Seit anderthalb Jahren gab es keine direkten Informationen über den Zustand der belarussischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa, die zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Nun sind Informationen durchgedrungen, die von ehemaligen Mitgefangenen stammen sollen. Demnach soll sich der Zustand der 42-Jährigen rapide verschlechtert haben, sie werde buchstäblich ausgehungert und wiege nur noch 45 Kilogramm.
Der belarussische Ableger des Onlinemediums Mediazona hat mit einem anonymen Informanten über die menschenunwürdigen Haftbedingungen gesprochen.
Seit mehr als eineinhalb Jahren haben Maria Kolesnikowas Angehörige keine Briefe mehr von ihr erhalten. Fast die gesamte Zeit befindet sie sich in einer Isolationszelle, in der es kein warmes Wasser gibt und nach Kanalisation riecht. Aufgrund ihres Magendurchbruchs kann sie kein Gefängnisessen zu sich nehmen, für Einkäufe im Gefängnisladen darf sie nur 40 Belarussische Rubel (ca. 11 Euro) im Monat ausgeben. Ihre Schwester Tatjana Chomitsch teilt mit, dass Kolesnikowa nur 45 Kilogramm wiege. Eine Quelle, die mit Kolesnikowas Haftbedingungen vertraut ist, hat Mediazona erzählt, was darüber bekannt ist.
„Als würdest du im Klo leben“. Die Bedingungen in der Isolationszelle
Maria Kolesnikowa befindet sich seit dem 10. März 2023 in einer Isolationszelle (russ. PKT) der Frauenstrafkolonie Nr. 4 in Homel. Sie kam in die Isolationszelle. Drei Monate zuvor war sie mit Bauchfellentzündung aufgrund eines Magengeschwürs (Durchbruch der Magenwand) in die Notaufnahme eingeliefert worden war.
Die Isolationszelle hat eine Größe von etwa 1,60 mal 2,50 Metern. An den Wänden sind zwei Pritschen für je zwei Personen befestigt, die nur zur Nachtruhe von 20:30 bis 5:00 Uhr heruntergelassen werden. Die Toilette ist ein Loch im Boden einer Zellenecke, ein Blech von der Größe einer aufgeschlagenen Zeitung soll als Sichtschutz dienen. Diese Trennwand erfüllt ihren Zweck nicht: Egal, wie man sich hinhockt, man wird entblößt zu sehen sein.
„Der Gestank bleibt im Raum, du atmest ihn täglich ein. Du wohnst also quasi auf dem Klo“, sagt der Gesprächspartner Mediazona. In der Mitte der Zelle stehen am Boden befestigte schmale „Sitze“ und eine aus Metall geschweißte Truhe, die man ebenfalls nicht verschieben kann. Am Waschbecken gibt es nur kaltes Wasser, einmal pro Woche darf man in den Duschraum. Das einzige Fenster befindet sich direkt unter der Decke und ist auf der Innenseite vergittert. Zwischen dem Gitter und dem äußeren Fensterrahmen liegen etwa 60 Zentimeter Mauer.
Aufgrund ihrer Erkrankung müsste Maria eine spezielle Diät einhalten, doch in der Isolationshaft bekommt sie das, was auch die anderen Gefangenen essen. Als Maria nach dem Krankenhausaufenthalt in die Strafkolonie zurückkehrte, bat sie ihre Angehörigen, sie mit Breiflocken zu versorgen – die einzige Nahrung, die sie essen durfte. In der Isolationszelle darf sie jedoch nur einmal alle sechs Monate ein Päckchen oder kleines Paket erhalten (Art. 114 der Strafvollzugsordnung).
Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge verschlechtert sich Marias Gesundheit aufgrund der Mangelernährung und der unmenschlichen Bedingungen, denen sie seit anderthalb Jahren ausgesetzt ist. Das hat sie der Gefängnisverwaltung bereits mitgeteilt.
Bei einer Zellenkontrolle sagte Maria im Beisein des Leiters der Kolonie: „Ich mache mir Sorgen um meine Gesundheit“, und fragte, wo ihre Medikamentensendungen und ihre Briefe seien. Der Leiter antwortete, alle hätten sie vergessen. Einer Quelle von Nowy Tschas zufolge erhielt Maria trotz ihrer Bitten lange keine medizinische Hilfe, und Briefe wurden vor ihren Augen zerrissen.
Der Tagesablauf
In der Isolationszelle steht Maria jeden Morgen um fünf Uhr auf, klappt das schwere „Bett“ hoch und befestigt es an der Wand. Dann öffnet sich die Tür – die Gefangene nimmt den Abfalleimer und verlässt in Begleitung eines Vollzugsbeamten die Zelle, um einen Lappen und Chlorwasser zu holen. Zum Putzen hat sie etwa 15 Minuten, dann sammelt eine Gefangene aus der Hauswirtschaftskolonne alle Lappen wieder ein.
Gegen sechs Uhr morgens wird das Frühstück gebracht. Gewöhnlich ist es Brei mit Fettzusatz, ein Stück Weißbrot und süßer Tee. „Der Brei ist mit Milch. Er hat definitiv eine Fettbeigabe, damit er einigermaßen nahrhaft ist. Der Tee ist so extrem süß, dass man ihn nicht trinken kann“, erzählt der Gesprächspartner. Manchmal gibt es zum Frühstück auch ein gekochtes Ei oder – im Fall der Aufbaunahrung, die Maria nach der Operation bekam – Quark. Während der Mahlzeiten verteilt ein Arzt die Medikamente, die den Insassinnen verschrieben wurden. Manchmal wird bei Maria morgens ein EKG gemacht. Nach dem Frühstück ist Zellenkontrolle. Wieder geht die Tür auf, die Vollzugsbeamten kontrollieren ihr Äußeres und die Sauberkeit der Zelle.
Von 8:30 bis 9:00 Uhr wird sie zum Spaziergang in einen Innenhof geführt, der 1,50 mal 1,50 Meter groß und oben übergittert ist. Wer in Isolationshaft ist, dem steht nur eine halbe Stunde täglich zu. „Spaziergang ist zu viel gesagt. Eher eine halbe Stunde draußen stehen. Um diese Zeit kommt dort auch keine Sonne hin.“
Nach dem Spaziergang sitzt Maria den ganzen Tag in der Zelle. Sie hat ein Handtuch, eine Zahnbürste und Zahnpasta, Toilettenpapier, (vielleicht) einen Becher und ein Buch. In der Isolationszelle kann man während der Mahlzeiten mit Erlaubnis der Mitarbeiter Wasser kochen – aber nur, wenn es einen Wasserkocher gibt und man einen eigenen Becher hat.
Um zwölf Uhr wird das Mittagessen verteilt. Es gibt Fruchtkaltschale oder Kompott aus Trockenfrüchten, eine Suppe und ein Hauptgericht (zum Beispiel Plow). Abendessen gibt es um 18:00 Uhr, das kann zum Beispiel Kartoffelbrei und gebratener Fisch sein. Um 20:30 Uhr beginnt die Vorbereitung auf die Nachtruhe – Maria klappt ihr „Bett“ aus. Um 21:00 Uhr ist Schlafenszeit, das Licht in den Zellen bleibt jedoch an.
40 Rubel pro Monat für Einkäufe im Laden
Maria darf pro Monat 40 Rubel (eine Basiseinheit laut Art. 114 der Strafvollzugsordnung) von ihrem Konto für Einkäufe im Laden der Strafkolonie ausgeben. Lagerinsassen, die sich nicht in Isolation befinden, werden in den Laden begleitet und dürfen sich dort die Waren selbst aussuchen. Maria schreibt eine Liste, das Geld wird von ihrem Konto abgezogen, und die Vollzugsbeamten bringen ihr die Produkte in die Zelle. Da Maria das Angebot nicht so genau kennt, kann es vorkommen, dass es das Gewünschte nicht mehr gibt.
Wir haben im Online-Shop der Strafkolonie 4 die Preise studiert und uns überlegt, was Maria dort für 40 Rubel kaufen könnte:
– 10 Rollen Toilettenpapier: 4,60 BYN
– 1 Packung Damenbinden: etwa 4 BYN
– Zahnpasta und Zahnbürste: 10 BYN
– Duschgel: 6,50 BYN
– Shampoo: fast 8 BYN
Wenn sie in einem Monat alle Hygieneprodukte kaufen muss, bleiben ihr etwa sieben Rubel für Essen:
– Tee und Kaffee: etwa 15 BYN
– Buchweizenflocken: 3,50 BYN
– 1 Packung Quark: 2 BYN
– Dorschleberkonserve: 20 BYN
– 1 Kilo Orangen: etwa 7 BYN.
Sie könnte zum Beispiel auch Chinakohl kaufen, für 7 Belarussische Rubel das Kilo. Oder Weißkohl für 1,5 Belarussische Rubel das Kilo, der aber schwerer und daher pro Stück teurer ist.
Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge kann Maria sich von den Hygieneprodukten Seife (die auch als Shampoo dient), Duschgel und Deodorant leisten. Toilettenpapier braucht man auf Vorrat, es ist vielseitig verwendbar, auch als Taschentuch und Slipeinlage“. Von den Nahrungsmitteln kauft sie die billigsten Kekse und Tee, Kaffee ist hingegen ein „großer Luxus“. „Letztlich muss sie sich entscheiden: entweder essen oder Haare waschen oder Toilettenpapier“, sagt der Gesprächspartner.
„Die Situation ist nicht hart, sondern extrem gefährlich“
Für den Aufenthalt in einer Isolationszelle legt die Strafvollzugsordnung eine maximale Dauer von sechs Monaten fest. Maria wurde jedoch weder nach einem halben noch nach einem Jahr entlassen. Unter gewöhnlichen Haftbedingungen – also nicht in Isolationshaft oder in der Strafzelle – leben die Frauen zu mehreren Dutzenden in sogenannten Baracken. Sie werden zur Arbeit, in den Speisesaal, in den Klub, in den Laden geführt.
Den Informationen von Mediazona zufolge wird Maria Kolesnikowa noch immer in Isolationshaft gehalten – bereits anderthalb Jahre lang. Fast die gesamte Zeit hat sie allein in der Zelle verbracht. Bekannt ist, dass einmal eine „zänkische“ Insassin in ihre Zelle einquartiert wurde. Kurz bevor Maria eigentlich aus der Isolation in ihre Gruppe zurückkehren sollte (am 10. März 2024), wurde sie wegen Respektlosigkeit dem Personal gegenüber mit drei Tagen Haft in der Strafzelle (SCHISO) bestraft. Ehemalige politische Gefangene erzählen, dass man im Grunde für alles gerügt werden kann, was man zum Gefängnispersonal sagt. Zum Beispiel für die Anrede „junger Mann“. Nach der Strafzelle kam Maria wieder in die Isolationszelle (PKT).
„Diese Situation ist nicht hart, sondern sie ist extrem gefährlich. Natürlich warten sie auf ein Reuebekenntnis von Mascha“, mutmaßt der Gesprächspartner. Den letzten Brief von Maria erhielten ihre Angehörigen am 15. Februar 2023. Sie selbst darf keine Post erhalten, ein Anwalt wird nicht vorgelassen.
Marias Schwester Tatjana Chomitsch schrieb dazu [auf Facebook]: „Meines Wissens leidet Maria in der Kolonie an Hunger. Sie wiegt 45 kg bei einer Größe von 1,75 m. Ihre Krankheit erfordert eine Diät, daher kann sie von der Gefängnisverpflegung nicht viel essen. […] Jemandem mit Magengeschwür Lageressen zu geben, ist praktisch Folter und ein langsamer Mord. Jemandem das Recht zu entziehen, seiner Familie zu schreiben, beschleunigt diesen Tod.“
Zur Geschichte der linken Subkulturen im postsowjetischen Russland gehört viel Gewalt: von Straßenschlachten gegen brutale Neonazis bis zur zunehmenden Verfolgung durch den staatlichen Sicherheitsapparat. Der Krieg bietet den Antifa-Veteranen von damals nun eine Chance weiterzukämpfen. Viele nutzen sie und melden sich zur ukrainischen Armee, andere aber gehen für Russland an die Front.
Das russische Online-Portal no Future hat sich die Gewaltgeschichte der Antifa-Szene genauer angeschaut und mit einigen selbsterklärten Antifaschisten über ihre Motivation gesprochen, teils Seite an Seite mit russischen Neonazis in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen.
Kaum jemand erinnert sich noch an die Antifa-Ära der 2000er und 2010er Jahre. Die Antifa selbst ist gealtert, hat sich Kredite und Bauchspeck zugelegt oder sitzt immer noch im Knast. Die mit Mutters billigem Haarspray aufgestellten Irokesen, der Straight-Edge-Lifestyle, die Nebelgranaten, die in die Stadtverwaltung von Chimki flogen, weil man den örtlichen Park abholzen wollte, die Demos im Moskauer Zentrum unter Antifa-Parolen wie „Nein zu Faschismus aller Art, vom Hinterhof bis zur Regierungsmacht“ – all das existiert nur noch in ihrer Erinnerung. Genau wie die Straßenkämpfe und bewaffneten Zusammenstöße mit Neonazis, die eingeschlagenen Schädel und toten Genossen, die wildesten Hardcore-Konzerte und die Bullen, die am Ende doch sämtliche Subkulturen plattgemacht haben.
Noch vor ein paar Jahren hörte man die Alt-Antifa sagen, das alles würde der Vergangenheit und einer fernen Jugend angehören, als alles noch einfacher, klarer, eindeutiger war: Die Einen schlachten Nicht-Russen ab und schüren Fremdenhass, die Anderen setzen sich zur Wehr und helfen den Schwachen. Manchmal unter Einsatz ihres Lebens. Doch der Krieg in der Ukraine hat nicht nur entlang der „Kontaktlinie“ für ein Aufflammen von Mord und Gewalt gesorgt, sondern auch auf Russlands Straßen. Wobei heute nicht mehr alles so klar und eindeutig ist. So manche, die vor 15 Jahren noch für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und gegen Faschismus protestiert haben, ziehen heute in den Krieg, um Ukrainer zu töten.
Anna Worobjewa hat für no Future mit selbsterklärten Antifaschisten – im Text sind alle Namen geändert – darüber gesprochen, warum sie Seite an Seite mit Neonazis in Schützengräben gegen sogenannte „Ukronazis“ kämpfen und darin nichts Schlechtes sehen.
Irokesen, Hakenkreuze und Blut auf dem Asphalt
Eine kleine Kreisstadt an der Wolga. Eine verlassene Bauruine. Anfang der 2010er Jahre. Die Wände vollgeschmiert mit Hakenkreuzen, ein ebenso geformtes Lagerfeuer. Jeden Abend versammeln sich hier um die 30 Leute in schwarzen Bomberjacken mit orangefarbenem Innenfutter (so erkennt man im Kampf schneller die eigenen Leute) und Hosen mit heruntergelassenen Hosenträgern (ein Zeichen für Kampfbereitschaft), in DocMartens, Springerstiefeln oder Billigtretern vom Markt mit weißen Schnürsenkeln (heißt: Ich habe Nicht-Russen auf dem Gewissen).
Hier werden Attacken geplant: Wer ist als nächstes dran? Das „Schlitzauge“ vom Gemüsestand oder der obdachlose Usbeke, der auf der Bank am Bahnhof schläft? Jeden Tag konnte man zusammengeschlagene „Nichtarier“ auf den Straßen finden. Hier kloppte man sich mit den hiesigen Informellen, Alternativen, einer Handvoll Jugendlicher mit Irokesenschnitt, die bei den Zusammenstößen unweigerlich unterlegen waren und danach blutüberströmt nach Hause krochen.
Die Alternativen nannten sich Antifaschisten, oder kurz: Antifa. Eines Tages, nach einer weiteren Niederlage, baten die jungen Antifas die älteren und stärkeren um Unterstützung. Am Tag darauf fuhr im Morgengrauen ein nicht mehr ganz neuer Neuner [Lada – dek] an der Bauruine vor. Ein paar Typen mit Schlagstöcken und Leuchtpistolen stiegen aus. Ein Skinhead im „Ich bin Russe“-Shirt kam auf sie zu. Die Männer aus dem Neuner umzingelten ihn, zogen ihm das Shirt aus, verdrehten seine Arme, zerrten ihn unter Schlägen ins Auto und fuhren los.
Der Lada hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten.
Der erste Halt ist ein normaler Innenhof. An einem Hauseingang rauchen drei. Allesamt kahlrasiert. Der Neuner hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. Den ganzen Tag kreuzen sie so durch die Wohnviertel. Als es dunkel wird, bringen sie den „Führer“ zur Baustelle zurück. Bei der großen Versammlung, die dort geplant war, tauchen nach dem Streifzug nur wenige Leute auf, die die Antifa sogleich mit Schüssen aus den Leuchtpistolen und Schlagstöcken begrüßt. Der „Führer“ bettelt inzwischen um Gnade. Die Antifas lassen ihn erst gehen, nachdem er sich vor der Kamera entschuldigt und versprochen hat, dass er „nie wieder andere Leute belästigen und die Antifa beleidigen wird“.
Antifa schlägt zurück, bis Silowiki kommen
Einer jener jungen Antifas damals war Denis Chromow. Er ist in der Kreisstadt aufgewachsen und schon als Teenie zu der Clique gestoßen. Die nach außen hin so gefährlich wirkenden Punks verbrachten ihre Zeit meist mit harmlosen Dingen, besprühten Wände mit Antifa-Slogans, kochten und verteilten vegane warme Mahlzeiten an Obdachlose. Diese Aktion hieß Essen statt Bomben. So protestierten Antifaschisten in aller Welt gegen Krieg und Autoritarismus. Außerdem gingen sie viel auf Konzerte. Kein Gig lief ohne Angriffe bewaffneter Neonazis ab. Die wurden auch „Bones“ genannt, vom englischen „Bonehead“, das als „Glatze“ oder auch „Volltrottel“ übersetzt werden kann.
Die Bones bewarfen die Antifa mit Steinen und Flaschen, verdroschen sie mit allem, was sie finden konnten, sprühten ihnen Pfefferspray in die Augen. Sie machten weder vor Messern noch vor selbstgebauten Bomben halt.
Ende der 2000er Jahre verübten Neonazis bis zu 500 Morde im Jahr. Die Subkultur der Pazifisten begann sich zu organisieren und zu wehren, bis sie selbst gefährliche Straßenbanden hervorbrachte. Genau die wurden schließlich mit dem Begriff Antifa assoziiert. Die Bewegung entstand also als Reaktion auf die Aggression der Rechtsradikalen, die in den 2000er Jahren unkontrolliert im ganzen Land wütete.
Irgendwann übernahmen die Antifaschisten selbst die Initiative; mindestens ein Neonazi wurde dabei getötet. Innerhalb der Bewegung wurde die Gewalt verurteilt, aber Iwan Chutorskoi, genannt Kostolom (Knochenbrecher) – ein bekannter Antifa, der seinen Spitznamen dem erfolgreichen Einsatz in Straßenkämpfen verdankte – befand, es sei besser „jetzt als Unmensch zu gelten, als später vor der Tür zur Gaskammer über die richtige Taktik zu diskutieren“. 2009 wurde Chutorskoi am Eingang seines Hauses durch einen Genickschuss getötet.
Anfang der 2010er hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab niemanden mehr, der sich hätte prügeln können.
Denis Chromow dagegen machte sich zu seinen Antifa-Zeiten keine Gedanken über Humanismus. Er ging regelmäßig „Glatzen klatschen“ und hielt das für den einzig richtigen Weg. Parallel schloss er die Berufsschule ab, verlobte sich, nahm in Moskau einen Schicht-Job auf dem Bau an.
Anfang der 2010er Jahre dann hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der sich hätte prügeln können: Die Silowiki hatten in dem Straßenkrieg zwischen Neonazis und Antifa bald eine handfeste Bedrohung erkannt und waren dazu übergegangen, die Einen wie die Anderen konsequent einzubuchten.
Wohin mit dem Hass der Antifa-Veteranen?
Die Frage war nun: Wohin mit der ganzen Energie und all den Überzeugungen? Die Einen verfielen dem Alkohol, die Anderen – so wie Denis – gingen in die politische Opposition. „Ich bin nach Moskau zu den ‚Märschen der Millionen‘ gefahren, lernte dort Anarchisten und Antifas kennen“, erzählt Chromow. „Ich hab schon als Kind die ganze Ungerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Sicherheitsorgane usw. kapiert. Ich hatte Hass auf die jetzige Regierung, das ganze Regime. Wirklichen Hass.“
Den Krieg im Donbas [ab 2014 – dek] hat Chromow dann so ähnlich verstanden wie die Straßenschlachten mit den Neonazis: Mutige, knallharte Jungs organisieren sich und kämpfen gegen „Glatzen“, die sie allein deshalb vernichten wollen, weil es sie gibt. „Ich hatte dann im Fernsehen gesehen, dass Neonazis die Zivilbevölkerung angreifen und dass die Leute sich zu Bürgerwehren zusammenschließen und dagegenhalten. Also habe ich mich auch dazu entschlossen … Na, wegen der Faschos, Nationalisten halt, weiß nicht …“, erinnert sich Denis. Er fuhr im Herbst 2014 als Freiwilliger in den Donbas – ohne Vertrag, ohne Wehrpass, ohne ärztliches Attest, ohne Geld. Er war 20 Jahre alt.
Denis wurde der Drohnenaufklärung zugeteilt. Er soll feindliche Stellungen aufspüren und deren Koordinaten an die Artillerie übermitteln.
„Männer wie wir“ und „Vögel des Todes“
Auf dem Laptop erscheint ein Bild: rechteckige Felder mit grünen Waldflächen. Über den Wäldern blinken blaue Symbole, dort sind Handys aktiv. Wenn es drei oder mehr sind, ist das eine „Anhäufung“. Eine Anhäufung im Wald bedeutet Schützengräben und Unterstände: Erdbunker, in denen die Soldaten an forderster Front leben. Um einen Treffer zu landen, muss man nun möglichst nah ran, dorthin, wo man vom Artilleriedonner fast taub wird. Dann einen guten Startplatz suchen, eine Wiese vom Gestrüpp befreien, eine möglichst ebene Fläche für besseren Halt schaffen. Dann bastelt man den „Vogel“ zusammen, schraubt die drei Meter langen Flügel an und den Schweif, legt einen Fallschirm hinein, um ihn später sicher zu landen, wenn das Ziel erledigt ist. Außen, vorne oder unten trägt der „Vogel“ eine Kamera, ein Wärmesichtgerät und einen Fotoapparat. Die Koordinaten der Handy-Signale werden an die Artillerie übermittelt. Die beschießt dann die Bunker mit Grad (Hagel, Mehrfachraketenwerfer – dek] oder Haubitzen wie der D-30er. Aus der Vogelperspektive sieht man, wie dicker Rauch aus den Schützengräben quillt, Bretter in die Luft fliegen, eine Hose sich in einem Baum verfängt. Man hört wildes Geschrei, einer ist bis zum Hals mit Erde verschüttet, aus einem anderen pulsiert eine Blutfontäne. Einem drittem hat es den halben Körper weggerissen.
„Wir wurden ganz nah bei den Ukropy abgesetzt, und dann ging die Arbeit los. Wir ließen den Vogel fliegen, holten ihn zurück, gaben die Koordinaten an die Artillerie weiter. Die machen ihren Job, wir schicken den Vogel wieder los und bestätigen“, berichtet Denis.
Ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht.
„Und waren dort Nazis?“
„Ich persönlich habe eigentlich keine gesehen … So eingefleischte wie die in Mariupol bei Asowstahl gab es da nicht [Die Rede ist hier von der Brigade Asow, die die russische Propaganda als „Nazis“ bezeichnet, für die ukrainische Seite sind sie die „Verteidiger Mariupols“ – No Future]. Dort kämpfen Männer wie wir, die wurden dorthin abkommandiert. Der Staat hat gesagt, die Donezker Volksrepublik will sich illegal abspalten usw. Die sind genauso kämpfen gegangen wie die Jungs, die nicht mehr zur Ukraine gehören wollten.“
„Hast du den Sinn verstanden? Warum bist du dahin gegangen?“
„Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wieder als Freiwilliger hinfahren. Mit denselben Jungs.“
Solche wie Denis werden von vielen Antifas als „Z-niki“ „Watniki“ und „Raschisten“ bezeichnet. Der Großteil der Bewegung unterstützt im Krieg die Ukraine, einige haben sich sogar den Ukrainischen Streitkräften angeschlossen.
„Ich will Action“
Igor Schmelew, der früher auch bei Straßenschlachten gegen Skinheads mitmischte, erklärt das damit, dass die meisten Beteiligten jung und auf Action aus gewesen seien. „Viele sind zur Antifa gekommen, weil sie den Kick suchten. Später hing die Position davon ab, welche Vorlieben man hatte. Die Einen sympathisierten mit der Ästhetik der Republiken [gemeint sind die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und ihre von Russland unterstützten und ausgerüsteten „Volksmilizen“ – dek], die gegen die ‚neonazistische Bandera-Junta‘ [Ausdruck der russischen Propaganda für die legitime ukrainische Regierung – dek] aufbegehrten. Anderen war die Ästhetik des Volksaufstands näher, der die Regierung gestürzt hatte und nun sein Land gegen das imperialistische Russland verteidigt“, sagt Schmelew. „Manche finden im Krieg einfach sich selbst, einen Lebenssinn. Manche glauben aufrichtig an dieses ganze Zeug. Welchen Sinn hat es da, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen?“
Für die Antifaschisten, die für Russland kämpfen, gehört auch die proukrainische Antifa an die Front – vom Sofa aus könne ja jeder klug daherreden. Einer von ihnen ist Wadim Krasnow. Er nimmt in Kauf, dass er an der Front seine ehemaligen Kumpels erwischen könnte.
„Man kann viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Sollen sie doch zur ukrainischen Armee gehen, wenn sie sich trauen.“
„Das tun sie doch. Du könntest also auch Antifa aus Wolgograd oder Kaliningrad treffen …“
„Tja, dann haben sie Pech gehabt.“
Propaganda trifft Mitleid
Wadim hat im Herbst 2023 einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben. In den wilden 2000ern war er zur Antifa gegangen, weil er „die Nazis nicht hinnehmen“ wollte. Als die Silowiki später für Ordnung gesorgt hatten, distanzierte er sich von der Subkultur und wurde Elektriker in einer kleinen russischen Provinzstadt.
Die Ereignisse von 2014 im Donbas betrachtet Wadim als „Säuberungsaktionen durch ukrainische Nationalisten“ [ein beliebtes und weltweit verbreitetes Narrativ der (pro-)russländischen Propaganda – dek]. „Das war quasi der Anfang. Wir müssen jetzt die russischsprachige Bevölkerung mit der Waffe beschützen. Wir haben nur auf die Situation reagiert. Acht Jahre haben wir gewartet, und dann ist endlich was passiert“, sagt Krasnow. Als seine Heimatstadt 2022 beschossen wurde, zog er in den Krieg. „Ich habe begriffen, dass ich selbst 700 Kilometer von der Front entfernt nicht mehr sicher wäre. Es war ein spontaner Impuls“, erklärt er.
Zunächst diente Wadim als stellvertretender Stabschef eines Panzerbataillons bei Kreminna. „Fünf Kilometer von uns stand Asow. Aber ich habe keine ‚Asowzy‘ gesehen. Die ukrainische Armee besteht nicht nur aus Nazis. Leider haben sie dort Leute mobilisiert, die nicht freiwillig dort sind, die genauso wenig auf diesen Krieg vorbereitet waren, irgendwelche Pazifisten, also Leute, die nicht kämpfen können und wollen. Die wurden eingezogen und hatten keine Wahl. Ich habe solche Leute gesehen. Sie waren verängstigt, weinten. Das ist ein schrecklicher Anblick. Für solche Menschen empfinde ich keinen Hass, nur Mitleid“, sagt Krasnow.
„Was ist das Schlimmste am Krieg?“
„Die Toten.“
„Auf unserer Seite?“
„Ganz egal, auf welcher Seite. Auf unserer, auf der ukrainischen. Ich weiß, dass man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern muss, aber ich kann mich nicht freuen. Ich könnte ihm nicht die Ohren abschneiden oder irgendwas in dieser Richtung, oder seinen Anblick genießen.“
„Warum muss man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern?“
„Weil er mich nicht mehr umbringen kann. In diesem Sinne. Ist doch klar, dass ich das gut finde.“
Langeweile in der Kriegsbürokratie
In den ersten Monaten war Wadim nicht im Kampfeinsatz, sondern kümmerte sich in der dritten Verteidigungslinie im Hauptquartier um Papierkram. Er sagt, er habe sich den Krieg wie einen Blockbuster vorgestellt, aber in Wirklichkeit war es nur ein Hin- und Herschieben von Dokumenten.
Der bürokratische Aufwand ist enorm: Auszahlung von Militärgehältern, Transport von Lebensmitteln und Granaten zu den Stellungen. Und von den Stellungen kommen die Toten zurück. Sie werden von der Front in Säcken geliefert, manchmal direkt in die Einheit, wo sie identifiziert werden müssen. Aus den zerbombten Panzern werden die Leichen an Seilen herausgezogen. Mit geschwollenen, dunkelvioletten Beinen, die in grotesken Winkeln verdreht sind, die Uniformen zerfetzt. Die schwarzen Nasenlöcher, Ohren und Münder mit einer dicken Blutkruste verklebt. Manchmal gibt es nur noch Asche und Knochen, manchmal auch gar nichts: Ein Panzer brennt wie eine Fackel, und wenn die Munition explodiert, werden die Menschen aus dem Fahrzeug geschleudert und bleiben auf Stromleitungen oder Dächern der benachbarten Häuser hängen.
Zwei Monate nach unserem Gespräch schrieb mir Wadim, er habe einen Antrag auf Versetzung in eine Sturmkompanie gestellt.
„Warum willst du da hin?“
„Ich will Action.“
„Hast du keine Angst?“
„Ein bisschen vielleicht. Aber ich langweile mich hier zu Tode.“
„Und wenn du ohne Beine im Krankenhaus liegst, und der mobilisierte Ukrainer, mit dem du, wie du sagst, Mitleid hast, im Sarg? Macht das dann Spaß?“
„Vielleicht bin ich frustriert oder so. Ich weiß nicht. Mein Leben war echt ziemlich langweilig. Ich will irgendwie nützlich sein. Von jemandem gebraucht werden.“
Wadim ist jetzt seit Monaten verschwunden. Er antwortet nicht auf Nachrichten, auf Telegram war er „zuletzt vor langer Zeit online“. Drei Monate vor Erscheinen dieses Texts habe ich zum letzten Mal von ihm gehört:
„Haben sie deinen Antrag genehmigt?“
„Ja, ich bin versetzt worden.“
„Und, Schluss mit Langeweile?“
„Das kannste laut sagen …“
Von „No Putin, No War“ zur Söldnertruppe Wagner
„Wir leben einfach in einer anderen Welt als die Zivilbevölkerung. Vor allem die, die lange an der Front sind. Das verändert das Denken. Und manchmal verstehen wir euch nicht mehr richtig. Wir sind froh, wenn wir noch leben. Und wenn wir von einem Einsatz lebendig wiederkommen, wenn sogar niemand verletzt wurde – weder man selbst, noch ein Kamerad – dann ist das das Größte. Und ihr sitzt einfach rum und beschwert euch“, sagt der Antifaschist Sergej Sashin.
In seiner „Straßenkampfzeit“ war Sergej oft aktiv auf Neonazis losgegangen, hatte in einer Punk-Band gespielt. 2014 sprach er sich noch öffentlich für den Maidan und die ukrainische Antiterroroperation aus, demonstrierte mit „No Putin, no War“-Plakaten. „Ich habe Leute unterstützt, die für die Freiheit und für Veränderungen zum Besseren waren. Die Fortschritt wollten. Ist doch super, oder? Nur, was bringt’s im Endeffekt? Das ging vom Regen in die Traufe. Nur, dass die Traufe noch schlimmer war“, sagt Sashin. „Warum haben die Donezker überhaupt rebelliert? Na, fahrt doch mal hin und seht euch an, was sich da seit dem Ende der Sowjetunion getan hat. Gar nichts nämlich! Ich bin vor 2014 in Kyjiw gewesen – da war alles superschick renoviert. Die anderen Städte auch: Tipptopp saniert! Nur Donezk, Luhansk, der ganze Osten, der das Land ja ernährt hat, der hat die Riesenarschkarte gezogen.“
Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, die tagsüber soffen und sich abends prügelten.
2015 ist Sergej als Freiwilliger in den Donbas gefahren. Er war in eine „krasse Gang“ diverser Antifas geraten, die an die Front wollten, und ist einfach mitgezogen. Gefechte erlebte er aber keine: Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, erzählt Sashin, die tagsüber zusammen soffen und sich abends prügelten. Sashin blieb zwei Wochen. Anfangs wartete er noch darauf, dass Waffen verteilt würden, dann reichte es ihm. Er packte seine Sachen und fuhr nach Hause.
2022 zog er wieder in den Krieg: Zuerst schloss er einen Vertrag mit der Gruppe Wagner, dann mit einer anderen Söldnertruppe, deren Namen er nicht nennen will. Auf die Frage, ob er Menschen getötet habe, antwortet Sergej: „Wahrscheinlich schon.“
Im August 2022 kämpfte Sergej bei Saizewe, 20 Kilometer südöstlich von Bachmut. Die Russen bereiteten ihren Vormarsch vor, es gab schwere Grabenkämpfe, die Wagner-Truppe stürmte Positionen der ukrainischen Streitkräfte. Am 22. September wurde Sergej bei einem solchen Sturm schwer verwundet, musste lange behandelt werden, zog dann aber wieder an die Front.
„Ich war eigentlich immer gegen Krieg gewesen, aber wenn er, wie man so sagt, nun schon mal da ist – sorry, da gibt es kein ‚Aaaa, ich will keinen Krieg!‘ mehr. Die Fahne schwenken, das ist für’n Arsch. Das machen nur Debile.“
„Aber wenn Krieg ist, heißt das doch nicht, dass man unbedingt daran teilnehmen muss?“
„Wie soll man ihn sonst beenden?“
„Darüber könnten wir uns stundenlang unterhalten. Wie hast du dich für die russische Seite entschieden? Du hast sicher keine Münze geworfen?“
„Sorry, aber ich bin in Russland geboren, das ist mein Land … Das war sozusagen nicht meine Entscheidung.“
Der Gute, der Böse und der Nazbol
Sergej ist Anarcho-Nationalist. Er ist gegen den Staat, aber für die Nation. Mitte der 2010er Jahre war er bei der nationalistischen Bewegung Narodnaja wolja (dt. Volkswille). Dort herrschte die Auffassung, dass zur Nation nur die Arbeiterschaft, die Werktätigen gehören. Die Parasiten an der Spitze, die sich auf deren Kosten bereichern, seien Volksverräter. Die Anarcho-Nationalisten unterstützten lokale Proteste, positionierten sich öffentlich gegen die Staatsmacht, wollten sie stürzen. Manche Antifas waren der Meinung, dass in ihrer Bewegung für solche Leute kein Platz sein sollte – sie seien zwar anarchistisch eingestellt, aber doch zu sehr rechts.
Die Antifa war allerdings nie eine politische Bewegung, sondern eher eine Plattform, auf der sich Leute ganz unterschiedlicher Anschauungen versammelten: Kommunisten, Sozialisten, Marxisten, Anarchisten und sogar Nationalisten. Alle waren auf die eine oder andere Weise gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Herrschaft, gegen Ungleichheit und Diskriminierung. Für manche von ihnen war die Unterstützung für Russland im Krieg eine Frage der Ideologie.
„Für mich ist Nationalismus die Liebe zur Heimat, zum eigenen Land. Das ist gut und richtig. Ich lebe in diesem Land, ich liebe die Menschen hier. Alle meine Mitbürger. Ich wünsche mir für alle Wohlergehen. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, dass es anderen schlecht geht. Ich finde nicht, dass Russen, Weiße oder wer auch immer besser sind als Mexikaner, Amerikaner oder sonst jemand – das wäre dann schon Nazismus, wenn du nämlich deine Nation über alle anderen stellst. Das ist bescheuert, totaler Blödsinn“, sagt ein anderer Antifa namens Oleg Kotow, der sich selbst als Nationalbolschewik bezeichnet. Kurz: Nazbol.
Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum
Deren Losung ist: „Russland ist alles! Der Rest ist nichts!“ Sie finden, dass alle Territorien mit russischsprachiger Bevölkerung an Russland angegliedert werden sollen. Oleg fährt öfter mit den Interbrigady 2022 in den Donbas, einem militanten Flügel der nationalbolschewistischen Partei Das andere Russland E. W. Limonows. Er sieht keinen Widerspruch darin, gleichzeitig Antifa und Nationalist zu sein. Er hat sich schon mit Bones geprügelt und für Tierschutz eingesetzt. Szeneinternes Geplänkel zum Thema „Wer ist die echte Antifa“ interessiert ihn nicht. Seit fast anderthalb Jahren bringt er humanitäre Hilfe in das Dorf Toschkowka in der Oblast Luhansk, das von der russischen Armee kontrolliert wird. „Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum“, meint Kotow. „Die Leute haben nichts zu essen, sie frieren in ihren zerstörten Häusern, weil sie keinen Strom, kein Gas und kein Wasser haben. Manchen muss man eben helfen, wo man kann, die müssen einem leidtun, auf die anderen können wir alle scheißen.“
In Toschkowka ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Dorf wurde schon ab 2014 beschossen, und seit Juni 2022 hält es die russische Armee besetzt. Im Herbst brachte Oleg zum ersten Mal Kissen und Decken hin, Taschenlampen und Generatoren zur Stromerzeugung, damit die Menschen in ihren Häusern ohne Dach den Winter überleben konnten.
„Wir helfen auch den freiwilligen Kämpfern. Aber vor allem den Mobilisierten – ihr wisst ja, wie das bei uns läuft mit der Ausstattung der Mobiki. Die werden ohne Schutzwesten gleich in den Sturm geschickt, gehen dort allesamt drauf. Das sind doch meine Nachbarn, auch ein entfernter Verwandter von mir wurde eingezogen“, sagt Oleg. „Zu denen kannst du doch nicht sagen: ‚Pech gehabt, du bist kein Freund, keiner von uns, du bist nur ein Raschist, ein Faschist.‘ Nach Kasachstan flüchten wollte er nicht, das würde seiner Erziehung widersprechen. Ihm muss man doch helfen, ihn unterstützen, den kann man doch nicht im Stich lassen.“
V wie ReVolution
„Wie sieht es bei uns überhaupt mit Nazis aus? Gibt es noch welche?“, frage ich Oleg.
„Natürlich gibt es noch welche. Rennen doch genügend Sieg-Heil-schreiende Kids voller Aufnäher rum, so als Straßen- und Subkultur.“
„Aber finden Sie nicht, dass auch der Kreml einen Rechtsdrall hat? Wir haben ja den Sänger Shaman, der da singt: ‚Ich bin Russe, ich gebe nicht auf. Ich bin Russe, mit dem Blut meines Vaters‘ …“
„Das ist widerlich. Mein Sohn kommt jetzt in die zweite Klasse, die hatten da auch schon diese ‚Gespräche über Wichtiges‘ und so, müssen irgendwelche Lieder lernen. Wie eine Parodie auf die Oktjabrjata, also so Brigaden, bei denen sie mitmachen sollen, aber das ist pure Idiotie. Die Pioniere waren stolz, Pioniere zu sein. Heute gibt es leider absolut keinen Grund, stolz zu sein.“
„Wie soll man damit umgehen?“
„Keine Ahnung, ich bin ja kein Politiker. Hab noch nicht mal drüber nachgedacht. Zuerst muss der Krieg vorbei sein, erst danach kann man bei uns was Ordentliches aufbauen.“
Ein Antifaschist mit dem Spitznamen „Communist Sam“ sagt: „Im Fall einer Niederlage wird es in Russland keine Revolution geben, findet euch damit ab! Wenn Russland verliert und schwächer wird, oder schlimmer – wenn es auseinanderfällt, dann entsteht auf unserem Gebiet, auf dem aktuellen Territorium des russischen Staates, ein ‚weißes Afrika‘. Im Vergleich zu dem, was dann passiert, werden uns die Neunziger wie ein Muster an Ordnung und Rechtsstaatlichkeit vorkommen. Ich will Russland rot sehen, weil Russland stark genug sein muss, um die Revolution zu erleben, sie zu verteidigen und ihr Bollwerk zu werden. Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Ich diene der Sowjetunion.“
Schützengräben sind der beste Ort für Gespräche über Politik, der Krieg ist ein unbestelltes Feld für revolutionäre Agitation.
Sam ist der Meinung, momentan könne von einer Revolution keine Rede sein, weil die Arbeiter mit ihrer Situation zufrieden seien. Solange genug Brot da sei, würden sich die Massen nicht zum Aufstand erheben. Er sagt, die Schützengräben seien der beste Ort für Gespräche über Politik, und nennt den Krieg ein „unbestelltes Feld“ für revolutionäre Agitation: „Da bist du in einem Kollektiv, in dem du dich beweisen kannst. Und dann bedeutet deine Meinung auf einmal etwas für Leute, die gestern noch über nichts anderes als ihr täglich Brot nachgedacht haben. Dann ist es auch an der Zeit zu fragen, wozu und warum wir überhaupt da sind. Man darf sich für seine Kraft nicht schämen, man darf keine Angst haben, sie einzusetzen.“
Fraglich bleibt, ob diejenigen, in die Sam den Keim der Revolution säen möchte, diese dann noch erleben werden.
Am Ende das Blut im Schützengraben
Denis Chromow ist nicht mehr erreichbar. Beim letzten Gespräch Mitte Februar 2024 sagte er, dieser Bericht sei „vielleicht das Letzte, was je über mich erscheinen wird“. Denn Chromow ist krank.
Er hat sich 2014 an der Front mit Tuberkulose angesteckt. Das erfuhr er vom Arzt in der Musterungsbehörde. Drei Jahre später zog er wieder in den Krieg. Er sagt, im Zivilleben konnte er nicht zu sich finden. „Es hat mich da hingezogen, und Punkt. Wahrscheinlich ist das wie eine Droge. Wenn du mit den Jungs zusammen im Schützengraben sitzt, wenn du unter Beschuss handeln musst, wenn alle mit demselben Löffel essen, keine Ahnung … Man hilft einander. Und zwar nicht aus irgendeinem Eigeninteresse, sondern aus reiner Kameradschaft. Hier draußen musst du dich ständig mit Arbeit und wegen der Kohle rumplagen, mit den sauren Visagen der Chefs, den ätzenden Kollegen. Na ja, hab ich gedacht, was soll ich machen? Ich musste wieder hin“, erzählte Denis. Er nahm Medikamente, die wirkten aber nicht: Das Röntgenbild war unverändert. Um wieder an die Front zu kommen, besorgte er sich ein fremdes, gesundes Bild.
Beim zweiten Einsatz kämpfte Denis acht Monate lang für die Donezker Volksrepublik. Dann kehrte er nach Hause zurück, weil es ihm nicht gefallen habe: „Da ist nichts mehr wie früher. Lauter hirnrissige Befehle, die Waffen waren der reinste Schrott, und dieses ‚das [die Waffen – dek] könnt ihr euch im Gefecht besorgen’, fickt euch. Die Stabsoffiziere tun nichts anderes als sich den Wanst vollzufressen und zu ficken, was ihnen über den Weg läuft. Du kommst fix und fertig zurück, hast zwei Tage nicht geschlafen, aber meinst du, dann ist Ruhe? Denkste, sie brummen dir irgendeine Kacke auf. Sagt mal, habt ihr sie noch alle?“, sagt Chromow.
Danach schlug sich Denis irgendwie durch: Er verlegte Stromleitungen und Parkettböden, bekam mit seiner Freundin einen Sohn. Er fühlte sich gesund, bis auf einen schleimigen Auswurf: Kaum hatte er den abgehustet, setzte sich der nächste Klumpen in der Kehle fest. Als er zum dritten Mal an die Front wollte, wusste er bereits, wo er ein manipuliertes Röntgenbild bekommen würde.
Seinen ersten offiziellen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnete Denis am 10. August 2023, doch er blieb nicht bis zum Schluss. Eines Tages wurde er „gestrichen“ und bei Luhansk direkt aus dem Schützengraben geholt. Davor hatte er einen Monat lang mit seinem Zug im Wald Gräben geschaufelt und auf Befehle von oben gewartet. Sein Tagesablauf sah so aus: Nachts im Schlafsack auf gefrorener Erde liegen, von früh bis spät mit der Schaufel hacken. „Wie ein verfickter Maulwurf“, schimpft Denis, „und für wen, wozu? Einfach, um die Soldaten zu schikanieren.“
Als er zum ersten Mal Blut auf dem Boden sah, dachte er, es käme von einem Zahn. Dann stieg das Fieber, er stützte sich schweißgebadet auf die Schaufel, konnte nicht mehr. Er sagte allen, er sei einfach völlig fertig. Kein Wort von der Tuberkulose. Mit jedem Tag wurde der Husten stärker, das Blut immer mehr. Ein Röntgenbild, das Denis im Krankenhaus in Rostow am Don machen ließ, zeigte riesige Entzündungsherde in der Lunge. Er wurde in seine Heimatstadt geschickt und musste Bedaquilin nehmen, ein Tuberkulosepräparat neuerer Art. Denis sagt, es sei das stärkste Medikament, das es gibt.
Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt?
In den Krieg wird er nie wieder ziehen. Selbst wenn er wollte, würde er mit seiner Diagnose nicht genommen. Denis will aber auch gar nicht: „Ich hatte einfach eine Überdosis Zombieglotze und wollte dieses Abenteuer. Und dann war ich da ganz in diesen Zusammenhalt der Männer eingetaucht. Aber das war einmal, jetzt ist alles ganz anders.“
Am meisten ärgert sich Denis über den Staat. Und er findet, dass es für die Russen keinen Ausweg gibt. „Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Erinnerst du dich an den Bolotnaja-Platz? An die ‚Märsche der Millionen‘. Ich war selber dabei, als so wahnsinnig viele Leute in Moskau demonstriert haben. Und dann auf einmal der Maidan. Und im Fernsehen immer nur: Krieg! ‚Da seht ihr, was ihr habt von euren Umstürzen!‘ Und dann kamen heimlich, still und leise die Demonstrationsgesetze, wo es verboten ist, was verboten ist … Weil ihnen klar war, diesen Arschlöchern, dass das Volk sich echt zusammentut und sie so langsam die Kontrolle verlieren. Und dann haben sie alles so eingefädelt: Ihr habt es nicht anders gewollt – dann kämpft eben und geht drauf dabei. Diese dummen Wichser – die Freiwilligen und Vertragssoldaten –, die kapieren nicht, dass das nichts als ein verdammter Fleischwolf ist. Um solche wie uns loszuwerden, die bei den ‚Märschen der Millionen‘ mitmarschiert sind – damit wieder alles schön still ist. Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt? Ich bin enttäuscht, echt.“
Zum Abschied bat uns Denis, seinen Namen nicht zu nennen, weil er für das, was er im Interview gesagt hat, eingebuchtet und als „Vaterlandsverräter“ gelten würde: „Sorgt bitte dafür, dass ich wenigstens zum Schluss noch meine Ruhe habe.“
Am 27. Juli verstarb in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan der 39-jährige russische Pianist, Schriftsteller und Antikriegs-Aktivist Pawel Kuschnir, offizielle Todesursache: Folgen eines fünftägigen trockenen Hungerstreiks. Verhaftet wurde Kuschnir wegen seines YouTube-Kanals mit vier Videos und fünf Abonnenten. Der Vorwurf lautete „öffentliche Anstiftung zu Terrorismus“.
In den Medien tauchte der Name Kuschnir erst nach seinem Tod auf. Bis dahin waren seine Geschichte und die Umstände der Verhaftung der breiten Öffentlichkeit unbekannt gewesen.
Katya Kobenok hat mit Angehörigen von Pawel Kuschnir und Menschenrechtsaktivisten gesprochen. Auf Takie Dela erzählt sie, was für ein Mensch er war und warum es niemandem gelungen ist, seinen Tod zu verhindern.
Pawel wurde Ende Mai 2024 verhaftet. Ein Post in einem inoffiziellen Telegram-Kanal der Silowiki dazu lautete: „‚Gerechtigkeitskämpfer‘ hat sich um Kopf und Kragen geredet.“
„Experten zufolge hat der Angeklagte genug für ein Strafverfahren wegen Anstiftung zu Terrorismus von sich gegeben. Der Paragraf sieht bis zu sieben Jahre Haft vor“, hieß es in dem Post weiterhin. Kuschnir habe „regelmäßig Material veröffentlicht, in dem er zum gewaltsamen Sturz der Verfassungsordnung der Russischen Föderation durch Revolution aufrief.“
In Wirklichkeit hatte Pawel einen YouTube-Kanal mit vier Videos, in denen er das herrschende Regime in Russland kritisierte. Zum Zeitpunkt der Verhaftung hatte der Kanal fünf Abonnenten.
Pawel Kuschnir ist in Tambow geboren und aufgewachsen, studierte an der Rachmaninow-Musikhochschule in Tambow und am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Nach seinem Abschluss war Kuschnir sieben Jahre lang Pianist an der Philharmonie in Kursk und drei Jahre an der Philharmonie in Kurgan. 2014 verfasste er einen dystopischen Roman mit dem Titel Russkaja Nareska (Russischer Aufschnitt). Seit 2022 war Kuschnir Pianist an der Philharmonie in Birobidschan.
Seine berühmteste Aufnahme ist ein Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, den der Musikwissenschaftler Michail Kasinik mit den folgenden Worten lobte: „Kuschnirs Interpretation der 24 Präludien – was so schon mal niemand macht, weil diese Präludien aus verschiedenen Zeiten und Werken stammen – ist kristallklar. Der Zyklus zeichnet die Entwicklung von Rachmaninows Ideen nach, die Kuschnir von allen Überlagerungen und Volkstümlichkeiten befreit hat.“
Kuschnirs Aufnahme des Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, Tambow, 2010
Olga Schkrygunowa, Pianistin, enge Freundin
„Pascha Kuschnir ist tot. Unser liebster, wundervoller Don Quichote, ein Kämpfer bis zum letzten Atemzug. Ich will daran glauben, dass der Tod nur den Besten vorbehalten ist“, schrieb Olga auf Facebook.
„Von klein auf war er für sein unglaubliches musikalisches Gehör bekannt. Für mich war er immer ein Genie, sowohl als Mensch als auch als Musiker. Ein genialer Idealist, der keine Kompromisse kannte. Ein Kämpfer für die Liebe, die Kunst und die Freiheit“, berichtet sie.
2022, noch vor seinem Umzug nach Birobidschan, habe Pawel überall in der Stadt Flyer mit Friedensaufrufen aufgehängt. Er sei schon vor seiner Verhaftung mehrmals in den Hungerstreik getreten, in der Hoffnung, dass sich auch andere dieser friedlichen Form des Protests anschließen würden. Sein längster Streik habe 100 Tage gedauert, sei jedoch von der breiten Masse unbemerkt geblieben.
Anton Wesselowski, Journalist aus Tambow, Freund
„Zuerst dachte ich, sie hätten ihn in der U-Haft ermordet. Dann hörte ich die offizielle Version mit dem Hungerstreik. Ich halte das durchaus für möglich: Pascha hatte einen starken Willen und feste Prinzipien.
Am 9. Mai 2023, noch vor seiner Verhaftung, hatte Pawel auf Facebook angekündigt, in den Hungerstreik zu treten. Er forderte das Ende des Kriegs, die Abschaffung des Regimes und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Seine Freunde in Tambow versuchten, ihn davon abzuhalten, andere hofften das Beste und dachten, er würde die Idee von alleine aufgeben.
Nach seiner Verhaftung im Mai 2024 griff er dann zu radikalen Mitteln: Zunächst hat er Nahrung verweigert, dann auch Wasser. Jetzt fragen viele, warum niemand davon gewusst hat. Unsere heutige Realität war für Pascha unerträglich, er wollte auf diese Weise ein Ultimatum setzen. Es gibt Dutzende Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, aber so radikal war in letzter Zeit niemand. Pascha hat immer vom Kampf gegen das Böse in der Welt und den Faschismus in sich selbst gesprochen.
Er war ein stiller Mensch, aber seine Taten waren laut. Er konnte zwei Monate lang verschwinden, um sich auf ein Konzert vorzubereiten, und dann ein ewig langes Stück aus dem Kopf spielen.
Paschas Statements hatten immer Strahlkraft und konnten jemanden verändern oder bekehren. Mir war immer bewusst, wie wertvoll der Kontakt mit Pascha ist, ich habe ihn oft zu diversen Veranstaltungen eingeladen. Seine Aktionen haben immer polarisiert, aber sie waren immer konzeptuell begründet, selbst wenn es sich um spontane Performances handelte. 2010 haben seine Freundin und er zum Beispiel einen Flashmob gegen die Hitze veranstaltet, bei dem sie bei 40 Grad in Winterklamotten durch die Stadt gezogen sind.
Im selben Jahr hat Pascha seine Gedichte bei einer Literaturveranstaltung auf Na’vi gelesen, der Sprache im Film Avatar, die er sich beigebracht hatte. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, um zu schreiben und zu üben. Warum er immer wieder umgezogen ist, weiß ich nicht genau. Er interessierte sich für neue Orte, ist viel gereist.
Seine Freunde traf er, wenn er nicht gerade arbeitete oder mit Auftritten durchs Land tourte. Seit Ende der 2010er Jahre hat sich Pascha kaum noch in seiner Heimatstadt blicken lassen. Zum letzten Mal habe ich ihn 2018 gesehen.“
Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73; Mendelssohn Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56
Marina Shemtschugowa, ehemalige Studentin, Konzertbesucherin
„Ich habe zusammen mit anderen Studierenden und Pädagogen häufig Pawels Konzerte besucht. Das war vor acht, neun Jahren. Damals war er Pianist an der Kursker Philharmonie und gab regelmäßig Solokonzerte oder beteiligte sich an anderen musikalischen Projekten.
Manchmal kamen Freunde von mir mit, denen die Welt der akademischen Musik ansonsten fremd ist. Heute weiß ich, was für ein Privileg und Geschenk es für uns alle war, Pawel spielen zu hören.
Ich kann mich erinnern, wie wir nach den Vorlesungen zur Musikgeschichte zum Konservatorium eilten, um Pawels Interpretationen von Chopin, Schubert, Purcell, Scarlatti und Bach zu lauschen.
Pawel war eine besondere, einprägsame Erscheinung: hager, ein wenig gebückt, in sich gekehrt.
Er spielte gerne Barock und Romantik, war ein couragierter und feinfühliger Musiker, der jedes Stück durch sich hindurchließ. Er suchte immer seinen persönlichen Zugang, auch zu berühmten Werken. Zum Beispiel unterschied sich seine Interpretation von Chopins 24 Präludien von der Tradition: Er wählte mal ein langsameres, mal ein schnelleres Tempo, fügte Pausen ein und veränderte somit die Wirkung.“
Irina Michailowna, Mutter
„Pascha ist in einer Musikerfamilie geboren: Ich bin Musikwissenschaftlerin, Paschas Vater, mein Mann, hat an einer Musikschule Kinder unterrichtet. Er ist 2020 gestorben. Pawels Großvater väterlicherseits war Gesangslehrer und Intendant des Volksbildungshauses der Oblast Tambow, wo er einen Kriegsveteranenchor leitete.
Pascha wuchs in der Welt der Musik auf und ging früh darin auf. Die Liebe zur Musik hat er mit der Muttermilch aufgesogen, könnte man sagen.
Am liebsten mochte er die Komponisten der Romantik, vor allem Schumann. Pascha spielte gerne seine Fantasie in C-Dur, die Sinfonischen Etüden und die Kinderszenen. Auch Chopin schätzte er sehr, und von den russischen Komponisten – Rachmaninow. Pascha gab manchmal Konzerte mit allen seinen 24 Präludien. Und wie er spielte! Sehr expressiv, er hatte ein tiefes Verständnis für die Musik.
Ich bin jetzt 79, am 5. Dezember werde ich 80. Paschas Tod ist ein schwerer Schlag für mich, ich weiß nicht, ob ich meinen 80. Geburtstag noch erleben werde.“
„Extremer Protest“
Vor Gericht habe Pawel Kuschnir keine Verteidigung und keinen Rechtsbeistand gehabt, erzählt die Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa. Im Nachhinein hätten die Menschenrechtler erfahren, dass Pawel ein Anwalt an die Seite gestellt worden war, der sich „überhaupt nicht um seinen Mandanten gekümmert“ habe.
„Er starb zu einem Zeitpunkt, als andere politische Häftlinge befreit wurden. Sein Fall ist nicht der erste und wird leider auch nicht der letzte sein“, beklagt sie.
Bei Weitem nicht alle könnten sich einen Anwalt leisten, erklärt die Juristin Olga Sadowskaja von Komanda protiw pytok (Team gegen Folter): Die Menschenrechtler hätten erst von Pawels Tod erfahren und nicht schon von seinem Hungerstreik, als sie ihm noch hätten helfen können.
Ihr zufolge hätten die Menschenrechtsaktivisten heute keinerlei Zugang zum System des Strafvollzugs (FSIN). Niemand bekomme Zutritt zu einer Untersuchungshaftanstalt, einer Strafkolonie oder einem Gefängnis. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass die Informationen über Pawel zu spät nach außen gelangt seien: erst, als er bereits tot war.
„Wir hätten es wissen müssen. Der Staat hätte uns unterrichten und Zugang zu ihm verschaffen müssen“, betont Sadowskaja.
Sie ist überzeugt, dass Kuschnirs Tod im direkten Zusammenhang damit steht, dass Menschenrechtlern der Zugang zu den Haftanstalten verwehrt werde. Früher hätten sich die Häftlinge an die Obschtschestwennaja nabljudatelnaja komissija (Gesellschaftliche Beobachterkommission) wenden können, deren Kontakte in den Gefängnissen und Straflagern an den Wänden gehangen hätten. Heute gebe es das alles nicht mehr, sagt sie.
„Die ONK hat früher regelmäßig Strafkolonien und Untersuchungsgefängnisse besucht, und wenn das immer noch so wäre, hätten wir früher von Pawel erfahren und dieses Problem angehen können: Wir hätten ihn überreden können, den Hungerstreik zu beenden, hätten durchsetzen können, dass er in ein richtiges Krankenhaus kommt, hätten die Medien eingeschaltet“, erklärt Sadowskaja.
Der frühere Zugang zu den Informationen hätte ihm das Leben retten können, ist sie sich sicher.
„Keiner der Menschenrechtsaktivisten hat von ihm gewusst – das lässt sich in der Datenbank von OWD-Info überprüfen, die eine der größten ist. Von diesem Hungerstreik wusste niemand außer den Mitarbeitern des Untersuchungsgefängnisses.“
Ein trockener Hungerstreik sei eine extreme, kurzzeitige Form des Protests, bei der nicht nur die Nahrung, sondern auch Wasser verweigert werde, erklärt Sadowskaja. Normalerweise sterbe man in acht bis zehn Tagen an Dehydrierung, wenn nicht schon früher an Organversagen. „Das ist ein qualvoller Tod, begleitet von geistiger Verwirrung, Wahnstörungen und Halluzinationen“, fügt sie hinzu.
Nach internationalen Standards gelte eine Zwangsernährung bei Hungerstreik aus Protest nicht als Folter, wenn sie zum Ziel habe, das Leben der betreffenden Person zu retten.
„Mir ist nicht bekannt, ob Pawels Hungerstreik eine Form des Protests war oder er wirklich sein Leben beenden wollte. Wenn es eine Protestaktion war, dann hatte die Gefängnisverwaltung ab dem Zeitpunkt, wo sein Leben in Gefahr war, die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen“, erklärt Sadowskaja.
Auch bei anderen politischen Gefangenen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass niemand die Gefängnisleitung über einen eventuellen Hungerstreik informieren würde. „Niemand hat ihren Zustand im Blick. Ich hoffe, dass Pawels Geschichte für andere Häftlinge Signalwirkung hat und sie davon abhält, ihn nachzuahmen. Das ist nicht nur lebensgefährlich, sondern bedeutet den sicheren Tod“, betont sie.
Davon, dass an Kuschnirs Tod das Personal der Haftanstalt mindestens erhebliche Mitschuld trägt, ist auch die Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Komitees Grashdanskoje sodejstwije (Zivile Zusammenarbeit) Swetlana Gannuschkina überzeugt. Für sie bedeutet Kuschnirs Tod auch den Verlust eines Mitstreiters. „Ich habe ihn nicht gekannt und zum ersten Mal von ihm gehört, als er nicht mehr lebte. Das weist darauf hin, dass Menschenrechtsverteidiger bei Weitem nicht von allen wissen, die sich gegen den Krieg aussprechen, sich für Menschenrechte einsetzen und deshalb in Russland strafrechtlich verfolgt werden. Das soll uns allen eine Lehre sein. Wir müssen lernen, nicht nur berühmten, prominenten Persönlichkeiten unsere ständige Aufmerksamkeit zu schenken“, bilanziert Gannuschkina.
Im Frühjahr 2010 trifft sich Wladimir Putin mit Kulturschaffenden in Sankt Petersburg. Einer der Anwesenden erhebt sein Glas: „Ich möchte auf unsere Kinder anstoßen. Darauf, in was für einem Land sie leben werden: in einem finsteren, bösen, korrupten, totalitären, autoritären, mit nur einer Partei, einer Hymne, einer Denkweise … Oder in einem hellen, demokratischen Land, in dem wirklich alle gleich sind vor dem Gesetz. Mehr muss es nicht sein. Leider haben wir all das noch nicht. Aber ich wünsche sehr, dass unsere Kinder in diesem Land leben und gesund werden.“ Der Redner ist Juri Schewtschuk – eine Ikone der russischen Rockmusik, der mit seiner Band DDT Geschichte geschrieben hat.
Für den Blog Inymi slowami hat Denis Bojarinow ein Porträt verfasst über den Rockstar und prominenten Kriegsgegner Schewtschuk, der seine Heimat über alles liebt und an ihr leidet.
In den engsten Kreisen des Leningrader Rock-Klubs erzählte man sich über Juri Julianowitsch Schewtschuk folgende Geschichte: Eines Nachts spazierte er mit ein paar Leuten über den Platz vor dem Winterpalast. Inspiriert startete er mehrere beharrliche Versuche, auf die Alexandersäule zu klettern, also auf ein mit den Armen nicht zu umfassendes Monument aus poliertem Granit. Er schaffte es nicht einmal auf den Sockel, brüllte aber laut über den ganzen Schlossplatz: „Ich fühle die Kraft in mir!“
Es gibt auch eine andere Geschichte. Ungefähr aus derselben Zeit, aber bereits dokumentiert. Bei einem Rock-Festival in Tschernogolowka bei Moskau im Juni 1987 trat Juri Schewtschuk mit seiner Band DDT in neuer Besetzung als Shootingstar des Undergrounds auf: Das ganze Land überspielte sich in dieser Zeit die Alben Periferija (dt. Peripherie) und Ottepel (dt. Tauwetter) auf Kassetten, und DDT galt als größte Entdeckung auf dem fünften Festival des Leningrader Rock-Klubs, das ein paar Wochen zuvor stattgefunden hatte. Frontman Schewtschuk – Bürstenschnitt, Militärhemd mit drei Oktjabrjata-Sternchen – eroberte mit seinem elektrisierten Auftritt die in Tschernogolowka versammelten Rockfans. Am Morgen mussten ihn die Festivalveranstalter aus einer Gefängniszelle befreien. Da war er hineingeraten, weil er in den frühen Morgenstunden in seinem Hotelzimmer eine klassische Rock’n’Roll-Aktion hingelegt hatte: Er warf Möbel aus dem Fenster und schrie: „Wer hat was zu trinken für den großen Sänger Juri Schewtschuk?“ Als die Polizei kam, schlief der Bandleader bereits; sie rüttelten ihn wach, und mit den Worten „Ich glaube, ich träume“ gab er dem nächststehenden Polizisten eins auf die Schnauze. So landete er im Tschernogolowker Kittchen, wo später eine Gedenktafel angebracht wurde: „Hier war vom 27. bis 28. Juni 1987 Juri Schewtschuk.“ Die ist aber heute bestimmt nicht mehr da.
Ungestüme Wildheit und eine unerklärliche Herzlichkeit
Diese beiden Geschichten illustrieren die enorme Energie, die Juri Schewtschuk und seine Songs bis heute ausstrahlen: Zu so hochgradigem Übermut und ungestümer Wildheit waren nur wenige seiner zeitgenössischen Rock-Kollegen fähig. Ganz zu schweigen von den Nachfolgern; der Maßstab von Geste und Tat war später – tja, einfach nicht mehr derselbe. Das humanistische Pathos in Schewtschuks Songs, sein treuherziges Charisma und die unerklärliche Herzlichkeit, die ihm anhaftet, milderten die rockige Hochspannung immer schon ein wenig ab. Gänzlich verschwand sie aus den DDT-Songs aber nie. Mit den Jahren wurde Juri Schewtschuk vielleicht so etwas wie ein Lew Tolstoi des russischen Rock, doch Aufstand, Chaos und göttlicher Wahnsinn leben immer noch in seinem Herzen; jeden Moment kann in seinen Augen ein kecker Funken aufglühen und seiner Brust ein wilder Schrei entfahren.
Juri Schewtschuk singt den DDT-Song Swoboda (dt. Freiheit) von 1997
Mit seinem dichten Bart, der unmodischen Frisur, der Intellektuellenbrille und dem bürgerbewussten Pathos in seinen Liedern sah Schewtschuk erwachsener aus als all die anderen Stars des Rock-Klubs. Sogar älter als Boris Grebenschtschikow, von [Rocksänger] Konstantin Kintschew oder Viktor Zoi ganz zu schweigen. Vor dem Hintergrund der Leningrader Rockszene, die stets die westlichen Trends im Blick hatte, wirkte Schewtschuk wie aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Angeblich witzelten die hippen Petersburger Rocker hinter seinem Rücken und nannten ihn etwas abfällig den „Barden aus Ufa“. Irgendwie blieb er immer mit einem Bein in den 1970er Jahren – einem Jahrzehnt, in dem in der UdSSR die Subkulturen der Barden und der Hippies verbreitet waren. Schewtschuk schaffte es, diese beiden Richtungen in einer Person zu vereinen.
Ein Hippie aus der Provinz
Seiner Abstammung nach ist Juri Schewtschuk ja wirklich ein Hippie aus der Provinz. Er singt auch oft von Hippies, Hippari, Hippany – mit besonderer Zärtlichkeit. Die sowjetischen Hippies waren Kinder aus der Mittelklasse, da war Schewtschuk keine Ausnahme; er ist ein Vertreter der „goldenen Jugend“, Sohn eines hochrangigen Parteifunktionärs im Regionalkomitee und einer Universitätsdozentin, die ihr Kind zum Künstler erzogen. „Ich bin selbst einer von denen“, gab Schewtschuk in seiner Satire Maltschiki-mashory (dt. Bonzenkinder) zu. Als Jugendlicher hing er auf dem Broadway von Ufa ab (der Lenin-Straße), hörte westliche Schallplatten, schrieb Lieder, die von Wyssozki und Okudshawa inspiriert waren, und versuchte sich als Rockmusiker. Einen ersten Konflikt mit der Polizei hatte er bereits als Schüler: Weil er ein T-Shirt mit dem selbst aufgemalten Schriftzug „Jesus war ein Hippie“ trug, wurde er auf die Wache mitgenommen.
Schewtschuk ist und bleibt ein treuer Bekenner zum Weltbild der Blumenkinder. Seine Philosophie beruht auf den Maximen All you need is love und Make love, not war. Der erste Song von DDT, aufgenommen im Studio des baschkirischen Fernsehens, war die pazifistische Hymne Ne streljai (dt. Schieß nicht). Wie Schewtschuk sich erinnert, schrieb er dieses Lied, als er von einem aus Kabul zurückkehrenden Schulkollegen erfuhr, dass die UdSSR ihre Soldaten nach Afghanistan in den Krieg schickte und nicht, damit sie dort Kindergärten bauen, wie die Propaganda behauptete. Predigten vom Widerstand gegen das Böse mit Liebe und Güte sind in jedem DDT-Album zu hören, angefangen von Periferija aus dem Jahr 1984, mit dem Schewtschuk sich in Ufa Probleme mit dem KGB einhandelte.
Am 10. April 2022 spielt DDT Ne streljai (dt. Schieß nicht) im russischen Woronesh
Die ersten, die den DDT-Sänger nach seinem erzwungenen Umzug von Ufa nach Leningrad schätzten und willkommen hießen, waren alteingesessene Hippies rund um Gena Saizew – dem ersten Vorsitzenden des Leningrader Rock-Klubs. Er vermutete in dem bärtigen Landei einen Nachfolger für Shora Ordanowski mit seiner Band Rossijane, der Anfang der 1980er Jahre der Star der Leningrader Hippieszene war. Gena führte Schewtschuk in die Bohème ein, machte ihn in der Puschkinskaja 10 bekannt und half ihm, in Leningrad neue Mitglieder für seine Band DDT zu finden, deren Manager er dann wurde. In Alexej Utschitels Dokumentarfilm Rok (dt. Rock), der die zukünftigen Idole kurz vor dem richtigen Durchbruch verewigte, sehen Schewtschuk und seine Clique wie eine happy Hippie-Kommune aus: Sie spazieren mit Frauen und Kindern durch die Natur, lachen von Bäumen herunter, machen Lagerfeuer und grölen Zigeunerlieder zu Gitarre und Geige. Häuptling dieses Camps ist Jurka Schewtschuk, noch mit langer Mähne wie der König der Löwen.
Er erzählt, wie wichtig ihm die Anerkennung seines Vaters war, der mit siebzehn Jahren als Soldat an die Front musste. Er hatte das, was sein Sohn tat, lange nicht verstanden und nicht akzeptiert, doch dann war er auf einem der ersten Konzerte von DDT in Leningrad, befragte das Publikum streng nach seiner Meinung und war mit den Reaktionen zufrieden. „Na, Papa, wie hat’s dir gefallen?“, fragte Schewtschuk ihn. „Wie auf dem Panzer nach Berlin!“, war die stolze Antwort des Vaters.
Ljubow (dt. Liebe) war der erste Song nach Schewtschuks Rückkehr aus dem kriegszerstörten Tschetschenien 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen
Im Herzen ein Hippie und bekennender Anarchist und Pazifist, kennt Juri Schewtschuk den Krieg nicht nur aus Erzählungen. Im Winter 1995 zog er mit seiner Gitarre los nach Grosny, das die russische Armee gestürmt hatte. Er sang für die Soldaten, machte sich als Pfleger nützlich und beteiligte sich am Austausch von Kriegsgefangenen. Als 1996 das Waffenstillstandsabkommen von Chassawjurt geschlossen wurde, gab DDT in Tschetschenien drei Konzerte: Im Stadion von Grosny für die Stadtbewohner und auf russischen Militärstützpunkten. Diese Touren machten auf Schewtschuk großen Eindruck. In Tschetschenien schrieb er seine eindringlichsten Songs – Mertwy gorod. Roshdestwo (dt. Tote Stadt. Weihnachten) und Pazany, und er trug ein posttraumatisches Belastungssyndrom davon. Doch seinem Glauben an die heilende Kraft der Liebe blieb er treu – das erste Lied nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hieß Ljubow (dt. Liebe). Das gleichnamige Album erschien im selben Jahr, 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen.
„Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“
Liebe ist in Schewtschuks poetischer Welt mehr als eine philosophische Kategorie. Oft tritt sie als personifiziertes Wesen auf, meist als göttliche Natur. Oder als Mensch, dann trägt sie einen Frauennamen (Galja, Antonina, Jekaterina, Marina, Nacht-Ljudmila). Es kann auch ein reales Vorbild geben, wie im Fall von Aktrissa Wesna (dt. Schauspielerin Frühling), das Schewtschuk seiner ersten Frau Elmira widmete, die auf tragische Weise ganz jung an Krebs gestorben ist. Schewtschuks Glaube an die Kraft der Liebe, die auch das Ende aller Zeiten überleben wird, kommt in seinen Texten nicht nur in platonischer Form, sondern auch in sinnlichen Bildern zum Ausdruck, was für die sowjetische Rock-Tradition völlig untypisch ist, die von der westlichen Formel „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ abweicht. So ausgiebig wie er sang da wohl keiner über die irdische Liebe.
Sein lyrisches Ich hatte niemals Potenzprobleme – in seiner Jugend faszinierte ihn der Körper („Ich falle von den Gipfeln deiner Brust. Ich irre durch die Taiga deines Haars“) genauso wie die Augen („Arterhaltung fordern diese Teufelsaugen!“). Sein Bett blieb nicht kalt: Schewtschuk sprach poetisch von einem „Hochofen zwischen den Beinen“, und dessen Hitze loderte in seinen Liedern. Bei den unschuldigsten Themen schwang der Eros mit, auch wenn es scheinbar um naturphilosophische Betrachtungen ging – wie etwa in dem Dauerhit Weter (dt. Wind): „O, schöne Weite, die den Himmel verschluckt / Wolken, die sich wie an die Geliebte an die Erde schmiegen / Wo du und ich unter einem einfachen Dach / aneinander Wärme suchen.“ Mit den Jahren denkt dieses Ich zwar mehr und mehr an das Ende des Lebens, doch seine Vitalität lässt trotzdem von sich hören: Im Album Twortschestwo w pustote – 2 (dt. Kreativität in der Leere – 2) aus dem Jahr 2023 heißt es: „… und die Alte mit der Sense will Sex mit mir“.
Weter (dt. Wind) aus dem Jahr 1995 zählt zu den Dauerhits von DDT
„Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“, sagt der DDT-Leader gern mit einem Augenzwinkern, wobei das nicht nur ein Witz ist. Seine Heimat hat Schewtschuk sogar noch lieber als die Frauen. Sie ist die Heldin seiner feurigsten Romanzen und Grund für bittere Beobachtungen voller Enttäuschungen. Wie wir aus seinem berühmten Song wissen, der jetzt am Ende von Konzerten im Ausland immer auf besondere Weise erklingt, ist die Heimat grad „ein Dornröschen, das Arschlöchern vertraut“, und davon kommt alles Übel.
„Heimat – das ist nicht der Arsch des Präsidenten“
Schewtschuks Gedanken über sein Land sind der Grund dafür, warum die russische Kultband mit hunderttausenden Fans heute nur mehr außerhalb der Russischen Föderation auftreten darf. Während eines Konzerts in Ufa im Mai 2022 teilte Juri Schewtschuk, der sich wenig überraschend gegen den Krieg positioniert, dem Publikum mit, was er vom aktuellen Geschehen hält. Im Internet verbreitete sich daraufhin ein Video, in dem Schewtschuk zum applaudierenden Publikum sagt: „Heimat, liebe Freunde, das ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss. Heimat, das ist das arme Großmütterchen am Bahnhof, das Kartoffeln verkauft. Das ist Heimat.“ Das sagte er auch früher schon – etwa ein paar Tage zuvor beim Konzert in Jekaterinburg, doch die Polizei holte ihn erst in seiner Heimatstadt Ufa. Sofort nach dem Auftritt, als er vor dem Beifall klatschenden und skandierenden Publikum die Bühne Richtung Backstage verließ, sperrten ihm die Ordnungshüter den Weg ab. Am 16. August 2022 verhängte ein Bezirksgericht in Ufa gegen Schewtschuk eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel [530 Euro]. Der Einspruch, den er dagegen erhob, wurde abgewiesen. Das Konzert in Ufa wurde somit das Letzte, das die Band in Russland gab.
Schewtschuk beschreibt im Interview mit Katerina Gordejewa, wie 2022 bei einem Konzert in Ufa Ordnungshüter in den Backstage-Bereich kamen, nachdem er sich auf der Bühne kritisch geäußert hatte
In ihrem 40-jährigen Bestehen war es nicht das erste Mal, dass DDT auf einer schwarzen Liste stand. Schewtschuk hatte seit 2010 immer wieder bei Protestaktionen gesungen, weswegen des Öfteren DDT-Konzerte gecancelt wurden. Doch dieses Verbot tat ihm weh. Im Interview mit Katerina Gordejewa kommentierte er die aktuelle Situation so: „Russland würde DDT momentan mehr denn je auf seinen Bühnen brauchen. Wir sind eine extrem soziale Band. Wir haben viele Songs und Betrachtungen – über Heimat, Vergangenheit, Zukunft … Wir müssen in Russland spielen. Im Westen gibt es genug Friedensstifter, hier fehlen sie. Dass sie uns die Konzerte abgedreht haben, das ist ein schwerer Schlag. Weil sie uns unsere wichtige und notwendige Arbeit genommen haben. Da geht es gar nicht um Geld. Wir können unsere Pflicht gegenüber Russland nicht mehr erfüllen: unsere Gedanken formulieren, unsere Wärme mit den Menschen teilen.“
2023 hatte Juri Schewtschuk einen Herzinfarkt, im Januar 2024 ging er aber schon wieder auf Tournee – im Ausland: Bulgarien, Serbien, Türkei und Emirate. Generell verlassen hat er Russland aber nicht; er lebt nach wie vor als Einsiedler in einem Dorf bei Sankt Petersburg.
Unmissverständliche Anti-Kriegs-Botschaften
Man kann Juri Schewtschuk zwar verbieten, in seiner Heimat aufzutreten, aber nicht, über sie zu singen. Im Juli 2023 kam sein neues Album Wolki w tire (dt. Wölfe im Schießstand) heraus. Er nahm es nicht mit DDT auf, sondern mit dem jungen Gitarristen und Producer Dimitri Jemeljanow, der in den letzten Jahren immer mit Zemfira zusammenarbeitete. Schewtschuks Begründung war, dass er ein wenig experimentieren und einen „analogen Tube Sound im Stil der 1970er Jahre“ erzielen wollte. „Uns verbindet die Liebe zur Blütezeit der echten Rockmusik“, sagte er. Die Anti-Kriegs-Botschaft von Wolki w tire ist auffällig und unmissverständlich wie ein Plakat: Schon als Kunststudent hatte Schewtschuk ein Händchen für einprägsame Agitation, er kann Dinge auf den Punkt bringen. Das Album, das lauter Lieder enthält, die nach der Invasion in der Ukraine entstanden, wird von dem Appell eröffnet: „Heimat, kehr zurück nach Hause.“ „Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk im Refrain.
„Heimat, kehr zurück nach Hause“ heißt es in dem aktuellen Song von Juri Schewtschuk und Dimitri Jemeljanow
Darauf folgen bissige Botschaften an den Präsidenten: Tanzy (dt. Tänze) mit dem Refrain „Solang er nicht verreckt ist, der Onkel im Betonsack“ und die tintenschwarzen Lieder Nadeshda (dt. Hoffnung) und Dron (dt. Drohne). Am Schluss kommt ein ritueller Reigentanz anlässlich einer imaginierten Bestattung des Krieges, in dem Schewtschuk sich selbst oder jene anspricht, die auf seine Worte hören: „Sing ein schönes Lied, Alter, sing von der Liebe – dann kommt es auch so.“ Und er demonstriert selbst, wie man das tun kann und soll: Das Album Wolki w tire enthält mit Tschaikowski und Potop (dt. Flut) wahrscheinlich die erhabensten Liebeslieder, die er in den letzten Jahren verfasst hat. Der Hippie vom Land, Barde aus Ufa, Jura mit der Gitarre, der irre Klassiker des russischen Rock glaubt immer noch an die messianische Idee des Rock’n’Roll und versucht wieder und wieder, seine unerschöpfliche Heimat mit Salven von Liebe und Güte zu wärmen. Und auch wenn das ein aussichtsloses Unterfangen zu sein scheint – Hauptsache, er fühlt die Kraft in sich.
Aus einer Zeit, in der die Band noch in Russland auftreten konnte: DDT spielt 2017 in Moskau den zeitlosen Klassiker Eto wsjo (dt. Das ist alles)
Seit Wladimir Putin im Februar 2022 den Befehl zum Überfall auf die Ukraine gegeben hat, beschäftigt Beobachter im In- und Ausland eine Frage: Wie stehen die Menschen in Russland zu diesem Krieg? Umfragen haben in einer Diktatur nur begrenzte Aussagekraft. Nur sehr wenige sind überhaupt bereit, daran teilzunehmen. Und wenn für Kritik am Krieg hohe Strafen drohen, trauen sich viele Befragte nicht, ihre Ansichten frei zu äußern.
Eine Gruppe engagierter Sozialforscherinnen und Sozialforscher aus Russland hat sich bereits 2011 zum Public Sociology Laboratory (PS Lab) zusammengeschlossen. Weil Umfragen nur unbefriedigende Antworten zur Haltung der Russen zum Krieg geben konnten, versuchten sie einen anderen Ansatz: Die Methode der teilnehmenden Beobachtung geht auf den polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Monate auf den Trobriand-Inseln in der Südsee verbrachte, am Leben der Bewohner teilnahm und deren Gesellschaft in seinem Buch Argonauten des westlichen Pazifik beschrieb. Das Werk wurde zu einem Klassiker der Sozialanthropologie. Andere Forschende entwickelten die Methode der teilnehmenden Beobachtung weiter und wandten sie auch auf die eigenen Gesellschaften an.
Im Sommer 2023 verbrachten Forscherinnen des PS Lab jeweils einen Monat in einer russischen Kleinstadt und führten ein wissenschaftliches Tagebuch über ihre Beobachtungen. Das Portal Re:Russia veröffentlicht die Beobachtungen aus einem Ort in der Oblast Swerdlowsk. In ihrem Feldtagebuch stellt die Beobachterin nüchtern fest: Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um überhaupt zu merken, dass das Land sich im Krieg befindet.
PARALLELES TSCHERJOMUSCHKIN. Gegenwart UND Abwesenheit DES KRIEGES IN EINER RUSSISCHEN PROVINZSTADT
Über diesen Text
Zu Beginn des Krieges war die wichtigste Frage für Experten, Politiker und Russen generell die nach den Merkmalen der Unterstützung für den Krieg: Wer unterstützt den Krieg, warum, und welchen Anteil machen diese Menschen an der Gesamtbevölkerung aus? Zwei Jahre später sind viele Bewohner Russlands unmittelbar vom Krieg betroffen. Weil sie an die Front müssen, Angehörige verlieren oder in grenznahen Gebieten Opfer von Beschuss werden. Derweil gewöhnen sich die Gesellschaft und die Wirtschaft an die Kriegswirklichkeit und passen sich an. Für Experten, Analytiker und das interessierte Publikum stellt sich damit eine neue Frage: Nehmen die Bewohner Russlands die Auswirkungen des Krieges auf ihr alltägliches Leben überhaupt wahr? Passen sie sich an das Geschehen an, und wenn ja, wie? Worüber freuen sie sich, womit sind sie unzufrieden?
Umfragen und formalisierte Interviews allein sind nicht geeignet, die Frage zu beantworten, wie die Russen in dieser neuen Realität leben, von der der Krieg ein untrennbarer Teil ist. Dazu ist ein besonderer Forschungsansatz vonnöten, nämlich eine systematische teilnehmende Beobachtung. Wir wissen, dass Menschen brisante Themen untereinander ganz anders besprechen, als sie es Soziologen, also Fremden gegenüber tun würden. Trotz der vielen Risiken, die heute in Russland mit einem solchen Ansatz verbunden sind, war das Team von PS Lab mit seinem Projekt erfolgreich: Im Herbst 2023 fuhren die Mitglieder des Teams in drei russische Regionen – in die Swerdlowsker Oblast, in die Republik Burjatien und in die Region Krasnodar – und verbrachten dort jeweils einen Monat.
Während ihrer ethnografischen Studien nahmen unsere Forscherinnen neben den Tiefeninterviews auch den öffentlichen Raum in den Städten in den Blick, und notierten, wie der Krieg sich dort niederschlägt. Sie besuchten öffentliche Veranstaltungen zum Krieg und zu patriotischen Themen, sprachen mit Taxifahrern, Verkäufern, Barmännern und mit Mitarbeiterinnen von Nagelstudios. Dabei fragten sie unschuldig, wie sich die „militärische Spezialoperation“ (russ. SWO) auf das Leben in der Stadt auswirke. Unmittelbar nach diesen Gesprächen hielten sie deren Inhalt sowie ihre Beobachtungen in ethnografischen Tagebüchern fest. Dadurch konnten neben den 75 Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern dieser drei Regionen 698 Seiten (rund 330.000 Wörter) detaillierter Beobachtungen zum Alltag in Kriegszeiten und aus Gesprächen über den Krieg festgehalten werden, die in einer Atmosphäre stattfanden, die nicht durch eine Interview-Situation verfälscht wurde.
In diesem Beitrag veröffentlichen wir eine Analyse der Daten, die auf einer dieser Reisen erhoben wurden. Die Stadt Tscherjomuschkin, von der die Rede sein wird, sucht man auf der Karte der Swerdlowsker Oblast vergebens. Der Name ist erfunden, doch die Stadt, die sich dahinter verbirgt, ist real. Auch alle anderen Namen in diesem Text wurden geändert.
Irgendwo im Ural: Eine Stadtlandschaft zu Kriegszeiten
Die Swerdlowsker Oblast gehört zu den zehn industriell am stärksten entwickelten Regionen Russlands. Jekaterinburg ist die viertgrößte Stadt des Landes, die Oblast ist mit 4,2 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Region Russlands, wobei 86 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Den Daten der Statistikbehörde Rosstat zufolge betrug 2023 das mittlere Einkommen 53.300 Rubel [derzeit knapp 560 Euro], es liegt damit leicht über dem russischen Durchschnitt von 51.300 Rubel [535 Euro]. Der Anstieg des Realeinkommens betrug gegenüber dem Vorjahr 6,5 Prozent und war damit höher als in ganz Russland (5,6 Prozent).
Einer Recherche von Washnyje istorii und dem Conflict Intelligence Team zufolge liegt der Anteil der Männer, die in die Armee einberufen wurden, in der Swerdlowsker Oblast mit rund 10.000 Personen etwa im russischen Durchschnitt. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben 12.500 Einwohner der Oblast 2023 einen Vertrag über einen Einsatz im Krieg gegen die Ukraine abgeschlossen; bis April 2024 waren es weitere 2500. Wer einen solchen Vertrag unterschrieb, bekam von der Oblastverwaltung einmalig 100.000 Rubel [etwas mehr als 1000 Euro] ausbezahlt. Ab Juni 2024 wurde diese Summe auf 400.000 Rubel [knapp 4200 Euro] erhöht, wie regionale Medien berichteten.
Die Zahl der bestätigten Toten durch den Krieg liegt (nach Angaben eines Projektes von BBC und Mediazona) bei 1820. Damit rangiert die Region in Russland ganz oben, was zum Teil auf ihre hohe Bevölkerungszahl zurückzuführen ist (2,9 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung). Auf die Region entfallen 3,4 Prozent aller bestätigten Toten.
Auf dem Gebiet der heutigen Swerdlowsker Oblast befanden sich bereits Anfang des 18. Jahrhunderts die wichtigsten Bergbauunternehmen Russlands. Rund um diese Industrieunternehmen entwickelten sich Siedlungen und in weiterer Folge Städte. In einigen Industriestädten der Uralregion hat der Krieg beträchtliche Auswirkungen auf die Wirtschaft: Produktionsstätten, die sich in den vergangenen Jahren im Niedergang befanden, sind nun auf Kriegswirtschaft umgestellt worden. Die Nachfrage schnellte in die Höhe, die Löhne stiegen, was Fachkräfte aus ganz Russland anlockte.
In Tscherjomuschkin, wo wir die Studie durchführten, ist all das jedoch ausgeblieben. Das stadtbildende Unternehmen ist bereits in den 1990er Jahren geschlossen worden. Tscherjomuschkin hat rund 12.000 Einwohner. Ein beträchtlicher Teil ist im öffentlichen Dienst angestellt und bekommt bescheidene Gehälter. Als vergleichsweise einträglich gilt eine Beschäftigung in der Zellulosefabrik. Nach Kriegsbeginn und Verhängung der Sanktionen brachen jedoch nach Aussagen unserer Gesprächspartner die Geschäfte in diesem Bereich ein, weil vorwiegend für den Export produziert worden war. Eine Fahrstunde von Tscherjomuschkin entfernt liegt eine recht große Strafkolonie. Einige Einwohner der Stadt arbeiten entweder selbst dort oder kennen Mitarbeiter oder Häftlinge persönlich. Sie wissen, was sich in der „Zone“ tut. Nachrichten über die Anwerbung von Häftlingen sind für viele Bewohner der Stadt nichts Besonderes.
Laut Aussage der Einwohner ist Tscherjomuschkin nach regionalen Maßstäben ziemlich arm. In vielen Häusern gibt es keine zentralisierte Versorgung mit Wasser und Gas. Das Verlegen einer Wasserleitung kostet rund 100.000 Rubel [etwa 1000 Euro], was für viele unerschwinglich ist. Unsere Feldforscherin, die rund einen Monat in der Stadt verbrachte, hatte den Eindruck, dass Tscherjomuschkin der Gebäudestruktur, den Alltagsbedingungen und der sozialen Organisation nach stellenweise an ein großes Dorf erinnert.
In der Stadt gibt es das klassische Repertoire von Orten und Einrichtungen, die in fast jeder russischen Stadt dieser Größe zu finden sind: einen zentralen Platz, ein Haus der Kultur, ein Museum, eine Kirche, einige Verwaltungsgebäude, Schulen und Kindergärten. In Tscherjomuschkin gibt es mehrere Cafés, Lebensmittel- und Haushaltswarengeschäfte, Apotheken und Schönheitssalons. Trotz ihrer geringen Größe kann man nicht sagen, dass die Stadt von der Welt abgeschnitten wäre: Es kommen recht oft Touristen hierher, die im Ural umherreisen.
Stellt man sich jemanden vor, der in Tscherjomuschkin am 23. Februar 2022 einschläft und im Herbst 2023 aufwacht, würde dieser schwerlich merken, dass seit über anderthalb Jahren Krieg herrscht. Unsere Feldforscherin hat in den Wochen, die sie kreuz und quer durch die Stadt lief, nur selten Symbole entdeckt, die auf den militärischen Konflikt hinweisen: zwei, drei Autos mit Z-Aufklebern und patriotischen Parolen, zwei verblichene Flaggen an der Fassade des Hotels (eine mit einem Z, eine in den Farben des Georgsbandes), die aber kaum zu sehen sind. In der Stadt waren keine Werbetafeln für einen Dienst als Vertragssoldat und keine einschlägigen Symbole an den Türen staatlicher Einrichtungen zu sehen.
Nach Aussage der Unternehmerin Tonja, die mit den Ereignissen in ihrer Stadt gut vertraut ist, sind in Tscherjomuschkin sichtbare Hinweise auf den Krieg im Laufe des letzten Jahres fast vollkommen verschwunden. Die Leute haben die Aufkleber von ihren Autos entfernt. Verabschiedungen von Soldaten, die an die Front fuhren, Begräbnisse und Trauerfeiern für Gefallene, die früher Aufmerksamkeit erregten, ziehen kein unbeteiligtes Publikum mehr an. Die Leute in der Stadt unterhalten sich seltener über den Krieg.
In Tscherjomuschkin gibt es praktisch keinen öffentlichen Raum. Das Café Ulybka (dt. Lächeln) ist wohl der einzige Ort dieser Art. Unsere Feldforscherin besuchte es täglich, um dort zu Mittag zu essen, am Notebook zu arbeiten oder sich mit Informanten zu treffen. Sie versuchte zwar nach Kräften mitzuhören, worüber an den Nachbartischen gesprochen wurde, bekam jedoch nur einmal Gespräche über den Krieg mit. Eine Gruppe von acht, neun festlich gekleideten Männern und Frauen hatte sich dort tagsüber getroffen, etwa 50 bis 55 Jahre alt. Wie sich später herausstellte, handelte es sich wohl um ein Klassentreffen.
Als die Musik mal leiser wird, kann ich einen Trinkspruch verstehen: „Also – auf den Sieg!“, sagt eine der Frauen. Die anderen stimmen ein: „Auf den Sieg!“, „Auf den Sieg!“ Das Klirren der Gläser verklingt, eine andere Frauenstimme ist zu hören: „Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“ Die Frage geht an einen großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit tiefer Stimme. Von seiner Antwort verstehe ich nur einzelne Worte: „Polen“, „Faschisten“, „NATO“. Nach dem Monolog erfolgt die Reaktion der Frau: „Ah, das heißt also, dass es noch lange dauern wird …“ Eine andere Frau schaltet sich in das Gespräch ein: „Als ich jung war, dachte ich immer: Wie schade, dass ich nicht während des Zweiten Weltkriegs gelebt habe – wie gern hätte ich eine Heldentat vollbracht! Jetzt denke ich: Was war ich doch für eine Idiotin! Jetzt weiß ich, dass ich das sicher nicht könnte.“ Wieder ist die Antwort des Mannes nicht zu verstehen. Nur, dass es jetzt um Prigoshin geht. Etwa zehn Minuten nach dem Toast „auf den Sieg“ wechselt das Gespräch zu Alltagsthemen; über Politik und den Krieg wird nicht mehr gesprochen. Ethnografisches Notizbuch, August 2023
Es ist nur schwer abzuschätzen, inwieweit der beschriebene Fall exemplarisch ist. Möglicherweise wurde das Thema nur deshalb aufgegriffen und von einer ritualisierten Oberflächlichkeit auf eine konkretere Ebene verschoben („Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“), weil am Tisch ein „Experte“ saß. Später stellte sich heraus, dass der Mann ein pensionierter Mitarbeiter des FSB war. Bezeichnend ist, dass das Thema Krieg mit Leichtigkeit aufgegriffen wurde und bei den Anwesenden zu keiner Anspannung führte. Genauso leicht wurde es aber auch fallengelassen, da es kein besonderes Interesse hervorrief und im Alltagsgeplauder versank.
Während es praktisch keinen öffentlichen Raum in der Stadt gibt, wird die Seite eines lokalen Mediums auf Social Media rege zum Austausch genutzt. Wie Informanten berichten, haben sich die Menschen dort in der ersten Zeit nach Kriegsbeginn geäußert und über den Krieg diskutiert. Mit der Zeit allerdings wurden „unliebsame“ Kommentare und Posts (mitunter zusammen mit den Verfassern) schnell aus den Chats entfernt, wohl von einer Beamtin mit Administratoren-Status.
Alewtina Nikiforowna, eine Rentnerin, die sich mit Putzen und als Haushaltshilfe ihr Einkommen aufbessert und zu unserer Feldforscherin Vertrauen fasste, erklärte, dass auf kritische Kommentare zum Krieg „losgegangen“ wurde. Die Verfasser wurden mit den üblichen Beleidigungen überschüttet (Ukrop). Außerdem erhielt ein Einwohner von Tscherjomuschkin eine nach örtlichen Maßstäben empfindliche Geldstrafe, weil er ein Video mit Anti-Kriegs-Botschaften geteilt hatte. Diese Nachricht sprach sich herum (die Soziologin hörte von mehreren Seiten davon), woraufhin die Bewohner der Stadt keine Kommentare oder Reaktionen auf Nachrichten mehr in den sozialen Netzwerken hinterließen.
Andacht, Festzelt, Konzert. Öffentliche Veranstaltungen und institutionelle Unterstützung des Krieges
In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn und später, nach Verkündung der Mobilmachung im Herbst 2022, wurden in Tscherjomuschkin „patriotische“ und „Freiwilligen“-Veranstaltungen abgehalten, die der Heroisierung der „militärischen Spezialoperation“ (russ. SWO) und der Hilfe für die Front dienen sollten. Frisch eingezogene Soldaten wurden feierlich verabschiedet, für Bewohner der Stadt, die im Krieg gefallen waren, wurden öffentliche Beisetzungsfeiern abgehalten, das örtliche Museum veranstaltete Sammlungen, gemeinsam wurden Tarnnetze geknüpft und so weiter. Nach Aussagen von Informanten hat die Intensität dieser Veranstaltungen im Laufe des Jahres nachgelassen. Während unsere Feldforscherin in der Stadt war, konnten sich ihre Gesprächspartner an kein öffentliches Event aus den vergangenen Monaten erinnern, das mit dem Krieg zusammenhing.
In Tscherjomuschkin gibt es keine Organisationen, die mit dem Krieg zu tun haben und permanent aktiv sind – weder Freiwilligenverbände, noch Zentren zur patriotischen Erziehung oder Spendensammelstellen für die Front. Gesellschaftliches Engagement kann sich nur auf der Basis bestehender Plattformen entfalten – des Kulturhauses, des Heimatkundemuseums, der Bibliothek, der Kirche, der Schule. Meist steht und fällt es mit dem Engagement Einzelner. So wurde der Soziologin zum Beispiel von einer Sammlung von Hilfsgütern für die Front berichtet, die der Museumsdirektor Pjotr Iwanowitsch organisiert habe. Als die Feldforscherin dort vorbeischaute, war von einer Sammlung nichts mehr zu sehen. Und im Interview erwähnte der Direktor die Sammlung mit keinem Wort.
Von Ljubow Wassiljewna, einer Rentnerin, die in der Stadt häufig Veranstaltungen besucht, erfuhr unsere Feldforscherin, dass zu Beginn des Krieges das städtische Amt für Kultur- und Jugendpolitik halb freiwillige, halb erzwungene Spenden für die Front gesammelt habe: „Die von der ‚Kultur‘ sagten […]: Gebt so viel, wie ihr könnt“. Sie sprach über diese Initiative ohne Begeisterung und wie über etwas, das nicht mehr aktuell ist.
Angesichts des allgemein gesunkenen Interesses am Krieg stach ein Bewohner der Stadt deutlich hervor, nämlich der Priester der örtlichen Kirche, Vater Konstantin. Er war vor kurzem an der Front gewesen, wo er Totenmessen abhielt und Soldaten segnete. In Tscherjomuschkin organisiert Vater Konstantin regelmäßig sogenannte Kriegerandachten. Entgegen den Erwartungen, ein Priester würde religiös argumentieren, sprach er gegenüber unserer Soziologin in weltlichen Worten und verwendete Klischees, die man aus dem Fernsehen kennt. So sprach er ernsthaft von den Gefahren durch „ausländische Agenten“ und „Vaterlandsverräter“. Auch die Priester zweier anderer Kirchen in benachbarten Dörfern ignorierten entweder alle Versuche, das Gespräch in eine religiös-dogmatische Richtung zu lenken, oder sie stemmten sich aktiv dagegen.
Der Priester machte auf die Feldforscherin den Eindruck eines ideologisch überzeugten Verfechters des Krieges. Zumindest scheint sein öffentliches Engagement – die Andachten und die Reisen an die Front – einer persönlichen Begeisterung zu entspringen. Die Feldforscherin konnte zwei Andachten beiwohnen, die Vater Konstantin organisierte. Bei der ersten waren höchstens 15 Personen anwesend. Nach dem Gottesdienst erzählte der Priester kurz, wie er einen Monat an der Front verbrachte und Soldaten für den Kampf segnete. Er fügte hinzu, dass die sich alle „wacker halten und die Heimat verteidigen“, und dass sie „Gebete brauchen, Gott brauchen“.
Bei der zweiten Andacht waren es doppelt so viele Besucher. Zur üblichen Gemeinde hatten sich Frauen gesellt, die nach Aussage von Darja, einer Pädagogin und aktiven Kirchgängerin, Angehörige gefallener Soldaten waren. Der Soziologin fiel auf, dass die Anwesenden Listen mit den Namen derjenigen in Händen hielten, für deren Heil gebetet werden sollte (allesamt Männer). Eine Liste trug die Überschrift: „Zivile Bewohner des Donbass“. Die einstündige Andacht endete mit einer Predigt von Vater Konstantin, in der er dazu aufrief „nicht nachzulassen“, „nicht nur an der Front zusammenzuhalten, sondern auch hier, in der Kirche“ und „möglichst viel zu beten, damit unsere Angehörigen lebend und gesund zurückkehren“. Schließlich sei der Sieg in der „heiligen militärischen Spezialoperation“ „mit uns“. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Dadurch erzeugt Vater Konstantin zum einen in seinem Umfeld einen ideologisch aufgeladenen Raum. Andererseits zieht dieser Raum anscheinend nur einen begrenzten Kreis von immer denselben Leuten an. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Tscherjomuschkin nicht vom übrigen Russland, da insgesamt nur etwa neun Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen.
Vom ersten Tag an verfolgte die Feldforscherin die städtischen Bekanntmachungen und studierte eingehend Informationstafeln und Plakate. Sie erwartete, in Tscherjomuschkin die Früchte der massiven institutionellen Unterstützung für den Krieg zu finden. Als Erstes fand sie eine Ankündigung für den Film Swidetel (dt. Der Zeuge) im Kino des Kulturhauses. Es handelt sich hierbei um einen propagandistischen Film, der eine „alternative“ Sicht auf die Ereignisse in Butscha vermitteln und die Version in Zweifel ziehen soll, dass die Kriegsverbrechen dort von Soldaten der russischen Armee begangen wurden.
In der Erwartung, etwas ethnografisch Wertvolles beobachten zu können, verlasse ich das Ulybka und gehe in Richtung Kulturhaus, das nicht weit entfernt steht. Es ist 17:55 Uhr, aber der Saal des Kulturhauses ist absolut leer. Ich frage die gelangweilte Kassiererin und erfahre, dass ich die Erste bin, die zur Vorstellung gekommen ist. Noch wurde keine einzige Karte verkauft. Ich setze mich auf die Bank gegenüber dem Eingang, aber die nächsten 15 Minuten kommt niemand. Ich frage bei der Kassiererin nach, ob das oft vorkommt. Sie meint: „Nicht oft, kommt aber vor.“Ethnografisches Notizbuch, August 2023
Bemerkenswert ist, dass auch eine weitere Filmvorführung (ein vom Kulturhaus angekündigter und organisierter Filmabend im Zelt auf dem Platz) auf ähnliche Weise nicht zustande kam. Die Soziologin wollte hingehen, weil ein propagandistischer Film auf dem Programm stand. Als sie jedoch auf den Platz kam, waren dort weder ein Zelt noch sonstige Anzeichen öffentlichen Lebens zu entdecken.
Die größten Erwartungen der Soziologin galten dem Konzert zum Saisonauftakt im Kulturhaus mit dem Titel Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich. Das Plakat für das „Benefizkonzert zur Unterstützung der Teilnehmer an der militärischen Spezialoperation“ war zwei Wochen zuvor ans schwarze Brett gehängt worden.
In der Halle des Kulturhauses hängt gegenüber dem Eingang das Rohmaterial für ein Tarnnetz. Daneben versucht eine Frau in einer Art Tracht herauszufinden, wie das Knüpfen geht. Eine Gruppe Kinder, vielleicht 12 Jahre alt, sitzt auf den Sofas und spielt auf Tablets. Rechts vom Tarnnetz eine Schautafel mit Fotos von Uniformierten mit der Bildunterschrift ‚Vaterlandsverteidiger‘. Die meisten Fotos zeugen von patriotischen Aktionen: Schüler schreiben Briefe an Soldaten, Frauen knüpfen Netze und stopfen Socken, Männer in Tarnkleidung verladen Kisten mit Hilfsgütern in Autos. Auf einem der Fotos entdecke ich Vater Konstantin, der mit einem Dosenlicht posiert. Auf der anderen Seite eine Installation und eine Fotostrecke à la ‚russisches Bauernhaus‘ mit Samowar und Trachtenhemden. Eine Frau sitzt in einem roten Kleid und einem Kokoschnik vor einem Haufen Birkenreisig für die Sauna (anscheinend ein Workshop für das Binden von Birkenreisig).
Im Saal die erste Nummer: Rund ein Dutzend Leute auf der Bühne, alle mit Mikrofon. Darunter der Leiter des Ensembles des Kulturhauses, eine Mitarbeiterin der Bibliothek und ein Schauspieler des örtlichen Theaters. Eine Komposition in Dur:
Wir wünschen dir Liebe Wir wünschen dir Reichtum … Du bekommst deinen Stern, und genießt den ersehnten Sieg. Du bekommst deinen Stern, und genießt den ersehnten Sieeeeehieeg. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Später stellte sich heraus: Das Lied heißt eigentlich Zum Geburtstag!, der Wunsch wird in der ersten Person Einzahl gesungen. Die Komposition wurde wohl wegen des Wortes „Sieg“, das in der letzten Zeile des Refrains langgezogen wird, als Eröffnungsnummer gewählt. Im Originaltext geht es übrigens nicht um einen Sieg auf dem Schlachtfeld, sondern um eine abstrakte individuelle Leistung des Geburtstagskindes. Das Bild, das auf der Bühne erzeugt wurde, erinnerte in keiner Weise an den Krieg oder andere aktuelle gesellschaftliche oder politische Ereignisse. Alle weiteren Stücke waren für Kulturhäuser in Russland typisch und wurden kaum an das Veranstaltungsthema angepasst.
Die Moderatorin betritt die Bühne und verkündet feierlich: „Heute eröffnen wir mit Ihnen die Kultursaison. Und das ist der Moment von jenen zu sprechen, die sich ihr Leben nicht ohne Kunst vorstellen können und uns mit ihren Werken beglücken … Erlauben Sie mir, das größte und berühmteste Ensemble der Stadt vorzustellen, das Tanzensemble Feuervogel!“ In einer Pause zwischen zwei Stücken schaue ich mich um und versuche, in der Dunkelheit des Saales zu erkennen, was für Leute im Publikum sitzen. Die allermeisten sind Rentner. Einige jüngere Frauen sind wohl Mütter, deren Kinder bei dem Konzert mitmachen. Außerdem einige Frauen mittleren Alters, die wie Lehrerinnen oder Beamtinnen des Kulturamtes aussehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie dienstlich auf der Veranstaltung.
Nach Feuervogel treten noch einige Musikgruppen auf: Ehrfurcht, Singende Birken, Allegro … Das Repertoire besteht entweder aus Folklore bzw. russischer Volksmusik mit entsprechenden Kostümen und Videos, oder aus Schlagern (Evergreens aus der russischen und sowjetischen Schlagerwelt, schlecht vorgetragen). Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Der einzige direkte Verweis auf die „militärische Spezialoperation“ kam von der Moderatorin ganz am Ende des Programms; er wurde aber auch nicht weiterentwickelt:
„Der heutige Abend steht unter der Devise: ‚Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich‘. Das Konzert zur Eröffnung der Saison ist eine Benefizveranstaltung. Die gesamten Einnahmen fließen in die Unterstützung unserer Landsleute, die an der ‚militärischen Spezialoperation‘ teilnehmen. Wir bitten nun die Leiterin der Verwaltung für Kultur, Tourismus und Jugendpolitik der Stadtverwaltung Tscherjomuschkin, Walentina Subikowa, auf die Bühne!“ Entgegen meinen Erwartungen gab es auch in der Rede von Frau Subikowa nur einen indirekten Hinweis auf den Krieg („[…] den Ensembles möchte ich vor allem eines wünschen: künstlerischen Erfolg, neue Tänze, neue Lieder, neue Kompositionen. Ich wünsche allen Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit! Und einen friedlichen Himmel über dem Kopf. Allen viel Glück!“). Ein Kindertanz mit Breakdance-Elementen schließt das Konzert ab. Die Kinder sind jetzt nicht mehr in russischer Tracht, sondern in Jeans und bunten T-Shirts. Das Lied heißt: ‚Vorwärts ihr Jungen, Verwegenen!‘…
Alle verlassen das Kulturhaus. Nur am Fotostand bleiben zwei Frauen stehen. Sie reden über gemeinsame Bekannte, die sie auf den Fotos entdeckt haben. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Während, wie gesagt, nach Aussagen von Gesprächspartnern unserer Feldforscherin in den ersten Monaten des Krieges in Tscherjomuschkin noch ganz unterschiedliche Veranstaltungen zur Unterstützung des Krieges stattfanden, blieben mit der Zeit nur die Unterhaltungsprogramme übrig. Diese berühren das Thema Krieg übrigens nur in den Titeln und Ankündigungen. Einige von ihnen existieren nur auf dem Papier. Andere unterscheiden sich kaum von Veranstaltungen, wie sie Bewohnern russischer Kleinstädte wohlbekannt sind. Und wieder andere, wie die beschriebenen Andachten, sind nur sehr schwach besucht und bleiben im Grunde eine Randerscheinung des gesellschaftlichen Lebens.
Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um seine Unkenntnis zu überwinden: Der Krieg ist in der Stadt nicht nur kaum spürbar, die Menschen reden auch nur selten davon, weder auf der Straße noch in den lokalen Kanälen der sozialen Netzwerke. Bei Veranstaltungen sind nur äußere Attribute des patriotischen Narrativs zu erkennen. Das Gefühl, dass der Krieg aus dem Alltag entschwindet, hat eine Informantin im Gespräch kurz und bündig zusammengefasst: „Wenn nicht immer wieder die Nachrichten von Toten und die Begräbnisse wären, könnte man glatt vergessen, dass Krieg ist.“ Die Aussage zeigt immerhin auch, dass der Krieg nicht komplett vergessen wird.
Tod, Geld, Familie – der moralische Dreiklang einer Kleinstadt
Einen Blick hinter die Alltagskulissen von Tscherjomuschkin verdanken wir Tonja, der wichtigsten Auskunftsperson unserer Soziologin. Die beiden kannten sich schon vor Beginn der Studie. Tonja ist eine junge Unternehmerin aus Tscherjomuschkin. Sie ist Eigentümerin des Schönheitssalons Stil und leitet gleichzeitig das erwähnte Café Ulybka. Tonja ist ein musterhaftes Mitglied der örtlichen Gesellschaft mit hohem sozialen Status und einem großen Bekanntenkreis. Die unterschiedlichsten Tscherjomuschkiner – vom Beamten über den Polizisten bis zur Hausfrau oder dem Fahrer – kommen ins Ulybka, um zu Mittag zu essen, Geburtstag zu feiern oder sich einfach zu unterhalten. Die älteren Stadtbewohner kennen Tonjas Eltern, die in der Stadt einen guten Ruf genießen. Wegen alldem ist Tonja überall im Ort hochangesehen.
Gleichzeitig ist Tonja ein Mensch mit „hauptstädtischem Background“: Ihre Hochschulbildung hat sie in Moskau erhalten, sie hat viele Freunde in Jekaterinburg, Sankt Petersburg und anderen Großstädten. Sie ist bei den tagesaktuellen Nachrichten immer auf dem neuesten Stand und liest alle wichtigen unabhängigen Medien. Im Kontakt mit anderen macht Tonja grundsätzlich keinen Hehl aus ihren oppositionellen Ansichten und ihrer Haltung gegen den Krieg, doch versucht sie diese auch niemandem aufzudrängen. Sie hält sich an die ungeschriebenen Gesetze des zwischenmenschlichen Umgangs, denen zufolge es eher nicht üblich ist, über Politik zu diskutieren. Im Gespräch mit anderen Bewohnern äußert sie immer wieder ihren Unmut über die Folgen des Kriegs (steigende Preise, drohende Einberufung ihrer Mitarbeiter und so weiter), spricht aber die Frage der moralischen, ethischen und politischen Rechtfertigung des Kriegs nicht an, weil sie weiß, dass sie nicht mit Verständnis rechnen kann. Wenn sie mit Vertretern der örtlichen Verwaltung zu tun hat, spart Tonja das Thema Krieg prinzipiell aus.
Tonja wurde in das Forschungsprojekt eingeweiht und zeigte sich sofort sehr interessiert. Dank ihrer Initiative und ihrer Position in der Gesellschaft konnte sie der Feldforscherin Zugang zu einem Kreis von Stadtbewohnern verschaffen, in dem ein freundschaftlicher Austausch im Alltag stattfand. Diese Menschen haben sich mit der Soziologin wohl gefühlt und ihr vertraut, obwohl sie eine Fremde war.
In den Gesprächen tauchten Themen rund um den Krieg selten von selbst auf. Öfter kam es vor, dass Tonja die Diskussion behutsam in die „nötige“ Richtung lenkte (zum Beispiel mit Fragen zu den damals aktuellen Nachrichten über Prigoshins Aufstand oder indem sie gemeinsame Bekannte an der Front erwähnte). Diese vorsichtigen Schritte zogen Gespräche über Themen rund um den Krieg nach sich. Einerseits verebbten diese wieder genauso leicht, wie sie begonnen hatten – die Beteiligten wechselten schnell zu anderen Themen. Es war klar, dass der Krieg in der Ukraine kein Thema war, das sie ständig beschäftigte. Andererseits hatten die Anwesenden immer etwas zu sagen, das auf die ein oder andere Weise mit dem Krieg in Zusammenhang stand. Im Gegensatz zu den Gründen und Zielen des Kriegs waren es vielmehr dessen Folgen und Auswirkungen, über die sie regelmäßig diskutierten.
Die Anzahl der Tscherjomuschkiner, die an die Front geschickt wurden, war nicht sehr hoch: Tonjas Bekannte zählten rund 20 Häftlinge auf, die aus der nahegelegenen Strafkolonie in den Krieg gezogen sind, rund 60 Einwohner wurden einberufen, weitere 20 meldeten sich freiwillig. Gleichwohl war jeder Tscherjomuschkiner wenn nicht direkt, so wenigstens über Eck mit jemandem bekannt, der aus dem Krieg zurückgekommen oder im Krieg gefallen war oder sich an der Front befindet. Insofern wurde jede Nachricht über einen Gefallenen, jede Einberufung oder Rückkehr aus dem Krieg allgemein bekannt. Tscherjomuschkin kennt keine Anonymität.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen vor allem Todesnachrichten über Bekannte.
„Aus unserer Verwandtschaft ist Wladik umgekommen. Den hat’s richtig zerfetzt. Wie war das noch? Im April ging’s los … Nein, es war März, als es ihn erwischte, aber zur Bestattung gebracht haben sie ihn erst im Juni“, erzählt Shanna, eine Krankenschwester im hiesigen Krankenhaus. Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Der Tod eines Menschen kann kollektive Emotionen und Anteilnahme erzeugen, vor allem wenn ihn alle kannten und schätzten. Ein gutes Beispiel ist der Tod eines Lehrers, der einberufen wurde und sieben Tage, nachdem er Tscherjomuschkin verlassen hatte, im Sarg zurückkam, ohne überhaupt die Front erreicht zu haben. Der Tod des jungen Mannes, der mehreren Informanten zufolge wegen seiner menschlichen Qualitäten und seiner Liebe zu den Kindern „von allen vergöttert wurde“, war für die ganze Stadt eine Tragödie. Angeblich schluchzten die Trauergäste bei der Beerdigung vor Kummer und auch aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit.
„In Gesprächen äußern die Tscherjomuschkiner Bedauern über die Todesfälle – vor allem, wenn es darum geht, dass ganz junge Menschen in den Krieg geschickt werden. „Sie sind gerade mal mit dem Wehrdienst fertig“, ruft zum Beispiel die Nagelpflegerin Aljona. Ihre Kollegin Ljuda pflichtet ihr bei: „Sie schicken Kinder in den Krieg!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Solche Erwägungen lösen Kritik am militärischen Konflikt aus, wobei die Schuld an dessen Beginn abstrakten „Mächtigen dieser Welt“ zugeschoben wird, die ihre Ziele auf Kosten der einfachen Leute verfolgen. „Diese Arschlöcher haben einfach die Welt unter sich aufgeteilt! Und unsere Jungs müssen sterben, weil diese Scheißkerle sich nicht einig werden!“, resümiert Ljuda. Diese Kritik mündet jedoch nicht in eine Kritik an der russischen Regierung (die ja eigentlich die Entscheidung über die Mobilmachung getroffen hat). Und die Frage nach der Verantwortlichkeit konkreter Personen wird gänzlich ausgespart.
Als deutliche Antithese zum Krieg tritt das Paradigma der familiären Werte auf, in deren Licht die Kampfhandlungen definitiv verurteilt werden können. Die Rentnerin Ljubow Wassiljewna, die viele Jahre lang im Kulturzentrum gearbeitet hat, erinnert sich an den Tod eines anderen jungen Mannes, dessen Leiche nie in Tscherjomuschkin ankam:
„War ein netter Kerl, hat Akkordeon gespielt … Es gab nicht mal was zu beerdigen! Einen Kampfstiefel und ein Bein drin!“ Und sie wechselt sogleich vom persönlichen Charakter des Toten zu einem breiteren familiären Kontext, der für sie wichtig ist: „Die Mutter hatte nur den einen Sohn , sie hat ihn allein großgezogen, ohne Mann. Also, den Mann gab es schon irgendwo, aber sie waren getrennt. Ein einziger Sohn, und alt genug … Wenn er wenigstens einen Enkel hinterlassen hätte. Mädels, so ein Krieg ist wirklich was Furchtbares!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Genau wie andere Gesprächspartnerinnen der Soziologin auch, erlebt Ljubow Wassiljewna den Krieg als Bedrohung für die Familie, und zwar auch auf ukrainischer Seite: „Ich frage mich, wo die ukrainischen Mädchen jetzt, wo schon so viele tot sind, noch ihre Bräutigame finden sollen? Woher die Männer nehmen, wenn sie alle im Krieg fallen?“ Dabei sprach Ljubow Wassiljewna während der Begegnung mit Tonja und unserer Feldforscherin mehrmals von der „Unterdrückung russischer Bewohner der Krim und des Donbass“ und zog sogar den auch für sie selbst wenig tröstlichen Schluss: Um den Krieg bald zu beenden, muss unbedingt Kyjiw erobert werden. („Also, wenn es die Kiewer Rus gab – dann nehmt doch endlich Kiew ein. Besetzt die Oblast Kiew und Kiew.“) Die Unversehrtheit der Familie ist allerdings eine so zentrale Frage für sie, dass in diesem Kontext sogar die Meinungsverschiedenheiten mit dem „Feindesland“ an Bedeutung verlieren und das propagandistische Narrativ in den Hintergrund tritt.
Ein weiteres wichtiges Thema, das unmittelbar mit dem Krieg zu tun hat, ist Geld und alles, was damit zusammenhängt – Sold, Vergünstigungen, Kompensationszahlungen, Anschaffungen). Die Bewohner des eher ärmlichen Tscherjomuschkin beschäftigt dieses Thema nicht weniger als Tod und Familie. Im Unterschied zu großen Städten sind Fragen von Einkommen und Ausgaben hier alles andere als privat. Wenn sich jemand ein neues Auto kauft, seine Wohnung saniert oder ein hohes Gehalt bezieht, dann weiß man das in der Stadt. Der Krieg hat in Tscherjomuschkin eine Menge solcher „Wirtschaftsnachrichten“ mit sich gebracht.
Die Leute diskutieren rege darüber, wie man am Krieg verdienen kann: den Sold an der Front, das „Sarggeld“ und die Sozialleistungen. Tonjas ehemalige Mitschüler Artjom und Witja erinnerten sich bei einem Besuch bei ihr an gemeinsame Bekannte, die in den Krieg gezogen sind:
„Michailow sagt: ‚Ich krieg 180.000 [etwa 1900 Euro], geil!‘.“ Die Krankenschwester Shanna erzählt Tonja, was sie von einem aus dem Krieg zurückgekehrten Bekannten gehört hat: „220.000 [etwa 2300 Euro] im Monat – Nebenkosten, alles bezahlt.“
Tonjas Freund Kolja, der als Jugendlicher ein paar Jahre hinter Gittern saß, erzählte von einer jungen Bekannten, die es zu Reichtum gebracht hatte: Sie hatte einen Häftling geheiratet, den sie nur per Briefkontakt kannte, als der noch im Knast war. Bald hatte ihn die Söldnertruppe Wagner angeworben.
„Drei Monate hat er gekämpft, dann hat es ihn erwischt. Er war ein Heimkind, hat ihr alles sofort überschrieben. Sie hat sieben Millionen [73.000 Euro] bekommen. Und das für drei Tage, die sie ihn besucht hat!“, schloss Kolja lachend.
Abgesehen vom Einkommen sprechen die Tscherjomuschkiner auch darüber, was sie sich für diese „Kriegsgelder“ kaufen: Autos etwa oder Goldschmuck, den Sweta zufolge, einer Teilnehmerin an der „Frauenrunde“, „nur Leute kaufen, die Geld aus der Spezialoperation bekommen“.Ethnografisches Tagebuch, August/September 2023
Geld ist auch ein wichtiges Motiv, wenn über ethische und familiäre Konflikte gesprochen wird, die im Zusammenhang mit dem Krieg in Erscheinung treten. Ein Beispiel ist das Verhalten der Witwe des an der Front gefallenen Lehrers. Für das Sarggeld kaufte sie sich ein teures Auto, und schon einen Monat nach dem Tod ihres Mannes tanzte sie „ausgelassen“ (wie Zeugen es beschrieben) in der Diskothek. Der Fall der Witwe wurde auch von der Krankenschwester Shanna aufgegriffen, als diese bei Tonja vorbeischaute. Shanna erzählte, die Witwe würde als „Flittchen“ und als „Rumtreiberin“ gelten. Shannas Urteil unterschied sich von jenem der Gesellschaft: „Was soll sie denn sonst tun? Das Leben geht weiter, ist doch so.“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Ein vergleichbarer Fall wurde besprochen, als mehrere Frauen bei einer Mitarbeiterin des Schönheitssalons zusammensaßen. Die Nagelpflegerin Aljona erzählte von einer stadtbekannten Person: „Es gibt einfach solche Mädels à la Petrowa: Die hat sich für das Geld, das von ihrem Mann gekommen ist, eine Karre gekauft. Und in dieser Karre bumst sie ihren Liebhaber. Alle wissen das! Wenn er auf Fronturlaub ist, tut sie brav, hüpft und flattert um ihn rum, aber kaum ist er weg, geht es wieder rund.“
Über die Moral in „Kriegszeiten“ wird vor dem Hintergrund des Großen Vaterländischen Krieges geurteilt. Ljubow Wassiljewna nimmt den Krieg durch das Prisma ihrer sowjetischen Erziehung und ihrer Erfahrung in der Kulturarbeit wahr. Für sie ist „Krieg“ vor allem der „Große Vaterländische“. Und der beschäftigt sie vor allem als Thema, mit dem sie als Mitarbeiterin des Hauses der Kultur ihr ganzes bewusstes Leben lang zu tun hatte (sie wird noch immer bei Veranstaltungen der Stadt gebeten, Reden darüber zu halten, Gedichte über den „Großen Vaterländischen“ vorzutragen oder über den Krieg in Afghanistan). Im Gespräch mit Tonja und unserer Soziologin trug sie das Gedicht Offener Brief von Konstantin Simonow vor. Es erzählt von einer Frau, die nicht warten wollte, bis ihr Mann aus dem Krieg zurückkam, und sich einen anderen nahm. Bevor sie es las, rief Ljubow Wassiljewna: „Wobei dieses Gedicht auch heute noch aktuell ist! Auch jetzt ist Krieg, also ist es wieder aktuell.“ Nach dem Vortrag fügte sie hinzu: „Das ist von 1943, wenn ich mich nicht irre. Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Mädchen, Ehefrauen, haltet aus! Benehmt euch nicht wie Schweine, die sich Geld überweisen lassen und inzwischen hier … In der Sowjetzeit, da wurde noch auf die Moral geschaut.“ Die konkreten Umstände des Kriegs in der Ukraine lösen sich vollkommen auf; der neue Krieg kommt gelegen, weil er diesem Gedicht wieder Frische verleiht.
Geld ist zweifellos ein Gradmesser des Erfolgs; da verwundert es nicht, dass sich daran moralische Dilemmata kristallisieren. Geld steht wiederum familiären Werten gegenüber. Meistens zweifeln die Gesprächspartnerinnen an der Zweckmäßigkeit der Einkünfte aus dem Krieg, die für die Familien zerstörerisch sind. Sie messen der Familie einen großen Wert bei.
Shanna zum Beispiel erklärt damit, warum ihr Bekannter nicht an die Front zurückwill: „Na ja, die Frau ist zu Hause, Kinder wollen sie auch. Ist ja nicht gesagt, dass er wieder zurückkommt. Oder er wird irgendwie verletzt und kann nur noch liegen, macht sich in die Hose. Und dann, wer braucht ihn dann noch?“ Shanna war es wichtig, das zu betonen: „Ich finde, kein Geld der Welt kann das Leben aufwiegen … Sogar wenn er umkommt und sie kriegen dieses Geld, ist das doch alles Bullshit – der Mensch ist weg.“Ethnografisches Tagebuch, August 2023.
Die Frauen, die zusammensaßen und über Krieg und Geld sprachen, kamen mehr oder weniger alle zu dem Schluss: „Das ist es nicht wert.“
„Geh lieber ins Sägewerk schuften“: kritische Töne und Gender-Debatten
Abgesehen von den Anschaffungen besprechen die Tscherjomuschkiner auch die kriegsbedingten Ausgaben, die den Soldaten und ihren Familien schwer auf den Schultern lasten – für Schutzwesten, Ausrüstung, Technik, Benzin und sonstige Ausstattung. Dass diese Ausgaben fällig werden, bestärkt sie in ihrer Meinung, dass die Einkünfte es nicht lohnten. Die Krankenschwester Shanna sagte auf Tonjas Frage, warum der Mann ihrer Freundin nicht in den Krieg gezogen sei, obwohl er da doch gut verdient hätte, dass es nichts bringe: „Sie müssen alles auf eigene Kosten kaufen, Ersatzteile, Schuhe …“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Während der Frauenrunde fing Ljuda, eine Mitarbeiterin des Schönheitssalons, fast an zu schreien: „Ich sag dir jetzt mal was! Ich hab eine Bekannte, deren Sohn wurde eingezogen, und sie hat einen Kredit über 100.000 [1000 Euro] aufgenommen, um ihr Kind ordentlich auszurüsten!“ Ihre Kollegin Aljona pflichtete ihr bei: Uns haben sie 180.000 abgenommen, 180.000 [1900 Euro]! Um das alles, diese ganze Ausrüstung zu kaufen!“ Ljuda fiel ihr ins Wort: „Verstehst du, die Eltern müssen selber die Schutzkleidung kaufen, Helme, Stiefel und diesen ganzen Scheißdreck, Handschuhe, alles!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Die Notwendigkeit, für die Ausrüstung Geld ausgeben zu müssen, empfanden die Sprecherinnen als unfair, und dieses Gefühl entlud sich bisweilen in kritischen Äußerungen über die Staatsmacht. Auf die vorsätzlich naive Frage der Soziologin an Ljuda und Aljona, warum einfache Menschen für den Krieg zahlen müssen, reagierte eine der beiden mit einem spitzen Kommentar: „Das fragst du mich? Frag doch die Regierung!“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Meistens begannen unsere Auskunftspersonen den Krieg dann zu kritisieren, wenn sie „Insider-Infos“ von Bekannten an der Front teilten, die nicht mit dem offiziellen, propagandistischen Bild der „militärischen Spezialoperation“ übereinstimmten. Der 30-jährige Witja, Mitarbeiter einer Autowerkstatt, erklärte den Anwesenden mit Feuereifer: „Was sie im Fernsehen sagen, ist nichts als gequirlte Scheiße! Die Jungs, die jetzt dort kämpfen, sagen, man dürfe bloß keinem glauben. Dass unser Verteidigungsministerium berichtet, unsere Verluste seien minimal – das ist alles Käse. Jeden Tag gibt es enorm viele Tote, auf deren Seite genauso wie auf unserer.“ Ethnografisches Tagebuch, September 2023
Nacherzählungen solcher Zeugenberichte „aus erster Hand“ zirkulieren ständig in der Stadt, sodass die Gesellschaft über die enormen Verluste auf beiden Seiten durchaus Bescheid weiß.
Die Situation des Kriegs macht für die Bewohner von Tscherjomuschkin die ukrainische Herkunft mancher Stadtbewohner auf unerwartete Weise aktuell. In der Frauenrunde wurde über eine Frau gesprochen, die nach den Ereignissen 2014 aus dem Donbas hierhergezogen war. Aus Aljonas und Marinas Sicht genießen solche Leute mit ukrainischem Pass großzügige Vergünstigungen: „Hypotheken und so, alles hat sie jetzt. Denen schenken sie alles, aber wir, wir müssen betteln, und dann? Nix!“ Bemerkenswert ist, dass sich die jungen Frauen ausschließlich für wirtschaftliche Aspekte interessierten, keine politischen oder ethnischen. In ihrer ganzen Zeit in Tscherjomuschkin hörte die Soziologin kein einziges Mal, dass jemand über Bewohner mit ukrainischen Wurzeln verächtlich oder misstrauisch sprach. Lediglich die „existenziellere“ Geldfrage veranlasste dazu, Ukrainer überhaupt als eigene Gruppe zu betrachten.
Witja und Artjom erwähnten in einer Männerrunde das Thema Ukraine auf ähnliche Weise. Sie sprachen darüber, wie teuer ein Gasanschluss für ein Grundstück in Tscherjomuschkin ist: „Gas ist in Russland die reinste Verarsche“, empörte sich Witja. „Die Hauptleitungen bauen sie ja, aber damit es zu dir nach Haus kommt – 200.000 [2000 Euro]“, fügte Artjom hinzu. „Aber drüben ist längst alles … Die Jungs, die jetzt im Krieg sind, erzählen: Alles voller Rohre, die ganze Ukraine!“, setzte Witja den Gedanken fort. „Auch in den Dörfern“, meinte Artjom, und Witja stimmte zu: „Ja, jedes Kaff hat sein Gas! Und das in der Ukraine!“Ethnografisches Tagebuch, September 2023.
Auf dieses überraschende Gefälle in den Lebensbedingungen reagierten die jungen Männer mit echter Empörung.
Für die meisten Tscherjomuschkiner ist „Politik“ selten Thema. Unsere Soziologin entdeckte bei ihren Gesprächspartnern ein ganzes Arsenal an Phrasen zur Abwehr „heikler“ Themen: „Lasst uns aufhören mit diesem Thema, mir reicht schon die ganze Politik im Fernsehen“, „Schluss damit, bloß nicht vom Krieg“. „Wir sind einfache Leute, wir verstehen nichts von Politik“ und so weiter.
Doch in Tscherjomuschkin gibt es auch Bewohner, die sich in dieser Hinsicht von der Mehrheit unterscheiden. Zum Beispiel Tonjas kleiner Kreis von oppositionell gestimmten Freunden: Pascha, der mit Autos handelt und oft nach Moskau fährt, und Kolja, ein charismatischer Typ, der in einer Besserungsanstalt für Kinder sozialisiert wurde. Der Abend mit ihnen unterschied sich deutlich von den anderen Zusammenkünften. Den Großteil der Zeit diskutierten die Anwesenden über politische Themen. Pascha, Kolja und Tonja tauschten sich über die jüngsten Nachrichten und Beiträge diverser oppositioneller Blogger aus. Für sie gehören solche Gespräche zum täglichen Leben, sie sind Teil ihrer Identität.
Übrigens sprechen auch jene Tscherjomuschkiner, die die Politik „im Fernsehen schon satt haben“, je nach sozialer und persönlicher Erfahrung in unterschiedlicher Weise über den Krieg. Zum Beispiel besteht bei der Betrachtungsweise ein Gender-Unterschied: In der „Männerrunde“ interessierten sich Witja, Artjom und Ljoscha intensiv für „technische Aspekte“ des Kriegs: Waffen, Transport, Ausrüstung, Ausstattung der Lager und in ihren Augen faszinierende Kampfepisoden. Sie tauschten sich über Inhalte von Videoaufnahmen von der Front aus, die sie sich des Öfteren ansehen, und stritten hitzig über Granaten, Kalaschnikows und MG-Nester. Für sie ist der Krieg wie eine TV-Serie mit betont „männlichen“ Merkmalen.Ethnografisches Tagebuch, September 2023
Die Frauen hingegen beschäftigt, wie bereits erwähnt, das Thema Familie, auf die sich die „Verlockungen des Kriegs“ zerstörerisch auswirken. Für sie ist der Krieg eine konkrete Bedrohung: Sie könnten ihre Männer oder Söhne verlieren. In der Frauenrunde wandte sich Ljuda aufgebracht an ihren Sohn (der zwar nicht an der Runde teilnahm, von dem aber alle Anwesenden wussten, dass er überlegte, in den Krieg zu ziehen): „Die gehen alle nur wegen dem Geld zur Armee. Einen Scheiß werd ich dich an die Front schicken!“ Aljona stimmte sofort ein: „Ich scheiß auf die verfickte Kohle! Die 200.000 verdien ich selber, dafür weiß ich dann, dass es mir an nichts fehlt und meine Familie gesund ist. Die Ohrringe kann ich mir selber kaufen, da hab ich lieber meinen Mann bei mir. Nie im Leben würd ich meinen Mann da hinschicken, in den sicheren Tod!“
Die Gesprächsteilnehmerinnen üben sich in Solidarität, argumentieren gegen die vermeintliche „männliche“ Logik, dass Krieg leicht verdientes Geld bedeute. „Ihr geht wegen der Kohle? Was braucht ihr diesen Scheiß?“ Ljuda pflichtet bei: „Sie dackeln nur dem Geld hinterher. Mein Kind hat gesagt: Ich geh zur Spezialoperation. Aber ich sag ihm: Kommt gar nicht in die Tüte, nur über meine Leiche!“ Aljona schloss sich an und äffte die Männer nach: „‚Ich verdiene da mehr. Ich verdiene da 200.000, wieso sollte ich im Sägewerk schuften.‘ Tausendmal besser, du buckelst im Sägewerk!“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Das parallele Tscherjomuschkin: Der „ausgeblendete“ Krieg und das Dilemma der Mittäterschaft
Sowohl die Beobachtungen unserer Soziologin als auch die Aussagen ihrer Gesprächspartner haben ergeben, dass die Menschen in Tscherjomuschkin vom Thema Krieg genug haben. In der Stadt weisen praktisch keine sichtbaren Zeichen mehr darauf hin. Die Stadtbewohner thematisieren den Krieg sowohl online als auch im direkten Kontakt zueinander seltener als früher. Auch die institutionelle Unterstützung des Krieges ist deutlich leiser geworden: Öffentliche Veranstaltungen finden entweder nur auf dem Papier statt oder sie sind auf eine formale Hülle reduziert. Sie haben ihren militärisch-patriotischen Inhalt verloren und lösen sich in gewohnten Formaten mit minimalen Anspielungen auf den aktuellen politischen Kontext auf.
Seltene Ausnahmen in Form ideologisch aufgeladener Räume wie der Kirche stoßen nur bei einem beschränkten Kreis von immergleichen Gemeindemitgliedern auf Interesse. Die Situation ist heute eine andere als im ersten Kriegsjahr, als die Einbindung der Staatsbürger und die organisatorischen Bemühungen um eine „Solidarität mit der Front“ stärker waren.
Zugleich ist der Krieg im Leben der Kleinstadt im Hintergrund präsent. Nachrichten über Bekannte, die an die Front geschickt wurden oder dort gefallen sind, werden sofort zum Allgemeingut und sorgen für Resonanz. Der Tod von Einheimischen provoziert natürlich kollektive Emotionen. Zudem dringt der Krieg ständig in zentrale Lebenssphären ein, über die viel gesprochen wird: Familienverhältnisse und Einkommen. Die starken Sujets, die der Krieg im lokalen Leben erzeugt – vom Tod über Ehebruch bis hin zu Gehältern, Anschaffungen und den Verlust von Bekannten – bedeuten eine Herausforderung für die übliche Routine und stellen die Menschen vor neue moralische Dilemmata.
Je nach sozialem und persönlichem Hintergrund interessieren sich die Stadtbewohner für unterschiedliche Aspekte des Kriegs. Für einen kleinen Kreis von oppositionell eingestellten Tscherjomuschkinern stehen politische und mediale Ereignisse im Zentrum der Aufmerksamkeit und werden regelmäßig besprochen, während der Großteil der Leute sich im Gegenteil bemüht, Gespräche über Politik zu vermeiden.
Frauen sehen den Krieg als Bedrohung für die Gesundheit und das Leben ihrer Männer und Söhne. Junge Männer, die von Bekannten mit Nachrichten von den Kriegsschauplätzen versorgt werden, sind eher neugierig auf „interne Prozesse“ des Kriegs: Videos von Schusswechseln, Waffentypen, Transport, Verpflegung und so weiter. Ältere Generationen, die noch „sowjetische Kulturträger“ sind, sehen den aktuellen Krieg durch das Prisma tradierter Bilder vom Großen Vaterländischen Krieg.
Der hohe Sold und Prämien für Freiwillige und Vertragssoldaten erzeugen ein ganzes Feld von Themen, anhand derer über den Krieg gesprochen wird. Sie scheinen die Haltung zum Krieg jedoch nicht merklich zu beeinflussen. Einerseits sehen manche Männer den Krieg als Gelegenheit, Geld zu verdienen, vor allem, wenn das auf anderen Wegen schwierig oder unmöglich ist. Andererseits sind die Frauen, mit denen unsere Feldforscherin zu tun hatte, überzeugt, dass kein Geld der Welt den Tod im Krieg und die Zerstörung der Familie aufwiegen kann.
Die meisten unserer Gesprächspartner sind sich einig, dass die Leute entweder gezwungenermaßen in den Krieg ziehen (wenn sie eingezogen werden) oder wegen des Geldes, oder weil sie kein gutes Leben haben (wenn sie zum Beispiel nichts erreicht und keine Familie haben). Eine derartige Kritik lässt sie jedoch nicht an der Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Kriegs zweifeln, sie zieht auch keinen kritischen Blick auf das Vorgehen der russischen Regierung nach sich. Unangenehme Fragen zum „politischen“ Sinn des Kriegs wehren die meisten Gesprächspartner mit rhetorischen Plattitüden ab, die die Propaganda anbietet. Interessanterweise kommen diese Propagandamotive nicht zur Anwendung, wenn die Tscherjomuschkiner Probleme diskutieren, bei denen sie sich auskennen und die ihnen nahe sind.
Die Menschen in Tscherjomuschkin zeigen angesichts des Kriegs auf die eine oder andere Art Emotionen und klagen. Die Leute stoßen sich daran, dass im Krieg die Jungen sterben, und sind empört darüber, dass die Soldaten ihre Ausrüstung selbständig kaufen müssen: Waffen, Uniform, Proviant und Kleidung. Im Grunde würden alle unterschreiben, dass ein Krieg „schlecht“ und „schrecklich“ ist; manche Gesprächspartner räumten insbesondere ein, dass sie den Sinn dieses Kriegs nicht verstehen würden.
Wie aus den Beobachtungen unserer Soziologin hervorgeht, sind Nachrichten über große Verluste im Krieg für die Stadtbewohner kein Geheimnis, und Beerdigungen von einberufenen und freiwilligen Soldaten aus Tscherjomuschkin gestatten es ihnen, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Trotz der großen Bandbreite an Emotionen im Hinblick auf den Krieg sprechen nur überzeugte Gegner der „Spezialoperation“ über den Schaden und das Leid, das er der Ukraine und ihren Bewohnern zufügt. Für die meisten Russen, die den Krieg rechtfertigen und gleichzeitig über etliche seiner Aspekte klagen, ist Kritik am Krieg als Verbrechen gegen die Ukrainer nicht relevant. Mehr noch, eine solche Kritik bringt sie dazu, zur Vermeidung des Dilemmas ihrer Mittäterschaft das Vorgehen Russlands zu verteidigen.
Darja Kosyrewa ist eine der jüngsten politischen Gefangenen Russlands. Wegen ihres Protests gegen den Krieg verlor sie zunächst ihren Medizinstudienplatz. Am 24. Februar 2024 befestigte sie ein Plakat am Denkmal für Taras Schewtschenko in Sankt Petersburg. Darauf standen vier Zeilen aus dem Gedicht Vermächtnis des ukrainischen Nationaldichters:
Ja, begrabt mich und erhebt euch Und zersprenget eure Ketten, Und mit schlimmem Feindesblute Möge sich die Freiheit röten!
Kosyrewa drohen fünf Jahre Haft wegen „wiederholter Diskreditierung der russischen Armee“. In der Untersuchungshaft hat sie einen Appell an ihre Landsleute geschrieben, den das Portal Holod veröffentlicht. Anfang Juli wurde Kosyrewa in die Psychiatrie eingewiesen – zur Begutachtung, wie es hieß.
Russland steckt in einem undurchdringlichen Kokon – einem Kokon aus Schweigen. Wie viele Verbrechen Putins Diktatur auch begeht, wie viele fremde Städte sie erobert und zerstört, wie viel Mord und Folter sie zu verantworten hat – die Reaktion auf alle bösen Taten ist dumpfes Schweigen.
Viele wollen lieber gar nicht wissen, was passiert, sie schließen die Augen und halten sich die Ohren zu. Viele täuschen sich und wollen getäuscht werden – wie leicht ist es, dem Fernsehen blind zu glauben, auch wenn dort die ungeheuerlichsten Lügen aufgetischt werden.
Doch viele wissen sehr wohl, was diese böse Macht anrichtet. Viele tragen ihre Missbilligung, ihre Empörung, ihren Zorn in ihren Herzen. Und trotzdem schweigen sie.
Jede Untat braucht die stille Zustimmung anderer. Und jede Diktatur kann sich nur so lange halten, wie das Volk schweigt. Der Koloss auf tönernen Füßen wird seine Macht verlieren, wenn alle Andersdenkenden den Mund aufmachen.
Aber sie schweigen.
Der eine glaubt, es sei ohnehin alles entschieden und er selbst sei zu klein und unbedeutend, um sich einzumischen. Der nächste hofft, dass andere für ihn sprechen – doch finden diese anderen ebenfalls Rechtfertigungen, den Mund zu halten.
Indes ist der wahre Grund dieses Schweigens die menschliche Angst – eine wahnsinnige Angst. Keiner Diktatur gelingt es, alle und jeden zu überzeugen – deswegen greifen sie auf die Angst zurück. Sie ist ihr erstes und letztes Mittel, das Volk zu unterwerfen.
In der Hitlerzeit schrien die Deutschen brav „Heil“, weil sie wussten, was mit ihnen passieren konnte, wenn sie sich weigern. Die Sowjetmenschen unter Stalin sprachen selbst in der eigenen Küche nur im Flüsterton, weil sie Angst vor Denunziation hatten. Die Walze der Repressionen muss gar nicht alle Andersdenkenden erfassen – es genügen ein paar Exempel, und alle anderen halten ganz von selbst den Mund.
Die Absurdität von Putins Repressionen hat einen Grad erreicht, in dem jede Kleinigkeit zum Anlass für eine Strafverfolgung werden kann – und keiner weiß mehr mit Sicherheit, was man überhaupt noch sagen darf. Dem Bösewicht im Kreml ist das gerade recht, der Bösewicht im Kreml bekommt, was er will. Solange alle schweigen, ist seine Haut gerettet.
Genau deswegen dürfen wir nicht schweigen. Die menschliche Angst ist nachvollziehbar: Seinen Status aufs Spiel zu setzen, seine Perspektiven, seine Freiheit, ist sehr schwer. Wer obendrein noch Familie hat, hat doppelt Grund, sich zu fürchten. Doch wird es diesen Familien in einer Diktatur besser gehen? Mit tödlichen Repressionen und hinter einem eisernen Vorhang?
Die Diktatur kann ihre boshaften Taten und ihre Willkür fortsetzen, solange sie Kraft und Macht verspürt. Und nichts wird sich ändern, solange alle ergeben schweigen.
Wird es nicht langsam Zeit, den Mund aufzumachen?
Jeder, der des Sprechens mächtig ist, sollte jetzt den Mund aufmachen. Die paar, die es bisher gewagt haben, sind zu wenige, um etwas zu bewegen. Alle, die mit dem Moskauer Regime nicht einverstanden sind, müssen jetzt laut werden. Es ist leicht, einzelne für ihre Worte ins Gefängnis zu stecken – aber nur, weil es einzelne bleiben. Doch für alle, für alle, die nicht einverstanden sind, gibt es in Russland nicht genug Gefängnisse. Nicht einmal, wenn das Regime extra für sie noch einmal so viele Gefängnisse baut.
Wenn alle ihre Angst überwinden und den Mund aufmachen, dann ist für die Putin-Meute die Zeit gekommen, sich zu fürchten.
Kein Übel der Welt währt ewig, jede Diktatur muss eines Tages stürzen. Sie kann unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen wie die UdSSR – oder dank dem Volk, das endlich aufsteht.
Lasst diese Diktatur nicht länger überleben als unvermeidbar. Leute, macht den Mund auf!
Es war eine simple Idee, die bis heute großen Erfolg hat: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hob die US-Regierung ein akademisches Austauschprogramm aus der Taufe, dass es besonders begabten Studierenden und Forschenden aus der ganzen Welt erlauben sollte, einige Zeit an einer amerikanischen Hochschule zu verbringen. Allerdings unter einer Bedingung: Die jungen Wissenschaftler müssen nach Abschluss des Programms wieder zurück in ihre Herkunftsländer gehen. Die USA wollten nicht die klügsten Köpfe abwerben. Vielmehr sollten die Stipendiaten zur Entwicklung ihrer Heimatländer beitragen – und wohl auch etwas vom Geist der freien Forschung und Wissenschaft in die Welt tragen.
Seitdem hat das Fulbright-Programm mehr als 50 Nobelpreisträger hervorgebracht. 20 Alumni brachten es bis zum Außenminister. Einer wurde sogar Generalsekretär der Vereinten Nationen (der Ägypter Boutros Boutros-Ghali). Sogar im Kalten Krieg schickte die Sowjetunion talentierte Nachwuchsforscherinnen und -forscher an Hochschulen des Klassenfeindes. Doch Anfang 2024 erklärte die russische Regierung das Institute of International Education (IIE), den Träger des Fulbright-Programms, zur unerwünschten Organisation. Russinnen und Russen, die da bereits in den USA studierten oder eine Zusage für ein Stipendium hatten, fürchten sich jetzt vor der Rückkehr in ihre Heimat.
„Der Bewerbungsprozess für das Fulbright-Programm dauert ungefähr ein Jahr. Er verläuft in fünf Runden, aus denen man jeweils ‚rausfliegen‘ kann. Insofern ist das Ergebnis langersehnt und natürlich auch beflügelnd“, erinnert sich Irina Perfilowa, die heute an der University of Tennessee studiert.
Irinas Fach ist untypisch für das Fulbright-Programm: Sie ist eine der Ersten, die mit einer sportlichen Studienrichtung teilnehmen darf – Sport für Menschen mit Behinderungen.
„Ich hatte einen genauen Plan, wie ich später in Moskau an meinem Thema weiterarbeiten wollte, und ich wusste auch, warum ich dafür zunächst in die USA musste“, sagt sie.
Vom Prestigeprogramm zur unerwünschten Organisation
Am 11. April 1972 unterzeichneten die USA und die UdSSR ein Abkommen über die Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technik, Bildung, Kultur und anderen Bereichen. Diese bilaterale Zusammenarbeit überdauerte lückenlos den Kalten Krieg und sein Ende. Heute erstreckt sich das Fulbright-Programm auf 160 Länder. Derweil ist seine Geschichte in Russland nach einem halben Jahrhundert vor Kurzem abgerissen.
„Das erste Alarmsignal war für mich das Gesetz über ausländische Agenten“, erzählt Irina. „Den Status eines ausländischen Agenten kann man bekommen, wenn man aus dem Ausland Finanzierung erhält. Im Rahmen des Fulbright-Programms bekommen wir ein Stipendium – also Geld aus dem Ausland. Mittlerweile genügt sogar schon ‚Einfluss aus dem Ausland‘. Aber was bedeutet das? Wenn wir zum Beispiel hier studieren – ist das Einfluss aus dem Ausland?“
Laut Irina steht in dem offiziellen Vertag, den die Stipendiaten unterschreiben, dass sie nach ihrer Teilnahme das amerikanische Fulbright-Programm in Russland auf dem Gebiet von Kultur und Bildung vertreten werden.
Das birgt die Gefahr, auf die Liste der ausländischen Agenten zu geraten. Und da ausländische Agenten keine Bildungsarbeit leisten dürfen, können die Fulbright-Alumni ihr erworbenes Wissen nicht weitergeben. So können viele von ihnen die Projekte, die sie sich vor ihrem USA-Aufenthalt vorgenommen haben, gar nicht mehr umsetzen.
Das nächste Signal im Leben der Fulbright-Stipendiaten war die Äußerung des Chefs des russischen AuslandsgeheimdienstesSergej Naryschkin im Januar 2024: Das Fulbright-Programm versuche zusammen mit einer Reihe anderer US-amerikanischer Programme, die massenhaft in den Westen geflüchtete systemkritische Opposition zu ersetzen und die Studierenden zu „Stützpfeilern der fünften Kolonne zu machen“. Und am 7. März überreichte das Außenministerium der Russischen Föderation dem Botschafter der USA ein offizielles Schreiben mit der Aufforderung, jegliche Vermittlungstätigkeit von drei Non-Profit-Organisationen einzustellen – darunter das Institute of International Education (IIE), den Träger des Fulbright-Programms. Am selben Tag wurde das IIE zur in Russland unerwünschten Organisation erklärt. Am 29. März beendete das IIE die Tätigkeit des Fulbright-Programms in Russland, um eine Verfolgung der russischen Bewerber zu vermeiden. Allerdings befinden sich gegenwärtig über 100 Stipendiaten in den USA. Sie setzen ihre Zusammenarbeit mit dem IIE und dem ebenfalls in den USA ansässigen Austausch Programm Cultural Vistas fort. Gemäß ihren Verträgen und ihren Visa der Kategorie J-1 sollten sie bald nach Russland zurückkehren: rund 30 von ihnen in den nächsten Monaten, die anderen innerhalb der nächsten Jahre.
Das Fulbright-Programm ist keine Ausnahme. Daniil Kirsanow, ein weiterer Stipendiat, ist der Meinung, die russische Regierung setze auch Teilnehmer anderer Austauschprogramme unter Druck – sowohl russisch-amerikanischer Programme als auch russisch-europäischer.
Zuhause warten Strafen
Eine russische Anwältin, die nicht namentlich genannt werden möchte, sagt, dass die Rechtspraxis in Russland momentan schwer einzuschätzen sei. Allerdings sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Fulbright-Stipendiaten als ausländische Agenten klassifiziert würden, hoch. Wobei die Strafe für eine Zusammenarbeit mit der unerwünschten Organisation IIE, die das Fulbright-Programm finanziert, zunächst gar nicht so hoch erscheint: ein Bußgeld von 5000 bis 15.000 Rubel [ca. 50 bis 150 Euro]. Wie die Juristin anmerkte, sind Verfahren, die einzig und allein die Zusammenarbeit mit einer unerwünschten Organisation betreffen, selten: der Papierkrieg ist enorm, die Strafe mickrig.
Doch kann ein Bußgeld wegen einer Zusammenarbeit mit IIE leicht den Anstoß zu einem größeren Verfahren geben. Wenn gegen einen ausländischen Agenten zwei Bußgelder verhängt wurden, so genügt das, um ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten, und dann droht eine Haftstrafe. Haben Sie Materialien von Doshd, Radio Swoboda oder Meduza weiter verbreitet? Haben Sie Geld an unerwünschte Organisationen überwiesen? Haben Sie sich irgendwann pro-ukrainisch geäußert oder an ukrainische Organisationen gespendet? Viele unserer Gesprächspartner, die sich heute in den USA befinden, gestehen ein, genau das getan zu haben. Das heißt, sie müssen mit einem Strafverfahren rechnen.
„Noch gibt es wenige Strafverfahren, das ist eher zur Einschüchterung“, erklärte die Anwältin. „Konkret wegen Zusammenarbeit mit dem IIE gibt es bisher noch gar keine Verfahren. Insofern werden die Teilnehmer des Programms – zumindest bis auf Weiteres – mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Konsequenzen zurückkehren können.“
Sowohl unsere Juristin als auch die Kuratoren des Fulbright-Programms empfehlen den Stipendiaten im Vertrauen, die Teilnahme an diesem Prestigeprogramm lieber nicht zu erwähnen. Selbst in Bewerbungsgesprächen mit seriösen Arbeitgebern sollte man sie besser verschweigen.
Einige Geschichten, die uns erzählt werden, lassen um die Zukunft einzelner Fulbrighter fürchten. Violetta Sobolewa zum Beispiel, die derzeit an der City University of New York in pädagogischer Psychologie promoviert, hat sich früher für Nawalnys Organisation engagiert und in amerikanischen Medien seinen Tod kommentiert. Irina Perfilowa ihrerseits engagierte sich für die russische LGBT-Community.
Den Zwang zur Rückkehr aussetzen?
Viele russische Fulbrighter würden deshalb gern in den USA bleiben und dort arbeiten. Aber die Regeln für das Visa J-1 und der Vertrag, den sie geschlossen haben, verpflichten sie, für mindestens zwei Jahre nach Russland zurückzukehren (die so genannte Zwei-Jahres-Regel).
Diese Regel wurde nicht umsonst aufgestellt: Normalerweise werden Austauschprogramme zu gleichen Teilen von den USA und einem Partnerland finanziert. Die Zwei-Jahres-Regel ist eine Art Garantie dafür, dass der Stipendiat in sein Herkunftsland zurückkehrt und sein erworbenes Wissen an andere weitergibt. Doch Russland hat sich an der Finanzierung nie beteiligt, die Kosten für die Ausbildung übernahmen die USA und die jeweiligen Universitäten.
Wir baten Julia Paschkowa, die sich bei der Kanzlei Lux Law auf Migrationsrecht spezialisiert hat, um ihre Einschätzung zur Situation mit dem J-1 Visum. Sie bestätigt, dass die Fulbright-Stipendiaten für mindestens zwei Jahre in ihr Heimatland zurückkehren müssen: „Die Einwanderungsbehörden nehmen diese Regel sehr ernst“.
Julia Paschkowa nennt aber auch Möglichkeiten, die Zwei-Jahres-Regel zu umgehen:
Ein Schreiben vom Partner-Land (in diesem Fall also von der russischen Regierung), das den Austauschstudenten von seiner Pflicht befreit, für zwei Jahre zurückzukehren. Dieser Antrag muss vom State Department und von der US-Einwanderungsbehörde USCIS beglaubigt werden. Laut Daniil Kirsanow haben russische Fulbrighter versucht, so ein Schreiben zu bekommen:
„Die Antwort auf unsere Anfrage war, dass Russland sich finanziell nicht an diesem Projekt beteiligt habe und es daher nicht als vollwertiges Austauschprogramm zu betrachten sei“, erklärt er. „Aus ihrer Sicht ist die Teilnahme russischer Studierender und Wissenschaftler am Fulbright-Programm eine private Initiative, mit der die russische Regierung nichts zu tun habe, weswegen sie auch keinen derartigen Verzicht bescheinigen könne. Theoretisch hätte die russische Fulbright-Filiale das Verzichtsschreiben verfassen können – als Organisation, die vonseiten Russlands die Verträge unterzeichnet. Aber diese wurde als Projekt der unerwünschten Organisation IIE geschlossen.“
Die zweite Möglichkeit wäre eine Einladung einer US-Bundesbehörde. Also die Teilnahme an einem Projekt, an dem die US-Regierung interessiert ist. Für junge Spezialisten sei die Aussicht darauf gering, gibt Julia Paschkowa zu bedenken.
„Wenn alles wahr wäre, was russische Medien über angebliche Spione berichten, dann wäre es nicht so schwer, auf diesem Weg ein Visum zu bekommen“, scherzt Kirsanow bitter. „Aber ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Fulbrighter diese Ausnahme hätte nutzen können.“
Schließlich bliebe noch ein Antrag auf politisches Asyl. Doch das Prozedere dafür ist langwierig: Zuerst muss man der Einwanderungsbehörde Beweise vorlegen, dass man verfolgt wird. Diese leitet den Fall ans US-Außenministerium weiter, das die finale Entscheidung trifft. Einen Asylantrag hält die Anwältin Paschkowa jedoch für den aussichtsreichsten Weg. Allerdings fügt sie hinzu, dass dafür hypothetische Bedrohungen nicht ausreichen – man muss beweisen, dass man bei einer Rückkehr nach Russland persönlich gefährdet wäre.
Asyl kommt nicht für jeden infrage
„Wir stehen vor einer simplen Wahl: Entweder wir kehren zurück nach Hause, wo wir eingesperrt oder vor Gericht gestellt werden können. Oder wir bemühen uns um ein Studentenvisum“, sagt Daniil Kirsanow. „Das Problem ist erstens, dass zu dem Zeitpunkt, als der neue Status des IIE bekannt wurde, die Bewerbungsfristen für das PhD-Studium bereits abgelaufen waren. Außerdem ist ein Studentenvisum keine endgültige Lösung des Problems, es stellt die Zwei-Jahres-Regel nur auf Pause. Manche von uns haben versucht, ein Arbeitsvisum zu bekommen, aber erfolglos. Sogar jene, die während ihres USA-Aufenthalts geheiratet haben, stehen vor diesem Dilemma, denn eine Eheschließung ändert nichts an der Verpflichtung, für zwei Jahre nach Russland zurückzugehen.“
Die meisten Fulbrighter, die wir für ein Gespräch gewinnen konnten, ziehen jetzt entweder ein Promotionsstudium in Betracht (das kommt nur für jene in Frage, die das ohnehin vorhatten) oder ein weiteres Master-Studium oder ein Post Academic Training – ein Praktikum nach dem Studium. Allen ist klar, dass das nur temporäre Lösungen sind, mit denen man aber in den USA die Zeit überbrücken kann, um Asyl zu beantragen und zu warten, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist.
Wir baten auch das Institut für internationale Bildung in Moskau um einen Kommentar. Dort versicherte man uns, man bemühe sich, den Kontakt zu den Projektteilnehmern aus Russland aufrechtzuerhalten und sie möglichst ausführlich zu beraten.
Natürlich hat das IIE sich redlich bemüht, etwas gegen die Zwei-Jahres-Regel zu unternehmen. Zum Beispiel hat es angeboten, den Programmteilnehmern den Umzug in ein Drittland zu bezahlen und nicht auf eine Rückkehr nach Russland zu bestehen.
„Der Umzug in ein Drittland bedeutet nicht nur ein Flugticket“, betont Irina Perfilowa, „man braucht auch ein Visum, muss eine Arbeit suchen und eine Wohnung finden, für all das braucht man vor allem in der ersten Zeit Geld. Wir haben in den USA zwar ein Stipendium bekommen, aber das war nicht so hoch, dass wir etwas hätten zurücklegen können. Keiner von uns hat Ersparnisse, und die Unterstützung durch Angehörige ist in einer Zeit, in der alle russischen Bankkarten im Ausland blockiert sind, auch nicht realistisch. Ich bezweifle, dass das ein realistischer Plan ist.“
Einer der Fulbrighter gesteht, dass er das Gefühl hat, das IIE, Cultural Vistas und das US-Außenministerium würden die Fulbright-Stipendiaten im Regen stehen lassen und dem Problem ausweichen.
„Ich habe den Eindruck, sie sind sich der Risiken nicht bewusst, denen wir ausgesetzt sind, wenn wir nach Russland zurückkehren. Ihre Unterstützung beschränkt sich momentan auf Auskunft und Beratung, aber das ist nicht genug“, sagt Kirill Schabalin.
„Es ist nicht so, dass sie uns nicht glauben würden. Aber wenn ich von diversen Strafprozessen erzähle oder von Fällen absolut willkürlicher Rechtsprechung, dann sind sie immer sehr schockiert. Die Leute können sich einfach nicht vorstellen, was in Russland los ist“, sagt Daniil Kirsanow.
Die belarussische Demokratiebewegung kämpft im Exil dafür, dass belarussische Themen von der internationalen Staatenwelt gehört werden und nicht unter den Tisch fallen. Zudem ist sie bemüht, sich zu ordnen und ihre eigenen Strukturen zu demokratisieren. Zu diesem Prozess gehörten beispielsweise auch die Wahlen zum Koordinationsrat, die Ende Mai 2024 stattfanden. Der Koordinationsrat sollte eine Art parlamentarische Vertretung von Oppositionsgruppierungen aus Politik oder Zivilgesellschaft werden. Allerdings zeigte die extrem niedrige Wahlbeteiligung, dass viele Belarussen sowohl im Exil als auch im Land selbst offensichtlich andere Probleme haben, auf die die Opposition aber kaum Einflussmöglichkeiten hat. Zudem positionieren sich Belarussen in vielfacher Hinsicht anders als die Demokratiebewegung um Swetlana Tichanowskaja.
An wen richtet sich die belarussische Opposition also mit ihren Forderungen, wen will und kann sie vertreten und was bedeutet der schwierige Spagat zwischen den Interessen der Belarussen im Land und derjenigen im Exil, die als besonders progressiv gelten, für die Zukunft der Demokratiebewegung? Diesen Fragen widmet sich Artyom Shraibman in seiner Analyse.
Gleich vorweg: Verschiedene Gruppierungen innerhalb der belarussischen Opposition geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wessen Meinung sie vertritt. Sie haben zuweilen den Anspruch, je nach Thema unterschiedliche Zielgruppen zu repräsentieren. Wenn es etwa um die Forderung fairer Wahlen, die Befreiung politischer Gefangener und das Ende der Repressionen geht, dann wollen die demokratischen Kräfte immer noch jene Mehrheit repräsentieren, die offensichtlich im Jahr 2020 für Tichanowskaja gestimmt hat.
Geht es um den Krieg in der Ukraine, so versuchen die demokratischen Kräfte, im Namen der überwiegenden Mehrheit der belarussischen Gesellschaft zu sprechen, die – im Unterschied zu den Russen – gegen den Krieg sei. Aus analytischer Distanz betrachtet ist das jedoch manipulativ. Tatsächlich vertritt zugänglichen Umfrageergebnissen zufolge nur ein geringer Prozentsatz der Belarussen die Meinung, belarussische Truppen sollten im Krieg eingesetzt werden. Doch ist die Zahl jener Belarussen, die Russland unterstützen, ebenfalls hoch: Zwischen 30 und 40 Prozent der Belarussen (je nach Formulierung der Frage) finden es gut, wie die russische Armee in der Ukraine vorgeht und dass sie belarussisches Territorium als Aufmarschgebiet nutzt. Einerseits ist das nicht sehr viel, wenn man die Vernichtung der Meinungsfreiheit in Belarus und den enormen Einfluss der russischen Propaganda bedenkt. Aber von einem „antimilitaristischen Konsens“ kann man in dieser Situation nur sehr bedingt sprechen, und zwar, was den Einsatz belarussischer Soldaten im Krieg betrifft. In vielen Aspekten dieses Themas sind die Belarussen gespalten und alles andere als einig.
Wen die demokratischen Kräfte adressieren
Wenn man der Frage genauer nachgeht, wie ein Ende des Kriegs aussehen könnte, dann vertreten die Tichanowskaja nahen Demokraten mit ihrer Meinung nur eine Minderheit der Belarussen. Mehr als die Hälfte der Befragten wünscht sich ein sofortiges Einfrieren des Konflikts an den aktuellen Frontlinien, und ein weiteres Viertel wünscht sich einen Sieg Russlands. Weniger als 15 Prozent der Städter (die Umfragen werden in der urbanen Bevölkerung durchgeführt) sagen offen, dass der Krieg mit einem klaren Sieg der Ukraine enden soll. Und sogar wenn man den häufig zitierten Faktor Angst ausklammert, bleiben die eindeutig proukrainischen Ansichten der Opposition trotzdem klar in der Minderheit1.
Auch in anderen Fragen können die demokratischen Kräfte im Exil nicht behaupten, die Mehrheit der Belarussen zu repräsentieren, sondern eher nur die aktive prowestliche Minderheit. Hierzu gehören die europäische Integration, der Ausstieg aus allen Bündnissen mit Russland, der Status des Belarussischen als einziger Amtssprache und schließlich die Ausweitung der Sanktionen gegen Belarus bis hin zu einem Handelsembargo – wohl die unbeliebteste aller hier aufgezählten Ideen. Manchmal sieht es aus, als würde die Demokratiebewegung in manchen dieser Fragen zwar nicht unbedingt absichtlich die gesellschaftlich unbeliebtesten Lösungen bevorzugen, aber durchaus eine historische Mission verfolgen: heute strategische Ziele zu formulieren, um sie in Zukunft zur mehrheitsfähigen Meinung zu machen. Darin zeigt sich der Wille, eine ganz besondere soziale Gruppe zu vertreten – die „Belarussen der Zukunft“, die „nachziehen“, sich also der heutigen prowestlichen Minderheit und ihren Standpunkten annähern werden. Und zum Teil zielen die Aktivitäten der Opposition auch darauf ab, die Diaspora zu vertreten – sei es mit der Idee zu einem „Pass des neuen Belarus“, mit dem Aufbau alternativer staatlicher Organe im Exil oder dem Kampf für bessere Aufenthaltsbestimmungen der Belarussen im Westen.
Der Faktor Westen
Hinter diesem komplizierten Gespinst aus Positionen verbirgt sich ein weiteres Element, ein delikateres, über das man nicht laut spricht — die Interessen westlicher Länder, die der Opposition entweder Asyl gewähren oder über internationale Stiftungen ihre Arbeit finanzieren. Es gibt keine überzeugenden Beweise, dass westliche Akteure den demokratischen Kräften irgendwelche Positionen aufzwingen würden. Doch die belarussischen Exilpolitiker müssen die Interessen ihrer Partner durchaus berücksichtigen. Manchmal stehen diese Interessen den Vorstellungen der überwiegenden Mehrheit der Belarussen entgegen – zum Beispiel beim Thema Mobilität. Die Belarussen, die vor der Covid-Pandemie die Nation mit den meisten Schengen-Visa pro Kopf waren, wollen möglichst offene Grenzen zur EU. Aber die westlichen Nachbarn von Belarus reagieren auf die Provokationen, die Minsk an den Grenzen veranstaltet hat, und auf die Rolle von Belarus im Krieg mit Schließung von Grenzübergängen. Litauen versucht sogar, den Zustrom der Belarussen zu stoppen, indem es den Busverkehr teilweise einstellt.
Für die demokratischen Kräfte ergibt sich daraus ein Interessenkonflikt. Swetlana Tichanowskaja und ihre Anhänger müssen sich einerseits loyal verhalten gegenüber jenen Belarussen, die in die EU reisen möchten, und gleichzeitig rechtfertigen, dass ihre Nachbarländer die Grenzen zu Belarus schließen. Dieser Spagat führt dazu, dass innerhalb der Opposition Gruppen entstehen, die Tichanowskajas Mannschaft vorwerfen, sich zu wenig gegen den „eisernen Vorhang“ an der Westgrenze von Belarus einzusetzen. Gleich mehrere solche Koalitionen („Listen“) traten bei den Wahlen zum Koordinationsrat der Opposition am 25. bis 27. Mai mit dem Versprechen an, den internationalen Lobbyismus in Fragen der Mobilität zur obersten Priorität zu machen.
Das Ende der Ad-hoc-Koalition
In der Demokratie werden solche Probleme im Zuge von Wahlen gelöst: Parteien, die mit sich selbst beschäftigt sind und den Kontakt zur Masse der Wählerschaft verlieren, bekommen weniger Stimmen und büßen ihre Macht ein. Ein solcher Rotationsmechanismus fehlt bei den belarussischen Demokraten. Es ist schwierig, sich auf Wahlen zu verlassen, die nur im Ausland stattfinden können. Repräsentanten, die vom politisch aktivsten Teil der Diaspora gewählt wurden, sind möglicherweise noch weiter von den Interessen des Durchschnittsbelarussen entfernt als die derzeitige Regierung in Belarus. Insofern sucht sich jede politische Kraft selbst ihre Zielgruppe aus, deren Interessen sie vertreten will. Ob sie auf das richtige Pferd setzt, wird die Geschichte zeigen. Diese kennt sehr wohl Beispiele für eine triumphale Rückkehr politischer Emigranten aus dem Exil, die sich auf die Arbeit mit einem aktivistischen Kern konzentriert und die Verbindung zur Mehrheit ihres Volkes scheinbar schon verloren hatten. Solche Beispiele sind jedoch eher die Ausnahme von der Regel, die nahelegt, dass der Wandel in Belarus eher von neuen Kräften angetrieben werden wird, die innerhalb des Landes entstehen werden, sobald sich das nächste Fenster historischer Volatilität auftut.
Doch dieses Dilemma wirft noch eine andere Frage aus der politischen Philosophie auf: Wie weit soll sich die Exil-Opposition überhaupt von den Schwankungen der öffentlichen Meinung in ihrem Heimatland beeindrucken lassen? Die Koalition jener, die 2020 Tichanowskaja unterstützt haben, ergab sich in vielerlei Hinsicht aus der Situation. Das war keine Revolte einer konkreten Gesellschaftsschicht, einer demografischen Gruppe oder von Anhängern einer bestimmten Ideologie. Vielmehr war es ein Ausbruch allgemeiner Empörung angesichts Gewalt, Lügen und Wahlfälschung vonseiten des Staates. Das angestaute Verlangen nach respektvoller Behandlung hatte sich mit dem Überdruss an Lukaschenko gepaart. Doch es war eine Koalition völlig unterschiedlicher Menschen, die sich zu einem konkreten Zeitpunkt als Reaktion auf konkrete Handlungen des Regimes gebildet hatte.
Es wäre naiv anzunehmen, man könne diese bunte und spontane Koalition einer belarussischen Mehrheit ewig aufrechterhalten. Sogar in einem Land mit normalem politischem Wettbewerb müssen bei neuen Wahlen die Sieger der vorangehenden Wahlen wiederum versuchen, eine Mehrheit zu überzeugen, und den Menschen neue Gründe anbieten, warum sie ihnen auch in der aktuellen Situation ihre Stimme geben sollen. Doch in Belarus gibt es jetzt und wohl auch in nächster Zukunft keine politische Konkurrenz, keinen Kampf um die Macht durch Überzeugung von Mehrheiten. Das heißt, dass die Opposition allein schon aus technischen Gründen keine neue „Siegerkoalition“ bilden kann. Man kann zu jeder beliebigen Frage – von Sanktionen über Neutralität bis hin zur Wirtschaftspolitik – so populäre oder gar populistische Positionen einnehmen, wie man will – solange es im Land keinen politischen Wettbewerb gibt, wird die Opposition nichts davon haben.
Deswegen werden die Belarussen keine neuen Möglichkeiten zum politischen Handeln bekommen. Und das Fenster zu diesen Möglichkeiten wird nicht aufgehen, nur weil die Oppositionsführer im Exil anfangen, in ihren Reden beliebtere Thesen zu verkünden.
Das Dilemma unterschiedlicher Meinungen innen und außen
Wie paradox das auch klingen mag: Es ist unklar, welchen politischen Nutzen die Opposition daraus zieht, wenn sie den Ansichten der heutigen belarussischen Mehrheit folgt. Welche Risiken eine solche Herangehensweise für die Exilstrukturen darstellen würden, ist hingegen nicht schwer zu erahnen.
Erstens: Der Versuch, sich im Einklang mit der Mehrheit der Belarussen im russisch-ukrainischen Krieg neutral zu verhalten, zum sofortigen Waffenstillstand aufzurufen oder gegen die Sanktionen einzutreten, würde die Verbindung der Opposition zum proukrainischen und proeuropäischen Kern der demokratisch gesinnten Belarussen schädigen, die zu all diesen Fragen ganz klar Position beziehen. Genau jene oppositionell gesinnten Menschen arbeiten in politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Exil und in Redaktionen unabhängiger Medien und bilden die Diaspora, die von der Opposition eine Vertretung ihrer Interessen fordert. Anders gesagt, das Bemühen, dem durchschnittlichen Belarussen zu gefallen, würde beim prodemokratischen oppositionellen Kern auf Frustration und Ablehnung stoßen.
Zweitens würde eine Übernahme der in Belarus populärsten Ansichten in einer Situation des Kriegs und der scharfen Trennung in „Unsere“ und „Fremde“ eine effektive internationale Politik der Demokraten in Europa verunmöglichen. Eine Swetlana Tichanowskaja, die eine Aufhebung der sektoralen Sanktionen fordert, oder ein Pawel Latuschko, der zu Neutralität und einem sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine aufruft, könnten nicht nur mit den ukrainischen, sondern auch mit den meisten westeuropäischen Beamten und Diplomaten nicht mehr normal reden. Sogar ihr Aufenthaltsrecht in Vilnius und Warschau könnte dann in Zweifel gezogen werden.
Ehrliche Abkehr von der Idee einer Exilregierung
Wahrscheinlich wird es mit der Zeit die organischste Entscheidung für die Opposition im Exil sein, sich in die Nische der moralischen Autoritäten zurückzuziehen, der Meinungsführer und internationalen Anwälte von Belarus, die nicht von der Konjunktur der aktuellen öffentlichen Meinung im Heimatland abhängig sind. Das würde ihnen erlauben, ungeschminkt ihre Überzeugungen zu verfechten, die Interessen ihrer heutigen Anhänger und der Diaspora zu vertreten und nicht mehr so tun zu müssen, als würde die historisch präzedenzlose Mehrheit von 2020 noch immer in allen Fragen den demokratischen Kräften folgen. Natürlich würde dies eine bescheidenere Positionierung bedeuten und eine Abkehr von der Idee einer „Exilregierung“ mit dem Anspruch, die Interessen aller oder der meisten Belarussen zu verteidigen. Doch eine solche Positionierung wäre wenigstens ehrlich – sowohl den internationalen Gesprächspartnern als auch ihren heutigen tatsächlichen Anhängern gegenüber.
1.Forschungen schätzen die Verminderung der Zahl der proeuropäischen und proukrainischen Antworten auf 3 bis 16 Prozentpunkte ein. ↑
Auf den russischen Großangriff auf die Ukraine folgte in Russland eine bis heute andauernde Welle der Repressionen – vor allem auch gegen unabhängige Medien, von denen zahlreiche ihren Betrieb einstellen oder ins Exil gehen mussten. Gleichzeitig begünstigten Schock und Empörung auch die Gründung einer Reihe neuer Onlinemedien wie The New Tab, die Novaya Gazeta Europe oder Cherta, die meist aus dem sicheren Ausland und mit anonymen Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort arbeiten. Eines davon ist Verstka. Auf dem Blog Inymi slowami des US-amerikanischen Kennan Institutes erzählt die Chefredakteurin Lola Tagajewa die Gründungsgeschichte ihres Mediums, das auch für dekoder zu einer wichtigen Quelle geworden ist.
„Viel Geld werden wir nicht verdienen, wenn überhaupt welches; doch eins weiß ich sicher – es wird schwierig. Für Medien ist es immer schwierig. Vor allem jetzt.“ So also klang das Traumangebot, das ich Marianna Luschnikowa, der zukünftigen Marketingchefin von Verstka, im März 2022 schickte.
Marianna und ich hatten gerade unsere ersten Trainings auf den Markt gebracht. Durchaus erfolgreich. Das letzte war für die Niederlassung einer transnationalen Firma gewesen, deren Produkte in jedem Haus zu finden sind, in dem es Babys gibt. Von dem Geld für dieses Training lebten Marianna und ich vier Monate lang, bis Einkünfte von Verstka kamen.
Ein Start ohne große Ressourcen und prominenten Namen
Warum rede ich gleich über Geld? Weil ich fast keines hatte. Und Medien haben ohne Geld keine Chance. Also, richtige Medien, nicht das private Blog von Lola Tagajewa. Ein Blog wollte ich nicht, und Gott sei Dank ließ ich die Finger davon.
Also, das Geld. Verstka hat seit letztem Jahr über 30 Mitarbeiter, und ich habe eine ungefähre Vorstellung von unserem Jahresbudget. Doch damals hatten wir im Grunde nur zwei Monatsgehälter für drei Journalisten. Einen halbwegs prominenten Namen, mit dem ich Sponsoren hätte ködern können, hatte ich auch nicht. Viel hatte ich also nicht, nur die Gewissheit: Etwas anderes als Journalismus kann ich jetzt nicht machen. Ich bin nicht die Einzige, die seit dem 24. Februar [2022 – dek] wie benommen ist.
Zu dem Zeitpunkt war ich seit drei Jahren damit glücklich, nicht mehr journalistisch zu arbeiten, und wollte eigentlich gar nicht zurück. Ich bin politische Journalistin und Redakteurin in den 2010er Jahren gewesen: Damals mündete unsere Hoffnung auf Modernisierung unter Medwedew allmählich in Chroniken von Gerichtsprozessen. Meine Kündigung begründete ich damit, dass das Politikressort zur Apokalypse geworden sei. Damals hatte ich noch keinen Schimmer … Doch ich wollte sehen, dass meine Arbeit etwas bringt. Also wandte ich mich einem Bereich zu, den der Staat noch nicht so brutal unterdrückte – Problemen der Geschlechterungleichheit und der häuslichen Gewalt.
Ich hatte keine Rückkehrpläne und lehnte alle Jobangebote von Medien ab. Doch 2022 begann der Krieg, und es gab [in Russland – dek] fast keine Medien mehr, die darüber hätten berichten können. Alle waren geschlossen, geflüchtet, übten Selbstzensur. Im März wurden direkt vor meinen Augen mit besonderem Zynismus Medien vernichtet, für die ich mal gearbeitet hatte: Doshd, Novaya Gazeta – und auf RBC wurde es immer schwieriger, etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Ich wusste nicht, dass der Journalismus am Ende trotz allem überleben würde.
Ich hatte großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten
Ich sah zu, wie Medien geschlossen wurden, und es fühlte sich an, als würden Mauern fallen und Bollwerke einstürzen, die für viele ein sinnvolles Weltbild beschützt hatten, und als würden Massen propagandistischer Untiere die letzten bei Verstand gebliebenen menschlichen Wesen endgültig auffressen. Außerdem hatte ich großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten.
Ich habe es nicht so in Erinnerung, dass ich unbedingt ein eigenes Medium wollte. Eher zerrte dieses Gefühl von Ungerechtigkeit an mir, das ein „Ich habe nicht wirklich Lust“ plattwalzt und zu einem „Es muss“ macht. Damals dachte ich auch noch, dass es statt Journalismus nur noch Streams geben würde. Fast alle machten Streams, und viele sahen sie sich auch an, muss man zugeben. Das Ergebnis war eine Art kollektiver Gruppenpsychotherapie, gemischt mit Gesprächsjournalismus. Mir fällt es leichter, psychisch gesund zu bleiben, wenn ich mich als Reaktion auf Stress Hals über Kopf in die Arbeit stürze, statt mit anderen darüber zu sprechen und mir Sorgen zu machen.
Außerdem hatte ich Fragen, auf die ich keine Antworten fand. Zum Beispiel, was aus diesen Müttern und Ehefrauen wurde, die die Straße nach Kabardino-Balkarien im Kauskasus blockiert hatten, um zu herauszukriegen, was mit ihren in der Ukraine verschollenen Söhnen und Ehemännern passiert war. Nichts außer einer kurzen Nachricht in einem Telegram-Kanal war über ihre Aktion zu finden. Ich wollte aber wissen, wie es nach ihrer Festnahme weitergegangen war und ob sich die Geschichte der „Soldatenmütter“ der 1980er und 1990er Jahre wiederholen könnte, die ihren Kindern nicht nur in die Kampfzonen hinterherfuhren, sondern zu einer starken Kraft gegen den Krieg wurden. Insofern war einer der ersten Texte bei Verstka dieser Protestaktion gewidmet.
Da ich sowohl mit Medien als auch mit Start-ups Erfahrung hatte, schätzte ich die Schwierigkeiten, die uns bevorstanden, zwar hoch ein, aber lösbar. Jetzt sage ich mir: „Du hattest keinen blassen Schimmer, Lola. Wenn du das gewusst hättest, hättest du nämlich die Finger davon gelassen.“
Doch damals war es mir enorm wichtig, Journalismus zu betreiben, soweit ich es mir eben leisten konnte. Wenn nur ein wichtiger Text pro Monat zu schaffen ist, dann soll es eben nur einer sein. Wenn mehr geht – umso besser. Man kann nicht einfach stillsitzen und nichts tun. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.
Es gibt wenig, das ich bei der Arbeit so sehr mag wie Fakten. Mit Fakten ist es einfach. Im Gegensatz zu Interpretationen lassen sie dich nie dumm aussehen. Wie ich die Entwicklung von Verstka anlegte, sieht man daran, dass ich dafür meinen eigenen Telegram-Kanal mit gut vierzig Followern hergab, weil ich nicht mit einem neuen Account ganz bei Null anfangen wollte. Der Channel hieß Swobodnyje slowa Loly Tagajewoi (dt. Lola Tagajewas freie Worte) – und auf Telegram heißt Verstka noch immer: svobodnieslova. Die Überzeugung, dass diese vierzig Leute, die mich in ihrer Panik hinzugefügt hatten, als Facebook Mitte März 2022 als extremistisch eingestuft wurde, irgendwie wichtig sind für den Start meines Projekts – das illustriert am besten, wie wenig Ressourcen wir hatten.
Der Glaube an eine Idee wiegt viel mehr als ein Startkapital
Die ersten Autoren waren leicht gefunden – ich postete auf Facebook: Wer möchte bei mir als Journalist oder Journalistin arbeiten? Ich weiß nicht, wieso diese Leute – tolle Autoren, die noch immer für Verstka schreiben – das Vertrauen hatten, dass das ohne Geld und mit einem Planungshorizont von zwei Monaten etwas werden könnte (sie hätten mich ja auch für eine Stadtirre halten können). Vielleicht strahlte ich eine unverwüstliche Sicherheit aus, hier und jetzt das Richtige zu tun. Heute weiß ich hundertprozentig, dass der Glaube an eine Idee und die daraus entstehende Energie viel mehr wiegt als ein Startkapital. Mit Glauben und Energie findet sich das nötige Geld, aber wenn der Glaube fehlt, dann bleiben auch die Entwicklungsperspektiven nebulös. Auch wenn das wie ein Insta-Post über erfolgreichen Erfolg klingt.
Wir wollten ungefähr Mitte Mai starten, aber am 25. April schrieb ich spätabends um zehn in den Chat: Morgen früh um sieben geht es los. Wir hatten nichts fertig, weder die Website noch die Social-Media-Auftritte. Dafür hatten wir eine Story, bei der ich mir sicher war: Selbst wenn wir sie handschriftlich auf Zettel schreiben, fotografieren und über meine privaten Accounts posten, ist das der beste Start. Es war die Geschichte einer Mutter in einer Kleinstadt, die die Großbuchstaben Z von den Fenstern des Kindergartens heruntergerissen hatte, in den ihre Söhne gingen. Gefühlt alle meine Kontakte teilten das Video mit ihr, aber keiner wusste, wie diese Heldin hieß. Sie war eine dieser namenlosen Heldinnen des Widerstands, die wir so dringend brauchten und über die wir mehr erfahren wollten. Anja Ryshkowa machte sie ausfindig und interviewte sie. Schon in den ersten 24 Stunden hatten wir zweitausend Abonnenten auf Telegram, und den Text, den wir zunächst nur auf Telegram posteten und erst später auf die Website brachten, lasen hunderttausend Menschen. Mein Redakteurinnen-Gespür hatte mich nicht getäuscht.
Ich hatte mir keine festen Ziele gesteckt, wie viele Follower es werden sollten und was ich erreichen wollte – um mich nicht auch noch mit eigenen Erwartungen unter Druck zu setzen. Ich überlegte so: Wenn das Projekt Erfolg hat, werden wir auch Unterstützung für seine Weiterentwicklung bekommen, und alles wird gut. Wenn es aber nichts wird, dann hab ich selbst keine Lust auf so ein Medium. Und ich hatte Glück.
Das erste Journalistinnen-Team von Verstka erwies sich als stark. Und ich habe nie geglaubt und glaube immer noch nicht, dass man heutzutage beim Launch eines Medienprojekts auf eine spezielle, geheimnisvolle Nische abzielt, für die man Ressourcen und Mühe investiert. In einer Situation, in der zielgruppenspezifische Werbung keine Option ist und die sozialen Medien kahlgeschlagen sind, erreicht man am Anfang nur Follower, die einem Kollegen zur Verfügung stellen. Also muss man auf Zitierbarkeit setzen. Andere Möglichkeiten sehe ich für ein Medienprojekt ohne Namen und ohne Geld nicht. Nur exklusives Material! Wer braucht ein Nachrichten-Rewrite auf einem kleinen Channel, wenn es Meduza gibt? Und immer der Zeit und den Themen voraus sein, bloß nicht den anderen hinterherhecheln. Das war ein gutes Training für das redaktionelle Gespür – welcher Text wird morgen gebraucht? Was wird am ehesten geteilt und zitiert? Welches gesellschaftliche Interesse ist am Entstehen? Wir mussten die Themen vorgeben, nicht ihnen nachlaufen.
Verstka hat alle Kräfte gebraucht, aber auch viel zurückgegeben. Ich weiß gar nicht, was einer Chefredakteurin mehr Freude macht – zuzusehen, wie talentierte, aber noch kaum bekannte Journalisten zu Stars werden, oder mitzubekommen, wie Texte den Nerv des Publikums treffen.
Eine weitere richtige Entscheidung war, dass die Marketingchefin schon da war, bevor wir an die Öffentlichkeit gingen und es irgendein Team gab, so dass einer die Sache lenken konnte. Mit diesem Tipp erspart man sich viel Geld: Ein fähiger Marketingchef aus dem Business ist die Rettung der Redaktion. Einen Text als solchen braucht keiner. Daher halte ich mich an folgende Regel: Wenn der Text keine Nachricht enthält, die automatisch Verbreitung findet, dann schaltet sich die Distributionsabteilung ein und sucht nach Wegen, wie das Material möglichst viele Leser erreicht. Wir können es uns finanziell nicht leisten, den Verstka-Channel für nur tausend Abonnenten zu betreiben, auch nicht für hunderttausend.
Im ersten Jahr ernährte sich Verstka von meiner Lebenskraft. Wahrscheinlich auch von der Kraft anderer, die mit mir zusammen dieses Projekt angefangen hatten. Eineinhalb Jahre später war ich ausgelaugt von dieser pausenlosen „Plasmaspende“ und stellte mir die ehrliche Frage: Hätte ich es schonender angehen können? Die ehrliche Antwort war: Nein. Ein Projekt ohne Geld und Namen hätte ohne diesen fulminanten Start keine andere Chance gehabt, in einer so schwierigen Zeit zu überleben und relativ groß zu werden. Wenn wir klein angefangen hätten, hätten wir jetzt vielleicht an die zehntausend Abonnenten. Und die Redaktion bestünde immer noch aus ein paar wenigen Mitgliedern. Wäre ich dann glücklicher und gesünder? Vielleicht. Aber diese Frage hat sich damals nicht gestellt. Der Krieg hat alles verändert.
Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGBgehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden. Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.
Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.
Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner
„Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“
Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.
Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“
Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.
Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.
Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat
Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.
Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“
Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass?
Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.
Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“
„Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“
Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“
Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache.
Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen
In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“
„Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“
Mit Kuhmist gegen Proteste
Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.
Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.
Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.
Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.
Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“
Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“
Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.
Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?