiner Haltung zur ‚militärischen Spezialoperation‘. Als ich sagte, dass ich dagegen sei, wurde ich dafür sofort mit Strom bestraft. Also schrieb ich jetzt: ‚Neutrale Haltung.‘ Ich wiederholte meinen Text vor der Kamera. Damit war die Folter vorbei.“ 

    Auf Befreiung hoffte er gar nicht mehr. Er lebte von einem Tag auf den anderen und erwartete nichts Gutes.         

    „Die Zeit vergeht. Die Tür fliegt auf, ich höre ein Kommando: ‚Gesicht zur Wand!‘ Sie ziehen mir einen Plastiksack über den Kopf, legen mir Handschellen an, setzen mich in einen Wagen“, zählt Hrybko auf. „Wir fahren über eine Stunde. An der Stimme erkenne ich Jegor, der mich verhört hat: ‚Balyzky hat dir das Leben geschenkt!‘“   

    Denunzianten werden reich belohnt. Auf einmal haben die Nachbarn ein neues Auto

    Am Checkpoint Wassyliwka drängten sich die Journalisten. Kameras der russischen TV-Sender umzingelten ihn: Eine Deportation, wie interessant, wie brandheiß! Die Urteile gegen Romanow, Kischko und Massalabow waren schon vorher veröffentlicht worden. Der völlig entkräftete Hrybko in seiner abgewetzten Kleidung wurde als Letzter gebracht. Am Schluss ertönte das übliche Kommando: „Lauft!“     

    In seiner schönen Villa in Wessele haben sich FSB-Leute einquartiert. Sein Elternhaus ist völlig leergeplündert. Schade um all die schönen Dinge, aber das ist nicht das Schlimmste. Hrybko plagte eine andere Frage: Wie kann er nach der Befreiung zurückkehren und mit Leuten zusammenleben, die denunziert oder sonstwie dem Feind zugearbeitet haben?

    „Plötzlich haben die Nachbarn ein neues Auto oder neue Haushaltsgeräte“ – die Besatzer belohnen Denunzianten großzügig, sagt Iryna Kabanowa / Foto © Olga Mussafirowa, Novaya Gazeta Europe
    „Plötzlich haben die Nachbarn ein neues Auto oder neue Haushaltsgeräte“ – die Besatzer belohnen Denunzianten großzügig, sagt Iryna Kabanowa / Foto © Olga Mussafirowa, Novaya Gazeta Europe

    „Denunzianten werden mit 50.000 Rubel [knapp 500 Euro – dek] belohnt“, mischte sich Verwaltungssekretärin Iryna Kabanowa, eine ehemalige Ortsvorsteherin von Oserne, in unser Gespräch ein. „Die Rente beträgt 10.000 [knapp 100 Euro – dek]. So lieben die Leute eben Russland, auch wenn sie in der Ukraine geboren sind. Dabei sollten wir zusammenhalten wie Pech und Schwefel!“  

    Iryna Kabanowa forderte das Schicksal lieber nicht heraus. Gleich nach dem ersten Besuch des FSB, dem jemand „signalisiert“ hatte, dass Kabanowa Spitzel sei und der ukrainischen Armee Koordinaten durchgebe, ließ sie Haus und Besitz zurück und ging weg. Die Frage, wer es gewesen ist, versucht sie sich gar nicht erst zu stellen, aber die Gedanken drängen sich von selbst auf. Die einen Nachbarn haben auf einmal neue Haushaltsgeräte, die anderen ein schickes Auto. Aber das Dorf sieht aus wie tot, sagt sie. Die Leute reden nicht mehr miteinander. Sie haben Angst.

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  • Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Auch Ärzte, Pflegekräfte und anderes medizinisches Personal hatten sich 2020 massenhaft den Protesten in Belarus angeschlossen. Trotz des eklatanten Personalmangels im Land gingen die Machthaber danach massiv gegen Augenärzte, Chirurgen, Psychologen oder Krankenpfleger vor. Bis heute kommt es zu gezielten Repressionen und Strafverfahren gegen medizinisches Personal. Ärzte werden entlassen, kommen hinter Gitter, werden zu Extremisten oder Terroristen erklärt, viele der Fachkräfte haben Belarus verlassen. In der Oblast Witebsk ist die Anzahl der Ärzte innerhalb eines Jahres um 700 zurückgegangen

    Die Journalistin Jana Machowa berichtet, was im belarussischen Gesundheitswesen vor sich geht, wohin und wovor die dringend gebrauchten Fachkräfte fliehen und welche Folgen dies für Patienten und Kranke hat.

    Russisches Original

    Tausende medizinische Fachkräfte fehlen 

    2023 ist das Einsetzen von Gelenkprothesen in Belarus eine Operation, die für den Durchschnittsbürger fast utopisch ist. „Schön realistisch bleiben! Vom Orthopäden-Prozess haben Sie gehört?“ So beschreibt eine Patientin, die ein neues Kniegelenk braucht, die Reaktion von Ärzten auf ihre Anfrage. Im Frühjahr 2023 rollte eine Verhaftungswelle durch die Orthopädischen Abteilungen des Landes, dutzende erfahrene Fachärzte landeten hinter Gittern – so wie kurz davor Psychologen und Psychotherapeuten, die die Silowiki in der Hoffnung, an Informationen zu „problematischen“ Patienten zu kommen, ebenfalls zahlreich festnahmen. Das zu Jahresbeginn geänderte Gesetz Über psychotherapeutische Hilfeleistung erlaubt es nun den Geheimdiensten, ohne Angabe von Gründen die Bereitstellung von Informationen über Klienten zu verlangen. 

    Den Orthopäden werden offiziell Bestechlichkeit und illegale Absprachen vorgeworfen. Inoffiziell spricht man in Medizinerkreisen über eine mögliche Umgestaltung des Marktes sowie die Vermutung, alle diese „Prozesse“ könnten den Zweck haben, die Privatmedizin sowie Mediziner, die 2020 mitsamt ihrer ganzen Abteilung protestierten, dem Staat zu unterwerfen.

    Die Massenverhaftungen haben die Wartezeit für Gelenkimplantate, die ohnehin bereits Jahre betrug, noch zusätzlich verlängert. Sogar den Daten des Gesundheitsministeriums zufolge warten an die 14.000 Menschen auf ein künstliches Hüftgelenk. Die Empörungswelle ist bis zu Lukaschenko durchgedrungen, der ganz typisch reagierte: „Bis Jahresende macht ihr mir all diese Gelenke!“, forderte er vom Gesundheitsminister, ohne sich für Details zu interessieren. „Aber zackig! Einer steht, zwei nähen. Los, organisieren Sie das.“ Das Gebrüll in der Sitzung verkürzte die Wartezeit für Operationen natürlich nicht.

    Ein Ärztemangel aufgrund von niedrigen Gehältern und jenseitigen Anforderungen, was den Umfang der zu leistenden Arbeit betrifft, bestand in Belarus auch schon vor 2020. Mit dem Beginn der Massenrepressionen nach den Präsidentschaftswahlen verschärfte sich die Situation. Im Herbst 2022 meldete die polnische Gesundheitsministerin Katarzyna Sojka, dass im Laufe des letzten Jahres rund tausend belarussische Ärzte eingereist seien. 

    Die Belarusian Medical Solidarity Foundation ByMedSol führte eine Studie zur Zahl der medizinischen Fachkräfte in Belarus durch. Als Grundlage dienten offen zugängliche Quellen und offizielle Statistiken. Die Ergebnisse sind ernüchternd. „Wenn das Gesundheitsministerium Ende 2022 von 48.000 praktizierenden Medizinern spricht, dann ist das gelogen. In Wirklichkeit sind es mindestens 10.000 weniger“, erklärt der Gründer der Stiftung, Andrej Tkatschow, und fügt hinzu, dass seit 2020 die Lügen in den staatlichen Strukturen immer größere Dimensionen annehmen und man, statt Probleme zu lösen, lieber die Statistiken manipuliere. 

    Seinen Daten zufolge haben in den letzten drei Jahren tausend bis mehrere tausend medizinische Fachkräfte Belarus verlassen. Indirekt bestätigen das die Daten der landesweiten Jobbörse: Der Suchbegriff „Arzt“ bringt rund 6500 Stellenangebote, für Krankenschwestern gibt es über 4000 freie Arbeitsplätze. „Äußerst vorsichtig geschätzt sind auf jeden Fall mehr als 1000 Mediziner ausgewandert. Es können auch bis zu 5000 sein. Man kann sie nur indirekt zählen, weil viele medizinische Fachkräfte den Job gewechselt, aber keine Möglichkeit zur Emigration haben“, erklärt ein Vertreter von ByMedSol.

    Medizinisches Personal bei einer Protestkundgebung in Minsk im Jahr 2020 / Foto © Natalia Fedosenko/ITAR-TASS/imago-images 

    26 Mediziner sind als politische Häftlinge anerkannt

    Slawomir Gadomski, stellvertretender Gesundheitsminister, sieht den Ausweg aus der personellen Not in einem größeren Angebot an staatlich finanzierten Studienplätzen, als „Zuckerl“ verspricht er eine soziale Förderung in Form von Wohnungen. Lukaschenko hat den Ärztemangel kommentiert, indem er Polen, wohin seine wertvollen Fachkräfte verschwinden, mit der Faust drohte. Im November 2020 erklärte er: „Wir haben keine überschüssigen Ärzte. Wir brauchen sie selber, für unsere Leute. Zurückhalten werden wir aber keinen … Wer abhaut, braucht nicht mehr wiederzukommen.“ Wiederkommen, das haben die Ärzte allerdings ohnehin nicht vor. Die meisten, die seit 2020 abgewandert sind, sind vor Repressionen geflüchtet.

    Die Mediziner stachen während der Proteste sehr ins Auge. Sie demonstrierten mit Plakaten direkt vor den Krankenhäusern. Wie sonst niemand wussten sie über das Ausmaß der Gewalt Bescheid, immerhin waren sie es, die die Opfer medizinisch versorgen mussten.

    „Es war unmöglich zu schweigen. Jeden Tag [im August 2020 – dek] kamen Verprügelte und Verletzte herein. Blaugeschlagen, mit Platzwunden und Schussverletzungen. Ich arbeite schon lange im OP, habe schon vieles gesehen, aber sowas … Vor der Arbeit stellte sich unsere Belegschaft vor den Haupteingang der Klinik, manche hatten Plakate gemalt: Nein zur Gewalt. Was hätten wir denn sonst tun können?“, erzählt ein Chirurg aus einer Minsker Klinik, der anonym bleiben will. Manche Kollegen, fügt er hinzu, hätten nach kurzer Haft gekündigt und das Land verlassen, andere hätten den Beruf gewechselt, und manche säßen noch immer hinter Gittern. 

    Andrej Ljubezki, eine Koryphäe im Bereich Kinder-Kiefer- und Gesichts-Chirurgie, rief dazu auf, die Verfolgung und Misshandlung der Menschen einzustellen. Woraufhin er zu fünf Jahren Strafkolonie verurteilt und zum Terroristen erklärt wurde. „Jeder von uns hat einen oder auch mehrere Bekannte, Freunde oder Nachbarn, die festgenommen wurden, die erniedrigt und geprügelt wurden“, schrieb Ljubezki, der inzwischen als politischer Gefangener gilt, auf Facebook noch vor seiner Verhaftung.

    Wegen Kleidung in den „falschen“ weiß-rot-weißen Farben wurde eine 71-jährige Fachärztin für Onkologie und Mammalogie mit einer Geldstrafe von 3770 Rubel (damals rund 1100 Euro) belegt. Die 51-jährige Psychiaterin Natalja Nikitina wurde an ihrem Arbeitsplatz im Minsker Psychiatrie- und Psychotherapiezentrum für Kinder festgenommen. Ein paar Stunden zuvor hatte sie eine Mitteilung über ihre Entlassung erhalten. Wegen Kommentaren im Internet wurde die Ärztin zu einem Jahr und zehn Monaten Strafkolonie und einer Geldstrafe in Höhe von 6400 Rubel (damals rund 1900 Euro) verurteilt. Das sind nur einige Beispiele.

    Im Oktober 2023 betrug die Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten Ärzte rund 26. Vertreter von ByMedSol gehen davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist. Aber Menschen, die einmal durch den Fleischwolf der Repressionen gedreht wurden, wollen oder trauen sich oft nicht, offen zu sprechen.

    Ich behandle meine belarussischen Klienten jetzt von Polen aus

    „Morgens um halb sieben kamen KGB-Bedienstete zu mir nach Hause, stemmten die Türen auf. Fünf Stunden Hausdurchsuchung, fünf Stunden Verhör. Ich wurde gegen Unterschrift entlassen, mit dem Zusatz: nicht für lange“, erzählt Jelena Gribanowa, Psychologin mit 20 Dienstjahren. 

    Nicht einmal nach diesem Vorfall wollte Jelena das Land verlassen, doch 2021 wurde ihr klar, dass man sie nicht in Ruhe lassen würde – und sie ergriff die Flucht: „Im Staatsfernsehen war ein Beitrag, in dem aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit ein ‚psychologisches Zentrum der Protestbewegung‘ und eine ‚Koordinatorin des Litauer Puppenspielers‘ aus mir gemacht wurde. Und dann kam absoluter Nonsens von wegen, wir würden ‚von Europa finanziert‘.” 

    Die Psychologin lebt seit nunmehr zwei Jahren in Polen, hat belarussische und ukrainische Klienten, arbeitet als Psychologin und Supervisorin für eine Menschenrechtsorganisation in Charkiw. 

    Bevor sein Diplom in Polen anerkannt wurde, arbeitete ein ebenfalls lieber anonym bleibender Onkologe ein Jahr lang als Lieferant in Warschau. „Bis zur Anerkennung meines Abschlusses durfte ich arbeiten, was ich wollte, nur nicht als Arzt. Die medizinische Prüfung ist hier sehr schwer, beim letzten Mal haben von 800 Ärzten (großteils aus Belarus und der Ukraine) nur sechs sie geschafft. Daher kommt es oft vor, dass belarussische Ärzte bereits im Vorfeld, während sie noch in Belarus leben und arbeiten und ihre Migration planen, die Nostrifizierung in Polen beginnen. Die größte Herausforderung ist es, Wohnraum zu finden; ich hatte Glück, ich hatte schon zu Hause auf eine Wohnung gespart. Denn auch wenn das Diplom anerkannt wird, müssen alle im ersten Jahr ein Praktikum machen und verdienen nicht viel“, erzählte der Arzt.

    Private Ärztezentren wurden zur Entlassung von Ärzten gezwungen

    Die Repressionen betreffen medizinisches Personal auf allen Ebenen. Weil er nichts gegen Mitarbeiter unternahm, die Gewalt ablehnen, wurde einer der landesweit besten Herzchirurgen entlassen, Alexander Mrotschek, Direktor des RNPZ (Republikanisches Zentrum für Forschung und Praxis) für Kardiologie. Der Gründerin des RNPZ für pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Olga Aleinikowa, sowie dem Direktor des RNPZ für Onkologie in Borowljany, Oleg Sukonko – das sind die beiden wichtigsten Onkologiezentren für Kinder und Erwachsene in Belarus – wurde erstmal die staatliche Prämie für 2020 gestrichen. Ihre Mitarbeiter wurden wegen Illoyalität und Kritik am Regime in Handschellen direkt aus ihren Dienstzimmern geführt. Bald musste auch die Leitung aus diversen Gründen ihren Platz räumen. Sogar private medizinische Einrichtungen wurden unter Druck gesetzt. 2022 wurde das beliebte Ärztezentrum Lode geschlossen. Nach umfassender Prüfung wurde der Verwaltung eine Liste zugestellt, anhand welcher umgehend eineinhalb Dutzend illoyale Ärzte gekündigt wurden. 

    Als Lode seinen Betrieb wieder aufnahm, gab der Gründer kurz darauf die Summe bekannt, die er an die Staatskasse berappen musste – 236.000 Rubel (damals rund 68.000 Euro). Hinter vorgehaltener Hand wurde diese Summe um ein Vielfaches vergrößert und vermutet, dass das wohl die Rache für 2020 sei, als die Verletzten, die aus der U-Haft in Okrestina kamen, im Lode kostenlos behandelt wurden. 

    Ebenfalls 2022 unterbrach das Gesundheitsministerium für sechs Wochen die Lizenz des Ärztezentrums Nordin, über zwei Monate standen auch Merci und Krawira still. Das Augenärztezentrum Nowoje srenije (dt. Neue Sehkraft) traf es am härtesten – ihm wurde die Lizenz entzogen. „Neugestaltung des Marktes? Oder feindliche Übernahme?“, fragten sich die Mediziner. Parallel dazu tauchten in Minsk Filialen einer neuen Privatklinik auf. In Medizinerkreisen wird gemunkelt, dass sie von „familiennahen“, also aus Lukaschenkos Umfeld stammenden, Personen betrieben werden. 

    „Betrachtet man die Situation als Versuch, die feudale Ordnung wiederherzustellen, dann passt alles zusammen. Es gibt einen Feudalherren und seine Vasallen. Diese verteilen die verfügbaren Ressourcen mithilfe von Zwang, Selbstbehauptung auf Kosten anderer und Sadismus. Alle anderen sind Bauern, sozusagen Verbrauchsmaterial. Wieso also nicht eine eigene Klinik bauen und den Gewinn untereinander aufteilen? So entstehen neue, regierungstreue Privatkliniken“, sagt Lidija Tarassenko, Koordinatorin von ByMedSol; als ausgebildete Gastroenterologin leitete sie die Endoskopie-Abteilung im Alexandrow-RNPZ für Onkologie und Radiologie (dem wichtigsten onkologischen Gesundheitszentrum in Belarus) und arbeitete in einer Privatklinik. „Die Ärzte werden eingesperrt, die Gesundheitszentren aus denselben Gründen ‚gemolken‘. Früher schrieben sie verschämt die Summe auf ein Zettelchen, heute sagen sie einem direkt ins Gesicht, wie viel man zahlen muss, um ‚einstweilen‘ seine Ruhe zu haben.“ 

    Absolventen werden an Arbeitsplätze verpflichtet

    „Die Fremdsprachenkurse sind voller Medizinstudenten, die nach dem Abschluss sofort auswandern wollen – der eine nach Polen, die andere nach Deutschland. Deswegen entscheiden sich viele für eine kostenpflichtige Ausbildung“, berichtet anonym ein Professor an einer medizinischen Universität.

    Doch auch die Behörden haben die ungünstige Tendenz bemerkt und versuchen, zukünftige Spezialisten zu verpflichten. Bildungsminister Andrej Iwanez hat bereits angekündigt, dass nun alle Studenten, egal ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben, verpflichtet werden, eine gewisse Zeit an einer ihnen zugewiesenen Stelle zu arbeiten. Auch davon, dass diese Zeit fünf und nicht mehr wie bisher zwei Jahre betragen soll, war schon die Rede. Vor ein paar Jahren schlug Lukaschenko vor, die verpflichtende Arbeitszeit für Absolventen medizinischer Hochschulen auf zehn Jahre zu verlängern. Wer der Zuweisung nicht folgt, wird gerichtlich dazu gezwungen, eine Riesensumme zu bezahlen, die der Staat angeblich in seine Ausbildung investiert hat.

    Der Personalmangel besteht überall, vor allem bei hochspezialisierten Fachkräften; am drastischsten ist die Situation in den Regionen. „Die Ausbildung zum hochspezialisierten Facharzt dauerte früher Jahre. Heute genügt es, sich zu einem viermonatigen Kurs anzumelden und im Namen des Chefs einen Antrag zu stellen. So wird versucht, mit einer schnellen Umschulung die personellen Lücken zu stopfen“, erzählt eine anonyme Fachärztin aus einer Minsker Klinik. Bisher ist nur ein steigender Bedarf an Ärzten zu beobachten, während die Zahl der Einstellungen sinkt. Die Statistik wird manipuliert, indem unbesetzte freie Stellen aus den Personalplänen verschwinden. So wird die Kurve des steigenden Personalmangels optisch begradigt. 

    Gleichzeitig gibt es weiterhin immer mal wieder Nachrichten über einzigartige chirurgische Eingriffe, die in Belarus durchgeführt werden, zum Beispiel Herzoperationen an Kindern. Die finden auch tatsächlich statt. Nur sind solche Operationen punktuelle, einzelne Beispiele für die Arbeit hochqualifizierter Fachärzte, die noch im Land und nicht von Repressionen betroffen sind und an die der Durchschnittsbürger nur sehr schwer herankommt. 

    Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen

    Die abwandernden Ärzte stehen am Höhepunkt ihrer Karriere und hätten gerade ihr Wissen weitergeben und ihre Ablöse vorbereiten können. „Mit einer ordentlichen medizinischen Versorgung kann man in Belarus auch deswegen nicht rechnen, weil die Nachfolge fehlt. Die Ärzte verlassen ihre Posten, verlassen das Land. Und zwar im arbeitsfähigsten Alter von 30 bis 45 Jahren“, erklärt Lidija Tarassenko. 

    Für die verbleibenden Ärzte, sagt sie, wird es aufgrund der Überlastung immer schwieriger. Sie müssen alle Funktionen erfüllen: die Patienten untersuchen, die Instrumente bereitstellen und sterilisieren, die Dokumentation erstellen. „Noch dazu wird der Beruf gern heroisiert, und das ist ungünstig. Es führt zu überzogenen Erwartungen: ‚Ihr seid Ärzte, ihr müsst das machen!‘ Der menschliche Organismus ist aber nicht dafür gemacht, 24 Stunden am Stück zu arbeiten, und das für drei“, meint Tarassenko.

    „Ich sehe, wie die Kluft zwischen der zivilisierten Welt, der fortschrittlichen Technik und dem, wie unser Gesundheitssystem aufgebaut ist, immer größer wird. Die Situation von Krebspatienten ist ungeheuerlich. Zur Linderung brauchen sie opioide Schmerzmittel. Zu solchen Patienten kommt dreimal am Tag ein Krankenwagen, angeblich zur Beobachtung, als wären sie drogensüchtig.“ Aber das sei nur ein Beispiel für eine maßlose Herangehensweise, dafür, wie das Gesundheitssystem nicht aussehen soll, erklärt sie. 

    „Es fehlen ganze Fachgebiete. Wir haben und hatten nie ausgebildete Experten für Ernährung oder Schmerztherapie. Und kaum jemand versteht, dass wir sie brauchen würden – es war ja nie anders. Alles wird schlechter, aber das versuchen sie zu ignorieren. Solange die Junta an der Macht ist, kann man nicht viel machen. Denen ist egal, was mit den Menschen passiert. Wir haben ja gesehen, wie das bei Covid lief. Jetzt sind dieselben Leute an der Macht, und von ihren Fehlern haben sie sich eines gemerkt: Sie sind damit durchgekommen. Selbst wenn Leute ins Gesundheitswesen kommen, die etwas verändern wollen – die sind dem System fremd und werden hinausgedrängt. Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen“, zieht Lidija Tarassenko ihre unerfreuliche Bilanz. 

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  • Die Razzia als ultimative Performance

    Mitte März haben Ermittler von Polizei und Geheimdienst in ganz Russland Wohnungen von Künstlern und Künstlerinnen durchsucht. Sie kamen im Morgengrauen, brachen Türen auf und beschlagnahmten Computer und Handys. Die Durchsuchungswelle erfasste Moskau, Sankt Petersburg, Nishni Nowgorod, Samara, Jekaterinburg, Perm, Uljanowsk. Viktoria Artjomjewa beleuchtet für die Novaya Gazeta, was das Besondere an diesen Künstlern ist und warum ihr Schaffen der Staatsmacht ein Dorn im Auge ist.  

    Die Künstlerin Katrin Nenaschewa 2020 bei ihrer Aktion „Streite mit mir!“. Während der Pandemie sollte die Performance verborgene Konflikte in die Öffentlichkeit tragen und damit auf häusliche Gewalt aufmerksam machen / Foto © Imago, Itar-Tass

    Vielen Künstlern, deren Wohnungen durchsucht wurden, blieb es ein Rätsel, warum gerade sie ins Visier der Behörden geraten waren. Eine zentrale Vermutung ist, dass es mit den Ermittlungen gegen Pjotr Wersilow zu tun hat, der als „ausländischer Agent” eingestuft ist. Wersilow wurde in Abwesenheit zu 8,5 Jahren Strafkolonie verurteilt, weil er „Falschnachrichten über die russischen Streitkräfte“ verbreitet haben soll. Anlass waren seine Postings in sozialen Netzwerken und eine Aussage in einem Interview, dass er die ukrainischen Streitkräfte unterstütze. Allerdings kennen viele Künstler, bei denen der FSB angeklopft hat, Wersilow gar nicht persönlich. Es kann natürlich sein, dass freischaffende zeitgenössische Künstler in den Augen der Geheimdienste wie eine einzige große mafiöse Gruppe aussehen. Trotzdem erscheint hier eine andere Version wahrscheinlicher – nämlich, dass es sich um eine Einschüchterungsmaßnahme vor den „Wahlen“ handelte. Zumal es für keines der Opfer der erste Kontakt mit den Men in Black war.  

    Katrin Nenaschewa zum Beispiel, die als eine der Ersten durchsucht wurde, hat bereits zwei Wochen wegen Organisation eines friedlichen Abendessens gesessen — das war eine Aktion kurz nach dem 24. Februar 2022, und der erste Versuch, eine Selbsthilfegruppe für Menschen zu gründen, die noch in Russland sind. Als Nenaschewa freikam, nahm das Projekt Schwung auf und wurde um die Initiative Ja ostajus! (dt. Ich bleibe hier!) erweitert. Sie bringt Menschen zusammen, die aus diversen Gründen nicht emigrieren können oder wollen, aber gegen Putins Regime sind. Sie treffen sich, veranstalten Performances, inszenieren Theaterstücke, organisieren Exkursionen und andere Aktivitäten. Außerdem organisierte Nenaschewa im Herbst 2023 in Sankt Petersburg das Projekt KOTelnja, in dem regelmäßig Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche stattfinden: Selbsthilfegruppen sowie kreative und informative Workshops zu mentaler Gesundheit und Kinderrechten. Im Rahmen dieses Projekts gab es auch das Programm Prodljonka (dt. Hort) für Kinder ukrainischer Flüchtlinge. 

    Ermittler durchsuchten die Wohnung seiner Bekannten, nahmen technische Geräte und Bilder mit und verhörten sie über Wersilow und Philippenzo

    Noch schlimmer hat es den Street-Artisten Philippenzo erwischt. Letztes Jahr musste er das Land verlassen, weil er wegen politisch motiviertem Vandalismus angeklagt wurde. Die Anklage hatte mit seinem Graffiti Isrossilowanije (eine Kombination der Wörter Vergewaltigung und Russland) zu tun. Er hatte es vor dem Nationalfeiertag auf eine Mauer unter der Elektrosawodksi-Brücke in Moskau gesprayt und kommentiert: „Was dieses Land heute treibt, kann man nicht anders nennen.“ Schon vorher hatte Philippenzo Konflikte mit den Behörden: 2021 nahm er an einer Aktion zur Unterstützung des Mediums Meduza teil (in Russland als „unerwünschte Organisation“ eingestuft), und im Juli 2023 wurde er wegen angeblichen Widerstands gegen die Polizei festgenommen. Doch erst die Anklage wegen Vandalismus veranlasste ihn zur Ausreise. Allerdings war es, wie sich am 12. März zeigte, mit dieser Ausreise nicht getan: Ermittler durchsuchten die Wohnung seiner Bekannten, nahmen technische Geräte und Bilder mit und verhörten sie über Wersilow und Philippenzo. 

    Pussy-Riot-Aktivistinnen im Visier

    Im Zusammenhang mit Wersilow kamen die Ermittler auch auf Pussy Riot zurück (zwei der Mitglieder sind als „ausländische Agentinnen“ eingestuft), deren Manager und Mitglied er war. Abgesehen vom Punk-Gebet, das am meisten Aufsehen erregte, ist die Band für viele Protestaktionen gegen Wahlfälschungen und Genderdiskriminierung bekannt. Wobei Pussy Riot keine feste Besetzung und Hierarchie hat, so dass jemand, der mitmacht, nicht zwangsläufig alle früheren Bandmitglieder kennen muss. Mehr noch: Als Wersilow, Marija Aljochina und Nadeshda Tolokonnikowa 2012 bei Pussy Riot aktiv waren, stritten sie sogar darüber, wer das Recht habe, im Namen der Band zu sprechen. Die Frauen saßen damals im Gefängnis und beschwerten sich, dass Wersilow hinter ihrem Rücken ohne jede Befugnis PR für Pussy Riot betreibe). Bei so undurchsichtigen Beziehungen innerhalb der Gruppe wirkt es seltsam, dass die Silowiki so viele Jahre später Wersilow auf diesem Weg belangen wollen. Jedenfalls klingelten sie am 12. März bei den Pussy-Riot-Aktivistinnen Olga Kuratschjowa und Olga Pachtussowa. Ihre letzte gemeinsame Aktion mit Wersilow war 2018 die Performance Der Polizist kommt ins Spiel: Als Polizisten verkleidet rannten sie beim Finale der Fußball-WM über das Spielfeld, um damit gegen politische Verfolgung zu protestieren. 

    Anti-Kriegs-Botschaften in Sankt Petersburg

    Auch Sankt Petersburger Künstler blieben nicht verschont: Die Ermittler suchten Kristina Bubenzowa vom Projekt Partija mjortwych (dt. Partei der Toten) und Sascha Bort von der Gruppe Jaw (dt. Wachsein) heim. Die Partija mjortwych ist ein Projekt mit langer, wirrer Geschichte, die bis zu Eduard Limonow zurückreicht. Die zentrale Idee ist, die allgemeine Aufmerksamkeit auf „die größte soziale Gruppe“ zu lenken, nämlich die Toten, die, wie wir wissen, kein Recht und keine Möglichkeit zur Äußerung haben, in deren Namen die Regierung jedoch zahlreiche Entscheidungen trifft – von Veranstaltungen wie dem Unsterblichen Regiment bis zur Unterstützung der militärischen Spezialoperation. Ab dem 24. Februar 2022 konzentrierte sich die Partei auf Anti-Kriegs-Botschaften, und im September wurde sie dann wegen Verletzung religiöser Gefühle angeklagt: Nach dem orthodoxen Osterfest hatten sie ein Foto gepostet, auf dem einer von ihnen in schwarzer Kutte mit entsprechenden Plakaten auf dem Friedhof stand. Letzten Dienstag war das den Silowiki just wieder eingefallen, und sie nahmen es zum Anlass, gleich bei der Partei vorbeizuschauen. Natürlich auch, um nach Wersilow zu fragen. 

    Die Sankt Petersburger Künstlergruppe Jaw ist für politische und sozialkritische Streetart bekannt. 2021 entstand zum Beispiel It’s ok: ein Graffiti im Innenhof eines Hauses auf der Wassiljewski-Insel, das einen Mann mit einer Zeitung im Lehnsessel darstellt, umgeben von Artikeln aus Strafgesetz und Verwaltungskodex. Ein Regenbogen steht für LGBT-Propaganda (in Russland als extremistisch verboten), die Zeitung für die Verbreitung extremistischer Inhalte und eine Mangafigur auf einem Plakat für Suizidalität. Doch der Mann sitzt ruhig da und ignoriert die Verbote. Das Graffiti bezog sich auf Cancel Culture im Sinne einer generellen Absage der Kultur als solcher.

    Prophylaktische Hausdurchsuchungen vor der Wahl

    Kurz darauf machte der FSB auch bei Najila Allachwerdijewa, der Direktorin von PERMM, dem größten Provinz-Museum für zeitgenössische Kunst, eine Hausdurchsuchung. Die Geschichte des PERMM in Bezug auf Zensur ist überhaupt symptomatisch: Gründer und langjähriger Leiter des Museums war Marat Gelman („ausländischer Agent”), der 2014 aus Gründen der Zensur entlassen wurde. Die Kunstgalerie war Teil der so genannten Permer Kulturrevolution: Der damalige Gouverneur Oleg Tschirkunow verfolgte konsequent einen Plan, der Perm zur Kulturhauptstadt zuerst von Russland und dann von ganz Europa machen sollte. Und Gelman hatte entschieden hier ein Pendant zum Guggenheim-Museum in Bilbao zu schaffen.

    Lange Zeit war das Permer Museum ein Beispiel für das, was gelingen kann, wenn ein talentierter Kulturträger im Tandem mit einem talentierten Gouverneur agiert: Von hier gingen Initiativen wie die Ausstellung Russkoje bednoje (dt. etwa Russisches Armes) aus, die den Anstoß zur „Revolution“ gab; Festivals wie Shiwaja Perm (dt. Lebendiges Perm) und Belyje notschi (dt. Weiße Nächte) sowie Partnerschaften mit Sankt Petersburg und Kooperationen mit mehreren Regionen der Peripherie und schließlich die Einleitung eines kulturellen Dialogs der russischen Provinz mit Europa; und Ausstellungen in Mailand, Venedig, Paris, aber auch Präsentationen westlicher Künstler in Perm und die Erweiterung der Sammlung vor Ort.   

    2014 wurde das PERMM geschlossen und die Permer „Revolution“ eingestellt. Der Gouverneur wurde abgelöst, und seinem Nachfolger missfiel eine solche Verwendung des Regionalbudgets. 

    Najila Allachwerdijewa, die nach mehreren Wechseln schließlich Direktorin des Museums wurde, musste einigen Aufwand treiben, um es am Leben zu erhalten. Das PERMM ist heute das einzige Provinzmuseum für moderne Kunst – und das Traurige ist, dass es kein zweites gibt und dass es wirklich provinziell ist. Trotzdem erreichten die prophylaktischen Hausdurchsuchungen vor den Wahlen auch Allachwerdijewa: Ihre Wohnung wurde am 13. März durchsucht. 

    Wozu das ganze?

    In all diesen Durchsuchungen lässt sich kaum eine Logik erkennen: Wenn es um Wersilow geht, dann stellt sich die Frage, wieso man Leute durchsucht, die er gar nicht kennt. Wenn aber das Ziel ist, Künstler einzuschüchtern, warum ist dann zum Beispiel Kristina Gorlanowa betroffen, die ehemalige Leiterin des Uraler Puschkin-Museums? Sucht man trotzdem wenigstens irgendeine (wenn auch noch so spekulative) Logik, so könnte sie so aussehen: Zeitgenössisiche Kunst ist in all ihren Formen per definitionem die schnellste und schärfste Reaktion auf alles, was rundherum passiert. Streetart, Performance, Ausstellungen und Festivals, die aus den hermetischen Museen auf die Straße, unter die Leute, ins Publikum drängen, sind Protest in seiner reinsten Form. 

    Wie wir wissen, ist mittlerweile alles Unverständliche und Nicht-Traditionelle illegal

    Am schlimmsten ist für das heutige Regime, dass die künstlerische Botschaft dieses Protests oft unverständlich, unlogisch und unerklärlich ist. Wie wir wissen, ist mittlerweile alles Unverständliche und Nicht-Traditionelle illegal.    

    Daher ist die Performance, die die Staatsmacht letzte Woche in ganz Russland aufführte, natürlich weder die erste noch die letzte ihrer Art, und die einzig mögliche Logik dahinter ist, dass jeder freie, informelle Ausdruck verhindert werden soll. Weil es im heutigen Russland nur eine Performance geben darf – die Festnahme, und nur eine Kultur – die Cancel Culture.

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  • „Unterschreib oder wir vergewaltigen dich“

    „Unterschreib oder wir vergewaltigen dich“

    Seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine versucht der Staat mit äußerster Härte, Proteste gegen den Krieg zu unterdrücken. Die Organisation OWD-Info spricht in ihrem aktuellen Bericht von fast 20.000 Festnahmen und über 800 strafrechtlich Angeklagten und Verurteilten im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten.  

    Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew wurden am 6. März 2022 bei Protesten in Moskau festgenommen und anschließend wegen versuchter Brandstiftung eines Gefangenentransporters angeklagt. Schutschkow wurde später zu knapp zehn Jahren und Sergejew zu knapp acht Jahren Haft verurteilt. Anfang Februar dieses Jahres wurden die beiden Männer aus Omsk an einen unbekannten Ort gebracht. Erst einen Monat später erfuhr die Initiative Sona solidarnosti (dt. Solidaritätszone), die Antikriegsaktivisten unterstützt, dass die beiden in Gefängnisse in Krasnojarsk überstellt worden waren. Schutschkow hat inzwischen selbst Strafanzeige erstattet und spricht von Gewalt und Folter während der Haft. Mediazona berichtet über den Fall. 

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

    Zelle Nr. 169 – Prügel und Androhung von Vergewaltigung 

    Am 17. Februar trafen die Anti-Kriegs-Aktivisten Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew im Untersuchungsgefängnis SISO-1 in Krasnojarsk ein. Dort verbrachten sie etwas mehr als eine Woche, danach sollte Anton Shutschkow für die ersten Jahre der Haft nach Minussinsk und Wladimir Sergejew nach Jenissejsk überstellt werden. 

    Wie Anton Shutschkow seiner Anwältin Xenia Iwanowa erzählte, war er [im Krasnojarsker SISO-1 – dek] am 20. Februar zu einem Gespräch mit dem Ermittlungsbeamten aus der Zelle geholt worden. Auf dem Weg konnte er ein paar Worte mit Wladimir Sergejew wechseln, der ihm erzählte, dass er die Nacht davor in der Zelle Nr. 169 verbracht und „unter Druck“ eine „Einwilligung zur Kooperation“ unterschrieben habe.

    Ich sollte horchen, was die Zellengenossen reden

    Auch Anton Shutschkow wurde am selben Tag auf Kooperation angesprochen. „Sie schlugen mir vor, ihnen zuzuarbeiten: zu horchen, was die Zellengenossen reden, zu beobachten, wer verbotene Sachen versteckt. Ich habe abgelehnt“, erzählte er seiner Anwältin.

    Am 21. Februar kam auch Anton Shutschkow in die Zelle Nr. 169, vor der ihn Wladimir Sergejew schon gewarnt hatte. Dort erwarteten ihn drei Häftlinge, die laut Aussage des Aktivisten über sein Verfahren Bescheid wussten: Sie sagten, sie wüssten alles über ihn, pöbelten herum und nannten ihn mit seinen 40 Jahren verniedlichend „Antoschka“. „Einer war ein kahlrasierter Muskelprotz, der sagte, er sei 31. Der Zweite war angeblich um die 40, ehemaliger Offizier. Vom Dritten weiß ich nur noch, dass er so zwischen 25 und 30 war“, beschrieb sie Anton Shutschkow.

    Noch am selben Tag verprügelten ihn diese Männer, weil er die Kooperation mit den Behörden verweigerte. Wie er später in der Anzeige beim Ermittlungskomitee angab, erfolgte das mit dem Wissen und auf Anweisung der SISO-Bediensteten. 

    Sie steckten mich mit dem Kopf ins Klo und schlugen mir auf den Kopf

    „Sie sagten: Schreib deine Erklärung oder wir vergewaltigen dich. Ich weigerte mich. Da steckten sie mich mit dem Kopf ins Klo und schlugen mir auf den Kopf, in den Nacken, auf den Rücken. Ich dachte, sie hätten mir eine Rippe gebrochen, aber es war ein Knorpel verschoben. Mein Rücken war blau. Einer hielt mich an den Armen fest, der andere an den Beinen. Sie zogen mir die Hose runter und drohten, mich mit der Klobürste zu vergewaltigen, weil kein Schrubber da war“, erzählte Shutschkow. 

    Weil er ihnen das durchaus zutraute, erfüllte Shutschkow die Forderungen der Häftlinge. „Ich sage mich von extremistischem Gedankengut los und verpflichte mich dazu, den Strafvollzugsbehörden der Region Krasnojarsk und den russischen Geheimdiensten beim Aufdecken von Verbrechen zu helfen“, zitierte er den Text seiner Erklärung der Anwältin gegenüber.  

    Mit dieser Erklärung war es aber noch nicht getan — Shutschkow musste einen kurzen Lebenslauf verfassen und Fragen der Häftlinge beantworten: Was er über Sergejews Verbindungen zur Ukraine wisse, ob dieser mit Drogen handle (er antwortete, dass er davon nichts wüsste), und wer ihm, Shutschkow, private Briefe schreibe. „Ich sagte, das seien ganz normale Leute. Sie fragten mich, wer von der Organisation Tschorny krest (dt. Schwarzes Kreuz) mit mir in schriftlichem Austausch stände“, berichtete Anton Shutschkow. Ein paar Tage zuvor war die Federazija anarchitscheskogo tschornogo kresta (dt. Föderation des anarchistischen schwarzen Kreuzes) auf die Liste der „unerwünschten Organisationen“ gekommen.

    Dann wurde Anton Shutschkow in die vorherige Zelle zurückgebracht, doch seine früheren Zellengenossen waren gegen „zwei Wiederholungstäter“ ausgetauscht worden, die ihn unter Druck setzten, ja nicht die Kooperation zu verweigern, und ihn „verbal angriffen und demütigten“.   

    Am 26. Februar wurde Anton Shutschkow ins Gefängnis [in Minussinsk – dek] überstellt.   

    Im Gefängnis – neue Forderungen 

    Derzeit befindet sich Anton Shutschkow im Gefängnis in Quarantäne. Seine Anwältin Xenia Iwanowa berichtete Mediazona, dass es ihm gut gehe und er sich „um Zuversicht bemühe“. Sie habe ihren Klienten zuletzt am 4. März gesehen.  

    „Zu dem Zeitpunkt scheint er im Gefängnis von Minussinsk besser aufgehoben zu sein, weil er mit nur einer Person, einem Muslim, zusammen in Quarantäne ist. Im Grunde hat er dort Ruhe, ich habe ihm einen Brief und ein Antwortschreiben zum Ausfüllen geschickt. Ich hoffe, er schreibt mir, wie es in der neuen Zelle ist und wie sein Tagesablauf aussieht, wenn ihm seine endgültige Zelle zugewiesen wird“, sagt die Anwältin.  

    Shutschkow fordert in seiner Anzeige, die Zellengenossen, die ihn misshandelt haben, strafrechtlich zu verfolgen, und die Kameraaufzeichnungen sicherzustellen, auf denen vielleicht zu sehen ist, wie er von Zelle zu Zelle geführt wird. Außerdem fordert er, von den Aufsehern eine Begründung für diesen Zellenwechsel zu verlangen. Seine Anwältin Xenia Iwanowa hat die Anzeige bereits beim Ermittlungskomitee eingebracht. „Ich habe diesen Fall auch bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Auch die Tatsache, dass ihm danach zwei Wiederholungstäter in die Zelle gesetzt wurden. Jemand, der zum ersten Mal inhaftiert ist, darf nämlich nicht mit Häftlingen zusammengesperrt werden, die zum wiederholten Mal verurteilt sind“, erklärt sie. 

    Sie machen Druck und ich schweige – nein, das muss an die Öffentlichkeit

    Allerdings befürchte Shutschkow ihren Worten zufolge, dass nach dieser Beschwerde eine fabrizierte Anklage gegen ihn erhoben werden könnte. „Er geht davon aus, dass ihm angesichts seiner langen Haftstrafe so oder so noch weitere Paragraphen angehängt werden. Ich versuche, ihm klarzumachen, dass es trotzdem nicht so einfach ist, aus dem Nichts eine Anklage zu erheben. Neuerliche Anschuldigungen kommen meistens dann hinzu, wenn man etwas mit Zellengenossen bespricht, die einen verraten, oder wenn man einen schweren Verstoß begeht“, sagt die Anwältin. Trotz seiner Befürchtungen habe Shutschkow der Publikation seines Berichts über die Folter jedoch zugestimmt, betont Iwanowa. „Sie machen Druck und ich schweige – nein, das muss an die Öffentlichkeit“, zitiert sie ihren Mandanten.     

    Die Bediensteten des neuen Gefängnisses haben dem Aktivisten ebenfalls eine Kooperation vorgeschlagen, aber Iwanowas Einschätzung nach war das eher „ein Routinevorgang“ und hatte nichts mit den Geschehnissen in der Untersuchungshaft zu tun. Laut Iwanowa sah dieser Vorschlag so aus, dass Shutschkow „jede Woche einen Bericht über Gehörtes und Gesehenes“ abgeben solle. Als Shutschkow ablehnte, wurde ihm nahegelegt, noch mal darüber nachzudenken.     

    „Aber er will ganz grundsätzlich nicht mit den Behörden kooperieren, weil das seinen moralischen Prinzipien widerspricht“, erklärt Iwanowa. Als Shutschkow ins Gefängnis überstellt wurde, erzählte er laut Iwanowa anderen Häftlingen, dass er in der Untersuchungshaft gezwungen worden war, eine Kooperationserklärung abzugeben: „Die Reaktionen waren unterschiedlich, die einen sagten, es sei verständlich, dem Druck nachzugeben, die anderen meinten, man müsse sich zu wehren wissen. Bei Anton Shutschkow schwingt Reue mit, dass er sich anders verhalten und nicht hätte unterschreiben sollen, aber ich versuche ihm beizubringen, dass unter Bedrohung des Lebens und der Gesundheit jedes Verhalten gerechtfertigt ist.“         

    Anti-Kriegs-Aktion. Wofür Shutschkow und Sergejew verurteilt wurden

    Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew, die beide vor einigen Jahren aus ihrer Heimatstadt Omsk nach Moskau zogen, wurden gleich zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, nämlich am 6. März 2022, in der Nähe des Puschkin-Platzes festgenommen. Damals gab es in Moskau noch Demonstrationen gegen den Krieg, und zu einer davon waren die beiden Männer unterwegs. Die Silowiki, die sie aufhielten, kontrollierten ihre Ausweise und den Inhalt ihrer Rucksäcke. Danach nahmen Shutschkow und daraufhin auch Sergejew Methadon-Kapseln ein, um sich umzubringen – das gelangte auf die Body-Cams der Polizisten. 

    Da Sergejew Molotow-Cocktails im Rucksack hatte, wurden die zwei Freunde festgenommen. Auf die Frage, warum sie die dabeihätten, wenn sie zu einer Demonstration gehen, sagte Sergejew, bereits unter Methadon-Einfluss: „Wir dachten uns, wir könnten ein paar eurer Flohkisten abfackeln.“ 

    Ihr werdet sitzen, ihr Missgeburten. Auf einem Flaschenhals, bis der Hintern blubbert

    Auf dem Video der Polizei ist zu hören, wie einer der Silowiki den beiden droht: „Ihr werdet sitzen, ihr Missgeburten. Auf einem Flaschenhals, wie verdammte Petuchi, bis der Hintern blubbert, das versprech ich euch verfickten Wichsern.“  

    Schon auf dem Weg zur Polizeistation ging es Shutschkow schlecht. Er verlor das Bewusstsein und kam in die Sklifossowski-Klinik für Erste Hilfe. Dahin kam nach einer Weile auch Sergejew. Die Ärzte diagnostizierten jeweils eine Methadon-Vergiftung.  

    Zehn Tage später wurden sie wegen versuchten Rowdytums in der Gruppe unter Einsatz von Waffen angeklagt. Aufgrund eines Berichts des FSB, in dem Shutschkow und Sergejew als „überzeugte Anhänger einer radikal-anarchistischen Ideologie“ bezeichnet wurden, die „eine gewaltsame Veränderung der verfassungsmäßigen Grundlagen“ Russlands zum Ziel habe, wurde die Anklage noch verschärft und geändert auf: Vorbereitung eines Terroranschlags durch eine Gruppe von Personen.  

    Wladimir Sergejew gestand seine Schuld zuerst ein und erklärte, er habe seinen Protest „gegen die Militäroperation in der Ukraine und die Konfrontation mit dem Westen“ zum Ausdruck bringen wollen. Vom Ermittler gefragt, wie er denn seine Botschaft habe vermitteln wollen, wenn er doch beinah Selbstmord begangen hätte, sagte Sergejew: „Der Sinn meiner Tat wäre klar gewesen, egal ob ich am Leben bleibe oder nicht. Ich war bei einer Anti-Kriegs-Demo und habe protestiert.“ 

    Er sagte auch gegen Shutschkow aus, dass dieser 1,5 Gramm Methadon gekauft und einen Teil davon ihm gegeben habe. So kam für seinen Freund noch ein Paragraph hinzu: Absatz von Drogen in erheblichen Mengen. Später zog Sergejew sein Geständnis zurück und erklärte, er habe es unter dem Druck der Silowiki abgelegt, die ihn verprügelt haben.     

    Shutschkow hat nie ein Geständnis abgelegt, sondern blieb dabei, dass er von den Molotow-Cocktails in Sergejews Rucksack nichts gewusst und lediglich seinen Suizid geplant habe. „Ich habe [das Methadon] genommen, um nicht mehr zu sehen, was auf der Welt abgeht: der Krieg in der Ukraine, die Ereignisse im Donbass, ich habe auch Angst vor einem Atomkrieg“, erklärte er. „Daher wollte ich mir das Leben nehmen, um nicht zu sehen, wo das hinführt – ich hatte auch Angst, dass die jungen Menschen in die Armut rutschen.“    

    Letztes Jahr im April verurteilte das Zweite Westliche Militärkreisgericht Anton Shutschkow zu zehn und Wladimir Sergejew zu acht Jahren Haft. Später wurden diese Freiheitsstrafen um zwei Monate gekürzt. Die ersten drei Jahre müssen sie im Gefängnis verbringen, daher wurden beide 4000 Kilometer von Moskau entfernt in die Oblast Krasnojarsk gebracht.  

    Der Anwältin Xenia Iwanowa zufolge sind in Schutschkows Profil drei Katergorien vermerkt: Suizidgefährdung, Propaganda für eine extremistische Ideologie und Neigung zu Drogen- und Alkoholkonsum.  

    „Er möchte in der Näherei arbeiten und ins Fitnessstudio gehen“, sagt Iwanowa. „Er will sich bei mir melden, falls es wegen seines Urteils Probleme mit der Arbeit geben sollte.“  

    Update vom 14. März, 11:25: Die Anwältin ist hier nicht mit ihrem richtigen Namen genannt. Zudem wurden auf ihre Bitte hin im Text einige geringe Änderungen vorgenommen, um ihren Klienten vor weiteren Risiken zu schützen. 

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  • Immer mehr Razzien bei privaten LGBT-Treffen

    Immer mehr Razzien bei privaten LGBT-Treffen

    Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland die „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Abgesehen davon, dass die Bewegung für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transpersonen gar keine Organisation ist, warnten Beobachter vor einer neuen Verfolgungswelle. Kaum jemand traut sich noch, offen lesbisch oder schwul zu leben. Inzwischen erhöht die Polizei aber auch den Druck auf private Treffpunkte. Ende Februar wurden in mehreren Regionen Russlands nicht-öffentliche LGBT-Partys kontrolliert. Der Ablauf war überall ähnlich: Maskierte stürmten die Veranstaltungsräume, Partygäste und Personal mussten sich bäuchlings auf den Boden legen, einige wurden festgenommen. Takie dela hat Experten dazu befragt, was das alles bedeutet und was da noch zu erwarten ist.

    Eine Regenbogenfahne würde in Russland schon lange niemand mehr öffentlich zeigen. Die „internationale LGBT-Bewegung“ wurde als „extremistische Organisation“ eingestuft / Foto © IMAGO Pond5 Images

    Am 26. Februar verkündete die Krasnojarsker Queer-Bar Elton ihre Schließung. Zwei Tage zuvor hatte Jekaterina Misulina , die Leiterin der Liga für ein sicheres Internet, das Lokal öffentlich angeschwärzt: Sie hatte eine Drag-Show anlässlich des Tags des Vaterlandsverteidigers eine Provokation genannt und angekündigt, die Sache anzuzeigen. Am nächsten Tag erschien auf dem Telegram-Kanal des Innenministeriums für die Region Krasnojarsk ein Video über die Razzia im Elton, bei der zwölf Personen festgenommen wurden. [Takie dela veröffentlicht Bilder von den Razziendek].

    „Insgesamt wurden bei dem Einsatz 19 Personen kontrolliert, teils Gäste, teils Personal des Etablissements. Zudem wurden Besucher befragt“, teilte die Polizei mit. Begründet wurde die Razzia mit einem Verdacht auf die Verbreitung verbotener Substanzen und illegelen Ausschanks alkoholischer Getränke. Gegen den Clubbesitzer wurde eine Untersuchung eingeleitet. Am 25. Februar tauchte in den Medien die Meldung auf, dass die Bar ihren Social-Media-Auftritten zufolge geschlossen würde.

    Wir können nicht mehr für Eure Sicherheit garantieren

    „Leider können wir unsere Bar nicht weiterbetreiben. Die Schließung des Elton ist hiermit offiziell“, zitierte die Zeitung Prospekt Mira die Geschäftsführung. „In einer Situation, in der nichts als Hass propagiert wird und man nur noch darauf aus ist, die Einen gegen die Anderen aufzuhetzen, können wir eure Sicherheit und die Sicherheit unserer Mitarbeiter nicht mehr garantieren. Das Leben und die Gesundheit von uns allen ist aber das, was am meisten zählt!“

    Der Barbesitzer Dennis Schilow erzählte dem Sender 7-moi Krasnojarsk, wie er nach der Razzia Mitteilungen von den Strafverfolgungsbehörden bekam, in denen sie andeuteten, dass sie den weiteren Betrieb der Bar nicht zulassen würden. „Ich verstehe nicht, wieso einzelne Bevölkerungsgruppen in so ein negatives Licht gerückt werden. Unter solchen Umständen macht die Arbeit keinen Spaß. Wir können keine Partys feiern und daher auch unsere Mitarbeiter und die Steuern nicht bezahlen.“

    Im Dezember 2023 gab es schon einmal Polizeikontrollen im Elton. Damals wurden 20 Personen festgenommen, und gegen den Klub wurde Anzeige wegen „LGBT-Propaganda“ erstattet. Das Verfahren wurde aber eingestellt, weil kein Gesetzesverstoß festgestellt werden konnte.

    „Wir hatten uns schon gefreut, dachten, sie würden uns in Ruhe lassen, weil sie ja doch keine ‚Gay-Propaganda‘ gefunden hatten. Doch da beschloss ein Gast, sich bei Misulina zu beschweren. Was für die Krasnojarsker Polizei offenbar wieder ein Anlass für einen Besuch bei uns war“, sagt Artjom Demtschenko, der Geschäftsführer des Elton. Er kennt zwar das eigentliche Ziel der Razzien nicht, nimmt aber an, dass dahinter politische Interessen stehen. „Wahrscheinlich wollen sie uns und unsere Gäste einschüchtern“, glaubt Demtschenko. 

    Am 25. Februar kamen aggressive Mitglieder der nationalistischen Bewegung Sewerny tschelowek (dt. Nordmensch) in die Bar, was auf dem Telegram-Kanal der Organisation vermeldet wurde: „Mit Toleranz meinte der Präsident, dass wir uns mit eurer Existenz eben abfinden müssen, aber doch nicht, dass ihr auf eure Rechte pochen könnt! Ihr habt nämlich keine, ihr Sodomiten!“, hieß es in dem nationalistischen Telegram-Kanal. 

    Demtschenko erzählt, dass die Nationalisten seine Mitarbeiter bedrohten und in die Bar eindrangen, um die Gäste zu verprügeln. „Einige waren nach draußen gegangen, um zu rauchen, aber als sie diese Meute sahen, rannten sie gleich ohne Jacke davon. Wir wollten den Vorfall zur Anzeige bringen, aber die Polizei wehrte ab – angeblich, weil niemand zu Schaden gekommen war“, sagt Demtschenko. Und fügt hinzu: „Es muss also erst einer umgebracht oder zusammengeschlagen werden, bevor wir Anzeige erstatten können.“

    Die Bar Elton ist nicht das einzige Lokal, das die Polizei in letzter Zeit auf „LGBT-Propaganda“ hin kontrolliert hat. Am 18. Februar stürmten Polizisten in Koltuschi im Gebiet Leningrad eine private LGBT-Party und verprügelten die Gäste.

    Alle, die als Jungs geboren sind – aufstehen!

    Ausschnitte aus dem Video des Polizeieinsatzes wurden auf REN TV ausgestrahlt, unter dem Titel LGBT*-Party gegen die SWO (Militärische Spezialoperation). Auf den Bildern waren Menschen zu sehen, die auf dem Boden lagen, und durch die Räume stürmten maskierte Polizisten. Laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info war die Weitergabe der Aufnahmen an den Fernsehsender illegal. 

    „Hände hinter den Kopf, los, alle! Und jetzt alle, die als Jungs geboren sind, aufstehen und da drüben an die Wand stellen!“, schreit einer der Silowiki in dem Video. In dem Fernsehbeitrag hieß es, die Polizei habe eine Hausdurchsuchung gemacht und Sachen mit LGBT-Symbolik, „verdächtige Dokumente“ und „handgeschriebenes oppositionelles Material“ beschlagnahmt. Ein Partygast erzählte dem Portal Parni + (dt. Jungs +), dass die Polizisten sie vier Stunden lang auf dem kalten Boden liegen ließen und jeden schlugen, der sich rührte. Nicht einmal auf die Toilette durften sie gehen: 

    „Sie machten derbe Witze und beschimpften uns aufs Übelste. Sie gingen zu jedem hin und fragten: Bist du ein Junge oder ein Mädchen? Und wenn sie sich bei jemandem nicht sicher waren, welches Geschlecht er oder sie hat, musste sich diese Person von einer Ermittlungsbeamtin untersuchen lassen. Ein Mädchen musste ihren Rock hochschieben und ihre Leggings straffziehen, mein Freund musste seine Operationsnarben herzeigen. Und ständig diese Fragen: Ja, wo ist denn nur dein Penis geblieben?“, erzählte einer der Betroffenen Mediazona.

    Auch in Tula wurde in der Nacht auf den 18. Februar eine Veranstaltung aufgelöst: die Amore Party – ein Fest der „Liebe, Offenheit und Sexualität“ im Kulturzentrum Tipografija. Uniformierte ohne Dienstabzeichen befahlen den Teilnehmern, sich auf den Boden zu legen, verprügelten einige und zwangen sie, Kniebeugen zu machen und die Hymne von Tula zu singen. Einige Partygäste wurden nach dem Paragrafen zur LGBT-Propaganda angezeigt. OWD-Info zufolge „sagten die Leute ohne Dienstabzeichen von sich, sie hätten am Einmarsch in der Ukraine teilgenommen“.

    In Petrosawodsk platzten am 20. Februar Männer vom FSB und von der Nationalgarde in eine geschlossene Queer-Party im Nachtclub Full House, wie Karelija.News berichtete. „Wie wir unseren Quellen entnehmen konnten, steht eine Einwohnerin von Petrosawodsk unter Verdacht, diese LGBT-Community organisiert zu haben. Als Veranstaltungsraum für einschlägige Themenabende habe sie diesen Gastronomiebetrieb genutzt“, heißt es da.

    Rückzug der LGBT-Community ins Internet

    Solche Razzien wertet der Jurist Maxim Olenitschew als Einschüchterungsmaßnahmen gegen LGBT-Personen: „In der derzeitigen Form sind diese Aktionen rechtlich nicht gedeckt, aber die Staatsmacht setzt die Exekutive dazu ein, alle Arten von Treffpunkten der LGBT-Community zu schließen und ihre Gegenwart in der russischen Gesellschaft zu unterbinden“, sagt er.

    Das passiert vor dem Hintergrund, dass sich nach dem Verbot der „LGBT-Bewegung“ durch das Oberste Gericht fast alle Organisationen, die dieses Thema betrifft, ins Internet zurückgezogen haben. „Die einzigen Offline-Plattformen, die in Russland noch verfügbar sind, sind eben LGBT-Clubs und Bars, weswegen die russischen Strafverfolgungsorgane diese ins Visier nehmen“, sagt Olenitschew. Er geht davon aus, dass die Exekutive den Gerichtsentscheid weiterhin auf diese Art umsetzen wird, weswegen ein Teil der LGBT-Lokale schließen wird: Sie können ihre Tätigkeit so nicht fortsetzen.

    „Manche Lokale versuchen, sich anders zu orientieren, und üben Selbstzensur, um weiterbestehen zu können“, erklärt der Jurist. Manche Clubs verabschieden sich zum Beispiel von ihren Travestie-Shows, andere streichen die Drag-Queens aus dem Programm. „Die Polizei darf nichts zu beanstanden haben.“ 

    Derzeit würden nach den Razzien noch keine Verfahren nach dem neuen „Extremismus“-Paragrafen eingeleitet, sondern wegen „Schwulenpropaganda“, was nur eine Ordnungswidrigkeit darstellt, erklärt Olenitschew. „Das Verbot der LGBT-Propaganda ist seit zehn Jahren in Kraft. Es ist so unklar und vage formuliert, dass die Strafverfolgungsbehörden es praktisch als Vorwand für alle Amtshandlungen benutzen können, die sie für notwendig erachten“, erklärt der Jurist. 

    Derartige Maßnahmen der Silowiki sind die erste Stufe der Einschüchterung, ist der Psychologe Iwan Iwanow überzeugt, der mit LGBT-Personen arbeitet. „Trotz der Razzien werden weiterhin Gäste in die LGBT-Clubs kommen. Einerseits, weil ihnen die Gefahr nicht vollends bewusst ist, andererseits aber auch, weil man Menschen nicht davon abhalten kann, sich miteinander zu treffen. Sie werden sich einfach besser verstecken“, lautet die Schlussfolgerung des Psychologen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch: 

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    Foto © Na schtschyti
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    Wann haben Sie angefangen, nach Überresten von Gefallenen zu suchen? 

    Das war 2010. In der Nähe meines Hauses befand sich ein militärhistorisches Zentrum. Dort leisteten Freiwillige Archivarbeit, unternahmen Suchaktionen an Orten, wo im Zweiten Weltkrieg gekämpft wurde, und bestatteten Opfer, die auf ukrainischem Gebiet gefallen waren. Anfangs arbeitete ich im Archiv, doch dann beteiligte ich mich mehr und mehr selbst an der Suche. Es wurde zu meinem Hobby. Im Sommer 2014 schloss ich mich als Freiwilliger der Armee an. Seitdem wende ich mein Wissen und meine Fertigkeiten bei der Suche nach Vermissten in diesem Krieg an. Es klingt womöglich zynisch, aber mir gefällt diese Suche. 

    Was war am Anfang der vollumfänglichen Invasion besonders schockierend oder schwierig an Ihrer Arbeit? 

    Der Verlust der Komfortzone. Entweder du setzt dich damit auseinander, oder du kannst nicht weitermachen. In den vergangenen zehn Jahren haben fast 200 Menschen bei uns angefangen. Von denen sind etwa fünf Prozent geblieben, die halten das psychisch aus. Alle anderen sind entweder umgekommen, weil sie auf eine Mine getreten sind, bei manchen hat das Herz nicht mehr mitgemacht, manche waren psychisch so ruiniert, dass sie Hilfe von Psychiatern benötigten, um wieder zurück in ihre Familien zu finden. Hier gibt es keine vorgefertigten Schablonen – jeder ist anders. Aber die meisten schockiert vor allem der Anblick und der Gestank der Toten, an den man sich einfach nicht gewöhnen kann. Wenn du den ganzen Prozess von der Suche über die Identifizierung bis zur Bestattung eines Soldaten mitverfolgst, bist du auch mit deinen eigenen Emotionen konfrontiert. Aber du überwindest dich. 

    Manchmal muss man sich zusammenreißen, weil wir einfach sehr wenig Zeit haben, und wenn ein Körper zerfetzt wurde, muss man ihn bestmöglich zusammensetzen. Je weniger Daten, desto weniger Sicherheit. Fehler dürfen wir uns keine erlauben. Stellen Sie sich mal vor: Eine Familie bestattet einen Sohn, und dann stellt sich heraus, das war gar nicht er. Wie soll man denen erklären, wem da wo genau ein Fehler unterlaufen ist? 

    Gibt es für die Leichensucher eine Art psychologische Unterstützung? 

    Natürlich. Aber viele von uns haben gelernt, während der Arbeit selbst eine Psychokorrektur vorzunehmen – bei sich selbst und anderen.  

    Was meinen Sie mit Psychokorrektur? 

    Jeder kann unter bestimmten Umständen in einen Schockzustand geraten. Wenn ein Mensch zum Beispiel ertrinkt, dann kann er sich nicht kontrollieren, sein Körper widmet sich vollständig einer einzigen Aufgabe – Luft zu bekommen und die Atmung fortzusetzen. Wenn jemand zu ihm hinschwimmt, um ihn zu retten, wird der Ertrinkende ihn hinunterdrücken, um sich von ihm nach oben abzustoßen. Wenn man diesen Schockzustand beendet, kann man mögliche Fehler minimieren. Löst nun der Retter bei dem Ertrinkenden einen Schmerzschock aus, so holt er ihn aus diesem Zustand heraus, und der Ertrinkende kann dank seiner Fähigkeit zur Psychokorrektur beginnen, seine Bewegungen zu koordinieren.        

    Eine Psychokorrektur brauchen wir also, um uns in einer schockierenden, abnormalen Situation, die uns aus den gewohnten Bahnen wirft, zu konzentrieren, die Situation einzuschätzen und die Reihenfolge der notwendigen Schritte entscheiden zu können. Bei intensivem Beschuss zum Beispiel, wenn einer verletzt wurde – dem Verletzten einen Druckverband anzulegen, ihm ein Schmerzmittel zu spritzen, in Deckung zu gehen und ihn von höher gelegenen Positionen wegzuschaffen, damit er nicht erwischt wird. Zu erkennen, womit wir beschossen werden, und je nach Art der Waffen abzuschätzen, wann der Angriff vorbei ist und wann er womöglich von Neuem beginnt. Das ist in Summe eine Handlungskette, ohne die wir nicht mehr am Leben wären.         

    Seit dem 24. Februar 2022 werden wir Bergungstrupps mit Drohnen angegriffen

    Kommt es vor, dass Teilnehmer der Suchtrupps während der Suchaktionen ums Leben kommen? 

    Hier besteht ein großer Unterschied zwischen der Zeit vor und nach dem 24. Februar 2022. 2014 bis 2022 hatten wir immer einen oder zwei Minenentschärfer im Team. Damals war es leichter, mit der Gegenseite eine Vereinbarung zu treffen, damit wir in die „graue Zone“ hineindürfen. Damals herrschte Waffenstillstand, auch wenn er immer wieder gebrochen wurde; der gegenseitige Hass war nicht so ausgeprägt, die Frontlinie stabil, es gab noch Versuche zum Dialog. Sie [die russische Seite] sahen uns, kannten uns. Der Minenentschärfer ging voraus, wir hinterher. 

    Foto © Na schtschyti
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    Vielleicht wundert Sie das, aber zwischen 2014 und Februar 2022 kam kein einziger meiner Kollegen bei einer Suchaktion ums Leben. Wir machten alles gründlich und Schritt für Schritt, ergriffen alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen. Obwohl wir 2014 des Öfteren verminte Leichen entdeckten. Aus solchen Fällen haben wir gelernt.  

    Leider werden Suchtrupps auch manchmal beschossen. Und seit dem 24. Februar 2022 werden wir auch mit Drohnen angegriffen.    

    Die Suchtrupps? 

    Ja, manche von uns tragen schwere Verletzungen davon. Das ist natürlich nicht die feine Art. Immerhin sind wir mit einer Markierung versehen, an der man auch aus Flughöhe erkennt, dass wir keine militärischen Zwecke erfüllen. Auf dem Autodach haben wir ein großes rotes Kreuz auf weißem Untergrund, wir tragen reflektierende Westen in Signalfarben und im Sommer weiße Sanitäter-Overalls. Trotzdem wurden seit dem 24. Februar 2022 vier unserer Kollegen schwer verletzt, und es ist fraglich, ob sie je weitermachen können.      

    Wie schützen Sie sich auf dem Schlachtfeld vor Angriffen? 

    Wir haben eine Regel: Während einer Suchaktion nehmen wir niemals eine Waffe in die Hand oder beteiligen uns an Kampfhandlungen, obwohl wir Soldaten sind. Wir bewegen uns im Blickfeld unserer bewaffneten Kameraden, die die Gegenseite daran hindern, zu uns vorzudringen. Wenn es doch zu einem Gefecht kommt, dann ist das wohl Schicksal.   

    Wenn wir Waffen mitnehmen würden, würde außerdem der Platz für andere wichtige Utensilien fehlen. Wir müssen Ausrüstung mitnehmen, Helme, Panzerwesten, Tragbahren, forensisches Werkzeug mit allem, was man für die Evakuierung von Leichen braucht, eine Apotheke, Wasser, Proviant. Jedes Gramm fällt ins Gewicht.       

    Sind Sie während der Suche schon in Gefechte geraten? 

    Ja. Ich glaube, das war ein Missverständnis: Wir hatten eine Vereinbarung getroffen, aber die Leute in den Schützengräben wussten wahrscheinlich einfach nichts davon. Denn als wir dicht an ihre Positionen herankamen, reagierten sie zuerst verstört und schockiert und begannen dann, auf uns zu schießen. Offenbar war ihnen nicht sofort klar, wer wir sind – ein paar unbewaffnete Leute in orangenfarbenen Westen mit Tragbahren. Als sie das Feuer eröffneten, schossen unsere Leute zurück, woraufhin sie umschwenkten und auf die ukrainischen Stellungen zielten.       

    Das Gefecht dauerte ungefähr eineinhalb Stunden. Am Ende robbten wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Die Angst blieb an die zwei Jahre. Aber ich bin nicht daran zerbrochen.   

    Jeder Kommandeur wird sich bemühen, die Gefallenen aus den eigenen Reihen bergen zu lassen

    Führen Sie Buch über die seit dem 24. Februar 2022 geborgenen Leichen? Mich würden beide Seiten interessieren.  

    Wir zählen alle zusammen. Insgesamt sind es rund 5000. Haben Sie eine Vorstellung von den Dimensionen dessen, was da passiert? Ich als Leichensucher bin überzeugt: Wir haben noch mindestens 50 Jahre zu tun – ab dem Zeitpunkt, wo das alles zu Ende ist. Allein auf ukrainischer Seite. Und dann gibt es ja auch noch die russische. Und manche Menschen finden wir überhaupt nie. Wenn es einen in lauter Stücke zerreißt – umgeben von Wildnis, Natur und Verwesung … Ein ungeschulter Mensch würde nie im Leben auf solche Fragmente achten.    

    Kann man aufgrund Ihrer Daten über die Menge der gefundenen Überreste die Verluste auf beiden Seiten einschätzen? 

    Nein, unsere Statistik liefert kein vollständiges Bild über die Zahl der Todesopfer. Wir sehen nur einen Teil.  

    Wie funktioniert die Identifizierung der gefundenen Leichen? 

    Da werden Daten aus mehreren verschiedenen Quellen zusammengeführt und verglichen. Erstens liefern uns die Angehörigen der Soldaten Informationen, zum Beispiel besondere Kennzeichen, Tätowierungen etwa. Zweitens sammelt die Polizei aufgrund der Vermisstenmeldungen ebenfalls Daten. Außerdem gibt es Vereine, die den Verwandten von Vermissten bei der Suche helfen.  

    Wenn die Informationen aus allen drei Quellen übereinstimmen, dann greifen wir auf die interne Kommunikation der ukrainischen Streitkräfte zu. Wenn ein Soldat vermisst wird, dann muss der Kommandeur Meldung machen über Ort, Zeit und Zahl der Verschwundenen unter Angabe ihrer persönlichen Daten. Wir überprüfen das alles, und wenn die Daten übereinstimmen, untersuchen wir eben den Ort des Geschehens. 

    Spezialisten bergen die Leichen getöteter Zivilisten in einem Wald nahe Butscha im Juni 2022 / Foto © IMAGO, Ukrinform

    Wenn es ein derzeit besetztes Gebiet ist, so bestimmen wir die konkreten Standorte und bearbeiten sie erst, wenn es gelungen ist, das Territorium zu befreien. Wenn es aber besetzt bleibt, dann geben die ukrainischen Streitkräfte meinem Wissen nach die Informationen an Kontaktpersonen auf der russischen Seite weiter, damit die Suche von denen durchgeführt wird.  Na, und weiter je nachdem. Wenn sich die Stelle nahe an Kampfhandlungen befindet, dann gehen da weder wir noch die Russen hin. Keiner kann den Krieg aufhalten, so viel habe ich schon verstanden.    

    Erzählen Sie mal bitte, wie der Austausch abläuft.  

    Der erfolgt immer auf russischem Gebiet an der nördlichen Grenze der Ukraine und entsprechend den Richtlinien des humanitären Völkerrechts. Ein Kühlwagen mit ukrainischem Personal und Leichen russischer Soldaten fährt nach Russland. Wir laden die Leichen in einen russischen Kühlwagen um, übernehmen die toten ukrainischen Soldaten und fahren zurück in die Ukraine.    

    Wie ist es, dem Feind ins Gesicht zu blicken? Gab es auch schon Exzesse aufgrund menschlichen Fehlverhaltens? 

    Für die Vereinbarung von Ort und Zeit des Austauschs gibt es Verhandler. Während des Austauschs selbst reden wir mit niemandem. Wir arbeiten in weißen Overalls, mit Mundschutz und Kapuzen – in erster Linie aus hygienischen Gründen. Die Russen sind auch so gekleidet. Nur die Augen sind zu sehen. In der ganzen Zeit gab es nie einen Konflikt. Man merkt, dass die Leute angewiesen wurden, nicht mit uns zu sprechen. Keiner verhält sich respektlos – alle sind absolut neutral. Gesichtslose Menschen verladen Leichen von Kriegsopfern und fahren wieder nach Hause.    

    Dabei werfen beide Seiten einander häufig vor, dass sie die Leichen der Gefallenen nicht abholen und sich überhaupt nicht darum kümmern. Inwiefern sind diese Vorwürfe gerechtfertigt? 

    Das sind politische Manipulationen von beiden Seiten. Die Leichen werden bei der ersten Gelegenheit geborgen. Wir benachrichtigen die russische Seite, und sie kommen nur dann nicht, wenn sie sich dadurch in Lebensgefahr begeben würden. Mir sind keine Fälle bekannt, wo eine Leiche einfach liegenbleibt.  

    Waren Sie auch an Orten, an denen Russland massenhafte Kriegsverbrechen begangen hat, etwa in Butscha oder Borodjanka? 

    Ja, dort waren unsere Spezialisten im Einsatz, aber im Detail kann ich dazu nichts sagen, weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.  

    Nicht einmal jeder vierte russische Soldat trägt eine Erkennungsmarke. Der Grund ist Aberglaube oder schlechte Ausstattung der Truppe 

    Welche Rolle spielen die Erkennungsmarken bei der Identifizierung der Toten? 

    Auf den russischen Plaketten stehen nur Kennnummern aus Buchstaben und Ziffern. Sie haben ihre interne Datenbank, anhand derer nur sie in der Lage sind, die Person mithilfe ihres Codes zu identifizieren. Das heißt, die Soldaten sind entpersonalisiert. Wobei wir nur bei 15 bis 20 Prozent der gefallenen Russen, die wir geborgen haben, Plaketten gefunden haben. Da wirkt einerseits der Aberglaube, dass eine solche Marke etwas für Todgeweihte ist, andererseits bestehen Lücken in der Versorgung der Armee in einem großen Krieg, manche verlieren sie oder weigern sich, sie zu tragen, weil sie die Dringlichkeit nicht verstehen.             

    Auf den ukrainischen Marken steht der volle Name und eine Identifikationsnummer, die dieselbe ist wie die Steuernummer. Das ist die individuelle Nummer des Soldaten. Außerdem steht bei den Ukrainern die Blutgruppe drauf und zu welcher Einheit sie gehören: zur ukrainischen Nationalgarde, zum Grenzschutz, zur Polizei oder zu den ukrainischen Streitkräften. All das beschleunigt die Identifizierung eines Toten, wenn man ihn rein visuell nicht mehr erkennen kann. Die Menschen in Russland müssen verstehen, dass keiner ihre Kinder und Angehörigen braucht außer ihnen selbst. 

    Wie oft werden DNA-Tests für die Identifikation eingesetzt – die sind ja ziemlich teuer?      

    DNA-Tests sind nur eine der Methoden, mit denen die Identität eines Toten festgestellt werden kann. Sie dienen als letzter Beweis und geben den Verwandten die endgültige Gewissheit, wer der Tote ist.  

    In welchen Fällen wird ein DNA-Test gemacht? Sie haben ja keinen Zugriff auf DNA-Datenbanken russischer Soldaten.  

    Ja, leider. Wenn sich die ukrainische und die russische Seite eines Tages darauf einigen könnten, die Genotypen von Verwandten von Vermissten auszutauschen, dann würden bestimmt auf beiden Seiten viele ihre vermissten Angehörigen finden. Aber es gibt viele Gründe, warum das unmöglich ist, unter anderem politische.      

    Noch einmal – wie oft und in welchen Fällen werden DNA-Tests gemacht? 

    In der Regel dann, wenn anhand der Leiche und der Überreste keine Identifikation möglich ist. Wenn einer eine Erkennungmarke, einen Pass oder einen Militärausweis hat und somit eindeutig zugeordnet werden kann, dann kann der Ermittler auf den DNA-Test verzichten.  

    Sprechen Sie mit Ihren Kollegen über das, was während der Arbeit passiert? 

    Natürlich. Aber das sind interne Gespräche, dazu möchte ich nichts sagen. Oft ist das ein spezieller schwarzer Humor – Scherze über den Tod, die über alle Regeln des Anstands hinausgehen. Wer zurückwitzelt, hat die Probe bestanden und ist einer von uns. Ich kann an der Reaktion eines Unbekannten in einer solchen Situation erkennen, ob er tatsächlich Erfahrung mit Leichen hat oder ob ich es mit einem Dilettanten zu tun habe. Im Kreis bereits bekannter Kollegen ist das eine eigenartige Form der gegenseitigen Unterstützung, die Rückversicherung, dass man in seinem Rudel ist – so viele sind wir ja nicht.

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  • Wann kommt der Wandel?

    Wann kommt der Wandel?

    Die Bilder gingen um die Welt: Plötzlich standen in ganz Russland tausende Menschen Schlange und gaben ihre Unterschrift für die Präsidentschaftskandidatur von Boris Nadeshdin. In einer immer repressiveren Umgebung, in der Protest gegen den Krieg de facto verboten ist, hatten darin viele eine Chance gesehen, um ihrem Unmut auf legalem Wege Ausdruck zu verleihen.

    Doch wie weit ist es von den „Schlangen für Nadeshdin“ bis zu einem echten Wandel in Russland? Wollen die Menschen einen solchen überhaupt? Darüber schreibt der Soziologe Grigori Judin in einem Gastbeitrag für Verstka.

    [Aktualisierung vom 8. Februar 2024: Die Zentrale Wahlkomission hat Boris Nadeshdin nicht zur Wahl zugelassen. Dies wurde offiziell damit begründet, dass angeblich mehr als fünf Prozent der eingerichten Unterschriften ungültig seien.]

    Die Russen witterten eine messbare Chance auf Veränderungen – und sind sofort aktiv geworden. Zwar beträgt diese Chance gerade mal ein paar Millionstel Prozent, aber sie ist konkret. Läge sie etwas höher, würden noch mehr Menschen reagieren. Und wäre sie wirklich groß, dann wäre es ein gesellschaftlicher Durchbruch. Es ist eingetreten, was ich schon lange sage: Kollektives Handeln beginnt nicht da, wo den Menschen die Geduld ausgeht, sondern da, wo die Aussicht besteht, dass ihr gemeinsames Handeln zu einem realen, konkreten und messbaren Ergebnis führen kann. Im Fall Nadeshdin ist das seine Zulassung zu den Präsidentschatfswahlen.

    Kontrollierte Herausforderung

    Wofür braucht der Kreml Nadeshdin? Und wieso darf er ins Fernsehen? Seit seinen kriegsgegnerischen Äußerungen rufen mich immer wieder Journalisten aus dem Ausland an und fragen: „Wie kann das sein? Wir dachten, in Russland herrscht Zensur und keiner erfährt die Wahrheit! Dabei tritt da einer im Fernsehen auf und sagt einfach die ganze Wahrheit! Vielleicht sind die Russen eben allen Ernstes für Putin und seinen Krieg?“

    Das ist die Strategie der Präsidialadministration. Nadeshdin muss seine 1,5 Prozent bekommen und damit genau das zeigen, was wir vom Lewada-Zentrum die ganze Zeit hören: In Russland leben 140 Millionen Vampire und ein paar Zehntausend normale Menschen. Nach dem Motto, gebt endlich Ruhe, das Land steht hinter Putin und dem Krieg. 

    Aber man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass dieses Ergebnis für den Kreml nur ein angenehmer Bonus ist und er mit dieser Volksbefragung eigentlich viel wichtigere Aufgaben erfüllt. Er kann es sich nicht leisten, dass für das Sahnehäubchen auf dieser Torte alles aus dem Ruder läuft.

    Deswegen verfügt der Kreml für den Fall, dass sich in den Umfragen ein zu großer Wahlerfolg für Nadeshdin abzeichnet, über ein ganzes Arsenal von Instrumenten, um seine Popularität zu verringern. Wir wissen zum Beispiel, dass Nadeshdin eng mit den Liberalen der Neunziger verbandelt war – es wäre ausreichend, wenn er plötzlich öffentlich Elemente aus ihrer Rhetorik bemühen würde. Das Ergebnis wäre wundervoll: Der allseits beliebte Antikriegs-Kandidat sagt antirussische Sachen, die sich hervorragend dafür eignen, die Kriegsgegner auf ganzer Linie zu diskreditieren.

    Oder man „kauft“ ihn mit dem Versprechen eines hohen Amtes. Schon mehrmals hat Nadeshdin bewiesen, dass er bereit ist zum Pakt mit dem Teufel – mal kandidierte er für Gerechtes Russland, mal nahm er an den Vorwahlen von Einiges Russland teil. Ob er wohl dieses Mal darauf verzichtet? Oder man erklärt ihn vielleicht ein paar Wochen vor der Wahl zum Terroristen und Extremisten und schüchtert damit seine potentiellen Wähler ein. Na, oder ganz schlicht und ergreifend: Wenn etwas nicht „nach Plan 1,5 Prozent“ läuft, dann kann man Nadeshdin einfach zu jedem beliebigen Zeitpunkt stumpf von der Liste kicken.

    In Belarus begann 2020 ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen

    Der innenpolitische Kurator im Kreml, Sergej Kirijenko, hat von dem Aufstand in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bestimmt etwas gelernt. Dort begann ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen, die für Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo unterschrieben. Danach unterlief Lukaschenko ein schwerer Fehler: Er ließ Tichanowskis Frau Swetlana antreten. Was dazu führte, dass Leute, die noch einen Monat zuvor in ihrer Masse kaum an so etwas wie Proteste gedacht hatten, plötzlich an die Möglichkeit eines Wandels durch einen „Erdrutschsieg“ bei den Wahlen und Straßenproteste zu dessen Verteidigung glaubten. Dafür gingen sie buchstäblich in den Tod – tausende Demonstrierende gingen weiterhin auf die Straße, obwohl die Silowiki dort Menschen töteten. Sie trennten sich erst, als die Hoffnung versiegt war, dass die Handlungen jedes Einzelnen zu einem konkreten Ergebnis führen.

    Eine ähnliche Mobilisierung haben wir auch schon in Russland gesehen. Nämlich 2021, als Alexej Nawalny zurückkehrte und sofort verhaftet wurde. In jenem Jahr war unser Land hinsichtlich der Gesamtzahl der Protestierenden unter den weltweit Ersten. Das war eine Massenbewegung, die das ganze Land erfasste. Obwohl die Chance, Nawalny freizukriegen, genauso gering war wie die Chance auf einen Regimewechsel.

    Seit Beginn des Kriegs hatte die russische Gesellschaft nicht die leiseste Hoffnung auf Veränderungen. Auch Jewgeni Prigoshin konnte mit seinen Aktionen und dem Aufstand keine Zuversicht wecken. Ja, er vertrat in Bezug auf die Situation im Land einen Standpunkt, der alternativ zum offiziellen und trotzdem legal war. Er konnte aber keine Menschen mobilisieren, obwohl ich überzeugt bin: Hätte er den Leuten eine Zukunft ausgemalt, die ihnen blüht, wenn sie seine Bewegung unterstützen, dann wären viele schon allein deswegen aufgestanden, weil sie etwas Neues wollen.

    Wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen

    Die Formel für den Beginn kollektiven Handelns ist simpel. Ausschlaggebend ist das Gefühl, dass die eigene persönliche Beteiligung die Situation beeinflussen und zu einem nachweislichen, messbaren und sichtbaren Ergebnis führen kann. Natürlich schätzt man auch noch das Risiko ab, das man eingeht, aber dieser Faktor ist nicht so hoch, wie oft angenommen wird. Klar will niemand ins Gefängnis oder verprügelt werden. Und keiner macht das einfach so ins Blaue. Aber wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen. 

    Ein legaler Wahlkampf ist natürlich ein minimales Risiko. Man braucht nur zu unterschreiben, und wenn der Kandidat aufgestellt wird, zu agitieren und dann zu wählen. Das ist alles grundsätzlich nicht verboten, daher ist die Hemmschwelle zum Mitmachen gering. Man braucht dafür nicht unbedingt in einen Panzer zu steigen wie in Prigoshins Fall. Super! Aber es ist auch nicht so, dass sich durch Repressionen jedes kollektive Handeln verhindern ließe. Sonst bräuchte man gar keine Politik und es gäbe überhaupt nirgendwo Massenbewegungen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen für hohe gemeinsame Ziele bereit sind, ihr Leben zu riskieren.      

    Was fehlt: eine positive Zukunftsvision

    In Russland gibt es keine militarisierte Mehrheit, die man durchbrechen muss. Die Mehrheit duldet den Krieg als etwas vermeintlich Unausweichliches, das man lieber verdrängt. Angeführt wird das Ganze von kleinen Gruppen, die demonstrativ verrohen und darauf ihre Karrieren aufbauen. Der Überdruss, den dieser Krieg und die alte Führungsriege in der russischen Gesellschaft erzeugt, ist riesig. Aus dieser Situation heraus ließe sich leicht eine starke Mehrheit von Kriegsgegnern versammeln.  

    Insofern lautet die richtige Antwort auf die Frage, wie lange die Leute noch mitmachen werden: „Beliebig lange.“ Denn sie gehen nicht dann vom Erdulden zum kollektiven Handeln über, wenn sie es nicht mehr aushalten – man kann sich ja immer noch tiefer eingraben, noch stärker anpassen –, sondern wenn sich eine Alternative anbietet. Aber genau die fehlt heute. „Nein zum Krieg!“ ist eine schöne Parole, aber sie sagt nichts darüber aus, wie es danach weitergehen soll. Noch hat niemand eine Zukunftsvision ausformuliert, die Russlands nationale Interessen berücksichtigt, die dem Land einen Platz in der Welt aufzeigt, den die Bürgerinnen und Bürgern als würdig empfinden, und die zugleich ein deutliches Bild davon zeichnet, wie das Leben dort aussehen wird.

    Es gibt einen Putin – zu dem hat keiner mehr eine Frage: Unter seiner Regierung leben wir beschissen, aber wir wissen, woran wir sind – wir kennen die Regeln. Sobald einer kommt und eine knackige Alternative dazu anbietet, vorzugsweise im Rahmen der russischen Gesetzgebung, klafft ein Spalt auf, in den das ganze riesige Protestpotential hineinstürzt, das sich in der Gesellschaft angestaut hat. Anlass dafür kann alles sein – vom banalen Alltagskonflikt bis hin zu einer einzigen unglücklichen Entscheidung der Behörden. Die Beobachter werden es nicht fassen können: Wie gibt’s das, die Leute haben das doch immer geschluckt, wieso auf einmal nicht mehr? Aber an diesem Punkt wird der Wandel schon angefangen haben.    

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  • Großmacht-Sehnsucht als Kriegstreiber

    Großmacht-Sehnsucht als Kriegstreiber

    Die Annahme, die Menschen in Russland könnten gegen Wladimir Putin auf die Straße gehen, wenn es ihnen wirtschaftlich schlechter geht, war falsch. Stattdessen richtet sich die Aggression nach außen. Der Soziologe Lew Gudkow erklärt in der neuen Zeitschrift Gorby, wie das Regime die Menschen mit Großmacht-Gesten von ihrem ärmlichen Alltag ablenkt.

    Das Bewußtsein, einer „Weltmacht“ anzugehören, spielt für die arme und vom Staat abhängige Bevölkerung Russlands ohne Zweifel eine wichtige kompensatorische Rolle. Der Stolz auf das eigene Land ist untrennbar verbunden mit einer schwer zu unterdrückenden Scham und dem beklemmenden Gefühl, hinter besser entwickelten Ländern zurückzubleiben („… so ein tüchtiges Volk, so ein reiches Land, und dann leben wir in ewiger Armut und Instabilität“).

    Diese beiden Bilder – von sich selbst und vom eigenen Land – ergeben zusammen einen Komplex aus Gefühlen, die in ihrer Intensität vergleichbar sind: Von „Stolz“ sprachen bei Umfragen des Lewada-Zentrums in unterschiedlichen Jahren zwischen 49 (1994) und 83 Prozent (2017), von „Scham und Bitterkeit“ beim Gedanken an das eigene Land und dessen Geschichte zwischen 78 (1989) und 48 Prozent (2021). Stolz und Scham – diese beiden Motive sind in der kollektiven Identifikation der Russen dominierend. Im Schnitt antworteten in den vergangenen 30 Jahren 73 Prozent beziehungsweise 60 Prozent der Befragten so. Anders gesagt, die überwiegende Mehrheit hatte und hat extrem widersprüchliche Gefühle bezüglich ihres Landes. 

    Das Gefühl von Stolz erreicht stets nach Militäreinsätzen einen Höhepunkt, während es in Jahren von Krisen und sinkendem Wohlstand auf ein Minimum fällt. 

    Die Verbitterung über den Zerfall der UdSSR und den Verlust des Großmachtstatus’ ist in der gesamten postsowjetischen Zeit das zweitstärkste Gefühl der Befragten (nach dem Empfinden, in Armut und ständiger „Krise“ zu leben). Mehr als 80 Prozent der Russen, also die absolute Mehrheit, war und ist bis heute der Meinung, Russland solle „seinen Großmachtstatus zurückerlangen und verteidigen“ (dieser Anteil schwankt zwischen 72 Prozent im Jahr 1992 und 88 Prozent 2018). 1998 erwarteten die Russen von Jelzins Nachfolger als Präsident vor allem zwei Dinge für ihr Land: die Überwindung der Wirtschaftskrise und die Erlangung jener Autorität als Weltmacht, über die die UdSSR bis zu ihrem Untergang verfügte. Hier stellt sich die Frage: Was ist das überhaupt, eine Weltmacht, was stellen sich die Menschen darunter vor? (Grafik 1)

     

     

    Wie man sieht, assoziieren die Menschen mit diesem Begriff das, was sie sich am meisten wünschen. Das Hauptmerkmal einer „Weltmacht“ ist demnach der Wohlstand des Volkes, ein Lebensstandard wie in „normalen Ländern“ (sprich: „wie im Westen“). Dieser Wunsch wurde in den letzten 20 Jahren nur stärker. Etwas zurückgegangen ist derweil die noch aus Sowjetzeiten stammende Idee einer starken Industrienation (die sich vor allem an staatlichen Interessen, an der Rüstungsindustrie und der Armee orientierte und nicht am Bedarf gewöhnlicher Menschen). Da jedoch der Lebensstandard nicht einfach so auf ein Handzeichen der Chefs steigt, nehmen im Bewusstsein der Massen andere symbolische Komponenten mehr Raum ein. Und zwar vor allem Dinge, die andere Staaten fürchten sollen: militärische Stärke und Atomwaffen (dieser Wert ist von 30 auf 46 bis 51 Prozent gestiegen, also auf das Eineinhalbfache). Im gleichen Maße wächst das Streben nach Isolationismus: Die Bedeutung des „Respekts anderer Länder“, also eigentlich des Ansehens Russlands in der internationalen Arena, ist von 35 auf 13 bis 16 Prozent gesunken und somit um mehr als die Hälfte. (Ich möchte betonen, dass diese Entwicklung bereits vor Beginn der „militärischen Spezialoperation“ eingesetzt hat. Das bedeutet, dass die russische Gesellschaft gut darauf vorbereitet war, die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die bevorstehenden Aktionen zu ignorieren.) Weder Fortschritte in Wissenschaft und Kultur noch die „heroische Vergangenheit“ (ideelle Traditionen und geistige Klammern), weder die gigantischen geografischen Dimensionen des Landes noch die Bevölkerungszahl oder der Reichtum an natürlichen Ressourcen gehören dem Verständnis der Russen nach zu den primären Eigenschaften einer Weltmacht.   

    Wenn es sein muss, kann man sich auch mit dem wenigen, was man hat, zu den „Großen“ zählen. Die Identifikation der Russen mit Russland als „Weltmacht“ ist (mit einer Verzögerung um ein Jahr) immer dann am höchsten, wenn es einen Militäreinsatz gab, die Propaganda drastisch hochgefahren und die Stimmung in Richtung Revanche und Dominanz im postsowjetischen Raum angeheizt wird: während des zweiten Tschetschenienkriegs (2000), während des Georgienkriegs (2009), bei der Annexion der Krim (2015) und in der aktuellen „Spezialoperation“.

     

     

    Im Vergleich dazu fällt die Kurve zweimal deutlich ab: Als 2005 die Privilegien für ausgewählte Gruppen wie Rentnerinnen und Rentner oder Veteranen gestrichen und durch Geldzahlungen ersetzt wurden. Und während der Massenproteste der Mittelschicht 2011 bis 2013. In der Folge dieser Ereignisse nimmt das Bewusstsein, zu einer Großmacht zu gehören, stark ab.

    Gleichwohl waren die Bemühungen der Ideologen des heutigen Regimes, die Akzente in der Vorstellung von einer Großmacht zu verschieben – weg vom Wohlstand und hin zu Phantomen traditioneller Werte und Militarismus, zur Mystik eines tausendjährigen Russlands – nur teilweise von Erfolg gekrönt. Trotz aller Bemühungen um patriotische Mobilisierung würde die Mehrheit der Russen lieber in einem Land leben, das militärisch vielleicht nicht das Stärkste und nicht unbedingt eine Weltmacht ist, dafür mit hohem Lebensstandard und guter Lebensqualität, selbst wenn es nur ein kleines, dafür aber sauberes, gemütliches und ruhiges Land wäre (Grafik 3). Nur eine kleine Minderheit ist bereit, für territoriale Größe zu bezahlen, die durch militärische Überlegenheit und Bedrohung anderer Länder aufrechterhalten wird. Im Schnitt würden es in den letzten 25 Jahren 76 Prozent der Befragten „bevorzugen, wenn der russische Staat sich in erster Linie um einen höheren Wohlstand der Bevölkerung kümmern würde“ und nicht „um die Ausweitung der militärischen Stärke Russlands“ (was nur 16 Prozent der Befragten gern hätten).

     

     

    Für den kleinen Mann hat die Vorstellung von „Russland als Weltmacht“ nicht nur die Funktion, ihn zu beruhigen und ihn in seinen eigenen Augen zu glorifizieren. Sie lenkt seine Aufmerksamkeit auch weg von seinem beschwerlichen Alltag auf eine virtuelle Bühne der geopolitischen Rivalität. Manifestationen imperialer Hybris und Erklärungen über die Bedrohung der nationalen Sicherheit interessieren die Russen in ihrem realen Alltagsleben, also als gewöhnliche Menschen, die sich um das eigene Wohlergehen und das ihrer Familien kümmern, kaum. Das heißt aber nicht, dass ihnen diese Themen gleichgültig sind. In ihrer Rolle als Untergebene, also als kollektive Subjekte sind sie stolz auf Russlands militärische Macht, auf seinen „mit Blut gekauften Ruhm“ und das riesige Territorium, das es erobert und dessen Völker es sich untertan gemacht hat.        

    Die Angst, diesen Stolz zu verlieren, lähmt das Potenzial der zivilen Selbstorganisation, da für die Menschen ihr Gefühl von Würde keine andere Basis hat als ihre Zugehörigkeit zu einem Imperium. 

    Die derzeit verschärft geführten Debatten über den imperialistischen Geist der russischen Kultur und die genetische Veranlagung der Russen zu Expansion und Dominanz tragen spekulative und dogmatische Züge, denn sie gehen einem natürlichen „Großmachtstreben und Hang zum Imperialismus“ aus, als handelte es sich um eine unveränderliche und metaphysische Wesensart. Es wäre dumm, die Bedeutung solcher Konzepte für die russische Gesellschaft zu leugnen, genauso wie die Überzeugung, Russland sei anderen Ländern und Völkern historisch überlegen, und die daraus resultierende Bereitschaft, Gewalt und Herrschaft über diese zu rechtfertigen. Das Problem liegt jedoch woanders, nämlich im Verständnis dessen, welche Rolle diese Vorstellungen in der Gesellschaft spielen (oder wie man in der Soziologie sagt, was ihre Funktion bei der Integration der Gesellschaft ist), wie weit sie in der Masse der Bevölkerung verbreitet sind und welche Gruppen sie für ihre Interessen und Zwecke einsetzen.   

    Für die absolute Mehrheit der Bevölkerung (62 bis 66 Prozent) umfasst die Idee des „Imperiums“ vor allem anmaßende und hochtrabende Vorstellungen von Russland als Weltmacht, aber keine militärische Expansion oder die Ausübung von Druck und Gewalt auf andere Länder. Ihre Funktion ist die Aufrechterhaltung der kollektiven Identität (des Nationalstolzes) und die Legitimierung der Staatsmacht, die in den Augen der Bevölkerung dieses Image gewährleistet. Ein Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung (je nach Jahr, durchschnittlich 27 Prozent) ist jedoch für militärischen Expansionismus, obwohl sich nur eine Minderheit – drei bis neun Prozent – entschieden dafür ausspricht, dass die Regierung ihre Macht anderen Völkern und Ländern aufzwingen soll.

     

     

    Allerdings ist Widerstand gegen eine solche Politik von der großen Masse der Bevölkerung auch nicht zu erwarten: Die Identifikation mit einem Staat, der den Anspruch erhebt, Autorität und „Weltmachtstatus“ zu haben, geht mit passivem Konformismus und Opportunismus einher. Und das erst recht, wenn jegliche Ausformung der Zivilgesellschaft polizeilich ausgemerzt wird. 

    Was bleibt, ist eine schwache Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Teil der Russen hat in den letzten 20 Jahren begonnen, bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte, also die Würde des Menschen und des Landes insgesamt als Grundlage einer Weltmacht anzusehen. Dieser Parameter erreichte nach der Annexion der Krim seinen niedrigsten Wert (13 Prozent). Am höchsten (27 Prozent) lag er bei der letzten Messung vor der „Spezialoperation“ in den Jahren 2018 bis 2021.

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  • Belarussisches Roulette

    Belarussisches Roulette

    Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten haben belarussische Sicherheitskräfte im Jahr 2023 mindestens 125 Personen, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind, festgenommen. Einige wurden direkt an der Grenze abgeführt, andere wurden später verhaftet. Warum kehren die Menschen zurück, wenn der Machtapparat Lukaschenkos nach wie vor mit scharfen Repressionen gegen die eigenen Bürger vorgeht und es auch immer wieder zu regelrechten Massenverhaftungen kommt? Die Gründe sind vielfältig: Möglicherweise findet man keine Arbeit im Ausland, kann so sein Leben nicht sichern, vielleicht sind die Eltern krank, man will die eigene Wohnung verkaufen oder man muss dringende Amtsgeschäfte erledigen. Schließlich können belarussische Staatsbürger seit vergangenem Jahr keine neuen Ausweisdokumente an den Botschaften ihrer Heimat mehr beantragen. 

    Das Online-Portal Zerkalo hat eine Belarussin und einen Belarussen getroffen, die die Reise trotz allen Risikos gewagt haben. Aber wie plant man solch eine Reise, wie stellt man sicher, dass die Sicherheitskräfte nicht doch auf einen aufmerksam werden, wenn eigentlich vor allem ein Faktor über Gelingen oder Scheitern einer solchen Unternehmung entscheidet: die Willkür.

    Die Namen der Befragten wurden zur Sicherheit anonymisiert.

    Hier beschreiben sie Reiserouten und Vorsichtsmaßnahmen, die sie selbst gewählt und ergriffen haben. Wir empfehlen jedoch nicht, ihre Wege und Erfahrungen als Anleitung zu ähnlichen Reisen zu verstehen und ein Risiko einzugehen, wenn Sie davon ausgehen, in Belarus von einer Festnahme bedroht zu sein.

    Schlimmstenfalls kommen die Maskierten direkt zum Notar

    Seit zweieinhalb Jahren lebt Viktoria mit ihrem Mann im Ausland. 2020 nahmen sie an den Protesten teil, ein paarmal wurden sie festgenommen, aber sie hatten Glück, sagt Viktoria: „Mal war kein Platz, mal haben sie uns vergessen, wir kamen immer wieder frei.“ Doch auch mehrere Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahme ihrer technischen Geräte musste das Paar über sich ergehen lassen. Die letzte Durchsuchung war so brutal, dass sie beschlossen, lieber doch das Land zu verlassen. Später kam der Entschluss dazu, ihre Eigentumswohnung in Minsk zu verkaufen. Allerdings gibt es ein neues Gesetz, laut dem man dazu entweder persönlich anwesend sein oder jemandem eine Generalvollmacht ausstellen muss, die man jedoch auch nur in Belarus bekommt. Viktoria und ihr Mann beschlossen also, dass einer von ihnen fahren müsse und die Reise für Viktoria weniger riskant sei. 

    „Wir hatten uns schon gefreut, alle Verbindungen zu kappen, hatten sogar einen Käufer gefunden und wollten in Polen zum Notar gehen, um die Vollmachten aufzusetzen, da kam auf einmal dieser Erlass und machte uns einen Strich durch die Rechnung. Das soll uns alles nur das Leben erschweren. Die Regierung ist schlau, aber wir sind schlauer“, scherzt unsere Gesprächspartnerin. „Immerhin steht viel auf dem Spiel – ich rechne damit, dass sie die Ausgewanderten früher oder später überhaupt enteignen werden. Wir alle wollten nur für ein, zwei Jahre weggehen, aber dann wird einem klar, dass man sich im Ausland ein neues Leben aufgebaut hat und hier alles findet, was man zum Leben braucht.

    Einen Monat lang haben wir überlegt, dann fiel die Entscheidung. Wir planten jeden Schritt gründlich. Bekannte von uns sind schon seit einem halben Jahr in Polen, und jedes Mal, wenn sie nach Belarus fahren, fragt man ihnen an der Grenze Löcher in den Bauch – wieso sie schon so lange im Ausland leben und wieso sie jetzt zurückkommen würden. Daher wollte ich alle direkten Kontakte vermeiden, zumal ich ein humanitäres Visum habe.“

    Im Dezember 2023 flog die Belarussin nach Hause. Über Georgien und Russland in die nächstgelegene belarussische Großstadt – sie entschied sich für Orscha. Diese Reise für ein einziges Dokument kostete sie hin und zurück insgesamt eine Woche. 

    „Den Flug zu buchen war ein Hindernislauf, die ersten Tickets stornierten wir wieder. Einerseits aus Vorsicht, denn wenn man ein Ticket für eine russische Fluglinie kauft, taucht man sofort im System auf. Sie sehen, dass man fliegen will. Also stornierten wir und kauften andere Tickets. Vielleicht wäre dieser Aufwand gar nicht nötig gewesen, aber wir wollten alles tun, damit die Reise möglichst ungefährlich ist. Ich nahm keine belarussische SIM-Karte mit, aber dann stellte sich heraus, dass man in Russland seine Seele verkaufen muss, um sich mit dem WLAN zu verbinden!“, lacht Viktoria.  

    Sie erzählt, dass auf dem Moskauer Flughafen eine Belarussin mit einem kleinen Kind so lange verhört wurde, dass sie ihren Anschlussflug verpasste. Viktoria traf sie erst auf der Heimreise wieder. 

    „Am meisten Misstrauen kommt von russischer Seite. Da werden die Pässe gescannt und Fragen gestellt – zehn bis fünfzehn waren es bei mir: Wohin ich fahre, zu welchem Zweck, wie es danach weitergeht, wieso ich kein Visum habe (weil ich einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Polen habe). Wobei viele dieser Fragen ziemlich seltsam waren: Wie viele Passagiere an Bord waren, welche Farbe die Flugzeugtriebwerke hatten, wie hoch die Lufttemperatur in Georgien war, wie viel Gepäck ich dabei hatte. Keine Ahnung, was sie mit all diesen Infos wollten.“

    Als dieses Stück geschafft war und Russland keine weiteren Fragen mehr hatte, erwartete Viktoria eine nicht minder schwierige Etappe: Sie musste in das Land einreisen, dessen Silowiki sie im Visier hatten, und so schnell wie möglich die Dokumente holen. Sie reiste noch am selben Tag wieder aus. 

    „Das Wichtigste ist, jemanden zu finden, der dich sicher durch Belarus bringt. Wir wurden von den Marschrutka-Fahrern gut instruiert, was wir sagen sollten, um keine Fragen zu provozieren. Ab da ging es leicht. Wir hatten im Voraus einen Notar in Orscha gebucht, einen privaten, den uns Bekannte empfohlen hatten. Der Termin war am Abend, weil man sehr schnell in den Datenbanken auftaucht und es jetzt Listen gibt. Ich wusste, wenn ich auf einer Liste stehe, kann mir mindestens die Ausstellung einer Vollmacht verweigert werden. Na, und schlimmstenfalls kommt die Maskenshow direkt zum Notar, egal, in welcher Stadt – angeblich sind die blitzschnell da. Davor haben uns die Immobilienmakler gewarnt. Aber wir haben uns abgesichert und kamen extra am Ende des Arbeitstages, damit ich am nächsten Morgen, wenn meine Daten im System auftauchen, schon außer Landes bin.“

    Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich hab’ mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!

    Ihre Heimatstadt Minsk besuchte Viktoria nicht. Erst im letzten Moment, bevor sie wieder über die Grenze nach Russland reiste, gab sie ihren betagten Eltern und engsten Freunden Bescheid, die nach Orscha kamen, um sie zu sehen. Sie traf ihre Nächsten zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren.

    „Meine Eltern sagten später, dass sei alles so hektisch gewesen. Aber so herzlich! Wenn du deine Angehörigen umarmst und sagst: ‚Du hast dich gar nicht verändert.‘ Da muss man schon eine Träne verdrücken. Das war das Wertvollste an der ganzen Reise!“, meint Viktoria. „Aber dass ich gespürt hätte, dass ich mein Heimatland furchtbar vermisse, das kann ich nicht behaupten. Alles war grau, in Russland und Belarus fiel dichter Schnee und es stürmte, daher sah ich nicht viel von draußen, von der Stadt. Heimat, das sind für mich heute die Menschen, die mich dort umgaben. Alles, was ich dort hatte, lasse ich gern hinter mir, nur nicht die Menschen.“     

    Obwohl alles schnell und problemlos vonstatten ging, erzählt Viktoria von einem Ansturm verschiedenster Emotionen, darunter natürlich die Sorge, die Angst, dass etwas schiefgeht und sie den Silowiki in die Hände fällt, wie so viele Belarussen vor ihr:

    „Der Gipfel der Angst ist die Grenze, wenn dir ein Uniformierter in die Augen schaut, deinen ganzen Pass abfotografiert, anfängt zu notieren, zu telefonieren, weiterzuleiten. Und als würde dir nicht sowieso schon das Herz in die Hose rutschen, führen sie auch noch vor deinen Augen jemanden zum Verhör ab. Und du denkst, das kann dir genauso passieren. Ich wurde Gott sei Dank verschont, aber die Etappe in Russland war emotional am schlimmsten. Obwohl wir auf dem Rückweg nicht einmal im Stau standen und unsere Pässe gar nicht kontrolliert wurden. Wenn wir auf irgendwelchen ‚Terroristenlisten‘ gestanden hätten, wäre ich wohl nicht so einfach durchgekommen. Vielleicht half uns auch, dass in unserem Auto lauter Frauen saßen. Na, und als ich in die EU einreiste, auch auf Umwegen, machte ich mir dann Sorgen wegen meines russischen Stempels im Pass. Wir hatten alles durchgeplant – theoretisch hätte nichts passieren dürfen, aber trotzdem stand ich unter Stress. Am Ende bin ich sogar am Schnellsten durchgekommen.“

    Nach der letzten Passkontrolle auf EU-Territorium konnte sich die Belarussin wieder entspannen, sie besuchte noch Freunde und fuhr dann nach Hause nach Polen. Aber was sie da eigentlich erlebt hatte, wurde ihr erst später bewusst, räumt sie ein. 

    „Die Emotionen holten mich erst ein, als ich schon zwei oder drei Tage zu Hause war – ich brach körperlich zusammen, meine Psyche forderte Ruhe, ich musste das alles verarbeiten“, erinnert sie sich. „Aber mittendrin war ich konzentriert, dachte kritisch, machte alles, was nötig war. Während ich unterwegs war, waren alle nervös, aber die größten Sorgen machten sich meine Eltern. Sie sagten: ‚Der liebe Gott hat dich beschützt.‘ Ich dachte: ‚Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich habe mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!‘ (Sie lacht.) Mein Mann war am ersten Tag extrem kühl. Er begrüßte mich natürlich, umarmte und küsste mich, das schon, aber er war reserviert. Als mir dann am zweiten Tag zu dämmern begann, dass alles gut ausgegangen war, dass ich wieder da war, in meinem Bett schlief und nicht Gott weiß wo, da wurde auch er emotional – er hatte sich ja auch Sorgen gemacht, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. So zeigt ein Mann seinen Stolz, dass wir Frauen so zähe Geschöpfe sind! (lacht) Wenn es eine Aufgabe zu erledigen gibt, dann akkumuliert man plötzlich seine ganze Kraft. Meine Tat eröffnet uns hier andere Horizonte. Es war ein nobles Risiko. Oder ein kaufmännisches, ich weiß nicht.       

    Ich erinnere mich, wie wir in Orscha an einer Ampel standen und neben uns ein Polizeiauto hielt – und wie ich zusammenzuckte. Überhaupt frage ich mich, wie Leute, die irgendeine Vorgeschichte haben, einfach über die belarussische Grenze fahren. Ich bin eine Woche lang mit Bussen und Marschrutkas herumgegondelt, putzte mir die Zähne bei McDonald’s, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Ja, ich war erfolgreich, aber vielleicht war es einfach Glück? Ich will diese Vorgangsweise niemandem empfehlen. Ich weiß nicht, was passieren müsste, dass ich diesen Trip wiederhole – das war physisch und psychisch sehr anstrengend“, sagt Viktoria.

    Alle sagten, ich sei leichtsinnig … aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen

    Igor kommt ebenfalls aus Minsk, im Winter 2023 waren es knapp drei Jahre, seit er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Ende November fuhr er für zehn Tage nach Belarus – so lange dauert es, einen neuen Pass zu bekommen. „Mein Risiko war dasselbe wie für alle Belarussen – man weiß nie, was passiert. Ich war auf allen Demos, habe an Protestveranstaltungen in Hinterhöfen teilgenommen, ungefähr bis Februar“, erklärt er. „Aber ich dachte, lieber gleich fahren, weil die Repressionen später nur noch stärker werden. Die Gefahr, festgenommen zu werden, würde nur steigen. Trotzdem versuchten alle, mir das auszureden, sagten, ich sei leichtsinnig. Fand ich ja auch, aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen. Als es ein paar Wochen vor meinem Flug hieß, dass Leute bei der Zwischenlandung in Moskau auf einmal mit einem Ausreiseverbot konfrontiert wurden – manche hatten das Glück, das schon vor dem Flug zu erfahren –, da bekam ich es doch mit der Angst zu tun.  

    Igor wollte sich ebenfalls absichern und flog über die russische Hauptstadt. Dort setzte er sich in den Zug nach Smolensk, wo ihn Freunde aus Minsk mit dem Auto abholten.

    „Bei der Passkontrolle auf dem Flughafen bekamen Staatsbürger Tadschikistans und der RF nur ein paar Fragen gestellt und wurden schnell durchgelassen. Als Belarusse musste ich deutlich mehr beantworten: Wohin, wozu, warum, wo ich arbeite, wann ich das Land verlassen habe, warum ich über Moskau fliege, warum ich ein litauisches Visum habe und was ich dort gemacht habe“, erzählt Igor. „Einer meiner Bekannten sagte irgendwas Dummes, da nahmen sie ihn sofort beiseite, holten ihren Vorgesetzten und verhörten ihn regelrecht. Aber sie verzichteten darauf, sein Handy zu durchsuchen, und ließen ihn nach zehn Minuten wieder laufen. Ich hatte Angst, ich könnte, ohne es zu wissen, in irgendwelchen Datenbanken auftauchen und festgenommen werden. Aber das war der einzige Moment, in dem ich mit einer Festnahme rechnete.“  

    Den Pass beantragte Igor in Minsk, wo er sicherheitshalber weder an seiner Meldeadresse noch bei Verwandten übernachtete. Er war darauf gefasst, auf dem Meldeamt gefragt zu werden, warum er schon so lange im Ausland lebe, doch keiner interessierte sich für ihn, und nach sieben Tagen bekam er im Schnellverfahren seinen Pass.  

    „Ich hatte Freunde gebeten, mir eine neue SIM-Karte zu besorgen, und benutzte sie mit einem fremden Handy, mein eigenes ließ ich ausgeschaltet. Ich entspannte mich: Niemand fragte nach mir, niemand suchte mich. Vielleicht täuschte das Gefühl. Man weiß ja nie, was passieren kann. Ich wunderte mich jedenfalls, dass ich während der ganzen Zeit fast keine Polizei auf der Straße sah, dabei hatte ich Flashbacks von 2020 befürchtet, von diesen Kleinbussen mit Uniformierten.“

    Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen!

    Abgesehen davon registrierte unser Gesprächspartner eine andere Stimmung bei den Leuten auf der Straße. Er habe sich gefreut, vorübergehend zurück zu sein und seine Nächsten zu sehen, erzählt er, aber er habe gespürt, dass sich seine Beziehung zu Minsk verändert hätte:

    „Ich traf Freunde und Verwandte, wobei ich maximal darauf achtete, nicht aufzufallen und mich abzusichern, wo es ging. Ich aß, was ich am meisten vermisst hatte, spazierte durch die Stadt. Es war kalt, daher war ich immer ganz eingemummt in Jacke und Schal. Keine Ahnung, vielleicht war es ein Placebo-Effekt, und sie hätten mich auch so gefunden, wenn sie gewollt hätten.

    Insgesamt hat mir die Reise gut getan – endlich ließ das Heimweh nach, das mich in der Emigration so geplagt hatte. Da glaubt man, zu Hause ist das Gras grüner und alles ist schöner. Aber nach dem sonnigen Georgien sah ich diese ganze Düsternis hier, die unglücklichen, freudlosen Gesichter, die nie lächeln. Die Resignation, als wüssten alle, dass sie in einem Konzentrationslager leben und keine Perspektive haben. Diese Hoffnungslosigkeit, die in der Luft hängt …               

    Danach ging es mir besser, ich wusste, ich hatte alles richtig gemacht: dass ich weggegangen war und nicht mehr heim fuhr. Ich werde wohl die nächsten Jahre nicht mehr nach Belarus fahren. Ich habe auf einmal das Gefühl, dass mir alles fremd geworden ist. Nicht mehr das, was ich früher geliebt hatte – das ist alles zerstört. Wobei, wisst ihr, zuerst sah es aus, als hätten sie alles zerstört, als wäre alles verschwunden. Aber dann rief ich ein Taxi zum Meldeamt, und der Fahrer hörte Brutto. Leise, aber dennoch. Da dachte ich: Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen! Ja, sie haben Angst, aber auch Hoffnung.”

    Zurück reiste unser Gesprächspartner ebenfalls über Smolensk und Moskau. Die Grenzpolizei auf dem Flughafen stellte kaum Fragen, und die Zone der internationalen Abflüge war halbleer. 

    „Als ich nach Georgien zurückkam, war ich sehr erleichtert und froh, ich fühlte mich sicher, obwohl ich auch in Minsk nicht wirklich Angst gehabt hatte. Ich begriff, dass ich mich hier schon mehr zu Hause fühle als in Belarus“, berichtet er. „Ich war froh, in mein gewohntes Leben zurückzukehren. Aber ich träume davon, am Tag des großen Staus (wenn die Repressionen vorbei sind und es eine neue Regierung gibt – Anm. Zerkalo) nach Belarus zurückzugehen. Ich glaube daran, dass alles wieder gut werden wird und Minsk wieder aufblühen kann.“

    Außerdem ist Igor froh, dass seine Reise glimpflich verlaufen ist und er jetzt einen neuen Pass in Händen hält, der zehn Jahre lang gültig ist. Aber er würde niemandem empfehlen, so vorzugehen wie er, sagt er.   

    „Objektiv betrachtet war das belarussisches Roulette. Jetzt, wo alles gut gegangen ist, kann ich natürlich sagen: Toll, das war es wert! Mit meinem neuen Pass kann ich beruhigt weiterleben und mich sicher fühlen“, sagt er. „Aber wenn es anders ausgegangen wäre, dann wären die Konsequenzen tragisch. Rein rational war es falsch und unvernünftig, was ich gemacht habe. Und das Schlimmste ist, dass meine Freunde und Bekannten, die Verwaltungsstrafen haben und unter Beobachtung stehen, von meiner Reise inspiriert ebenfalls nach Belarus fahren wollen. Es kostet mich enorm viel Mühe, ihnen klarzumachen, dass das gefährlich ist und sie es bleiben lassen sollen. Ich mache mir große Sorgen, jemand könnte meinem Beispiel folgen und in die Falle tappen. Es kommt oft vor, dass Leute fahren und nicht wissen, dass sie in der Datenbank erfasst sind, und dann werden sie festgenommen.”

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