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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ein Nato-Beitritt wäre mein Traum“

    „Ein Nato-Beitritt wäre mein Traum“

    Der Omsker Unternehmer Viktor Schkurenko ist einer der reichsten Menschen in Sibirien. Als jemand, der sich offen gegen den Krieg ausspricht, lebt und arbeitet er nach wie vor in Russland. Einige glauben, dass der FSB ihn schützt, andere – seine Steuermilliarden. Sogar Wladimir Solowjow hat bereits gefordert, Schkurenko hinter Gitter zu bringen, aber der Geschäftsmann selbst glaubt an die Gesetze und ist der Meinung, dass er für seine Ansichten nicht belangt werden kann. Jewa Belizkaja und Olessja Gerassimenko erzählen für Holod die Geschichte eines Milliardärs aus Omsk, der vom NATO-Beitritt Russlands träumt. 

    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media
    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media

    Im August 2022 klopfte ein Polizist an die Tür des Omsker Milliardärs Viktor Schkurenko. Der Grund für seinen Besuch war eine anonyme Anzeige – jemandem passte nicht, dass Schkurenko Iwan Urgant zu einer Betriebsfeier eingeladen hatte. Der TV-Moderator hatte sich gleich am ersten Tag der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine offen gegen die russische Invasion ausgesprochen. Er postete ein schwarzes Quadrat mit der Bildunterschrift „Angst und Schmerz“ in den sozialen Netzwerken. Daraufhin setzte der Erste Kanal seine Show Wetscherny Urgant ab. 

    „Sie wollten mir ein Strafverfahren anhängen“, erzählt Schkurenko, ohne konkret zu sagen, wen er mit „sie“ meint. „Aber die Polizei konnte keinen Tatbestand finden.“ Der Omsker Unternehmer erklärte kurz die Sachlage, woraufhin der Polizist mit den Worten „So ein Blödsinn“ wieder abgezogen sei. 

    Schkurenko hatte keine Angst vor dem Beamten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit den Behörden zu tun hatte. 1997 saß er sogar einmal auf der Anklagebank, wegen Steuerhinterziehung. Bei der Urteilsverkündung 2000 ermahnte der Richter, der Schkurenkos Großvater hätte sein können, den damals 28-Jährigen mit erhobenem Zeigefinger, so etwas bloß nicht noch einmal zu tun, und verurteilte ihn zu einer einjährigen Bewährungsstrafe. Seitdem seien die Gesetze der Russischen Föderation und das Strafgesetzbuch seine „Bibel“, sagt der Geschäftsmann. 

    Im April 2024 feierte der Milliardär seinen 52-jährigen Geburtstag. In den vergangenen zehn Jahren ist er regelmäßig unter den Top-10 der reichsten Einwohner von Omsk. Seine diversen Firmen erwirtschaften einen Umsatz von insgesamt 70 Milliarden Rubel [etwa 675 Millionen Euro – dek], die Hälfte davon außerhalb der Region Omsk. „Meine Persönlichkeit besteht zu 90 Prozent aus dem Geld, das ich verdiene“, sagt Schkurenko von sich selbst, „meine politische Einstellung ist nichts weiter als ein Hobby.“ 

    Das „Hobby“ gefällt nicht jedem: Schkurenko sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff – auch außerhalb seiner Geschäftstätigkeit. Mal lädt er Drag Queens zu Betriebsfeiern ein, mal unterstützt er öffentlich Iwan Urgant, mal bringt er den Soziologen Grigori Judin nach Omsk oder den Regisseur Andrej Smirnow, um dessen jüngsten Film Sa nas s wami (dt. Auf uns und euch) einem breiten Publikum zu präsentieren. Der Streifen, der die stalinistischen Repressionen thematisiert, schaffte es nicht in die russischen Kinos. 

    In den 30 Jahren seiner Karriere hat Schkurenko nach eigenen Angaben 280 Geschäfte in Russland und Kasachstan eröffnet, von Hypermärkten bis zu Discountern (u. a. Niskozen, Pobeda, Eurospar). Der Unternehmer besitzt rund 200.000 Quadratmeter an Immobilien, die er verpachtet. Er kauft, übernimmt und investiert aktiv. Er treibt Sport in seinem eigenen Fitnesscenter, kauft Lebensmittel in seinen eigenen Supermärkten, trinkt seinen Kaffee in den Skuratow-Cafés, in die er rund 26 Millionen Rubel investierte, und nach seinem Ableben kann er auf die Dienste eines Krematoriums zählen, das er selbst erbaut hat. 

    Im Januar 2024 eröffnete Schkurenko eine Filiale seiner Handelskette in Moskau und erwarb eine Lizenz für die Einfuhr von Alkohol. Er plant, zum wichtigsten Importeur in ganz Russland zu werden. Er beschäftigt rund 7.000 Arbeitnehmer und zahlt über eine Milliarde Rubel Steuern in den Haushalt der Region Omsk. In dem Ausdruck „zu mutig“, mit dem die Gesprächspartner von Holod Schkurenko gerne beschreiben, schwingen unterschiedliche Emotionen mit: mal Verachtung, mal Bewunderung. 

    „Was hat das denn mit Mut zu tun? Was sage oder tue ich schon groß?“, ereifert sich Schkurenko ist im Gespräch mit Holod. „Umfragen zufolge unterstützen 20 Prozent der Bevölkerung die Spezialoperation nicht. Ich bin eben einer davon. Na und? Das ist meine Meinung, ja! Ich verstoße nicht gegen das Gesetz. Ich halte keine Versammlungen oder Kundgebungen ab. Ich finanziere niemanden, der verboten ist. Ich arbeite kaum mit dem Staat zusammen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, aber ich habe ein soziales Gewissen, das es mir nicht erlaubt, die Füße still zu halten.“ 

    „Wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Bis 2003 war Schkurenko vollkommen loyal gegenüber der Staatsmacht. Als Schüler hatte er Gorbatschow verehrt, als Student unterstütze er Jelzin, und als Unternehmer den frühen Putin, dem er 2000 seine Stimme gab: „Es war doch der reinste amerikanische Traum, besser konnte man es sich nicht ausmalen. Das Bruttosozialprodukt verdoppeln? Wunderbar, was will man mehr? Wie konnte man Putin nicht lieben für diese Idee?“ 

    Die Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003 verursachte die ersten Erschütterungen in Schkurenkos Ansichten. Seine Einstellung zum herrschenden Regime veränderte sich nicht über Nacht, aber damals wurde ihm bewusst, dass „etwas falsch lief“. Doch die ungute Vorahnung wurde von den nächsten Wahlen zerstreut. 

    2008 stimmte Schkurenko für Dimitri Medwedew, den er an allen Fronten unterstütze: „Die vier Jahre Medwedew waren eine glückliche Zeit in meinem Leben. Seine Beziehungen zu Obama, was er mit der Wirtschaft gemacht hat – das war ein Wunder! Wie er die Unternehmer vor den Silowiki verteidigte! ‚Freiheit ist besser als Unfreiheit‘ – wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Vor lauter Begeisterung für Medwedew richtete Schkurenko sich sogar einen Instagram-Account ein. 2012 hatte er in einer Kolumne von Andrej Kolessnikow im Kommersant gelesen, dass der russische Präsident sich als einer der ersten bei dem „bourgeoisen Netzwerk“ angemeldet hätte. „Sein Gespür für die neusten digitalen Technologien war einwandfrei, ich vertraute ihm ganz aufrichtig“, sagt Schkurenko. Er lud sofort die App herunter, lief aus dem Hinterzimmer seines Supermarkts, knipste die Verkaufsregale und postete spontan sein erstes Foto. 

    Nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine wechselte Dimitri Medwedew, nun stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates, zu militaristischer Rhetorik und wurde zu einem der wichtigsten Wortführer der „Kriegspartei“. „Der einstige Bewunderer von Steve Jobs hat sich in einen Anti-NATO-Fabulisten verwandelt. Er hat seine Wahl getroffen. Aber meine Ansichten waren schon immer liberal und sind es geblieben“, sagt Schkurenko. 

    Seine Meinung gegenüber Medwedew hat der Milliardär geändert, aber Instagram blieb er treu. Es ist bis heute das einzige soziale Netzwerk, das Schkurenko nutzt. Jetzt, 12 Jahre später, hat er rund 7.400 Follower. Genauso vielen Menschen gibt er heute Arbeit. 

    Kein Aktivist 

    Als 2011 verkündet wurde, dass Medwedew den Präsidentenposten räumt und Putin wieder das Ruder übernimmt, war Schkurenko endgültig desillusioniert: „Mir ging es schlecht, ich war dagegen.“ Es ärgerte ihn, dass die Staatsmacht gegen das Gesetz verstoßen hatte. 

    Putin wählte der Milliardär nie wieder. 2012 gab er seine Stimme Michail Prochorow, 2018 Xenia Sobtschak. Er wurde sogar ihr Vertrauensmann für die Oblast Omsk. Denjenigen, die ihm Kurzsichtigkeit vorwarfen, erklärte er, dass Sobtschak, Prochorow und Nawalny für ihn ein und dasselbe wären: Leute, die öffentlich für liberale Werte eintraten, und es wäre ihm egal, ob sie Politiker, Clowns oder Protegés des Kreml seien. Putin betrachtete er als jemanden, der sich schon zu lange an seinen Sessel klammerte. „Also habe ich gegen ihn gestimmt“, sagt Schkurenko. 2024 setzte er sein Häkchen hinter Wladislaw Dawankow. 

    Schkurenko sagt, er sei wütend gewesen, als die Krim an Russland angegliedert wurde; die Wirtschaft stagnierte, die Realeinkommen begannen zu sinken. Er war traurig, als Boris Nemzow ermordet wurde. Er war glücklich, als Chodorkowski freikam und Swetlana Alexijewitsch den Nobelpreis für Literatur erhielt. 2020 war er so empört darüber, dass Medwedew samt der ganzen Regierung zurücktrat, dass er 15.000 Rubel [zum damaligen Kurs etwa 170 Euro – dek] an den TV-Sender Dozhd spendete, der darüber berichtete. Dann hörte er, dass Michail Mischustin zum neuen Premierminister ernannt wurde, und beruhigte sich wieder. Er bereute sogar, dass er so impulsiv mit seinem Geld um sich geworfen hatte. 

    Als Alexej Nawalny mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, checkte Schkurenko auf einer Geschäftsreise nach Tomsk im Hotel Xander ein, in dem auch Nawalny im August 2020 übernachtet hatte. Schkurenko verfolgte das Schicksal Nawalnys, machte sich Sorgen um ihn und „wollte, dass er am Leben bleibt“. Und obwohl der gebürtige Omsker der Meinung war, dass ein politisches Programm nicht auf dem Kampf gegen Korruption gründen könne und eine Führungspersönlichkeit innerhalb der Nomenklatura heranwachsen sollte – wie im Falll von Gorbatschow –, bewunderte er Nawalny für seinen Mut und sein entschlossenes Handeln: „Als Politiker hat er das Richtige getan, als er nach Russland zurückkehrte. Das war mutig, ehrlich, einfach gut!“ 

    Als Nawalny nach seiner Genesung im Januar 2021 erneut verhaftet wurde, verfolgte der Unternehmer die vierstündige Live-Sendung auf Dozhd. Mehr allerdings auch nicht. 

    „Ich bin kein Aktivist, kein Politiker. Ich kann keine Revolution machen. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand anders sie machen kann. Ich bin nicht für eine Revolution unter Nawalny, sondern für bürgerliche Freiheit, für eine sanfte Revolution! Für einen Machtwechsel, für die Bildung, für liberale Werte.“ 

    Der Unternehmer ist noch nie mit einem Plakat auf die Straße gegangen oder hat an Kundgebungen teilgenommen. Die einzige Massenveranstaltung, an der er in den letzten Jahren teilgenommen hat, war Gorbatschows Beerdigung. Weil er den Tod des ersten Präsidenten der UdSSR als eine „persönliche Tragödie“ empfunden habe, sei er extra nach Moskau geflogen. 

    Er habe nicht die Macht, die Situation im Land zu verändern, sagt Schkurenko. „Für mich geht nichts über die Marktwirtschaft und die westlichen Demokratien. Aber wie soll ich darauf Einfluss nehmen?“, räsoniert er. „Wenn mein Land diese Richtung einschlägt, freue ich mich. Wenn es seinen eigenen, besonderen Weg sucht, bin ich unglücklich. Als Unternehmer kann ich mein eigenes Glück schmieden, aber da sind noch 140 Millionen andere Menschen im Spiel. In dieser Hinsicht hege ich keine Illusionen. Es hat keinen Sinn, sich vor die Schießscharte zu werfen. Ich werde wütend sein, unglücklich, aber ich will keine Revolution machen, sondern Geld!“ 

    Eine Filiale der Supermarktkette „Pobeda” in Omsk – eine von vielen Ketten im Handelsimperium des sibirischen Milliardärs Viktor Schkurenko / Foto © imago 

     

    Erst das Geschäft, dann die Familie 

    Geld macht Schkurenko seit Beginn der 1990er Jahre. Im ersten Jahr seines Studiums an der Wirtschaftsfakultät der Staatlichen Universität Omsk lernte der spätere Unternehmer seinen zukünftigen Geschäftspartner kennen – seinen Kommilitonen und Tischnachbarn Dimitri Schadrin. Sie stellten bald fest, dass sie beide auf The Doors und auf Genesis standen. Schkurenko lud Schadrin zu sich nach Hause ein, um bei Kaffee und Cognac Peter Gabriel zu hören. 

    In den nächsten fünf Jahren paukten sie zusammen für Prüfungen, trieben Sport, gingen mit Mädchen aus und spielten im Studententheater. Dann unternahmen sie gemeinsam ihre ersten geschäftlichen Schritte: 1992 reisten sie zum ersten Mal nach Moskau, deckten sich mit Champagner, Jeans, Zigaretten und Schnaps ein, füllten ein ganzes Zugabteil mit den Kisten und fuhren zurück, um alles zu verkaufen. 

    Innerhalb von drei Jahren schossen die Umsätze so in die Höhe, dass sie dazu übergingen, Schreibmaschinen und Damenstrumpfhosen mit Lastwagen und Militärflugzeugen zu transportieren: „Du gehst zum [Flughafen – dek] Schukowski, wartest auf einen Militärflug von Moskau nach Omsk, verhandelst mit den Piloten und fliegst los. So machte man das damals“, sagt Schkurenko. 

    Der Wendepunkt war das Jahr 1996, als nach der Privatisierung die Banken begannen, die Aktien von ehemaligen Staatsunternehmen und deren Mitarbeitern aufzukaufen. Nicht jeder wollte seine Zeit damit verschwenden, zur Bank zur laufen. Also fingen Schkurenko und Schadrin die Aktieninhaber vor den Werkstoren ab und tauschten die Wertpapiere gegen Bargeld. Auf diese Weise verdienten sie ihre ersten Dollar-Millionen. Nachdem sie ein solides Kapital zusammen hatten, konzentrierten sich die Partner auf Lebensmittel, gründeten eine Firma und eröffneten die erste Lebensmittelkette in Omsk. 2003 wurde das Unternehmen unter dem Namen Schkurenko Handelsgesellschaft registriert. 

    Seinen Erfolg misst Viktor Schkurenko am Umsatz seines Unternehmens. „Für mich ist das Geschäft wichtiger als die Familie“, sagt er. „Familie und Religion sind für normale Menschen, die keinen ausgeprägten Ehrgeiz haben. Meine Religion ist der Kapitalismus. Wachstum als Ausdruck des Erfolgs – bis ins Unendliche! Darin sehe ich den Sinn meines Lebens: nicht stehen zu bleiben. Wenn ich manchmal schlaflose Nächte habe, dann ist es wegen der Geschäfte.“ 

    Einmal verkrachten sich die jungen Geschäftspartner: Schadrin lernte ein Mädchen kennen, nahm Geld aus der Gemeinschaftskasse und kaufte damit eine Einzimmerwohnung. Es war ein Einzelfall, aber prägend – Schkurenko empfand das als Hochverrat. „Wir hatten Erfolg, weil wir uns nach diesem Vorfall gegenseitig in den persönlichen Ausgaben bremsten“, sagt er. 

    Schkurenkos persönliche Ausgaben liegen laut eigener Aussage bei etwa 100.000 Rubel [ca. 950 Euro – dek] im Monat. Wenn seine Familie nicht wäre, für die er etwa eine weitere Million [9.500 Euro – dek] ausgibt, würde er noch asketischer leben, sagt er. 

    Alle sechs Jahre tauscht er seinen Porsche Cayenne gegen einen neuen aus. An den Wochenenden mietet er eine Hütte im Wald und fährt alleine Langlaufski. In der Stadt bewohnt er eine 250-Quadratmeter-Wohnung, die noch nicht abbezahlt und ohne großen Luxus eingerichtet ist. Auf dem Sofa mummelt sich der Millionär in eine Ikea-Decke und liest Sorokin, Pelewin oder Flaubert. 

    Das einzige, wofür er abgesehen vom Geschäft bereit ist, Millionen auszugeben, ist das Reisen. Seine Frau erinnert sich gerne daran, wie sie 2018 in der Karibik am Strand neben Penelope Cruz und Javier Bardem gelegen haben. Ein Jahr später machte die Familie Urlaub auf den Seychellen – auf der teuersten Privatinsel der Welt, North Island. Die Insel bietet Platz für maximal 22 Besucher. Auf Booking.com liegen die Preise für eine Übernachtung in einer Villa auf North Island zwischen acht- und zehntausend Euro. 

    Eine EuroSpar-Filiale in Moskau. Für die Handelskette mit Sitz in den Niederlanden führt Schkurenko das Russland-Geschäft / Foto © Imago 

     

    „Das Land hat einen Fehler begangen“ 

    Drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, am 21. Februar 2022, postete Schkurenko ein Foto von einer Ziegelsteinmauer mit einer Antikriegslosung auf Instagram

    Zwei Jahre später kann man in Russland für solche Posts und Kommentare in den sozialen Medien eine Haftstrafe bekommen: bis zu 15 Jahre Straflager. Wie zum Beispiel der Renter Michail Simonow, der für seine Posts auf VKontake sieben Jahre wegen „Diskreditierung der Armee“ hinter Gitter sitzt. Doch Schkurenko glaubt weiterhin an das Gesetz und hat nicht vor, etwas zu löschen: „Das ist weder eine Diskreditierung der Armee noch eine öffentliche Antikriegsaktion. Das war noch vor Beginn der Spezialoperation. Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen. Sie müssen die Gesetze genau lesen! Sie werden nichts finden!“ 

    Als der Krieg ausbrach, war Schkurenko besorgt, aber er war gleichzeitig sicher, dass sein Business das überstehen würde. Und er sollte recht behalten. Nach dem Februar 2022 hat sich für ihn nichts verändert, nur „dass das Geld jetzt zwei Tage unterwegs ist anstatt fünf Minuten“. Auch seine persönliche Haltung ist gleich geblieben: „Ich bin Humanist. Ich halte das für einen Fehler, damals wie heute. Sowohl wirtschaftlich als auch menschlich. Das Wichtigste für ein Land ist das menschliche Kapital, nicht Territorium. Man hätte die Spezialoperation nie beginnen dürfen. Am 24. Februar 2022 hat unser Land meiner Meinung nach einen Fehler begangen!“ 

    Nicht alle seine Mitarbeiter teilen seinen Standpunkt. „Es gibt Leute, die das ganz anders sehen“, sagt der Unternehmer. „Mein Filialleiter hat sich zum Beispiel ein Z auf sein Auto geklebt. Er hat mich mit diesem Auto herumgefahren, beim Abendessen haben wir gestritten … Ich diskutiere auch jetzt noch manchmal mit dem einen oder anderen in der Kantine. Aber ich würde niemals auf die Idee kommen, deswegen jemandem zu kündigen oder sein Gehalt zu kürzen.“ 

    Mit seinem Geschäftspartner Dimitri Schadrin spricht er seit fünf Jahren nicht mehr über Politik. Auch der habe eine „andere Meinung zur Spezialoperation“. Schadrin, ehemaliger Abgeordneter im Stadtparlament von Omsk und in der gesetzgebenden Versammlung der Partei Einiges Russland, leitet heute die Vereinigung der unabhängigen Handelsketten in Russland (Sojus nesawissimych setej) und unterstützt das Vorgehen der Machthaber. 

    „Ob er mein Freund ist? Ich bin 52 Jahre alt, ich brauche keine Freunde!“, erklärt Schkurenko. „Er ist mein guter Bekannter und Geschäftspartner. Manchmal feiern wir unsere Geburtstage zusammen.“ 

    Schadrin selbst wollte sich nicht äußern und hat gebeten, nichts über ihn zu schreiben. 

    „Ich habe eine negative Einstellung zum Staat, aber ich lebe damit, dass meine Steuern in die Verteidigung fließen, denn in erster Linie bin ich Unternehmer“, sagt Schkurenko. „Das ist meine Selbstverwirklichung. Das ist mein erstes, zweites und zehntes Ich. Ich habe nicht vor, irgendwo hinzugehen, ich arbeite hier, ich lebe hier, ich liebe dieses Land. Wenn ich aufhören würde, Steuern zu zahlen, wäre ich kein Unternehmer mehr. Das wäre, als würde ich aufhören zu atmen.“ 

    Durch Staatsaufträge erwirtschaftet Schkurenko Hunderte von Millionen von Rubel, aber insgesamt machen sie kaum mehr als ein Prozent seines Gesamtumsatzes aus. Einem der Geschäftsführer der Handelskette zufolge sind das kleine Aufträge: Sie versorgen regionale und kommunale Krankenhäuser mit Butter, Milch und Quark. 2021 stattete Schkurenkos Firma die für 1.650 Personen ausgelegte Kantine des neuen Universitätsgebäudes mit Backöfen, Kühlschränken und Arbeitsplatten aus, erzählt uns Alexander Kostjukow, Jurist und Vizerektor für Bauwesen an der Staatlichen Universität Omsk. 

    „Wir sind in der Lebensmittelbranche tätig“, erklärt Schkurenko. „Der Staat schreibt die Aufträge aus, meine Mitarbeiter bewerben sich. Ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidungen. Sie können Waren an den Staat verkaufen oder nicht, ich sage bei den Besprechungen nicht: ‚Macht keine Geschäfte mit dem Staat‘. Wenn man mir diese Aufträge plötzlich entzieht, habe ich kein Problem damit. Ich habe nicht vor, ihre Zahl zu erhöhen und mich in diese Richtung zu entwickeln.“ 

     In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod
    In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod

    „Ich würde nie einem Obdachlosen 100 Rubel geben“ 

    Für Schkurenko steht, wie er selbst sagt, sein Unternehmen stets an oberster Stelle. Den Teamgeist seiner Mitarbeiter zu stärken, zahlt sich ebenfalls aus. Auf die weithin bekannten Betriebsfeiern seines Handelsunternehmens, die Schkurenko seit über 20 Jahren organisiert, will er auch angesichts der „Militärischen Spezialoperation“ nicht verzichten. In der Oblast Omsk nennt man sie „jährliche Orgien“, „verrückte Teekränzchen“, „Feste der absoluten Freiheit und Toleranz“. Tausende Mitarbeiter aus acht Regionen, in denen der Omsker aktiv ist, feiern mit, und das Budget für die Party beträgt 20 Millionen Rubel (etwa 186.000 Euro – dek). 2023 kamen die Feiern zum Tag der Stadt Omsk mit einer kleineren Summe aus: 18 Millionen Rubel.          

    Für Schkurenko kommt es gar nicht in Frage, dieses Geld an Arme, Flüchtlinge oder politische Häftlinge zu verteilen: „Wohltätigkeit ist für mich Totschka rosta (dt. Wachstumspunkt), ein Wettbewerb für Dorfschulkinder, die Unternehmer werden wollen. Den finanziere ich. Aber ein Obdachloser wird nie 100 Rubel von mir bekommen!“ 

    Schkurenko behauptet, noch nie auf der Straße Almosen gegeben zu haben. Bekannte von ihm erzählen allerdings, er habe anderer Leute Geldstrafen wegen Demonstrationen oder Äußerungen gegen den Krieg beglichen und an ein Hilfsprojekt für politische Gefangene gespendet. Sie räumen aber auch ein, dass das alles Peanuts für ihn sind. Schkurenko weicht diesem Thema aus.  

    „Ich helfe nur den Starken! Denen, die jung und begabt sind. Den Schwachen gebe ich nichts. Wieso sollte ich, wem bin ich das schuldig?! Ich zahle ja Steuern. Alles andere ist Aufgabe des Staates! Ich verdiene seit vielen Jahren jede Kopeke aus eigener Arbeit, und ich werde dem Staat die sozialen Probleme nicht aus der Hand nehmen. Ich hasse Paternalismus! Und für meine Mitarbeiter veranstalte ich tolle Partys.“  

    Kritische Stimmen, die anonym bleiben wollen, wissen wiederum nichts von seinem Engagement für politische Gefangene, erwähnen aber, dass er Abgeordnete und Beamte protegiert. 2017 etwa zahlte er die Konkursschulden von Alexej Sajapin, einem Abgeordneten der Partei Einiges Russland im Stadtrat von Omsk.  Und 2019 klagte er die Schulden von Wjatscheslaw Tarassow ein, der damals Verwaltungsleiter des Bezirks Tewris in der Oblast Omsk war.  

    Schkurenko sagt hingegen, er habe nie Omsker Beamte gesponsert, sondern nur Unternehmern unter die Arme gegriffen, die er persönlich kannte. Das macht er auch jetzt noch. „Es gibt viele, denen ich was leihe, ja“, sagt er. „[Dem Unternehmer Viktor] Skuratow hab ich 500 Millionen geliehen (etwa 4,6 Millionen Euro – dek), das wissen alle. Na und? Der zahlt mir irre Zinsen.“ Er erkläutert: ‚Irre’ ist immer mehr als das Deposit. Vor ein paar Jahren hat er zum Beispiel einen Kredit mit 18 Prozent Jahreszinsen vergeben.  

    „Wenn mich jetzt ein Gouverneur um einen Kredit für einen guten Zinssatz bitten würde, ich würde nicht nein sagen“, sagt Schkurenko, fügt aber hinzu, dass keine Beamten an ihn herantreten, sondern Geschäftsleute. „Tarassow hab ich Geld geliehen, weil er eine Molkerei besitzt. Nicht viel, drei Millionen Rubel (etwa 27.800 Euro – dek), außerdem ihm persönlich und nicht seiner Firma. Auf die Firma wollte er keinen Kredit aufnehmen. Anfangs zahlte er mir Zinsen, dann hörte er auf. Fünf Jahre hat er das Geld nicht zurückgezahlt. Als er Verwaltungsleiter wurde und wir immer noch nicht quitt waren, hab ich ihn verklagt. Hab sogar verloren, wenn ich mich recht erinnere, weil es verjährt war. Das Geld hab ich also nicht mehr gesehen. Dafür sitzt er jetzt im Gefängnis.“  (Der Politiker wurde im März 2022 wegen schweren Betrugs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt – dek).            

    Schkurenko sagt, für ihn sei auch Sajapin nur ein Unternehmer, mehr nicht. „Er ist kein Staatsbediensteter, er war Abgeordneter im Stadtrat, das ist er jetzt nicht mehr. Er ist absolut kein einflussreicher Mann, er hatte eine Firma, die mit Computertechnik handelt. Und dann war er bankrott, ja. Ich hab ihm tatsächlich geholfen, habe seinen Kredit abgelöst, er hat ihn dann von mir zurückgekauft. Warum ich das gemacht habe? Er hat sich an mich gewandt und um Hilfe gebeten. Ich kenne ihn gut, wir haben schon zusammen Wanderungen gemacht und Wodka getrunken. Wieso sollte ich ihm nicht helfen?“ 

    „Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“ 

    Bei den jährlichen Betriebsfeiern, wo auch schon mal eine Drag-Show, Ritterspiele und Crash-Tests mit Bürotechnik auf dem Programm standen, ist Schkurenko auch persönlich mit von der Partie. Er verbringt die Nacht mit seinen Angestellten, verweigert niemandem ein Selfie oder einen Trinkspruch. Mal kommt er, in einen schwarzen Umhang gehüllt, auf einem Rappen geritten, mal in einem rostigen, mit Graffiti vollgesprühten Shiguli angefahren. 2022 ließ er sich von vier Bodybuildern mit nackten, goldbemalten Oberkörpern auf einem Thron hereintragen. Auf der Bühne erwartete ihn bereits Iwan Urgant. 

    Eine Woche nach dieser Veranstaltung zog der Talkmaster Wladimir Solowjow gegen den Omsker vom Leder. Er nannte Urgant eine „Kackwurst im Eisloch“ und Schkurenko eine „Schande für Omsk und ganz Russland“. Einen Monat später kam Solowjow noch mal auf den Geschäftsmann zurück und zog ihn fünf Minuten lang live auf Sendung als „regionalen Schweinehund und Kotzbrocken“ durch den Dreck. „Noch dazu schnappt er sich den Namen Pobeda (dt. Sieg)“, sagte Solowjow, bezugnehmend auf eine von Schkurenkos Handelsketten. „Steht er schon vor Gericht? Ist seine Firma schon bankrott? Alle 2.500 Deppen (damit sind die Gäste der Betriebsfeier gemeint – Anm. Holod) wandern schnurstracks an die Front, wenn sie auch seiner Meinung sind. Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“                 

    Für die Unterstützung von Urgant wurde Schkurenko auch vom Regisseur Nikita Michalkow angegriffen. Und der Vorsitzende der Moskauer Abteilung des Verbraucherschutzvereins, Jewgeni Tschirwin, wetterte: „Ein Verräter unterstützt einen Verräter und ist auch noch stolz darauf, das ist unverzeihlich!“ Russlands Urteil über Schkurenko sei gefallen. Tschirwin rief die sibirische Bevölkerung zum Boykott seiner Läden auf, Schkurenko solle von ihnen keinen Rubel mehr kriegen.  

    Eine anonyme Anzeige, ein Besuch von der Polizei und 5.000 Rubel Strafe (etwa 46 Euro – dek) wegen Ruhestörung standen am Ende dieser Geschichte. Der Boykott kam nicht zustande. Der Gesamterlös der Holding wuchs innerhalb eines Jahres in Rubel um zehn Prozent, auch der Einzelhandel erzielte ein Plus, und der Gewinn der Café-Kette Skuratov Coffee, in die Schkurenko investiert, ist um 50 Prozent gestiegen.  

    „Ich habe kein Gesetz übertreten, und wenn ich jemandem auf den Schlips getreten bin, dann ist das nicht mein Problem“, kommentiert Schkurenko die Kritik. „Ich bin gegen Wolodin und alle Gesetze, die sie da der Reihe nach beschlossen haben, aber formell hab ich kein Gesetz gebrochen, insofern sind meine Handlungen nichts Außergewöhnliches. Ich will weder Gouverneur werden noch Bürgermeister oder Abgeordneter. Von mir geht keinerlei Bedrohung aus. Ich trete mit niemandem in Konkurrenz. Gut, vor 20 Jahren hab ich mal meine Steuern nicht gezahlt, aber jetzt zahle ich alles. Sogar in Russland braucht es einen formellen Grund für ein Strafverfahren. Und eine Geldstrafe kann ich ja berappen, wenn nötig.“                           

    Seine Unabhängigkeit, sagt eine Auskunftsperson (ein Oberstleutnant des FSB im Ruhestand Anm. Holod), komme Schkurenko bestimmt teuer zu stehen. „In den Anfangsjahren war ein FSB-Oberst Teilhaber an einer seiner Firmen“, sagt er. „Die Jungs [Schkurenko und Schadrin] hatten eine kryscha und keine nennenswerten Probleme. Das ist eine wichtige unternehmerische Kompetenz: der Zeit und den Möglichkeiten entsprechend für die eigene Sicherheit zu sorgen. Das haben alle gemacht. Schkurenko hat hundertprozentig auch heute noch eine kryscha. Da war zuerst der Oberst, dann noch ein zweiter, und jetzt ein Moskauer General.“ In der Wirtschaftsdatenbank Spark konnte Holod keine Hinweise auf einen eventuellen dritten Teilhaber finden.    

    Schkurenko sagt, seit Jelzins Erlass über die staatliche Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit im Jahr 1996 hätten er und seine Unternehmen „keine kryscha mehr gehabt und auch keine derartigen Angebote erhalten“. „Wir haben keine FSB-Männer und keine Oberste als Teilhaber, hatten wir nie!“, braust er auf. „Aber sollen sie doch glauben, was sie wollen! Na klar, der FSB wird mich beauftragt haben, für Nadeshdin zu unterschreiben und seine Partei zu sponsern. Auch Urgant habe ich unter seiner Fuchtel eingeladen, und Vertrauensmann von Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak bin ich auch auf FSB-Befehl geworden …“ Schurenko fängt beinah an zu brüllen. 

    Quellen aus Unternehmertum, Beamtenschaft und Medien sind sich einig, dass Schkurenkos Sicherheit erstens durch seinen Respekt vor dem Gesetz und zweitens durch seine Steuern gewährleistet ist. „Ich bezweifle, dass er überhaupt so etwas wie eine kryscha hat“, sagt Oleg Malinowski, der Chefredakteur von RBK Omsk, der Schkurenko als einen der wichtigsten Schlagzeilenhelden der Region schon lange kennt. „Das Einzige, was ihn schützt, ist sein kluger Kopf. Er ist einer der stärksten Steuerzahler, der Staat profitiert ziemlich von ihm. ’Seine kryscha ist also der Staat selbst, ob es ihm gefällt oder nicht.“ 

    „Ich mache überall in Russland Geschäfte und hänge nicht von den lokalen Behörden ab. Wenn sie mir hier blöd kommen, gehe ich eben woandershin. Lasse alles liegen und ziehe mit meinem Geld in eine andere Region.“ Das Gerede davon, dass er von irgendwem protegiert werde, bringt Schkurenko in Rage. „Hinter meinem Business steht keiner außer mir!“ 

    Ein Jahr nach dem Skandal mit Urgant bat Schkurenko 2023 seine Mitarbeiter, als Märchenfiguren verkleidet zur Betriebsfeier zu kommen. Er erklärte die Party zur Hommage an die TV-Sendung Proisschestwije w strane Multi-Pulti (dt. Ein Vorfall im Land Multi-Pulti) mit Iwan Urgant, Alexej Serebrjakow und Alexander Gudkow. Sie alle haben sich auf die eine oder andere Weise gegen die „Spezialoperation“ geäußert. Kurz vor Jahresende wurde die Sendung ohne offizielle Begründung aus dem Programm gestrichen.  

    Schkurenkos Angestellte erzählen, ihr Chef habe während dieser Feier in der Lastschale eines Hebekrans hoch über der Menge geschwebt. Er trug eine orangenfarbene Perücke und einen schwirrenden Propeller auf dem Rücken. Dreitausend Leute begrüßten ihn mit Jubel und Applaus. „Ich bin heute Karlsson vom Dach!“, schrie der Boss ins Mikrofon. „Zuerst wollte ich mich als Hahn von den Bremer Stadtmusikanten verkleiden, doch das wäre für Solowjow ein gefundenes Fressen gewesen!“      

    NATO-Träume 

    Schkurenko postet seine Ansichten regelmäßig auf Instagram, das in Russland verboten ist – mehrmals im Monat. Seit dem Februar 2022 empfiehlt er den neuen Song des DDT-Leaders Juri Schewtschuk und posiert vor der Skulptur Net wojne (dt. Nein zum Krieg), die mit ebenjener Phrase auf dem Sockel in Novosibirsk steht. Er dokumentiert seine eigenen „Gespräche über das Wichtige“, nämlich wie er auf einem Feriencamp mit den Kindern über Humanismus und Freiheit sprach. Er präsentiert, wie er auf die Auszeichnung des „ausländischen Agenten“ Memorial mit dem Friedensnobelpreis ein Gläschen Calvados hebt. Und er schlägt vor, die nächste Versammlung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation in der Tretjakow-Galerie vor dem Bild Apofeos wojny (dt. Apotheose des Kriegs) von Wassili Wereschtschagin abzuhalten. 

    Die Kommentare unter Schkurenkos Posts sind unzensiert. Die Einen unterstützen und feiern seinen Mut, die Anderen beschimpfen ihn wüst und hetzen ihm die Staatsanwaltschaft auf den Hals. 

    „Ich bin gegen jede Zensur: im Internet, im Krankenhaus, in der Bibliothek“, sagt er. „Gegen die Todesstrafe, gegen das Verbot von Abtreibung, Meinungsfreiheit und kreativer Selbstverwirklichung … Es macht mich fertig, dass man für einen Kommentar im Gefängnis landen kann, dass Regisseure verhaftet und Künstler unter Druck gesetzt werden! Dass Berkowitschs Theaterstück mit der Goldenen Maske ausgezeichnet wird, monatelang aufgeführt wird und dann plötzlich ein ominöser Experte auftaucht, der darin eine Rechtfertigung von Terrorismus sieht!“ 

    Schkurenko wollte Kirill Serebrennikows Ballett Nurejew sehen, doch während er noch den Flug plante, wurde es bereits verboten. „Die Duma diskreditiert sich mit ihren Initiativen selbst, trifft immer noch üblere Entscheidungen. Es ist unfair und tragisch, aber da kann man jetzt nichts machen. Man kann nur zusehen. Und den Menschen zeigen, dass es auch anders geht.“ 

    „Es ist immer noch mein Land“, sagt der Unternehmer. „Aber nicht meine Regierung. Der russische Patriotismus trägt den Abdruck eines Kampfstiefels. Deswegen muss man vorsichtig sein. Aber man darf nicht aufhören, kreativ zu sein, sich in äsopischer Sprache zu äußern. Und ich werde in Metaphern sprechen, um nur ja kein Gesetz zu brechen. Um auf alles gefasst zu sein.“      

    Schkurenko hat Respekt vor „den Stärksten“, vor jenen, die „sich in die Schlacht warfen“ wie Solschenizyn und Pasternak. „Aber außer ihnen gab es noch Tarkowski und Andrej Smirnow, die äußerlich buckelten, aber in ihrem Inneren brodelte es. Als Gorbatschow kam, gingen wir alle auf die Straße, um ihn zu unterstützen. Und wenn eine neue Regierung kommt, werden wir wieder draußen stehen.“ Schkurenko glaubt an die Unausweichlichkeit eines Wandels. „Wir sind ein europäisches Land, und das, was bei uns jetzt passiert, ist widernatürlich. Ich bin überzeugt, dass wir wieder mit Europa kooperieren werden. Dass Russland eines Tages der NATO beitritt. Das wäre mein Traum! Weil wir dann weniger für die Rüstung ausgeben müssten und mehr Geld für Bildung da wäre. Ich warte einfach darauf.“

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  • „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

    „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

     

    145 politische Gefangene wurden seit Juli 2024 in Belarus freigelassen. Von einem Abflauen der Repressionen kann allerdings keine Rede sein. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna konstatiert in ihren monatlichen Analysen „ein unverändert hohes Niveau der politisch motivierten Repressionen“. Mit den bevorstehenden sogenannten Präsidentschaftswahlen zieht das Regime die Daumenschrauben wieder deutlich an. Allein seit Anfang November wurden über 100 Personen festgenommen

    Gleichzeitig werden auch Familien und Verwandte von politischen Gefangenen häufig Ziel der Sicherheitsbehörden. Eine solche Geschichte erzählt das Online-Medium Mediazona Belarus.  

    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat
    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat

    Mitte Sommer 2023. Der achtjährige Wanja, seine elfjährige Schwester Marija und der 16-jährige Daniil haben endlich Ferien. In ihrer Wohnung in Minsk finden regelmäßig Durchsuchungen statt. Weil eine Sonderkommission entschieden hat, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. 

    Ihre Mutter Galina Budai versucht bereits seit Monaten, der Kommission zu beweisen, dass mit ihrer Familie alles in Ordnung ist. Galina muss gleichzeitig die Formulare studieren, mit denen die Beamten sie überhäufen, die Kinder erziehen und ihren Mann in der Strafkolonie unterstützen. Im September 2022 wurde der 46-jährige Andrej im Fall Busly ljazjaz (dt. Die Störche fliegen) zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Behörden lassen keine Gelegenheit aus, daran zu erinnern, nach welchem Paragrafen Andrej verurteilt wurde, wie lange er sitzen muss und dass er auf der „Terrorliste“ steht. 

    Offiziell steht die Familie unter Beobachtung, weil Galina und Andrejs Kinder zu Hause unterrichtet werden. Dabei hat sich daran jahrelang niemand gestört. Bis eines Tages der damals 15-jährige Daniil kurz nach 23 Uhr in der Metro von der Miliz aufgegriffen wurde. Er fuhr ohne Begleitung eines Erwachsenen nach Hause. Die Beamten brachten den Teenager auf die Wache und durchsuchten sein Handy. Dort fanden sie ein Abo des Telegram-Kanals von Nexta

    „Sie fragten ihn aus, wo seine Eltern sind“, erzählt Galina. „Er sagte, wo ich bin, und dass sein Vater in Untersuchungshaft sitzt. Sie wollten wissen, weswegen, da hat er geantwortet: ‚Wegen nichts.‘ Die Antwort schmeckte ihnen gar nicht, sie fingen an zu brüllen und ihn zu beschimpfen. So was kennt er von zu Hause nicht. Sie haben ihm richtig Angst eingejagt, und mir auch, als ich ihn abholen kam. Zum Abschied sagten sie, so was verjährt nicht, und wenn er sechzehn wird, kommen sie ihn wegen diesem Kanal holen.“ 

    *** 

    Über den Vorfall wurde die Einzugsschule der Kinder informiert. Weil sie zu Hause unterrichtet werden, gehen sie dort nur für die Prüfungen hin. Die Eltern haben sich immer selbst um den Unterricht gekümmert: Galina ist diplomierte Pädagogin und hat eine entsprechende Zusatzausbildung abgeschlossen. Nach Daniils Verhaftung verlangte die Schulleiterin, dass die Kinder umgehend wieder die Schulbank drücken. Für Galina kam das gar nicht in Frage. 

    „Für mich sind die Mängel des belarussischen Schulsystems offensichtlich. Wir sind zum Beispiel gegen jeglichen Militarismus, gegen den Krieg und jede Form von Gewalt. Von Freunden wissen wir aber, dass diese Themen jetzt an den Schulen zum Alltag gehören.“ Weil Galina sich weigerte, die Kinder zur Schule zu schicken, wurde eine Sonderkommission darauf angesetzt, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. Über das Schicksal der Familie entschieden die Leiterin der Bildungsabteilung im Exekutivkomitee, die Schuldirektorin, eine Beamtin vom Sozialdienst, Milizionäre und aus irgendeinem Grund sogar Feuerwehrleute. „Die Dame vom Sozialdienst erzählte irgendwas von Pflegeeltern und Adoption“, erinnert sich Galina. 

    Dass die Kinder in einer akkreditierten Online-Schule angemeldet sind und ausgezeichnete Noten haben, dass die Mutter Pädagogin ist und keiner in der Familie je irgendwie auffällig geworden ist, interessierte die Kommission nicht im Geringsten. Die Familie wurde für drei Monate als „sozial gefährdet“ eingestuft. In dem Gutachten hieß es, die Eltern würden „den Grundbedürfnissen der Kinder nicht nachkommen und den Erhalt der obligatorischen allgemeinen Sekundarschulbildung (in jeglicher Form) verhindern“. Es wurden „Maßnahmen zur Beseitigung der Ursachen und Bedingungen, die zur Schaffung eines ungünstigen Umfelds für die Kinder geführt haben“ festgesetzt. 

    *** 

    Daraufhin begannen die ständigen Kontrollen – nicht nur durch die Schule, sondern auch durch den Sozialdienst, das Bezirkskrankenhaus und – seltener – durch die Polizei. „Ich saß nicht untätig herum, sondern versuchte, den Beschluss des Exekutivkomitees anzufechten, aber vergeblich“, sagt Galina. 

    Das Bildungsministerium, an das sich Galina ebenfalls wandte, äußerte sich widersprüchlich. Ein Anwalt, den sie konsultierte, sagte, das Dokument könne auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden: Es ließe offen, ob häuslicher Unterricht nun verboten oder erlaubt war. „Ich pochte auf mein Recht, meine Kinder zu Hause zu unterrichten, und sah seitens des Ministeriums oder der Schule keine Spur von Unterstützung. Keinen Funken Menschlichkeit. Die Schule interessiert sich nur für die Ideologie, die Zukunft der Kinder ist ihr völlig egal“, meint Galina. 

    Für die Kinder, die 70-jährige Großmutter, die in der Familie lebt, und für Galina selbst bedeutete die Aufmerksamkeit des Staates eine enorme Belastung. Die Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte und anderen Beteiligten kamen meist ohne jede Vorwarnung, höchstens ein Anruf 15 Minuten vor dem Besuch. Die Familie musste immer in Alarmbereitschaft sein. Die Kontrolleure überprüften, ob im Haus genug zu essen war, ob die Kinder Arbeitsplätze hatten, die richtigen Hefte und Lehrbücher. Sie durchwühlten die Dokumente und sahen nach, ob die Kinder alle vorgeschriebenen Impfungen hatten. Zu beanstanden gab es nichts – außer, dass der Vater im Gefängnis war und die Kinder zu Hause lernten anstatt in der Schule. Nach drei Monaten kam die Kommission wieder zusammen. Der Status als „sozial gefährdet“ wurde verlängert. 

    „Wir standen alle unter Schock, wir waren sicher gewesen, dass sie uns endlich in Ruhe lassen würden. Aber nein, es gab weder Mitgefühl noch Verständnis. Mir kam es damals vor, als hätte der Staat mehr Anrecht auf die Kinder als ich. Er wollte entscheiden, wie sie lernen, mit wem sie Umgang haben und so weiter.“ Wegen der fremden Leute im Haus standen die Kinder extrem unter Stress, sie machten sich Sorgen um die Mutter und vermissten ihren Vater, dem sie regelmäßig Briefe schrieben. 

    „Er hat immer sehr viel Zeit mit den Kindern verbracht. Er spielte mit ihnen, fuhr die Kleinen mit dem Fahrrad herum, machte Touren mit unserem Großen. Sie waren es gewohnt, dass Mama die Hausarbeit macht und sie unterrichtet. Papa war für sie Freizeit, Ferien. Er dachte sich immer Abenteuer für sie aus: bei Hitze im Springbrunnen baden, mit dem Großen nachts heimlich Schawarma essen fahren oder mitten in Minsk einen Igel aufspüren und ein Video von ihm machen. Er steckte voller verrückter Ideen.“ 

    Andrej Budai war Im Juli 2021 verhaftet worden. Nach der Festnahme kamen Mitarbeiter des GUBOPiK mehrfach zu ihm nach Hause, durchsuchten die Wohnung nach Waffen – alles vor den Augen der Kinder. Andrej Budai leitete zuvor ein Bauunternehmen. 

    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat
    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat

    *** 

    In der Zeit, in der die Familie als „sozial gefährdet“ galt, sprach Galina mehrfach mit dem Schulamt. Einmal sagte man ihr: „Ihnen ist doch wohl klar, dass Sie diesen Status nicht ewig behalten werden. Beim nächsten Mal übergeben wir Ihre Akte einfach der Staatsanwaltschaft, und dann geht es bis hin zum Kindesentzug.“ 

    „Man hat mir also zu verstehen gegeben, dass sie mir die Kinder wegnehmen, wenn ich nicht pariere“, erinnert sich Galina. Das war der Moment, in dem sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte, das Land zu verlassen. Für 2023 war bereits die dritte Sitzung der Kommission anberaumt. 

    „Im Herbst wollten wir Andrej in der Kolonie besuchen. Wir wollten ihn so gerne sehen, bevor wir wegziehen, aber die Lagerleitung hat uns nicht zu ihm gelassen. Diese Situation zog sich bis zum Winter hin, der Druck wurde immer größer. Dann brach der Kontakt zu meinem Mann ab.“ Später erfuhr Galina, dass Andrej in eine andere Kolonie verlegt worden war. 

    *** 

    Galina reiste mit ihren Kindern nach Litauen aus. Die Großmutter blieb und bekam noch mehrmals Besuch von diversen Behörden, die wissen wollten, wo die Kinder sind. Die Familie hatte immer noch den Status „sozial gefährdet“. „Aber das ist nicht mehr unsere Sache“, sagt Galina. 

    In Litauen hat die Familie nun eine Aufenthaltserlaubnis, aber vor Galina liegen noch viele Herausforderungen: Arbeit finden, in die Krankenversicherung aufgenommen werden, die Sprache lernen und den Kindern dabei helfen und darauf achten, dass sie ihren Vater nicht vergessen. „Wir beten für ihn und unterstützen ihn, so gut es geht. Wir erinnern uns an gemeinsame Momente mit ihm, was er zu wem gesagt hat. Denken daran, dass wir ein Team sind. Wie unser Team am Ende abschneidet, hängt davon ab, wie jeder einzelne von uns mit der Situation umgeht. Auch wenn mein Mann physisch nicht anwesend ist, sind wir trotzdem immer zusammen.“ 

    Der älteste Sohn Daniil ist in den letzten Monaten merklich erwachsener geworden, er möchte seiner Mutter eine Stütze sein. Marija und Wanja vermissen ihren Papa sehr. Wanja habe lange nicht darüber gesprochen, erzählt Galina, aber jetzt habe er ihr anvertraut, dass sein Papa ihm fehle und es ihm wehtue, andere Jungen mit ihren Vätern zu sehen. Zu Hause in Belarus hatte Wanja eine ganze Sammlung von selbstgezüchteten Veilchen, die er zurücklassen musste. Jetzt hat Wanja auch in der neuen Heimat sein Hobby wiederaufgenommen und kümmert sich um seine Blumen. 

    Andrej Budai befindet sich währenddessen in der Strafkolonie IK-2 in Bobruisk, wo er regelmäßig in den Strafisolator gesperrt wird. Am 23. September 2024 wurde eine neue Anklage gegen den Politgefangenen verhandelt: wegen „böswilligen Ungehorsams gegen die Lagerverwaltung“. 

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    Der Herrscher hat es eilig

  • Der Herrscher hat es eilig

    Der Herrscher hat es eilig

    Am 26. Januar 2025 sollen Präsidentschaftswahlen in Belarus stattfinden. Oppositionsparteien sind längst verboten, Gegenkandidaten wird es also kaum geben. Nach wie vor werden fast täglich Menschen festgenommen und weggesperrt, öffentlicher Widerstand und Protest sind de facto unmöglich. Es wird also keine Wahl sein, sondern die Inszenierung einer Wahl, bei der sich Alexander Lukaschenko abermals zum Sieger küren wird. Dennoch sind solche Ereignisse Stresstests für autoritäre Systeme.  

    Der Journalist Alexander Klaskowski erklärt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk, warum es die Machthaber eilig haben, die Wahlshow über die Bühne zu bringen.  

    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by
    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by

    Das war ganz bestimmt keine spontane Entscheidung. Man konnte sehen, dass der Herrscher seine Wahlkampagne bereits begonnen hatte. Indem er etwa die lokalen Erntefeste abklapperte, die Dаshynki, bei denen er die Dorfleute mit Lob überschüttete und ihnen alle möglichen Versprechungen machte. Auch die so schwierige Gruppe der Jugend hatte er im Blick: Er trat vor Studenten in Witebsk und Minsk auf. Gleichzeitig ging die groß angelegte Propagandashow Marathon der Einheit an den Start. 

    Zuvor hatte BYPOL, eine Initiative ehemaliger Silowiki, unter Berufung auf Insiderinformationen berichtet, dass die Wahlen für den 23. Februar angesetzt seien. Das mag zwar der Fall gewesen sein, aber „um seine Feinde zu ärgern“ beschloss Lukaschenko, den Termin auf Januar vorzuverlegen. Obwohl seine Amtszeit erst am 20. Juli 2025 abläuft. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Igor Karpenko erklärte diese „Phasenverschiebung“ auf der jüngsten Sitzung des Repräsentantenhauses damit, dass es für den Präsidenten einfacher sei, die neue fünfjährige Amtszeit zu planen, wenn er schon am Jahresanfang gewählt werde. 

    Das klingt ganz schön an den Haaren herbeigezogen. Ja, vielleicht wenn die Wahlen echte Wahlen wären und jemand Neues mit neuen Ideen an die Macht käme. Aber de facto geht es bloß darum, eine weitere Amtszeit für den alten Herrscher abzusegnen. Genauso bemüht klang auch Karpenkos Erklärung, die Präsidentschaftswahlen hätten ja auch 2006 schon einige Monate früher stattgefunden. „Die Praxis, Wahlen vor Ablauf der Amtszeit des Präsidenten abzuhalten, gibt es in etlichen Ländern, zum Beispiel in Kirgisistan, Usbekistan …“, führte er weiter aus. Klar, so wird es sein, Lukaschenko wird sich das in Kirgistan abgeschaut haben. 

    Dass die Wahlen 2006 vorgezogen wurden, war immerhin nachvollziehbar. Damals konnte sich die Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, Aljaxandar Milinkewitsch, dessen Umfragewerte rasant stiegen. Deswegen wollte das Regime seine Kampagne unterminieren und die Konkurrenz im Keim ersticken. Aus heutiger Sicht wirken diese Zeiten wie eine blühende Demokratie. Jetzt sind in Belarus alle Schrauben so fest angezogen, das politische Feld so gründlich gesäubert, dass von einem oppositionellen Kandidaten nicht einmal mehr die Rede sein kann. 

    Also wozu dann die Eile? 

    Trauma des Jahres 2020? 

    Mir scheint, einer der Hauptgründe für Lukaschenkos Vorgehen ist das Trauma des Jahres 2020. Ja, die Opposition ist entweder zerschlagen, eingesperrt oder ins Ausland vertrieben. Aber der Diktator sieht trotzdem überall feindliche Intrigen. So instruierte er Ende September seine Funktionäre: „Glaubt ja nicht, dass wir reinen Tisch gemacht haben, wie manche sagen. Die, die wir erwischen wollten, sind abgehauen. Ist ihr gutes Recht, sollen sie doch. Aber wir müssen wachsam bleiben.“ Also lieber beeilen, bevor die Feinde noch hinterrücks einen Plan aushecken. Lieber noch schnell eine Machtspritze, damit es sich wieder ruhig schlafen lässt. 

    Damit wird formal ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Propaganda wird verkünden: 2020 ist Geschichte! Vielleicht gibt es dann auch einen Hoffnungsschimmer, dass der Westen sich allmählich mit der Realität abfindet, der politischen Emigration weniger Aufmerksamkeit schenkt und Swetlana Tichanowskaja an Bedeutung verliert. 

    Und noch ein Grund für den Termin im Winter: Viele Kommentatoren weisen darauf hin, dass es in der kalten Jahreszeit schwieriger sei zu protestieren. Im kalten März 2006 und im Dezember 2010 waren die Plätze trotzdem voller Menschen. Natürlich gibt es Angenehmeres, als in der Kälte draußen rumzustehen. Aber auch, wenn die Feinde des Regimes überhaupt keine Proteste planen (die Hauptstrategie der demokratischen Kräfte besteht heute darin, die Belarussen aufzufordern, gegen alle zu stimmen) – Vorsicht ist besser als Nachsicht. 

    Überhitzte Wirtschaft?  

    Die Wirtschaft ist im Aufschwung, die Einkommen steigen. Das liegt jedoch in erster Linie an der Konjunktur: daran, dass Wladimir Putin sich die Beihilfe seines Verbündeten im Krieg einiges kosten lässt. Viele belarussische Waren werden von der russischen Militärindustrie nachgefragt und wegen der westlichen Sanktionen teuer gehandelt. Manches spricht jedoch dafür, dass der Krieg relativ schnell zu Ende sein könnte. Zumindest die heiße Phase. Und dann wird diese Konjunktur höchstwahrscheinlich einbrechen. Außerdem werden die Belarussen auf dem russischen Markt von den Chinesen bedrängt. 

    Zweitens behaupten unabhängige Ökonomen, dass in der belarussischen Wirtschaft das Ungleichgewicht zunimmt. Vor allem die drakonischen Preisregulierungen könnten schmerzhafte Folgen haben. Hinter den vorzeitigen Wahlen könnten also auch wirtschaftliche Erwägungen stehen. Denken wir nur mal daran, wie das Land nach den Wahlen im Dezember 2010 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde und der Rubel plötzlich nur noch ein Drittel wert war. Damals hatte Lukaschenko seine Wahlernte mit großzügig gedrucktem, aber wertlosem Geld eingefahren. Vielleicht will er das Eisen schmieden, solange es heiß ist, bevor sich die überhitzte Wirtschaft in Rauch auflöst. 

    Die Zeit des Diktators geht so oder so zu Ende 

    Ja, theoretisch wissen wir nicht, ob Lukaschenko überhaupt eine weitere Amtszeit anstrebt. Aber praktisch besteht daran kein Zweifel (es sei denn, es passiert etwas sehr Unerwartetes). Für die Einführung eines theoretischen Nachfolgers reicht die Zeit nicht mehr. Lukaschenko findet für sich auch keinen würdigen Nachfolger. Und er hat Angst, das Zepter abzugeben. 

    Der Kreml hat ihm offenbar seinen Segen für eine neue Amtszeit gegeben und dies symbolisch mit einem Orden illustriert. Moskau hat überhaupt kein Interesse daran, auf der Zielgeraden das Pferd zu wechseln. Für den Fall, dass Friedensgespräche über die Ukraine geführt werden sollten, säße der belarussische Herrscher außerdem gern mit einer frischen Krone am Tisch.  

    Gleichzeitig sind Kriege eine ziemlich unberechenbare Angelegenheit. Lukaschenko mag denken: Wer weiß schon, was diese Ukrainer im Schilde führen. Gestern sind sie in die Region Kursk einmarschiert, morgen greifen sie vielleicht die Ölraffinerie von Mozyr an – und so weiter und so fort. Dann kann man die Wahlen vergessen. 

    Und da ist noch etwas: Gerade hat das gemeinsame Gremium der Verteidigungsministerien von Russland und Belarus in Minsk eine strategische Übung namens Sapad-2025 (dt. Westen-2025) beschlossen. Was dahintersteckt, können wir nur vermuten. Erinnern wir uns: Im Februar 2022 waren die russischen Truppen unter genauso einem Vorwand gemeinsamer Manöver nach Belarus versetzt worden, um Kyjiw anzugreifen. Was, wenn Moskau das wiederholen will? Eine solche Aussicht ist für einen Wahlkampf ebenfalls wenig förderlich. Kurzum, es ist auch der Nebel des Krieges, der Lukaschenko dazu drängt, die Wahlen vorzuverlegen. 

    Und zu guter Letzt wissen wir nicht, wie es um seine Gesundheit wirklich steht. Klar ist nur: Er wird nicht jünger. Vielleicht ist das ebenfalls ein Faktor. Der Gedanke, dass die Zeit des Diktators auf die eine oder andere Weise sowieso zu Ende geht, wärmt die Herzen seiner politischen Gegner. Denn während Lukaschenko für die Konservierung des bestehenden Systems steht, gibt es nach ihm zumindest eine Chance auf Veränderung. 

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  • Trockene Dörfer

    Trockene Dörfer

    Jede vierte Straftat wird in Russland im alkoholisierten Zustand begangen. Um die Trunksucht zu bekämpfen, gehen die Behörden mit diversen Maßnahmen dagegen vor: In den meisten Regionen Russlands wird nachts und an Feiertagen kein Alkohol verkauft, sowie auch nicht in der Nähe von Schulen, medizinischen Einrichtungen und sportlichen Institutionen. In Jakutien (offiziell Republik Sacha) gibt es über 200 Dörfer, in denen grundsätzlich kein Alkohol verkauft wird. Nach Ansicht der Beamten hat sich seit diesem Verbot die Anzahl der Straftaten in der Region verringert, und das Straßenbild ohne Betrunkene hat einen positiven Einfluss auf die Jugend. Takie dela hat zwölf jakutische Dörfer besucht und sich ein Bild davon gemacht, wie die Bevölkerung das findet und wie effektiv diese Methode im Kampf gegen Alkoholismus ist.  

    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela
    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“ 

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt 120 Kilometer südlich von Jakutsk. Zwischen den bunten Holzhäusern sticht ein massives zweistöckiges Gebäude heraus, das mit blassgelben Wandfliesen getäfelt ist. Am Eingang hängt ein Spruchband: „Noruon norguj“ (jakutisch für „Herzlich Willkommen“). Das ist das Kulturhaus des Dorfes, wo es jetzt, an einem Dienstagnachmittag, ruhig zugeht. Nur von irgendwo aus dem oberen Stockwerk sind Geräusche zu hören. Als wir hochgehen, finden wir in einem kleinen Raum fünf Frauen vor, die konzentriert bei der Arbeit sind. 

    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela

     

    Ich grüße kurz und falle gleich mit der Tür ins Haus: 

    „Stimmt es, dass in Ihrem Dorf kein Alkohol verkauft wird?“ 

    Die Frauen drehen sich überrascht nach mir um, dann nicken sie zustimmend. 

    „Und trinken die Leute hier jetzt wirklich weniger?“ 

    „Das kann man wohl sagen!“, antworten sie fast im Chor.  

    „Früher konnte man überall Alkohol kaufen“, erklärt eine von ihnen. „Aber jetzt – keine Chance. Und dann beschäftigt man sich halt anders. Wenn von außen der Riegel vorgeschoben wird, hilft das natürlich.“ 

    Im Hintergrund sirrt ein elektrischer Rollschneider: Eine Frau, die grünen Stoff in lauter gleiche Streifen schneidet, lässt sich nicht von mir stören. Auch die anderen arbeiten weiter, während sie mit mir sprechen: Aus diesen Streifen knüpfen sie Tarnnetze für die Front. Es ist bereits das zweite Jahr, erzählen sie, dass mehrere engagierte Leute aus dem Dorf sich täglich dieser Arbeit widmen: 

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“

    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela
    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela

    In Bulgunnjachtach leben mehr als 1600 Menschen, doch die Straßen sind leer. Es gibt mehrere Schulen, ein paar Kindergärten, eine Sporthalle, eine Bibliothek, ein Kulturzentrum und Campingplätze für Touristen. Die Ortschaft ist der Ausgangspunkt für Exkursionen zu einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Jakutiens, den Lena-Säulen. Auf einem kleinen Fußballfeld kicken zwei Jungs einen Ball hin und her. Als wir sie ansprechen, erzählen sie uns, sie könnten sich nicht daran erinnern, dass im Dorfladen jemals Alkohol verkauft worden wäre.         

    Offiziell wird in Bulgunnjachtach seit 2016 kein Alkohol mehr verkauft. Laut der Gemeindevorsteherin (die entsprechende Verwaltungseinheit heißt in Jakutien nasleg) Ajtalina Wassiljewa war entscheidend, dass die Unternehmer bereit waren, sich darauf einzulassen und „auf diese Einnahmequelle zu verzichtet“. „Ohne deren Zustimmung wäre gar nichts passiert.“ Doch sie räumt auch ein, dass es anfangs nicht leicht war. Zwar war der Großteil der Bevölkerung für das Verbot, aber ganz ohne „Aufklärungsarbeit“ sei es auch nicht gegangen. Um den Leuten Alternativen zu bieten, wurden etliche Veranstaltungen organisiert. Experten auf verschiedenen Fachgebieten reisten aus der Stadt an, um Kurse abzuhalten. So seien nach einem Nordic-Walking-Workshop 80 Personen bei diesem Sport geblieben und marschierten regelmäßig durch die Gegend.

    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela
    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela

    „Na, und überhaupt, bei uns gibt es Kinofilme, Zeichentrickfilme …“, zählt Tatjana Jefremowa auf, die Direktorin des Kulturzentrums, „einen Chor, unsere bildenden Künstler, Ethnofitness …“ 

    Das glaubt man gerne: Mit meinem Besuch bin ich mitten in eine Sitzung geplatzt, in der gerade das nächste Fest geplant wurde. 

    „Als ich klein war, gab es hier viele Säufer, die betrunken rund vor den Einkaufsläden saßen“, erinnert sich Ajtalina Wassiljewa. „Heute trinkt keiner mehr in der Öffentlichkeit. Da wird die heranwachsende Generation ganz anders geprägt. Wenn da mal einer ein wenig herumtorkelt, sind sie schon peinlich berührt, fragen sich: Wie kann man nur?“ 

    Aber wie heißt es so schön? Wer sucht, der findet.

    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela
    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela

    Wer etwas trinken will, muss 15 Kilometer Richtung Jakutsk fahren, in das nächste Dorf Bestjach, oder noch weiter nach Mochsogolloch. Dort ist der Verkauf von Alkohol nicht verboten. Wer ein Auto hat, zahlt nur fürs Benzin, aber ein Taxi kostet je nach Tageszeit 300 bis 400 Rubel [ca. 3 – 4 Euro – dek.] pro Richtung. So ist eine Flasche Wodka am Ende dreimal so teuer. Und für die Landbevölkerung ist das ein empfindlicher Aufpreis.  

    „So lebt das Nachbardorf auf unsere Kosten“, sagt Ajtalina Wassiljewa. „Wir haben mit den Taxifahrern vereinbart, dass sie keine Alkohol-Lieferungen machen. Aber wenn sich einer ein Taxi ruft und damit Wodka holen fährt, dann können wir das nicht verbieten. Es gibt ein Kontingent von Leuten, die wollen, können und werden auch trinken. Ungeachtet der Verbote – und wenn sie nach Afrika müssen, um Schnaps zu kaufen. Aber das sind nicht viele, die kann man an einer Hand abzählen.“  

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela

     

    Meist seien das Leute ohne Familie und ohne Arbeit, sagt sie. Alkoholismus ist zwar kein billiges „Vergnügen“, doch auch da finden sich Wege. Wassiljewa erzählt, dass die Säufer im Dorf ihre Türen für alle öffnen würden, die zum Trinken kommen wollen, und der Wodka sei dabei eine Art Eintrittskarte. Im Volksmund heißen solche Häuser chata (dt. Bude). 

    „Dagegen können wir offiziell nichts tun, das ist ihr Privateigentum“, sagt sie. „Deshalb versuchen wir, bei denen anzusetzen, die dort hingehen. Das sind Quartalssäufer oder solche, die sich tagelang systematisch die Kante geben. Die haben Familien zu Hause, Ehefrauen, da gehen sie eben lieber in eine chata.“      

    Ajtalina Wassiljewa ist erst 28 Jahre alt. Sie ist klein und wirkt eher zierlich. Aber das scheint nur so. Im Laufe des Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass sie eine Frau ist, die auch mal mit der Faust auf den Tisch haut und, wie es bei Nekrassow heißt, imstande ist, ein Pferd im Galopp aufzuhalten. Hier ist das keine leere Phrase, sondern Realität: Pferde und Kühe sieht man hier überall, auf den Wiesen und auf den Straßen, sie gehören fast zu jedem Haushalt.       

    „Wenn ein Mann in die chata geht, ruft mich seine Frau an, und wir fahren gemeinsam hin und holen ihn raus“, erzählt Ajtalina. „Wir bringen ihn nach Hause, damit er sich ausschläft. Gleich am nächsten Morgen komme ich, packe ihn am Schlafittchen und fahre mit ihm und seiner Frau zum Amtshaus, da wird mal geredet. Da ist er noch beduselt, sagt zu allem ja – der beste Moment, um ihm Vernunft einzutrichtern. Sonst fängt er noch an, sich zu sträuben. Wir erklären ihm, was er jedes Mal riskiert, wenn er da hingeht: Es kann ja weiß Gott was passieren, und keiner kann ihm helfen. Wir fragen ihn: Wieso trinkst du, was fehlt dir? Und dann überlegen wir, was wir weiter tun können.“ 

    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela

    Der „emotionale“ Alkoholismus, sagt sie, sei in Bulgunnjachtach so gut wie verschwunden. Ob Streit mit der Frau oder, im Gegenteil, Anlass zum Feiern – da geht keiner mehr in den Laden an der Ecke, um das Ereignis zu begießen oder seinen Frust zu betäuben. „Ja, und dann beruhigen sie sich wieder, die Aufregung legt sich“, sagt Wassiljewa. 

    Es gebe aber auch Ausnahmesituationen, die die Leute aus der Bahn werfen würden: „Während der Corona-Pandemie waren es schon mehr, die getrunken haben. Auch, als diese großen Brände waren, und seit der Spezialoperation sowieso … Das sind natürlich alles sehr herausfordernde Situationen.“ 

    „Zu Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine verabschiedeten sich alle voneinander: ‚Ich muss wohl, ich bin ja Reserveoffizier‘“, erinnert sich Tatjana Jefremowa. „Als es dann hieß, es werde keine weitere Mobilmachung geben, da haben sich alle wieder entspannt. Im ersten Halbjahr waren natürlich alle ganz aufgekratzt.“

    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela
    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela

    „Jetzt kommen die zurück, die vom Militärdienst entlassen werden oder einfach Urlaub haben“, erzählt die Gemeindevorsteherin. „Noch nie ist es bei uns vorgekommen, dass sich einer schlecht benommen hätte. Wenn einer heimkommt, wird natürlich darauf angestoßen, aber das ist nie länger als ein Tag. Es gibt einen einzigen Mann, der das nicht im Griff hat, aber der ist alleinstehend. Familie und Arbeit sind eben doch die wichtigsten Stützpfeiler.“ 

    Gegen Ende unseres Gesprächs fügt Ajtalina Wassiljewa hinzu: „Wenn man das Dorf vor zwanzig Jahren mit heute vergleicht, dann ist das wie Tag und Nacht. Was ich Ihnen von unseren Problemen erzähle, betrifft nur drei oder vier Familien. Die kennen wir und wir haben ein Auge auf sie. Aber früher wurde bei uns durch die Bank gesoffen, das war Alltag.“ 

    Wie man in Russland und speziell in Jakutien trinkt 

    In der Russischen Föderation gibt es ein Gesetz, das es den Regionen überlässt, den Verkauf von Alkohol zu beschränken. Ausgenommen sind Gastronomiebetriebe. In Jakutien ist es beispielsweise verboten, Alkohol zwischen 20:00 und 14:00 Uhr des nächsten Tages oder in Geschäften zu verkaufen, die sich in Wohnhäusern befinden. 2015 beschlossen die regionalen Behörden, noch weiter zu gehen und so genannte „trockene“ Dörfer einzurichten – Orte, in denen überhaupt kein Alkohol verkauft wird. Heute gilt das für etwa jedes dritte der 600 Dörfer.   

    Eine genaue Statistik zu Alkoholismus in der Bevölkerung gibt es in Russland nicht. Rosstat sammelt nur Daten zu jenen Patienten, die mit dieser Diagnose erstmals in stationäre Behandlung kommen. 2010 waren das 108 Personen pro 100.000 Einwohner, 2023 nur 37. In Jakutien sind die Zahlen höher: 2010 sind dort pro 100.000 Einwohner 290 Personen an Alkoholismus und Delirium tremens erkrankt, 2023 waren es 119. 

    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

    Trotz der positiven Dynamik sind die realen Zahlen in den Regionen vermutlich deutlich höher. Das Amt für Hygiene und Epidemiologie in Jakutien betont in seinem Bericht: Die Diskrepanz zwischen den Daten und dem realen Bild sei dadurch zu erklären, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, der Drogen oder Alkohol missbraucht, gar nicht in der Statistik auftauche. 

    Laut Rossalkogoltabakkontrol, der Föderalen Kontrollbehörde für Alkohol und Tabak, haben die Russen in den vergangenen Jahren mehr Alkohol gekauft. 2022 betrug die Menge der im Einzelhandel verkauften Spirituosen – ausgenommen Bier, Biermischgetränke, Cider und Honigwein – 22,04 Millionen Hektoliter und damit um 3,6 Prozent mehr als im Jahr davor. 2023 waren es dann schon 22,95 Millionen Hektoliter.

    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela
    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela

    In Jakutien gehen jährlich rund 120.000 Hektoliter alkoholische Getränke über die Ladentische. „Während das Handelsvolumen hochprozentiger Spirituosen in den vergangenen sechs Jahren praktisch gleich geblieben ist, ist der Verkauf von Bier und Biermischgetränken auf das 1,6-Fache gestiegen“, erklärte im Frühjahr 2024 der stellvertretende Regierungschef der Republik Georgi Stepanow. „Die Zahl der Verkehrsunfälle mit Alkohol am Steuer liegt in unserer Region 28 Prozent über dem russischen Durchschnitt. Auch die Sterblichkeit aufgrund von Alkoholmissbrauch ist um 29 Prozent höher.“ 

    Laut Auskunft des jakutischen Innenministeriums wurden 2021 in den „trockenen“ Dörfern 96 Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, 2022 waren es 193 und 2023 immerhin 176. Meistens handelt es sich um vorsätzliche leichte oder mittlere Körperverletzung, Diebstahl und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung.    

    „Wer trinkt, der findet seine Wege“ 

    Von Bulgunnjachtach sind es 15 Kilometer bis zum nächsten Dorf, in dem man Alkohol kaufen kann: Bestjach. An der Hauptstraße befindet sich ein Laden namens Sibirjatschka (dt. Sibirierin), wo man zwischen 14:00 und 20:00 Uhr Bier bekommt. Nur zwei Meter weiter gibt es eine Bar, da wird von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachts Bier ausgeschenkt. Abgesehen von den Verkäuferinnen stört dieser Widerspruch keinen.         

    „Wir haben derzeit keinen Wodka, aber als wir ihn noch hatten, kamen sie praktisch jeden Tag (aus den Dörfern, in denen der Verkauf von Alkohol verboten ist – Anm. TD), aber nicht immer dieselben“, erzählt die Verkäuferin Natalja. „Es war nicht so, dass sie kistenweise eingekauft hätten. Wer was brauchte, ist gekommen und hat sich ein paar Flaschen geholt.“ 

    „Und wenn in Ihrem Dorf so ein Verbot verhängt würde?“ 

    „Ich halte das für Blödsinn“, winkt sie ab. „Ich trinke zwar selber nicht, aber wenn ich Gäste habe, brauche ich doch eine gute Flasche Wein oder Wodka. Soll ich dann deswegen ins nächste Dorf fahren? Außerdem, wer trinkt, der findet Mittel und Wege.“

    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela
    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela

    Hochprozentigen Alkohol bekommt man nur in einem Laden knapp einen Kilometer von hier entfernt. Doch der Mann, der gerade aus einem Taxi steigt, weiß das offenbar nicht. Er reißt die Autotür auf und torkelt in den Sibirjatschka. Ein paar Sekunden später ist er wieder raus und kriecht fast in die benachbarte Bar. Auch dort bleibt er erfolglos. Seine letzte Hoffnung ist der Einkaufsladen gegenüber, den er als nächstes ansteuert. Im Gegensatz zu ihm wissen wir bereits: Wein und Wodka gibt’s nur am anderen Ende von Bestjach.

    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela
    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela

    Fährt man noch ein paar Kilometer weiter, kommt man nach Mochsogolloch. In der sogenannten „Siedlung städtischen Typs“ gibt es eine Filiale einer Spirituosenhandelskette. Alla, die Verkaufsstellenleiterin, sagt, sie kenne persönlich einige Leute aus „trockenen“ Dörfern, die ständig bei ihr einkauften: „Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Nachbarn, manchmal kommen sie scharenweise. Manche decken sich wöchentlich ein, andere sind nur selten da. Es gibt auch die, denen man schon von weitem ansieht, was sie kaufen wollen. Wenn in Mochsogolloch ein Verbot verhängt würde, das wäre der blanke Horror.“ Und: „Bei uns gibt’s ein paar richtige Alkis, aber die verhalten sich ruhig, und man kann auch nicht sagen, dass es viele wären. Eigentlich trinkt die ganze erwachsene Bevölkerung ab und zu Alkohol. Aber auch, wer jeden Tag ein bisschen trinkt, geht morgens zur Arbeit. Man weiß, wann’s genug ist, verhält sich anständig, wozu dann ein Verbot?“

     „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela
    „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela

    Fast alle hier arbeiten in der Zementfabrik, für die die Stadt einst gegründet wurde. „Alkoholismus als solchen gibt es bei uns fast keinen, man muss ja zur Arbeit“, sagt Alla. „In den Dörfern wird vielleicht deswegen mehr gesoffen, weil es keine Arbeit gibt und die Leute nichts zu tun haben. Die saufen aus Langeweile.“ 

    „Man muss das selbst entscheiden dürfen. Aber hier wurde für uns entschieden“ 

    In allen „trockenen“ Ortschaften ist unser erstes Ziel der Einkaufsladen.  

    Das Dorf Ymyjachtach liegt 60 Kilometer nördlich von Jakutsk, es zählt rund 1.200 Einwohner. Bei einer Volksbefragung 2018 sprachen sich über die Hälfte der volljährigen Dorfbewohner für ein Alkoholverbot aus. Daraufhin schränkte die Regionalverwaltung den Einzelhandel stark ein. 

    Der unscheinbare kleine Dorfladen liegt etwas versteckt im Dorfkern. Wir geben uns als gewöhnliche Kunden aus:  

    „Kann man hier bei Ihnen Alkohol kaufen?“, wollen wir von der Verkäuferin wissen. 

    „Was brauchen Sie denn?“, fragt sie etwas verunsichert. 

    Ich bin überrascht. Bisher bekamen wir in allen Dörfern, die wir besucht haben, das Mantra „Nein-schon-lange-nicht-mehr“ zu hören. 

    „Na, Bier zum Beispiel …“ 

    Die Frau geht langsam zum Kühlschrank, in dem mehrere Bierdosen stehen, und streckt uns eine entgegen.  

    „Aber das ist alkoholfrei, oder?“ 

    „Nein, das hat 4,5 Prozent“, erwidert sie unsicher. 

    Ich spüre, dass es mit dem Theaterspielen reicht, und erkläre, wer wir sind und was wir wollen. 

    „Aber ich vertrete hier bloß eine Bekannte“, rechtfertigt die Arme sich nervös. „Ich werde gleich abgeholt, wir machen ein Picknick …“

    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela
    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela

    Nach etwa zehn Minuten gibt sie zu, dass sie die Einschränkungen nicht so toll findet. „Im ganzen Dorf trinken zwei, drei Leute“, erklärt sie. „Das sind Alkoholiker, sie sind krank. Aber es gibt ja auch eine Trinkkultur. Wir sind zivilisierte Menschen, wir wollen auch mal Feste zusammen feiern, Freunde einladen. Und dann müssen wir meilenweit fahren, um etwas zu trinken zu kaufen. Wer soll einen fahren, wenn man kein eigenes Auto hat? Das kostet 300–350 Rubel [ca. drei Euro – dek.] in eine Richtung, nur um zum Laden zu kommen, das geht doch nicht. Das ist Diskriminierung. Die Leute müssen eine Wahl haben, aber hier wurde alles für uns entschieden.“ 

    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela
    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela

    Mit dieser Meinung ist sie in den „trockenen“ Dörfern allerdings in der Minderheit. 

    „Man sieht hier keine Betrunkenen mehr, früher sind die hier rumgewankt“, sagt die Rentnerin Maria, die wir draußen vor dem Laden treffen. „Es ist wichtig, dass die Jugend nicht trinkt, den Alten kann man das nicht mehr abgewöhnen. Wenn es das Verbot nicht geben würde, würden alle trinken. Selbst wenn man das gar nicht vorhat – wenn man in den Laden geht, wird man verführt. Und wenn die Jakuten einmal anfangen, dann hören sie nicht mehr auf, bis sie umkippen. Die kennen kein Maß.“

    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela

     

    Maria ist klein und sieht viel jünger aus als 64. Sie sagt, sie müsse sich beeilen, eine Verwandte vom Bus abholen. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch mal um, offenbar hätte sie noch einiges zum Thema zu sagen. „Ich habe fünf Söhne geboren. Zwei von ihnen haben getrunken. Einer ist daran gestorben. So stand es in dem Bericht: Alkoholvergiftung.“ 

    Marias Mann habe früher auch getrunken, aber jetzt sei er „alt und krank“, deshalb wären tagelange Besäufnisse nicht mehr drin. „Und außerdem gibt es ja auch nichts zu kaufen“, sagt sie. „Aber wenn, dann würde er bestimmt noch mit seinem Krückstock dahin humpeln.“ 

    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela
    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela

    Fast alle, die wir draußen treffen, erzählen, sie würden nur zu feierlichen Anlässen mal ein Gläschen trinken oder dass sie dem Alkohol schon vor Jahren ganz abgeschworen hätten. Sobald wir länger als fünf Minuten mit jemanden reden, stellt sich heraus, dass jeder zweite – so wie Marija – am eigenen Leib erlebt hat, wie es ist, einen Alkoholiker in der engsten Familie zu haben. 

    Die 68-jährige Ljubow Kumitschko lebt mit ihrer 91-jährigen Mutter zusammen. Beide trinken höchstens ein paar Mal im Jahr ein Glas Sekt. „Bei uns auf dem Dorf trinken die Leute nicht so viel wie im Westen [des Landes – dek.]“, erzählt sie. „Ich habe in Irkutsk studiert, da haben alle ihren Schnaps selbst gebrannt. Das gibt es hier bei uns nicht.“ Einer von Ljubows beiden Brüdern ist alkoholkrank. Sie sagt, er hätte nach dem Armeedienst angefangen. Die ganze Familie habe mehrfach versucht, ihn mit Hilfe von Kodierung zu heilen, aber nach ein paar Monaten sei er wieder rückfällig geworden. 

    Im Moment wartet Ljubow darauf, dass ihr Bruder zu einem Fronturlaub von der „militärischen Spezialoperation“ zurückkommt. 

    „Haben Sie keine Angst, dass er danach noch mehr trinken wird?“, frage ich. 

    „Ich weiß nicht, was sein wird“, erwidert die Rentnerin nachdenklich. 

    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela
    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela

    Ymyjachtach gehört zum ulus Namski. Von 19 Landkreisen (nasleg) wird in nur zwei Alkohol verkauft: drei Geschäfte in Namzy und eines im Dorf Chomusty, etwa 15 km von Ymyjachtach entfernt. Dort leben 2.600 Menschen. Der stellvertretende Kreisvorsitzende Alexej Sacharow berichtet, dass manche selbst im Winter zu Fuß aus dem „trockenen Dorf“ kämen. Sie warten, bis der hiesige Spirituosenhandel um 14 Uhr aufmacht, decken sich ein und laufen wieder zurück. 

    Die Abgeordneten hätten den Verkauf auch in Chomusty verbieten wollen, aber nach den öffentlichen Anhörungen hätten sich die Einwohner für „die goldene Mitte“ entschieden, sagt Sacharow. Jetzt gibt es Alkohol nur zwischen 14 und 20 Uhr in einem einzigen Laden außerhalb des Dorfes, nahe der Schnellstraße. Sarachow zufolge seien die meisten Einwohner von Chomusty berufstätig, daher gebe es keinen „Massenalkoholismus“; die richtigen Alkis könne man an einer Hand abzählen. 

    „In den Nachbardörfern heißt es, die Leute trinken, weil man bei uns Alkohol kaufen kann“, sagt Alexej Sacharow kopfschüttelnd. „Sie geben uns die Schuld, als würden wir sie zum Trinken zwingen. Was wäre wohl, wenn wir den Laden zumachen würden?“ 

    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela
    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela

    Zur Illustration führt der Beamte verschiedene Szenarien an, die alle etwas aus der Luft gegriffen wirken. „Stellen Sie sich vor, eine Mutter lässt ihre Kinder zu Hause, fährt ins 70 km entfernte Jakutsk und kommt nicht zurück. Sie fällt hin, wird von einem Auto angefahren – und schon sind die Kinder Waisen. Oder ein Arbeiter hat etwas zu feiern. Er kommt her, betrinkt sich und treibt sich wochenlang hier rum, lebt auf der Straße. Wäre ein Laden in der Nähe, würde er einkaufen und wieder nach Hause gehen“. Sachrow fallen noch weitere Beispiele ein: „Oder einer hat seit einem Jahr nicht getrunken und will was feiern. Er setzt sich betrunken ans Steuer, um in Chomusty Nachschub zu holen. Er kommt in eine Kontrolle und ist prompt seinen Führerschein los. Nehmen wir an, er ist Taxifahrer. Schon hat die Familie kein Einkommen mehr.“ 

    Juri Djakonow, der stellvertretende Verantwortliche für soziale Fragen im ulus Namski, ist hingegen überzeugt, dass die Abwesenheit von einem fußläufig erreichbaren Spirituosengeschäft sich positiv auf die Bevölkerung auswirkt. „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt er. „Sie sind es gewohnt, dass es im Laden keinen zu kaufen gibt. Früher gab es regelrechte Besäufnisse in Diskotheken oder sogar in Schulen. Jetzt sieht man das alles nicht mehr.“ 

    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela
    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela

    „Wäre es nicht am effektivsten, Alkohol im ganzen Gebiet zu verbieten? Damit man zum nächsten Laden weit fahren müsste?“ 

    „Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht“, wundert er sich. „Diese Frage hat sich so nie gestellt. Es ist ja ein ganzer Unternehmenszweig …“ 

    „Das heißt, mit einem flächendeckenden Verbot für die ganze Republik ließe sich das Problem nicht lösen?“ 

    „Man könnte einen gewissen Prozentsatz eindämmen“, überlegt Djakonow. „Aber die Menschen passen sich an alles an. Ich glaube, sie würden sich Alternativen suchen, selbst brauen, oder etwas ganz anderes konsumieren.“ 

    „Wenn du nicht trinkst, denkst du, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen“ 

    Maragas liegt etwa 100 km westlich von Jakutsk. Hier lebt Anna Konstantinowna. Ihr  Ehemann hat viele der Häuser gebaut. Damals arbeitete er beim Sägewerk. Sie lernten sich kennen, als sie 18 Jahre alt war, aber als sie beschlossen zu heiraten, war das ganze Dorf dagegen. Es lag daran, dass er der einzige Russe im Dorf war, erzählt Anna. Er war zum Arbeiten aus der Oblast Gorki nach Jakutien gekommen. „Es gab sogar eine Versammlung, man hat mich dafür kritisiert, dass ich einen Russen heiraten will“, erinnert sie sich. „Sie sagten, er würde mich früher oder später sitzenlassen. Aber wir haben trotzdem ein Aufgebot bei unserem Standesamt bestellt. Einmal saß ich vor meiner Haustür und wusch Wäsche. Da kam der Sekretär und hat die Heiratsurkunde auf die Erde geworfen. So waren die Zeiten damals, 1973.“ 

    Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet: 45 Jahre Eheleben, acht Kinder und 27 Enkelkinder sind der Beweis. 

    Anna erinnert sich, wie erstaunt sie war, als sie bei den Verwandten ihres Mannes in dessen Heimat zu Besuch waren: „Wir kommen an, und das ganze Dorf ist am trinken. Sie machen Selbstgebrannten. Stellen den Bottich auf den Tisch und trinken immer weiter. So was hat es bei uns nie gegeben. Erst hatte ich Angst, ich wusste nicht, was man von denen zu erwarten hatte.“ 

    Annas Mann konnte zwei Tage lang durchtrinken, aber „nie einen dritten“. Ihre gemeinsamen Kinder trinken nur zu feierlichen Anlässen. 

    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela
    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela

    „Ich bin eine strenge Mutter, ich verlange von ihnen, dass sie nicht trinken.“ 

    „Haben Sie ihnen erklärt, dass das schlecht ist, als sie kleiner waren?“ 

    „Nein, das haben sie irgendwie von selbst verstanden.“ 

    Vor ein paar Jahren ist Annas Mann gestorben. Jetzt unterhält sie alleine ihren Hof mit zwei Kühen in Magaras. In ihrem Haus stehen fünf Eimer Milch, aus der sie Schmand und Butter macht, die schickt sie ihren Kindern. Im Haushalt helfen ihre Tochter und ihr Sohn, manchmal auch die Enkel. 

    „Natürlich ist es gut, dass sie nichts verkaufen“, ist die Rentnerin überzeugt. „Früher haben die Jugendlichen getrunken, aber jetzt gehen sie mit aufs Feld, helfen ihren Eltern.“ 

    Unsere nächste Gesprächspartnerin  möchte ihren Namen nicht nennen. Nennen wir sie Polina. Polina erinnert sich, dass noch vor zehn Jahren die Leute in Magaras Schlange standen, um Alkohol zu kaufen. „Ob aus der Verwaltung, der Schule, dem Kindergarten. Alle beeilten sich nach der Arbeit, um noch etwas zu kaufen, bevor der Laden zumacht.“ Nach der Einführung des Verbots entwöhnten sich die Leute langsam. Jetzt wollen die Einwohner sogar noch mehr: Die Läden sollen keinen Byrpach (milchsauer vergorenes jakutisches Nationalgetränk – dek.), mehr verkaufen. 

    „Das gilt nicht als Alkohol, aber ein geringer Prozentsatz ist darin enthalten“, erklärt sie. „Die Leute trinken das gegen den Kater, werden betrunken und besaufen sich weiter. Wir haben hier so ein junges Ehepaar, und der Mann streitet sich in der WhatsApp-Gruppe [mit den Ladenbesitzern – TD], dass sie seiner Frau keinen Byrpach mehr verkaufen sollen. Es wurden sogar Unterschriften für ein Verkaufsverbot bei uns in Magaras gesammelt.“ 

    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela

    Polina selbst trinkt nicht einmal an Feiertagen, sie sagt, die Gesundheit macht das nicht mehr mit – dabei ist sie erst 46. Früher hatte sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder ein Straßencafé betrieben. 

    „Wenn er getrunken hat, dann richtig: war dauerbesoffen, konnte nicht arbeiten“, erinnert sie sich. „Mal kam er drei, mal fünf Tage nicht zur Arbeit. Manchmal ist er auch in die Stadt gefahren und verschwand einfach. Dabei saß er bei uns an der Kasse. Wie soll man ein Café ohne Kassierer betreiben? Elf Jahre habe ich das mitgemacht. Die Kodierung hat maximal drei Monate gehalten. Wir waren auch beim Schamanen in Jakutsk, das ging auch nur drei Monate gut, danach ist er wieder rückfällig geworden. Ich weiß, dass manche nach einer schamanischen Sitzung sieben Jahre nicht trinken, das hängt also vom Einzelfall ab.“ 

    Jetzt versucht sie nicht mehr, ihren Bruder zu heilen: Er ist mittlerweile 62 und kann selbst nicht mehr regelmäßig und viel trinken. 

    „Mein Mann hat auch getrunken“, seufzt Polina. „Nach vier Jahren haben wir uns scheiden lassen. Genau aus diesem Grund.“ 

    Assyma ist ein weiteres „trockenes“ Dorf 120 km westlich von Magaras. Dazwischen liegt nur die Ortschaft Berdigestjach (das Verwaltungszentrum des Landkreises Gorni) und meilenweit nichts als jakutische Taiga. Eine halbe Stunde lang sehen wir rechts und links der Straße nichts als verkohlte schwarze Stumpen, die sich mit jungen Birkenbäumen abwechseln. Im Sommer 2021 haben in dieser Gegend schwere Waldbrände gewütet. 

    Nikolai ist 55. Wir treffen ihn in Assyma, wo er ein Sommerhaus baut. Eigentlich lebt er mit Frau und dem jüngsten Sohn in Berdigestjach. Früher war Nikolai Traktorfahrer in einem Sowchos in Kirow, aber nach dem Zerfall der UdSSR gab es keine Arbeit mehr, und er verfiel dem Alkohol. 

    Bei drei unterschiedlichen Schamanen war Nikolai. Keiner konnte ihn von seiner Alkoholsucht heilen 

     Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela
    Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela

    „Wollen Sie denn aufhören?“, frage ich. 

    „Natürlich!“ 

    Bei drei verschiedenen Schamanen war Nikolai. Das letzte Mal vor zehn Jahren. Damals habe das dreitausend Rubel gekostet, sagt er, jetzt natürlich mehr. „Der eine hat mit Kodierung gearbeitet, der zweite mit Nadeln, der dritte hat ein Foto von dem berühmten Schamanen Nikon aufgestellt und irgendwas gemurmelt“, erinnert er sich. „Es reichte mal für eine Woche, mal einen Monat. Wenn man nicht trinkt, denkt man, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen. Das längste war mal ein Jahr.“ 

    „Und wenn es in Berdigestjach, so wie hier, ein Verbot geben würde?“ 

    Nikolai lacht: „Das Dorf ist ja schon so gut wie trocken. Bis zum nächsten Spirituosengeschäft sind es zehn Kilometer. Wenn es verboten wäre … Das würde nichts ändern. Dann würde man eben woanders hinfahren. Im Gegenteil, die Leute sterben ja an den Entzugserscheinungen. Byrpach hilft vielleicht, bis zum Mittag durchzuhalten.“ 

    „Was würde Ihnen denn dabei helfen, aufzuhören, wenn Verbote nichts bringen?“ 

    Nikolai überlegt. „Wenn alle Arbeit hätten, würden sie weniger trinken. Selbst wenn ich zehn Tage lang durchtrinke, rapple ich mich danach wieder auf: Ich muss ja arbeiten. Außerdem kann man seinen Führerschein verlieren, oder sein Gewehr – wie soll man da jagen? Wenn ich kein Auto hätte, würde ich mehr trinken.“  

    Zum Abschied erkundige ich mich, wo ich im Dorf Menschen finde, die alkoholabhängig sind.  

    „Jetzt finden Sie niemanden. Wer [gestern – dek.] getrunken hat, ist jetzt beim Angeln draußen, um auszunüchtern. Ich bin der einzige hier, und selbst ich bin nüchtern. Außerdem sind meine Saufkumpanen an die Front. Manche liegen mit einer Verletzung in einer anderen Stadt. So sieht’s aus bei uns …“ 

    Als wir schon gehen, ruft Nikolai uns hinterher:  

    „Und Sie? Trinken Sie denn?“ 

    „Na ja, manchmal. Aber mittlerweile nur noch selten“, gebe ich zu. 

    „Das ist okay“, grinst Nikolai breit. „Trinken ist gut für die Seele.“ 

    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

     

    *** 

    Auf unserer Reise haben wir 12 Dörfer besucht, von denen sieben seit vielen Jahren alkoholfrei sind. Insgesamt ist unser Eindruck, dass die totalen Alkoholverbote hier funktionieren, auch wenn natürlich nicht zu hundert Prozent. In dieser ganzen Zeit ist uns nur einmal jemanden auf der Straße begegnet, der angetrunken war, und selbst das war in einem Dorf, in dem es kein Verkaufsverbot gibt. Die meisten Einwohner, mit denen wir gesprochen haben, erklärten, nur zu bestimmten Anlässen oder gar nicht mehr zu trinken. Die ältere Generation hat sich nach dem Verbot das Trinken als Lebensweise schlicht abgewöhnt. Die Jugendlichen treffen sich nicht, um zusammen zu trinken. Sie haben andere Hobbys – zum Beispiel Motorräder, die hier sehr beliebt sind. Und sie haben auch andere Sorgen, müssen den Älteren bei der Arbeit helfen. 

    Gut möglich, dass ein komplett „trockenes Dorf“ bei solchen Verboten nur eine Frage der Zeit ist. Und einige wenige, die trotzdem Alkoholmissbrauch betreiben, wird es immer, überall und unter allen Umständen geben. 

    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela
    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela

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    Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland eine imaginäre „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Nun arbeitet die russische Führung an einem Verbot einer „Childfree-Bewegung“, die es ebenfalls nicht gibt. „Propaganda des freiwilligen Verzichts auf das Kinderkriegen“ wird damit unter Strafe gestellt. Darunter fallen nach Vorstellung der Initiatoren des Gesetzes Werbung für Verhütungsmittel oder Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch. Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass alle möglichen Informationen zu bewusster Kinderlosigkeit bestraft werden können. Zudem muss man befürchten, dass die Verabschiedung des neuen Verbots ebenso zu Diskriminierung und Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen führen wird wie das bestehende russische Gesetz über die sogenannte „homosexuelle Propaganda“

    Laut der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats, Valentina Matwijenko, ist die „Childfree-Ideologie“ als eine „Entartung des Feminismus“ im Westen entstanden. Sie sei gegen Männer und gegen die „traditionellen Werte“ gerichtet. Andere Politiker wollen mit dem Gesetz die demografischen Probleme des Landes angehen. Für den Journalisten Anton Orech von der Novaya Gazeta ist das Gesetz krude Biopolitik: „Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.“ 

     

    © Depositfoto / Imago Images

    In einer Schule in Ocha auf der Insel Sachalin mussten sich die Schüler in der Aula einfinden und sich einen Vortrag darüber anhören, wie schlecht Abtreibungen sind. Zwecks Veranschaulichung, damit die Jugendlichen es auch wirklich kapieren, zeigte man ihnen auf einer großen Leinwand den ganzen ungeschönten Vorgang. Videos von dieser Aktion gingen durch Kanäle und Accounts – verpixelt und mit der Warnung versehen, es handle sich um verstörende Bilder. Für die Kinder in der Sachaliner Schule wurden sie weder verpixelt noch beschönigt. Die Sache blieb zwar nicht ohne Folgen, es wurde ermittelt, wer das überhaupt erlaubt hatte und wer der Vortragende war – doch da war es bereits zu spät, der Schaden war bereits angerichtet.        

    Werbeverbot für Kondome? 

    Mir stellt sich vor allem eine Frage: Was die Kinder da gesehen haben – ist das nun Propaganda fürs Kinderkriegen oder für Childfree? Will man nach so einem Anblick überhaupt noch Kinder bekommen? Oder erreicht man mit solch entsetzlichen Bildern nicht vielmehr das Gegenteil von Fortpflanzungsfreudigkeit? Sodass das demografische Problem erst recht nicht gelöst wird?  

    Eine Abtreibung ist immer schlimm. Keine Frau würde so etwas aus Jux und unter normalen Umständen machen lassen. Und wer kein Baby kriegen will, kann ja verhüten – würde man meinen. Doch in der Duma wird bereits ein Werbeverbot für Kondome diskutiert, zur Bekämpfung von „Childfree“. Die Verbreitung von Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten wird die Gesellschaft natürlich viel weiter bringen. Wenn Frauen und Männer mit den Folgen von ungeschütztem Sex die Arztpraxen stürmen, wird es uns viel besser gehen. Es ist ja nicht nur der Tripper, der auf diesem Weg übertragen wird, da gibt es ja auch diverse andere Krankheiten.   

    In einem Land, in dem Hunderttausende Menschen das HI-Virus in sich tragen, ist es natürlich oberste Priorität, Kondome abzuschaffen! 

    Tja, und schwangere Teenager sind natürlich genau das, was uns allen noch gefehlt hat. Genau das scheint Senator Kutepow in Angriff zu nehmen: Er schlägt vor, Abiturientinnen bei der Aufnahmeprüfung zur Universität zusätzlich zu den üblichen Bonuspunkten für allerlei Olympiaden noch zehn weitere Punkte zu schenken, wenn sie im Jahr vor der Prüfung ein Kind gebären. In welcher Klasse muss man dann damit anfangen? Elfte, oder besser schon zehnte? Das sind völlig absurde Hirngespinste, doch eine einfache Wahrheit hat uns das Leben ja schon gelehrt: Es gibt kein Hirngespinst auf dieser Welt, das nicht irgendwann ein Gesetz in Russland werden könnte.  

    Die auf die Nachwuchsproduktion fixierte Regierung hat das Thema Childfree entschlossen im Visier. Worauf man sich verlassen kann: Bald wird diese „Bewegung“ verboten, ihre Anhänger mit Strafen belegt. Dass es gar keine entsprechenden Strukturen gibt, macht überhaupt nichts. Das hat ja auch keinen daran gehindert, die „internationale LGBT-Bewegung“, die angeblich seit 1984 aktiv ist, zu verbieten.  

    Bestrafung der Unterlassung 

    Was „Childfree“ betrifft, könnte es sogar noch absurder werden. Während das LGBT-Verbot eine Handlung bestraft, würde ein „Childfree“-Verbot eine Unterlassung bestrafen. In Russland kann man ohnehin bald jeden von der Straße weg vor Gericht schleppen, aber um wegen gleichgeschlechtlicher Liebe belangt zu werden, muss man diese immerhin entweder praktizieren oder Solidarität mit solchen Menschen zum Ausdruck bringen. Das heißt, wenn man absolut nichts über LGBT sagt und „es nicht macht“, dann hat man seine Ruhe. Aber soll jetzt jede kinderlose Person unter Generalverdacht stehen, einer imaginären Childfree-Bewegung anzugehören? 

    Sie sind verheiratet, aber haben keine Kinder? Soso, erklären Sie sich mal! Sie strengen sich an, aber es wird nichts? Wie können Sie Ihre Bemühungen beweisen? Sie haben gesundheitliche Probleme? Dann lassen Sie mal ein Attest sehen! Sie sind noch nicht bereit? Haben kein Geld? Keine Wohnung? Wollen erst Ihren Abschluss/Karriere machen? Das ist doch wohl alles kein Grund, sich nicht zu vermehren!  

    In der Sowjetunion wurde eine Steuer auf Kinderlosigkeit erhoben. Eine absolute Demütigung. Aber damals kam man auch wegen homosexueller Kontakte und antisowjetischer Propaganda und Agitation ins Gefängnis, und die Rolle der Partei als „unserem Steuermann“ war in einer Verfassung verankert, die insgesamt vor Kuriositäten strotzte. Können wir wiederholen? Zudem werden andauernd neue Steuern eingeführt, und trotzdem hat der Staat komischerweise kein Geld.        

    Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt 

    Die strafrechtliche Verfolgung von „Childfree-Propaganda“ eröffnet ein weites Feld für Improvisationen. Allein der Begriff der „Propaganda“ ist abstrakt und der Paragraf absichtlich schwammig formuliert. Klar, dann kann man jeden belangen, den man will. Jeden beliebigen Aktivisten zum Beispiel, wenn sich sonst gar nichts anderes gegen ihn finden lässt.   

    Aber noch viel wichtiger ist: Der Staat dringt buchstäblich in die Privatsphäre seiner Bürger und Bürgerinnen ein. Er legt sich zu ihnen ins Bett und macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt. Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen. 

    Aber der Russe ist ganz einfach gestrickt. Geht es um irgendwelche abstrakten Begriffe, um Freiheiten oder „allgemeinmenschliche Werte“, dann winkt er ab, als ginge es um Sachen, die niemand so richtig versteht oder braucht und die ihn nicht wirklich was angehen. Aber kaum ist er von etwas direkt betroffen, spürt es am eigenen Leib, da fängt er plötzlich an, ganz anders zu empfinden.    

    Lebensmittelpreise und steigende Wohnnebenkosten regen ihn viel mehr auf als jede Einschränkung von Freiheit. Die Frage nach Sex und Kinderkriegen ist allerdings maximal einfach zu verstehen, und die persönliche Betroffenheit könnte unmittelbarer nicht sein. Es ist äußerst schwierig, einen Menschen zum Kinderkriegen zu zwingen, wenn er nicht will. Und wenn ihm klar ist, dass er zwar von allen Seiten zur Fortpflanzung aufgefordert wird, es aber kaum Unterstützung für Familien mit Kindern gibt. Was hat er für Aussichten? Vermehrung in Armut? Fortpflanzung in der Schulzeit? Aber Wladimir Medinski hat die Lösung: Verkürzen wir doch einfach die Schulbildung, damit man nicht so viel Zeit mit Lernen verbringt, sondern schneller einen Beruf ergreift. Die Jungs in die Fabriken, die Mädels ins Geburtshaus. Und immer so weiter. Damit an „Childfree“ gar nicht mehr zu denken ist.     

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  • Die Beziehung zwischen Belarus und der Volksrepublik China

    Die Beziehung zwischen Belarus und der Volksrepublik China

    Aufgrund der geographischen Lage zwischen der Europäischen Union und Russland ist Belarus dazu verurteilt, ständig zwischen zwei Machtzentren zu lavieren, um seine Interessen zu verfolgen. Die weitreichende Abhängigkeit von Moskau bei gleichzeitig begrenzten Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit dem Westen nötigen die belarussische Außenpolitik dazu, nach Alternativen außerhalb Europas zu suchen. In der belarussischen Diplomatie hat China, zu dem Belarus seit 1992 diplomatische Beziehungen pflegt, eindeutig Priorität, auch wenn diese bilateralen Beziehungen erst Ende der 1990er Jahre intensiviert wurden und in eine von Minsk und Beijing verkündeten „umfassenden strategischen Zusammenarbeit“ mündeten. Die beiden Seiten interpretieren die Ziele und Prinzipien dieser Kooperation jedoch unterschiedlich, was in den vergangenen 20 Jahren zu einer Reihe von Missverständnissen und Enttäuschungen führte. 

    Alexander Lukaschenko mit Xi Jinping, dem Präsidenten der Volksrepublik China, bei einem Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit im Jahr 2018 / Foto © Mikhail Metzel/TASS PUBLICATION/IMAGO 

    Ein strategisch wichtiges Land in der belarussischen Außenpolitik 

    Auf der Suche nach außenpolitischen Alternativen wartete das Außenministerium in Minsk bereits Ende der 1990er Jahre mit dem Konzept eines „weiten Bogens“ auf. Das bedeutete in der Praxis, Kontakte zu nichteuropäischen Ländern zu suchen.1 Angesichts seines demografischen, wirtschaftlichen und politischen Potenzials lag die Priorität für Minsk natürlicherweise bei China. Belarus suchte ein Gegengewicht zu seinen aus vielerlei Gründen problematischen Beziehungen zu Russland und der EU. Also arbeiten belarussische Diplomaten und hochrangige Staatsmänner – unter anderem Alexander Lukaschenko persönlich – seit den frühen 2000er Jahren intensiv daran, die bilateralen Beziehungen zur Volksrepublik auszubauen. Das belegen zahlreiche Gipfeltreffen, Erklärungen und Abkommen. Die belarussische Diplomatie verzeichnet sorgfältig jeden von Lukaschenkos Besuchen in Beijing (von denen es bislang 14 gab) wie auch sämtliche anderen Treffen auf unterer Ebene. 

    Aus der Sicht von Minsk bestand der größte politische Erfolg bis heute in einer gemeinsamen Erklärung, die die beiden Staatspräsidenten 2022 verabschiedeten und in der die bilateralen Beziehungen zur „strategischen Allwetter–Zusammenarbeit“ angehoben wurden. Für die belarussische Regierung ist dies ein „beispiellos hohes Niveau in der Geschichte der chinesisch-belarussischen Beziehungen“2. Zu verdanken sei dieses Ergebnis dem effektiven Vorgehen von Belarus auf der internationalen Bühne, zudem belege es die Attraktivität des Landes und entlarve die „unberechtigte Kritik“ aus dem Westen. Die Demonstration einer guten Zusammenarbeit mit der Volksrepublik ist Lukaschenko auch deshalb viel wert, weil die beiden Länder eine ähnliche Haltung zu Menschenrechtsfragen haben. Jahrelang konnte sein autoritäres Regime, das seit 2020 sogar totalitäre Züge annimmt, in Bezug auf westliche Sanktionen oder Kritik bei der UNO wenigstens auf Beijings Neutralität zählen.  

    Auch der wirtschaftliche Nutzen dieser „Partnerschaft“ mit China ist für Minsk von Anfang an wichtig gewesen, insbesondere im Kontext der chinesischen Verkehrsprojekte und Investitionen. Darüber hinaus versucht Minsk konsequent, seine Beteiligung an russischen Integrationsprojekten im postsowjetischen Raum (vor allem an der Eurasischen Wirtschaftsunion) an Beijing „weiterzuverkaufen” und sich chinesischen Exporteuren gegenüber als eine Art „Brückenkopf“ für deren potenzielle Expansion auf den viel größeren und viel aufnahmefähigeren russischen Markt zu präsentieren. 

    „Unser Pakistan in Europa” 

    Die Haltung der chinesischen Regierung zur Zusammenarbeit mit Belarus ist sehr viel weniger emotional und gleichzeitig pragmatischer, was den ungleichen Verhältnissen zwischen den beiden Ländern geschuldet ist. Schließlich ist es nicht China, das die Rolle des Bittstellers innehat. Belarus ist für die Volksrepublik in erster Linie ein wichtiges (wenn auch nicht das einzige) Element in einer umfassenderen eurasischen Kooperationsstrategie, ist also einem höheren Ziel untergeordnet: China geht es vor allem um eine effiziente Organisation von Güterlieferungen nach Europa im Rahmen der One Belt and Road Initiative. Abgesehen davon ist China immer daran interessiert, seine Präsenz im Ausland zu verstärken, unter anderem durch Investitionen. So gesehen lässt sich Belarus als eine Art Laboratorium verstehen, in dem China sein Instrumentarium für die wirtschaftliche Expansion testet, das unter anderem in afrikanischen Ländern eingesetzt werden soll. Erwähnenswert ist hier, dass Belarus von chinesischen Experten als „unser Pakistan in Europa“ bezeichnet wird, was auf seinen vorrangigen Platz in der Hierarchie der kleineren (ungleichen) Partner verweist, zu denen u. a. Pakistan, Äthiopien, Serbien und Kasachstan gehören. Faktoren wie die Offenheit und Verbindlichkeit der Regierung sowie die strategisch günstige Lage auf der Ost-West-Achse sprachen hier sicherlich zugunsten von Belarus.3 Zudem trugen Phasen des Dialogs mit dem Westen (also etwa von 2015 bis 2020) dazu bei, dass der Wert von Minsk stieg. Belarus konnte für die chinesischen Transporte Stabilität gewährleisten, ohne das Risiko wirtschaftlicher Sanktionen oder Einschränkungen bei Grenzübergängen. Für Belarus sprach auch die schwierige Situation der Ukraine, die mit ihrem Zugang zum Meer und ihrer Hafeninfrastruktur potenziell ein attraktiverer Partner für Beijings Verkehrsprojekte gewesen wäre. Der Konflikt zwischen Kyjiw und Moskau, der in unterschiedlicher Intensität seit 2014 anhält, ließ Minsk als einzige „sichere“ Option erscheinen. 

    Erwartungen versus Realität 

    In der Praxis hat die belarussisch-chinesische Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren für beide Seiten eine Reihe von Enttäuschungen mit sich gebracht. Ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität ist das Projekt Großer Stein, ein chinesisch-belarussischer Industriepark, der 2012 eingeweiht wurde. Er war von beiden Seiten als Vorbereitung auf die Errichtung eines chinesischen Produktionsstandorts in der Nähe von Minsk gedacht und sollte nicht nur auf Belarus ausgerichtet sein, sondern auf alle Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), also u. a. Russland und Kasachstan. Darüber hinaus wurde der Große Stein als logistische Basis für den Transport bzw. die Lieferung chinesischer Waren entworfen, die dann zum Hafen Klaipėda oder über Polen nach Westeuropa gelangen sollten. Aufgrund mehrerer nicht gebührenbezogener Beschränkungen innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion ist es bislang nicht gelungen, einen gemeinsamen Markt mit freiem Warenverkehr aufzubauen. Das hat das Interesse chinesischer Kapitalgeber an Belarus als Standort für Produktionsstätten ernstlich beeinträchtigt, was wiederum die Entwicklung des Projekts behinderte.4  

    Der belarussisch-chinesische Industriepark Großer Stein bei Minsk im Jahr 2019 / Foto © CC BY-SA 3.0 

    Die Pläne, chinesische Investoren an der Privatisierung unprofitabler belarussischer Unternehmen zu beteiligen, waren ebenfalls schwierig umzusetzen. Bisher haben die Gespräche gezeigt, wie schwer es ist, den eher marktwirtschaftlich orientierten Ansatz der chinesischen Seite (die beispielsweise Personalkürzungen anstrebte) mit dem eher konservativen Ansatz von Minsk zu vereinbaren, der vom Investor die Erfüllung weitreichender sozialer Verpflichtungen erwartet.5 Nicht nur die geplanten, sondern auch die verwirklichten Investitionen in Belarus waren Anlass zahlreicher Kontroversen und Enttäuschungen. Da die meisten Investitionen in den belarussischen Markt bislang durch chinesisches Staatskapital erfolgt sind, dominieren hier Projekte zum Bau von Infrastruktur oder für Produktionsanlagen, die über chinesische Exportkredite finanziert werden. Wohlgemerkt wurden die Kredite unter der Bedingung vergeben, dass die chinesischen Unternehmen ihre Verfahren, ihre Komponenten und mitunter sogar ihre eigenen Arbeitskräfte mitbringen durften. Die Verpflichtung zur Kredittilgung und damit das Geschäftsrisiko schob man hingegen gern der belarussischen Seite zu. China hält sich zudem generell beim Transfer fortschrittlicher Produktionstechnologien zurück, weswegen Geschwindigkeit und Qualität der Arbeit bei den belarussischen Direktoren für Unzufriedenheit sorgten. Dadurch kam es zu langwierigen Auseinandersetzungen, in denen beide Seiten versuchten, die Schuld an den Ergebnissen (die weit hinter den Erwartungen zurückblieben) der jeweils anderen Seite zuzuschieben. Beispielhaft sind hier die gescheiterte Modernisierung zweier belarussischer Zementfabriken, die 2007 begann, und der Bau einer neuen Zellstoff- und Papierfabrik in Swetlahorsk, der 2010 startete.6  

    Die Enttäuschung der belarussischen Behörden wurde durch die anhaltend ungünstige Handelsbilanz mit China verstärkt. Diese war weitgehend auf die oben beschriebenen Muster bei den chinesischen Investitionen zurückzuführen. 2019 betrug das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern 4,1 Milliarden US-Dollar, wobei das Defizit auf belarussischer Seite sich auf 3,1 Milliarden USD belief. Das bedeutete im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um 0,5 Milliarden USD.7

    Kühler Pragmatismus nach 2020  

    Die politische Krise in Belarus infolge der gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 führte zu einer Art Revision der chinesisch-belarussischen Beziehungen. Beijing reagierte auf die Repressionen nach den Wahlen und die vom Westen verhängten Sanktionen unaufgeregt und spärlich. Das zeigte, dass die chinesische Seite wenig Interesse an einer direkten politischen Unterstützung und an einem Kampf für das Überleben des Lukaschenko-Regimes hatte.8 Entgegen den Hoffnungen der Regierung in Minsk übernahm China also nicht die Rolle eines zweiten Alliierten (neben Russland), der bereit wäre, die russische Dominanz auszugleichen und die belarussische Wirtschaft zu subventionieren. Letztere wurde von den westlichen Embargos gebeutelt, die nach 2020 schrittweise ausgeweitet wurden. Die Sanktionen erfolgten unter anderem als Antwort auf die Migrationskrise an der EU-Grenze und die Mitwirkung beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.  

    Gleichzeitig hat Beijing die Zusammenarbeit mit Belarus aber auch nicht aufgegeben. Gestützt auf seinen Pragmatismus hat China höchst vorteilhafte Handelsverträge ausgehandelt, etwa für Kalidünger oder forstwirtschaftliche Produkte, die vom Westen sanktioniert wurden. Dadurch ist China nach 2020 bei den belarussischen Handelspartnern auf den zweiten Platz hinter Russland vorgerückt. Das Handelsvolumen nahm stetig zu und erreichte 2023 über acht Milliarden USD. Gleichzeitig besteht auf belarussischer Seite unverändert ein beträchtliches Außenhandelsdefizit, das im vergangenen Jahr 3,2 Milliarden USD erreichte.9 Chinas zentrales Interesse in Belarus betrifft Gütertransporte auf der Schiene, die zwischen drei und sechs Prozent des gesamten chinesischen Güterumschlags ausmachen. Trotz dieses geringen Anteils möchte Beijing den belarussischen Transitkorridor – gegenwärtig der einzige zwischen Ost- und Westeuropa – gern beibehalten. Und doch dürfte sich die chinesische Seite hinter den Kulissen (es gibt keine öffentlichen Erklärungen hierzu) wohl negativ zu Lukaschenkos konfrontativer Politik gegenüber dem Westen geäußert haben, die unter anderem dazu geführt hatte, dass Polen und Litauen einige Grenzübergänge zu Belarus schlossen. Man kann auch davon ausgehen, dass das Nachlassen des Migrationsdruck an der Grenze zu Polen im Sommer 2024 auf Signale aus Beijing zurückzuführen ist. 

    Im Großen und Ganzen betrachtet China Belarus weiterhin als interessantes Partnerland. Das belegt der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang in Minsk am 22. August 2024 sowie das Manöver der belarussischen und chinesischen Streitkräfte im Juli 2024. Beijing verfolgt offen einen pragmatischen Ansatz, ist aber nicht bereit, die Rolle des wichtigsten Verbündeten von Belarus zu übernehmen. Schließlich würde dies eine Konfrontation mit Russland und eine kostspielige Subventionierung der maroden und vom Westen sanktionierten belarussischen Wirtschaft mit sich bringen. 


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  • Schulen im Untergrund

    Die russischen Besatzungsbehörden setzen an ukrainischen Schulen in den okkupierten Gebieten zunehmend eigene Lehrinhalte durch: Ukrainisch als Unterrichtssprache stirbt, auf dem Programm stehen vermehrt Militarisierung und anti-ukrainische Propaganda. Es gibt zahlreiche Meldungen über Drohungen, Haft und Folter an Lehrpersonen und Lernenden, die sich geweigert hatten, die oktroyierten Änderungen umzusetzen. 

    Laut Schätzungen vom April 2023 leben rund eine Million ukrainische Kinder im schulpflichtigen Alter in den von Russland besetzten Gebieten. Die Russifizierung des ukrainischen Bildungssystems verstößt unter anderem gegen ihr Recht auf Bildung. Etwa 62.400 Kinder nehmen laut ukrainischem Bildungsministerium weiterhin am Online-Unterricht von ukrainischen Sekundarschuleinrichtungen teil. Sie begeben sich in unmittelbare Gefahr und müssen zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. iStories fragt, wie Kinder aus Nowa Kachowka und Melitopol weiterhin an ukrainischen Schulen lernen.

     Foto / Collage: istories
    Foto / Collage: istories

    In den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine gibt es 901 Schulen. Ein Teil davon wurde geschlossen, in anderen geht der Unterricht mit Lehrbüchern aus Russland weiter. Es gibt aber auch Schulen, in denen weiterhin nach den Standards des ukrainischen Bildungssystems unterrichtet wird, und zwar online.  

    Diese Schulen zu besuchen, wenn man sich in den besetzten Gebieten befindet, ist gefährlich. Deshalb verstecken die Eltern die USB-Sticks mit den Hausaufgaben und Lehrmaterialien und ziehen sogar aus der Stadt aufs Land, um den Kontrollen zu entgehen. 

    Wie sich für Kinder in den besetzten Gebieten seit 2022 das Schulwesen verändert hat, berichten die Direktorin eines Lyzeums in Nowa Kachowka und eine Lehrerin eines landwirtschaftlichen Lyzeums in Melitopol. 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht.“ 

    Iryna Dubas begann ihre Karriere als Lehrerin für Grundschulklassen und leitet jetzt das Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka. Als sie noch stellvertretende Direktorin des Lyzeums war, machte sie ein Volontariat in den USA, um die dortigen Methoden kennenzulernen. Sie war beeindruckt, dass die Kinder in amerikanischen Schulen selbst entscheiden, was sie lernen, und dass die Lehrkräfte ihnen wie auf Augenhöhe begegnen. Als Direktorin veränderte sie den Bildungsansatz in ihrer Schule. Sie begann mit der Inneneinrichtung: Die Gänge wurden neu gestrichen, es wurden Blumentöpfe aufgestellt, in den Klassenräumen bekamen die Schüler Einzeltische, damit jeder seinen persönlichen Bereich hat. 

    „Die Reinigungsfrauen haben sich heftig beschwert: ‚[Iryna] Petrowna, die Kinder haben alle Spiegel beschmiert!‘ und ‚Petrowna, die Kinder haben die Blumentöpfe umgeworfen!‘ Ich habe da immer ruhig reagiert: ‚Das ist normal. Das heißt nur, dass die Spiegel geputzt und die Pflanzen in Ordnung gebracht werden müssen. Wir werden das so lange machen, bis sich die Schüler dran gewöhnt haben.‘ Ein paar Monate später hat niemand mehr die Blumen angerührt oder etwas auf die Spiegel geschrieben.“ 

    Die wichtigste Veränderung war der Umgang mit den Schülern: „Ich wollte, dass die Kinder fröhlich sind, dass sie zu Hause erzählen, was sie gelernt haben und wie sehr ihnen das gefallen hat. Ich habe die Lehrerinnen eindringlich gebeten, mit den Kindern tolerant und diplomatisch umzugehen, sie wie gleichberechtigt zu behandeln, und ihnen mehr Freiheiten zu lassen. Den Lehrern der älteren Generation missfiel das, ein Teil von ihnen ging. Dafür waren die Kinder glücklicher.“ 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Anna But. Sie hat im Landwirtschaftlichen Lyzeum Melitopol Biologie, Deutsch und politische Bildung unterrichtet: 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht. Ich kann tausend Mal etwas aus dem Lehrbuch wiederholen, aber wenn die Kinder keinen Spaß am Unterricht haben, ist das nichts wert. Deswegen bin ich im Biologieunterricht mit den Kindern an den See neben dem Lyzeum gegangen, damit sie sich selbst alles ansehen können, anfassen können, begreifen können. Und bei der politischen Bildung sind wir ins Stadtzentrum gegangen, wo eine riesige Flagge hing. Ich fragte die Kinder, welche Emotionen das bei ihnen auslöst, und erzählte von meinen eigenen Gefühlen.“ 

    „Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘ “  

    Vom Beginn des großangelegten Krieges erfuhr Anna praktisch von den Schülern. Sie traf morgens auf dem Weg zur Arbeit einen Nachbarn, der sagte, dass die russische Armee den Flugplatz von Melitopol bombardiert. Anna glaubte ihm nicht, dachte nur, der Mann habe wieder mal einen über den Durst getrunken. Sie ging in ihre Klasse, schrieb auf Deutsch das Datum ‚24. Februar‘ und hörte Lärm aus dem schuleigenen Internat: ‚Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘. Ich geh zum Fernseher und sehe, dass es überall in der Ukraine brennt, überall gibt es Luftangriffe; die Sprecher reden von einer großangelegten Invasion.“ Die Direktorin stellte auf Online-Unterricht um, damit Schüler und Lehrer nicht ins Gebäude des Lyzeums kommen müssen. Am 26. Februar wurde Melitopol von der russischen Armee besetzt. 

    Ab dem 28. Februar ging sie zusammen mit ihrer Tochter, mit Kollegen, Schülern und anderen Bewohnern der Stadt jeden Tag zu den Protesten. Als das Militär begann, Aktivisten gefangen zu nehmen, und es nicht mehr möglich war, in Massen zu protestieren, verteilte Anna in der Stadt Flugblätter und Bändchen in den Farben der ukrainischen Flagge. Sie versuchte auch, ihre Schüler zu unterstützen: „Jetzt war ich nicht mehr Lehrerin, sondern Psychologin. Wir trafen uns mit den Schülern und ihren Eltern bei mir zuhause oder am See in der Nähe des Lyzeums. Ich sagte, alles werde gut, man müsse sich nur zusammenreißen und durchhalten. Mit denjenigen, denen die Flucht gelungen war, telefonierte ich. Ich habe den Schülern gut zugeredet, dass sie jetzt ruhig bleiben und auf sich aufpassen sollen.“ 

    Anna und ihre Tochter protestierten jedoch weiter. Sie machten keinen Hehl aus ihrer proukrainischen Haltung und berichteten in den sozialen Netzen, was in Melitopol vor sich geht. Nach einer Weile bekamen die Frauen Drohungen. Sogar Bekannte schrieben ihnen: ‚Schmort in der Hölle, ihr ukrainischen Schlampen.“ Zu jener Zeit wurden bereits proukrainische Aktivisten entführt, umgebracht und durch die „Keller“ geschickt. Als sie befürchten mussten, denunziert zu werden, verließen die beiden im April 2022 Melitopol. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    Iryna Dubas blieb bis zum August 2022 in Nowa Kachowka. Sie war am 24. Februar gerade in einem Krankenhaus bei Kyjiw gewesen, als ihr Stellvertreter anrief und sagte, in der Stadt gebe es Explosionen und die Kinder seien zusammen mit ihren Eltern zur Schule gekommen. Iryna ordnete an, alle aufzunehmen: In der Schule gab es einen großen Kellerraum, in dem man vor den Angriffen Schutz suchen konnte. 

    Am nächsten Tag wurde in der Schule der Unterricht offiziell eingestellt; der Keller fungierte aber weiter als Luftschutzraum. Iryna beschloss, in die Oblast Cherson zurückzukehren. „Ich musste stark sein. Mein Stellvertreter war in Panik, die Eltern riefen an, und ich sollte allen mit fröhlicher Stimme sagen, dass alles gut wird.“ 

    Die Oblast Cherson war bereits besetzt. Iryna konnte erst am 14. März nach Nowa Kachowka zurückkehren, als eine Überquerung des Dnipro möglich wurde. Zusammen mit den anderen Lehrerinnen ging sie täglich in die Schule. Sie machten mit dem Unterricht weiter, allerdings online. 

    Im April veranstaltete Wladimir Leontjew, das von den Besatzungsbehörden eingesetzte „Stadtoberhaupt“, eine Sitzung. Er versammelte die Direktoren aller Schulen und Kindergärten von Nowa Kachowka. Dort versprach er hohe Gehälter und erklärte, Bildung für die Kinder sei wichtiger als jeder Konflikt. Der Unterricht müsse jetzt aber in russischer Sprache erfolgen, und mit Lehrbüchern aus Russland. 

    Iryna lehnte das sofort entschieden ab. Im Juli, als sie die Schule auf das neue Schuljahr vorbereitete, kamen Vertreter der neuen, prorussischen Verwaltung zu ihr, begleitet von bewaffneten Männern. 

    „Das war [Wjatscheslaw] Resnikow, der ehemalige Direktor der Schule Nr. 10. Den hatten die Besatzer zum Leiter der Bildungsverwaltung ernannt. Mit ihm war Sorjana Us gekommen, die sogenannte Pressesprecherin des ‚Gauleiters‘ und dann drei Typen mit Maschinenpistolen, arme Bengel, die kaum so groß waren wie ihre Knarren. 

    Sorjana und Wjatscheslaw setzten sich, die mit den MPs bauten sich hinter mir auf. Resnikow fing an: ‚Sie sollten mitmachen, Iryna Petrowna. Bei Ihnen läuft alles so gut, sie sind so fortschrittlich. Unsere [die Russen] haben schon fast Mykolajiw und Odessa eingenommen, das ist halt so. Wir sind für die Bildung zuständig. Wenn Sie nicht wollen, werden das andere Direktoren machen.‘ Er gab mir zwei Wochen Bedenkzeit. Für mich war da gar nicht dran zu denken. Ich wollte auf keinen Fall dieses Russland; ich glaubte an den Sieg und war bereit, meine Schule bis zum Letzten zu verteidigen.“ 

    Den Sommer über sammelte das Lyzeum neue Schüler und bereitete den Online-Unterricht auf Ukrainisch vor. Dann wurde die Schule durchsucht und am 18. August wurde Iryna gefangengenommen. 

    Auf der Polizeiwache wurde sie in die „Zelle“ gebracht; in einen Raum wo früher die Passstelle war. Es gab auch andere Gefangene: die Direktorin des Lyzeums Nr. 2 in Nowa Kachowka, Oksana Jakubowa, und ehemalige Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung. Die Frauen hatten praktisch nichts zu essen und zu trinken. Ein altes Dreiliterglas diente als Toilette. Aus Gesundheitsgründen musste Iryna täglich Spritzen bekommen. Jakubowa half ihr dabei. 

    Jeden Tag wurde Iryna zu „Gesprächen“ mit einem Mitarbeiter des FSB geführt, der Umar genannt wurde. Seinen wirklichen Namen kennt Iryna nicht: 

    „Er fragte mich, ob ich nun endlich bereit sei, die Schule ins russische Bildungssystem zu überführen. Er drohte mir, sagte, dass ich 15 Jahre kriege, wenn ich in Russland ukrainische Bildung verbreite. Er beschuldigte mich, Artillerieziele auszuspionieren, und dass meinetwegen ein Dorf beschossen wurde. Mich haben sie zwar nicht angerührt, aber die anderen Frauen wurden mit Strom gefoltert; mir sagten sie, ich wäre als Nächste dran“, erinnert sich Iryna. 

    Am 23. August, am fünften Tag ihrer Gefangenschaft, holte Umar sie wieder zum Verhör: Sie solle alle Geräte (Fernseher, Tablets und Laptops) einsammeln und Lilija Grischagina übergeben, damit diese zum neuen Schuljahr das Lyzeum Nr. 1 aufmachen könne. Erst dann wurde Iryna freigelassen. Sie floh nach Kyjiw. 

    „Nach all dem wandte ich mich an eine Psychotherapeutin und Psychiaterin, weil es Dinge gibt, die ich nur einem fremden Menschen erzählen kann, der sie dann tief in sich vergräbt. Ich dachte, die Zeit würde den Schmerz lindern, aber der will nicht verschwinden“, erklärt Iryna. 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    „Es wird immer schwieriger, sich zu verstecken“ 

    Am 26. August, ihrem ersten Tag in Kyjiw, brach Iryna in Tränen aus – zum ersten Mal seit Beginn des großangelegten Krieges. Am Abend legte sie sich Teebeutel auf die geschwollenen Augen, nahm Baldrian und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen machte sie sich sofort wieder daran, ihr Lyzeum aufzubauen. 

    Sie erkundigte sich, wer von den Lehrkräften mitmachen will, fand neue Mitarbeiter, teilte Klassenlehrerinnen ein und kontaktierte die Eltern der Schüler. „Ich konnte meine Schule nicht im Stich lassen. Ich hatte das Gefühl: Ich habe Gefangenschaft und Besatzung überstanden, also schaffe ich alles auf der Welt“, sagt Iryna. 

    Bis zum 1. September 2022 hatte Irynas Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka 647 Schüler für den Online-Unterricht beisammen, von denen sich ein Großteil im Ausland oder unter Besatzung befand. Vor der Vollinvasion waren hier 637 Schüler zur Schule gegangen. 

    Fernunterricht hatte man schon während der Corona-Pandemie eingeübt, doch neue Herausforderungen kamen hinzu. Aus Sicherheitsgründen unterrichteten an diesem Lyzeum ausschließlich Lehrende, die sich auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet oder im Ausland aufhielten.  

    Die Familien in den besetzten Gebieten mussten lernen, für sich und ihre Kinder ein sicheres Lernumfeld zu schaffen, um nicht von russischen Sicherheitskräften entdeckt und verfolgt zu werden. Dafür zogen viele von der Stadt aufs Land, wo es praktisch keine Militärs und keine Hausdurchsuchungen gab.  

    Auch das Landwirtschaftliche Lyzeum von Melitopol setzte seinen Betrieb online fort, ebenfalls mit Schülern, die unter der Besatzung lebten. Zu persönlichen Treffen kamen die Lehrkräfte in Saporischschja zusammen. 

    Im Schulgebäude in Melitopol wird der Unterricht fortgesetzt, allerdings nach russischen Lehrbüchern. Bücher in ukrainischer Sprache sollen die russischen Soldaten gar zusammen mit der ukrainischen Flagge auf dem Schulhof verbrannt haben. Die Traktoren und LKW für das Fahrtraining der Schüler nahmen sie einfach mit. Vier von den in Melitopol verbliebenen Mitarbeitern des Lyzeums kooperieren jetzt mit dem Besatzungsregime. Der Rest nahm Abschied.  

    Wie genau das Lyzeum jetzt funktioniert, weiß Anna nicht. Bekannte berichten aber, dass man das „kaum Unterricht nennen“ könne. Der Sportlehrer Alexander Sidorow unterrichte plötzlich vier andere Fächer, darunter Geografie und Wirtschaftskunde. 

    Annas Bekannte erzählen, dass in Melitopol überall Georgsbänder und Schriftzüge hängen: „Russland ist der Heimathafen“, „Melitopol ist Russland“. „Tausende Bewohner von Melitopol sind entsetzt über diese Propaganda. Das Schlimmste ist, wir Erwachsenen wissen ja, dass das Agitation ist, wenn auch nicht alle das verstehen. Aber die Kinder durchschauen das nicht, und keiner ist da, der es ihnen erklärt. Es gibt Jugendliche, die schon in T-Shirts und Kappen mit dem russischen Wappen rumlaufen“, erzählt Anna, was sie von Bekannten gehört hat. „Aber das macht mir keine Angst. Sie können ja nichts dafür, dass ihre Eltern sie nicht weggebracht haben. Ich habe Kinder und Jugendliche sehr gern, und wenn wir zurückkommen, wird dieses Zeug wieder verschwinden. Weil wir Lehrer alles tun werden, damit die Kinder die Ukraine wieder lieben. Wir werden an ihre Herzen appellieren und sie öffnen.“ 

    In Melitopol ist der Besuch einer russischen Schule Pflicht [wie überall in den russisch besetzten Gebieten – dek]. Anna sagt, die meisten Lehrerinnen, die sie kennt, hätten sich aus dem Bildungsbereich verabschiedet: Der Unterricht sei zu einer Propagandaveranstaltung geworden, und sie hätten keine Lust, die Kinder russische Trikoloren malen zu lassen. Anna sind Fälle bekannt, wo bewaffnete Soldaten zu den Familien kommen und mit vorgehaltener MP verlangen, dass sie ihre Kinder in eine russische Schule schicken.  

    Trotz aller Risiken gibt es in Melitopol immer noch Eltern, die ihre Kinder in ukrainische Online-Schulen schicken. Meist haben die Kinder dort abends Unterricht, weil sie tagsüber in eine russische Schule müssen. Um sich vor den Razzien der Soldaten zu schützen, gehen die Eltern während der Schulstunden für alle Fälle mit ihren Kindern in eine andere Wohnung. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    „Es erfordert großen Heldenmut, unter der Besatzung weiterhin eine ukrainische Schule zu besuchen“, sagt Anna. „In Melitopol verraten sich die Leute gegenseitig. Jeden Moment kann dich ein Nachbar denunzieren, weil er gehört hat, dass du ukrainisch sprichst“. 

    Sich zu verstecken, wird immer schwieriger: Telefongespräche werden abgehört, auf der Straße können Eltern mit ihren Kindern jederzeit durchsucht werden, dann werden auch die Handys kontrolliert. Die Sticks mit dem Unterrichtsmaterial versteckt man in den hintersten Winkeln der Wohnungen.  

    „Die Kinder ergrauen unter der Besatzung. Das ist keine Übertreibung. Sie können einfach nicht wissen, wann das alles ein Ende haben wird.“ (Anna But, Lehrerin)  

    Deswegen haben die Kinder nach und nach aufgehört, am Unterricht [unseres Online-Lyzeums] teilzunehmen, wir mussten ganze Jahrgänge schließen. Am Ende des letzten Schuljahres [2023/24] hatten wir fast keine Schüler mehr.“ 

    Für 2024/25 hat das Landwirtschaftliche Online-Lyzeum gar nicht mehr genug Anmeldungen. „Diese Schule ist mein Leben, das ist für mich mehr, als meine Arbeit zu verlieren.“ Anna zufolge haben es nicht alle ihre Kollegen geschafft, bis zum Beginn des neuen Schuljahres an anderen Bildungseinrichtungen unterzukommen.  

    „Die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben“ 

    Wie Melitopol steht auch Nowa Kachowka unter Besatzung. Schulen gibt es dort aber so gut wie keine. Die von Russland eingesetzten Behörden haben Iryna zufolge den Schulbetrieb noch nicht in Gang gebracht. „2023 wurde in Nowa Kachowka nur die Schule Nr. 10 aufgemacht, und das nur online. Einige Eltern wurden genötigt, ihre Kinder dort anzumelden; dafür bekamen sie ein Lebensmittelpaket und zweitausend Rubel. Aber keiner kontrolliert, ob die Kinder dort am Unterricht teilnehmen.“ 

    Genau wie in Melitopol müssen Eltern es sorgfältig geheimhalten, wenn ihre Kinder online eine ukrainische Schule besuchen. Trotzdem hatte das Online-Lyzeum Nr. 3, das Iryna leitet, im Schuljahr 2023/24 ganze 568 Schüler und Schülerinnen. Zwei der fünf Absolventen mit Auszeichnung haben das ganze Jahr unter Besatzung verbracht. Zu ihrem Abschluss konnten sie in ukrainisch kontrolliertes Gebiet ausreisen (Details zur Strecke können aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden), um von Iryna ihre Zeugnisse und Medaillen entgegenzunehmen und sich an ukrainischen Hochschulen zu bewerben. 

    Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen im Krieg hat Dubas ihre Einstellung zur Schulbildung beibehalten: Oberste Priorität haben das Wohlbefinden und die Sicherheit der Kinder. „Seit der Befreiung von Cherson [am 1. November 2022] steht Nowa Kachowka unter ständigem Beschuss, sehr oft gibt es keinen Strom und kein Internet. Daher findet der Unterricht für die Kinder dann statt, wenn es wieder eine Verbindung gibt.“ 

    Das Thema Krieg vermeiden die Lehrenden während des Unterrichts. Sie erinnern nur an die Sicherheitsvorkehrungen: Sie bitten die Schüler in den besetzten Gebieten, auf der Suche nach Handyempfang, um die Hausaufgaben abzugeben, nicht auf Bäume zu klettern. So was ist nämlich schon vorgekommen. „Wenn ein Schüler seinen Test nicht besteht, ist das kein Drama. Wir wollen in Zeiten wie diesen die Kinder und Eltern nicht unter Druck setzen. 

    Ich schalte mich immer wieder zu den Online-Sitzungen dazu, um die Kinder zu sehen und einfach zu sagen ‚Passt auf euch auf‘. Die Kinder brauchen jetzt besondere Unterstützung, sowohl jene, die unter Besatzung leben, wie auch jene, die auf ukrainisch kontrolliertem Territorium immer wieder Beschuss erleben, und auch die, die fern von zuhause im Ausland sind. 

    Die Schüler sind ganz versessen auf den Unterricht. Sie wollen möglichst viel Zeit mit ihren Schulfreunden verbringen, wenigstens auf dem Bildschirm. Deswegen bieten die Klassenlehrerinnen auch Freistunden an, in denen die Kinder sich einfach unterhalten, und organisieren Feste für sie, um ihnen das zu geben, was der Krieg ihnen genommen hat: Spaß und Freude.“  

    Iryna steht auch den Lehrenden zur Seite, sie versucht nicht nur, Gehaltsaufbesserungen für sie herauszuschlagen, sondern kümmert sich auch um deren psychische Gesundheit: 

    „Eine Lehrerin muss ausgeglichen, gut gelaunt und für ihre Sache engagiert in den Unterricht gehen. Lernen muss für die Kinder interessant sein. Nach den Stunden können die Lehrkräfte so viel weinen und Angst haben, wie sie wollen, aber die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben. Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Nach dem Unterricht bekommt jede Lehrerin meine Unterstützung, ich rufe mindestens einmal im Monat jede einzelne an.“ 

    „Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist?“ 

    Für das neue Schuljahr 2024/25 hat das Lyzeum in Nowa Kachowka mehr Anmeldungen als vor dem großangelegten Krieg, nämlich 685. Viele der Schüler leben auf besetztem Gebiet [Iryna möchte keine Zahlen nennen, um die Familien nicht zu gefährden – Anm. d. Red.]: 

    „Die Lehrerinnen, die früher in Nowa Kachowka unterrichteten, haben unsere Schule ganzen Klassen empfohlen. Hinzu kommen die Erstklässler. Wir haben auf der Website und in sozialen Medien Werbung gemacht, ich habe alle Kindergärten der Stadt abtelefoniert, und die Eltern haben mir still und heimlich die Unterlagen geschickt. 

    Dieses Jahr werden wir als Experiment in der achten Klasse Finanzwissen einführen. Die Kinder haben sich dieses Fach selbst ausgesucht, dazu gab es am Ende des letzten Schuljahres eine Umfrage“, erzählt die Direktorin von den Plänen. 

    Anna But ist seit 1. September Dolmetscherin und Betreuerin der Hochschulgruppen an der Fachhochschule Melitopol, die zur Taurischen Staatlichen Universität in Simferopol gehört. Unterrichtet wird online, und die Lehrenden treffen sich wie die des Landwirtschaftlichen Lyzeums in Saporischschja. Auch in dieser Fachhochschule gibt es Studierende aus dem besetzten Melitopol.  

    Außerdem engagiert sich Anna weiterhin als Freiwillige. Seit 2014 knüpft sie Tarnnetze für die Armee. Solange sie in den besetzten Gebieten war, hat sie diese Tätigkeit unterbrochen. Für ihr ehrenamtliches Engagement und die Proteste in Melitopol hat ihr der Präsident der Ukraine die Auszeichnung „Nationale Legende der Ukraine“ verliehen: 

    Foto / president.gov.ua
    Foto / president.gov.ua

    „Es war schon die ganze Zeit so: Den halben Tag hab ich unterrichtet, die zweite Hälfte zusammen mit den Kindern Netze geknüpft. Das [die Unterstützung der Front] hat jetzt oberste Priorität. Wenn wir der Armee nicht helfen, dann wird es auch keine Bildung mehr geben. Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist? Danach werden wir Neuerungen beim Unterricht vornehmen.“ 

    Ehemalige Schüler von Anna und Iryna, unter anderem die, die 2021 ihren Abschluss gemacht haben, verteidigen jetzt die Ukraine. Manche von ihnen sind jetzt in russischer Kriegsgefangenschaft. 

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    Kriegsferien in Mariupol

    Zu den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten gehören auch beliebte Urlaubsorte am Asowschen Meer. Dort, wo noch vor Kurzem brutale Kämpfe stattfanden, hat die russische Besatzungsmacht mittlerweile eigene Behörden und ihren Sicherheitsapparat installiert. Arbeitskräfte und neue, dem Regime loyale Anwohner werden angelockt. Ebenso: Touristen. 

    Nun geht hier die dritte Urlaubssaison unter Besatzung zu Ende. Noch gibt es keine aktuellen Zahlen, dafür ehrgeizige Ziele: Berdjansk in der Oblast Saporischschja hoffte dieses Jahr auf bis zu 500.000 Touristen. In der Oblast Donezk rechnete man mit 134.000 Feriengästen, bis 2030 sollen es gar eine Million werden. Dabei ist Urlaub in diesen Regionen nicht ungefährlich. Einerseits gibt es immer wieder Beschuss, andererseits drohen bei auffälligem, womöglich regimekritischem Verhalten Verhöre bis hin zu Verschleppung.  

    Eine Korrespondentin des Online-TV-Senders Vot Tak hat dennoch mehrere Erholungsorte an der Küste des Asowschen Meeres besucht und nachgefragt, wer seine Ferien warum und wie in diesen besetzten Gebieten verbringt. Die Namen aller beschriebenen Protagonisten sind aus Sicherheitsgründen geändert.   

    Eine Urlauberin am Strand von Mariupol © Vot Tak
    Eine Urlauberin am Strand von Mariupol © Vot Tak

    Unser Bus erreicht Mariupol

    „War ganz schön was los hier, was?“, fragt mein Sitznachbar. Vor dem Fenster ziehen Masten mit abgerissenen Stromleitungen vorüber. Zerstörte, seit zwei Jahren leerstehende Häuser hinter Zäunen mit Aufschriften wie „Hier leben Menschen“ oder „Kinder“. Das rostig-betongraue Monstrum des zerbombten Asow-Stahlwerks.  

    „Und wie“, presse ich heraus.  

    „So ist es überall. Die Einen verteidigen, die Anderen befreien“, sagt der Mann kopfschüttelnd. 

    Nach 18 Stunden Seite an Seite auf schmalen Sitzen sind wir uns so nahegekommen, wie sich nur zufällige Weggefährten nahekommen können. Der Mann fährt bis zur Endstation, bis Wolnowacha. Von dort sind es noch 15 Kilometer bis zu seinem Dorf.  

    Er erzählt, wie der Krieg sein Dorf entvölkert und die Leute von der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR) sein Haus geplündert haben („Sogar die Webcam vom Computermonitor haben sie mitgenommen!“). Und dass er zwar unter Beschuss lebe, aber nicht vorhabe, sein Haus zu verlassen. Die Schuld gibt er jedem ein bisschen, aber am meisten Janukowytsch, der den Maidan nicht rechtzeitig zerschlagen habe. Aber das alles kümmert ihn wenig: In einem Moskauer Hospiz liegt sein dreijähriger Enkel mit Krebs im Sterben.

    „Ich bin hier aufgewachsen, hab hier gewohnt … Hab das alles natürlich ganz anders gekannt.” 

    Eine Frau im Stricktop in der Reihe neben uns bricht in Tränen aus. Ich halte ihr ein Papiertaschentuch hin. „Das ist so ein emotionaler Schmerz …“, murmelt sie, während sie ihre Wimperntusche verschmiert. Alle Passagiere scheinen an den Fensterscheiben zu kleben: 47 Zivilisten und ein paar Militärangehörige mit Aufnähern „Ich spiele sehr gut pocher“.  

    Irgendwo am Stadtrand werden wir abgesetzt. Die Frau im Top fragt, ob jemand sie telefonieren lässt, damit man sie abholt. Ich gebe ihr noch ein Taschentuch. 

    „Danke, Schätzchen, das ist lieb“, sagt sie schluchzend. „Ich bin hier aufgewachsen, hab hier gewohnt … Hab das alles natürlich ganz anders gekannt. 2022 bin ich geflüchtet, es war eine schöne Stadt …“ 

    Sie erzählt, dass sie die letzten zwei Jahre in Kyjiw gelebt habe und nach Mariupol zurückziehen will, „wenn ich Fuß fassen kann“. Sie fragt, warum ich hier bin. Ich bringe es nicht über die Lippen zu sagen „wegen der Strände“, also gebe ich vor, auf die Krim zu wollen. 

    „Kommt man gut von hier auf die Krim?“, fragt sie erstaunt. „Ach ja, die ist ja jetzt Russland!“ 

    Aushänge im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Aushänge im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    Die Unbekannte bedankt sich noch mal für die Taschentücher und verabschiedet sich. Ich gehe zur Haltestelle. Ein Bus mit der Aufschrift „Partnerstädte Sankt Petersburg und Mariupol“ bringt mich für 30 Rubel zum Theater, von wo aus ich durch Straßen, die sogar für einen Werktagsmorgen zu verlassen wirken, in Richtung Strand spaziere. Das Zentrum ist voller Gerüste und Anzeigenzettel. Angeboten werden Taxis auf die Krim und nach Donezk, Wehrdienstverträge und Wellness-Massagen „nur für echte Männer“.  

    Die Neugestaltung des Mariupoler Strandes ist in der Endphase. Ein Kinderspielplatz, Fitnessgeräte, zweieinhalb Kilometer Promenade mit Bänken und Schaukeln, Sonnensegeln und Umkleidekabinen, einer Rettungsstelle und Toiletten. Ich rüttle an der nagelneuen Plastikklinke – die Tür bleibt zu. 

    „Immer nur ins Meer“, rät mir ein grinsender Passant.   

    Urlauber am Asowschen Meer im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Urlauber am Asowschen Meer im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    Unterm Sonnenschirm ist alles gut 

    Am Strand sind mehr Leute. Zwischen den im Sand ausgestreckten Leibern tummeln sich Händler mit Schmalzgebäck und heißen Maiskolben. Für 500 Rubel kann man sich Stand Up Paddles ausleihen oder auf einer aufblasbaren Banane reiten.     

    Jung und Alt, Freunde und Familien räkeln sich in der Sonne oder verstecken sich vor ihr unter Sonnenschirmen. Den Stadtstrand besuchen vor allem Einheimische, doch ich treffe auch Touristen an, vor allem aus der Oblast Donezk.  

    Im Schatten sitzen Nadeshda, ihr Mann Sascha und ihre etwa zehnjährige Tochter. Sie kommen aus Tschystjakowe (russ. Tores; Stadt 60 Kilometer östlich von Donezk, seit 2014 kontrolliert von der selbsternannten DNR), wollten eigentlich über Nacht bleiben, haben aber keine Unterkunft gefunden. 

    „Wir sind die Siedlungen abgefahren, die zerbombten Einfamilienhäuser stehen immer noch genauso da. Wir haben jeden Tag Vermieter angerufen, aber keiner hat sich zurückgemeldet. Dann baden wir eben ein bisschen, genießen die Sonne und fahren wieder zurück. Wir brauchen mit dem Auto drei Stunden“, sagt die Frau dennoch zuversichtlich. 

    „Es war ein ziemlicher Kontrast. Bei uns die DNR, alles grau, und hier die Ukraine: eine lebendige Stadt, schön war das.“ 

    Letzten Sommer seien sie fünf Tage in Anapa (Strandtourismus-Hochburg, Gebiet Krasnodar am Schwarzen Meer, Russland – dek) gewesen und danach einen Tag in Mariupol. Hier gefiel es ihnen besser: „Das Meer und der Strand sind sauberer, schöner.“ Ich frage, ob sich seit letztem Jahr viel verändert hat. 

    „Offenbar wird die Stadt hergerichtet. Die Strände werden saubergemacht, man kann das jetzt schon genießen. Letztes Jahr gab es hier noch Sand, Müll und Gestrüpp. Ausgebrannte Waggons standen herum. Am Stadtrand ist natürlich noch nichts gemacht: überall Unkraut und Schutt. Aber im Zentrum funktionieren sogar die Ampeln“, erzählt Nadeshda. „Heute ist nur ein Hubschrauber übers Meer geflogen, letztes Jahr flogen sie ständig. Es ist ruhiger geworden.“ 

    Urlauber am Asowschen Meer im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Urlauber am Asowschen Meer im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    „Wir haben auch schon 2016 und 2018 hier Urlaub gemacht“, sagt nun auch der wortkarge Sascha. „Es war ein ziemlicher Kontrast. Bei uns die DNR, alles grau, und hier die Ukraine: eine lebendige Stadt, schön war das.“   

    „Jetzt kommt auch hier der Wiederaufbau; was denn sonst?”, sagt Nadeshda. „Halb so wild, es geht alles vorbei, dann ist Frieden.“ Diese Worte wiederholt sie so oft, als wollte sie noch sich selbst überzeugen. „Bei uns gab es zu Ukraine-Zeiten ja auch keine Straßen, und jetzt haben sie damit angefangen. Mein Mann witzelt gern: ‚Krass, was die Besatzer sich erlauben, überall bauen sie Straßen!‘“ 

    „Wie denken die Leute bei euch über das Geschehen?“ 

    „Die meisten sind dafür. Wir sprechen doch alle Russisch. Und Russland steht wegen der familiären und religiösen Werte hoch im Kurs. Keiner schreibt die Geschichte um, keiner reformiert den Glauben, keiner führt die Homo-Ehe ein.“      

    Während Sascha mit der Kleinen baden geht, erklärt Nadeshda, dass man Russland in Tschystjakowe „in Ordnung“ finde, sich aber wegen einzelner Ungerechtigkeiten beklage. 

    „Die pensionierten Minenarbeiter sind empört, weil sie in der Ukraine gute Renten hatten, aber die russische Verwaltung hat ihre Arbeit abgewertet. Auch wer 20 Jahre bei der Bergwerksrettung war, die bei Unfällen in den Minen stets im Einsatz ist … Denen wurden durch Russland die Renten neu berechnet. Umgerechnet 30.000 Rubel waren es, jetzt sind es 18.000“, rechnet sie vor.  

    „Unsere Leute kämpfen an vorderster Front, die Russen immer nur in zweiter Reihe.“ 

    Besonders böse ist Nadeshda auf Denis Puschilin, das Oberhaupt der DNR. Sie meint, erst durch seine Behauptungen bezüglich Kriegsbereitschaft seiner Armee sei es zu dieser Mobilmachung gekommen, die nun praktisch jeden betreffe.  

    „Er hat gesagt, die Armee sei bereit, und hat einfach die Männer aus den Bergwerken, den Fabriken, den Bussen eingezogen. Sogar die Wohnungen haben sie abgeklappert. Alle nur Kanonenfutter. Unsere Leute kämpfen an vorderster Front, die Russen immer nur in zweiter Reihe. Sie sagen: Ihr macht eure Landesverteidigung“, sagt sie aufgebracht.     

    Auch Sascha sei gleich am ersten Tag der großangelegten Invasion eingezogen worden, doch Nadeshda bekam ernste gesundheitliche Probleme, weswegen er als Vater zweier Kinder doch entlassen wurde. Da ist seine Frau dankbar für ihr Leiden: „Die meisten sind schon tot. Du hast einfach keine Chance, wenn du zwei Jahre ohne jede Erfahrung an der Front bist.“ 

    Gut gelaunt kommen Tochter und Papa aus dem Wasser, und die Familie will ein Café suchen, um zu Mittag zu essen.  

    „Ehrlich gesagt, dachten die Leute, es würde schneller gehen“, fasst Nadeshda zusammen. „Aber Enttäuschung oder ‘schon zweieinhalb Jahre, das wird nichts mehr‘ – so eine Stimmung gibt es nicht.“ Sie verstummt, dann fügt sie mit unverfälschter Freude hinzu: „Ich sitze hier unterm Sonnenschirm – ist doch fein! Sehr viele Leute sind hier, dicht an dicht … Aber was soll’s, es wollen halt alle [Urlaub am Meer machen].“ 

    Sportplatz im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Sportplatz im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    „Die Stadt war schon ein Schock, aber die Kinder haben geschlafen “     

    Am östlichen Ende des Strandes steht in der Nähe eines Fitnessareals ein Zelt unter einem Baum. Ein Mann mit tätowierten Armen bläst ins Feuer eines Holzkohlegrills. Eine unfrisierte Frau treibt drei verdreckte Kinder unter die Plane und redet ihnen zu, ein wenig zu schlafen, bis das Meer wärmer wird. Sie stellen sich als Urlauber aus Moskau vor. Als sie mich als Russin erkennen, laden sie mich auf eine Tasse Tee ein. 

    „Der Strand ist schön, so eine tolle Pier, und die schicke Promenade“, schwärmt Katja, während das Wasser aufkocht. „Gefällt mir supergut hier.“ 

    Früher machten sie in der Region Krasnodar Urlaub, aber mit drei Kindern wurde es teuer: „In Gelendshik oder in Sotschi zahlst du überall für den Strand, 500 Rubel pro Kopf.“ Mariupol wurde ihr von Freunden empfohlen, die letztes Jahr hier waren. Katjas Bruder Sascha ist aus Kirow mitgekommen, bis Rostow sind sie mit der Bahn gefahren, den Rest mit dem Bus.  

    Die Familie will ungefähr zehn Tage in Mariupol bleiben, solange das Geld reicht. Am ersten Tag wollten sie sich ein Häuschen am Meer suchen, aber daraus wurde nichts: „Alles voll.“ Also beschlossen sie, im Zelt zu übernachten, das sie für alle Fälle mitgenommen haben.     

    „Wir leben ins Blaue hinein und genießen es. “ 

    „Ich hatte die schlimmsten Befürchtungen, ich dachte, hier würde es nur Bäume und Meer geben. Aber der Strand ist bewacht, es gibt Militär, keiner prügelt sich, es ist friedlich und still“, freut sich Katja. „Rund um die Uhr ist was los, bis drei Uhr nachts gehen die Pärchen spazieren. Hier ist es noch etwas wüster, aber da drüben liegen sie wie die Sardinen!“ 

    „Hatten Sie keine Angst?“ 

    „Wovor sollten wir Angst haben?“ Diese Frage scheint sie mir übelzunehmen. „Hier sind ständig Leute, alle machen Urlaub, alle sind wie wir.“ 

    „Es geht um was anderes!“, mischt Sascha sich ein. „Keiner von uns weiß, wann er sterben wird. Du kannst genauso zu Hause in der Badewanne ertrinken. Es gibt verschiedene Todesarten. Wir leben ins Blaue hinein und genießen es.“  

    Er fragt, ob ich einen Wodka mit ihm trinke. Ich lehne ab und bekomme Tee und Waffeln. 

    „Die Stadt wird neu gebaut“, erzählt er. „Aber die Bevölkerung ist nicht so offen, sag ich dir. Die Einheimischen sagen: Ihr habt uns noch gefehlt.“ Oder: „Fahrt doch in euer Sotschi oder nach Gelendshik“, bekräftigt Katja. 

    „Noch sind wir in ihren Augen Besatzer. Noch. Mit der Zeit wird sich das einrenken.“ 

    „Gestern sitz ich in einer Bar, frage, ob sie froh sind, dass sie jetzt zur Russischen Föderation gehören“, setzt Sascha fort. „Drei Männer saßen da – alle drei dagegen. Sie haben viel verloren hier, sind wütend: Der eine seine Firma, der andere seine Familie, der nächste sein Haus. Das gibt sich wieder, aber es wird mit einem Jahr nicht getan sein. Das kostet Zeit und Geld.“   

    „Krieg macht natürlich niemanden froh. Es ist ein wenig unangenehm, aber wir können sie verstehen“, sagt Katja versöhnlich. „Was sollen wir denn tun? Noch sind wir in ihren Augen Besatzer. Noch. Mit der Zeit wird sich das einrenken.“ 

    „Mariupol ist ja total zerstört, das habe ich beim Herfahren gesehen“, erzählt Katja. „Die Stadt war schon ein gewisser Schock, aber die Kinder haben geschlafen und nichts mitgekriegt.“   

    Zerbombtes Kurhotel Sdorowje (Gesundheit) im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak
    Zerbombtes Kurhotel Sdorowje (Gesundheit) im von Russland besetzten ukrainischen Mariupol © Vot Tak

    Ich sehe mich um. Solange man den Strand nicht verlässt, kann man nur an der am Horizont hochragenden Ruine des Sanatoriums Sdorowje (dt. Gesundheit) erahnen, was vor zwei Jahren in Mariupol passiert ist. Aber stehen nicht in jeder Stadt sowjetische Ruinen?      

    Ich frage Sascha, was genau die Leute in der Bar gesagt haben. „Ich hab nicht so genau nachgefragt. Sie haben mich in Ruhe gelassen und ich sie auch“, antwortet er. Dann fügt er hinzu: „Ihre Stadt. Sie meinen, das sei ihre Stadt. Aber das stimmt nicht, das ist unsere Stadt.“ 

    Ich bedanke mich für den Tee. Katja sagt zum Abschied: „Mariupol kann ich wirklich allen empfehlen.“  

    „Der traurigste Ort von allen“ 

    Das Dorf Melekine ist ein Ferienort in unmittelbarer Nähe zu Mariupol. Laut der Donezker Komsomolskaja Prawda war das früher ein Nachteil war: „Die größten Mariupoler Umweltverschmutzer liefen auf vollen Touren: die Metallurgiekombinate Asowstahl und Iljitsch-Eisen- und Stahlwerke. Aber damit ist es jetzt vorbei“, beruhigt ein Werbeartikel potenzielle Urlauber.  

    Das russische Tourismus-Portal nasche-more.rf (dt. unser-meer.rf), das ebenfalls Urlaubsziele in den besetzten ukrainischen Gebieten anpreist, verspricht hier „viele Sehenswürdigkeiten“, „ausgezeichnete Infrastruktur“ und „entspannte Atmosphäre“. „Auch Mariupol ist ganz in der Nähe, eine hinreißende Stadt mit reichem Kulturleben und historischem Flair“, heißt es auf der Website.  

    „Mit Urlaubern rechnet hier keiner, nicht mal frisches Fleisch wird geliefert.“ 

    „Das ist am Asowschen Meer der traurigste Ort von allen – null Infrastruktur und null Unterhaltung“, erklärt mir dagegen die blondierte und stark geschminkte Olga bereits auf der Schwelle. Sie ist in Melekine geboren und aufgewachsen, lebt aber schon lange in Donezk. Sie kommt jedes Jahr, um Urlaub zu machen und einer Verwandten zu helfen. Diese betreibt die Pension, in der ich mich eingemietet habe. „Es hat sich nichts verändert, weder vor noch nach dem Krieg. Wenn du die Zeit auf 1989 zurückdrehen willst, dann komm nach Melekino (russ. für Melekine – dek).“ 

    Ihr zufolge seien seit 2014 kaum noch Touristen aus den besetzten Teilen der Oblasten Donezk und Luhansk hierher ins „Feindesland“ gekommen, was ein schwerer Schlag für die lokale Tourismuswirtschaft war. Ab 2022 kamen nach und nach wieder Erholungssuchende nach Melekine, auch Armeeangehörige und Bauarbeiter vom Wiederaufbau in Mariupol wohnten da. Was allerdings für die Entwicklung als Ferienort kaum förderlich gewesen sei.    

    „Dieses Jahr sind keine Bauarbeiter da, die Soldaten sind auch weg, Schluss, game over. Mit Urlaubern rechnet hier keiner, nicht mal frisches Fleisch wird geliefert“, beschwert sich Olga. „Wladimir Wladimirowitsch [Putin] hat uns das ultimative Feng Shui versprochen. Hoffen wir’s!“

    Urlauberinnen am Strand des von Russland besetzten ukrainischen Melekine © Vot Tak
    Urlauberinnen am Strand des von Russland besetzten ukrainischen Melekine © Vot Tak

    Semjon aus dem Moskauer Umland ist mit seinem halbwüchsigen Sohn im Urlaub. „Im vergangenen Jahr waren wir in Berdjansk. Da war die Hälfte der Hotels zu. Und als ich jetzt bei der alten Unterkunft anrief, war alles belegt.“ 

    Semjon sagt, am Asowschen Meer würden „viele von uns“ Urlaub machen, und dass es mit den Einheimischen keine Probleme gebe. „Alle sind missmutig. Die Dickköpfigsten sind weggegangen, wer nur mittel-störrisch ist, hat sich russifiziert“, meint er. „Na ja, es sind auch welche geblieben. Auf meiner Tasche steht ‚Russland‘, die habe ich zufällig dabei. Da hat mich einer so [missbilligend – Vot Tak] angesehen. Aber die meisten sind schon für uns. “  

    Olga sagt, in ihrer Pension sei ich die Erste aus den [international – dek] anerkannten Territorien Russlands. „Am Strand [traf ich Touristen – Vot Tak] aus Woronesh, aus der Oblast Kursk. Viele [Russen – Vot Tak] kämpfen hier, und holen ihre Familien her“, sagt sie. „Aber die meisten kommen aus Donezk.“ 

    „Hier sind nur Flieger und Hubschrauber unterwegs, die sind harmlos. Bei uns fliegen die Granaten.“ 

    Von dort braucht man nur einige Stunden, es gibt sogar Tagesstouren mit dem Bus – am Wochenende und an Feiertagen. „Es ist das erste Jahr, dass die Leute in Ruhe ans Meer fahren können. Ohne Angriffe, ohne Checkpoints“, erklärt ein Verkäufer im Laden. „Du packst einfach deine Sachen und fährst los.“ Gefahren durch den Krieg machten diesen Urlaubern nichts aus, zu Hause sei es ja noch gefährlicher. 

    „Hier ist es ruhig, hier sind nur Flieger und Hubschrauber unterwegs, doch die sind harmlos. Bei uns fliegen die Granaten. Jeden Tag Luftangriffe, Luftangriffe, Luftangriffe. Du gehst zur Arbeit und weißt nicht, ob du zurückkommst“, erzählt auch Witali, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Melekine Urlaub macht. 

    Das Paar bereut, dass sie nicht nach Ursuf gefahren sind, ein Dorf auf halber Strecke zwischen Mariupol und Berdjansk. Sie sagen, dort sei das Wasser sauberer und die Infrastruktur besser. Es gebe sogar einen Freizeitpark. Auch andere Einheimische empfehlen mir Ursuf, warnen aber: Die Strände seien „rappelvoll“. 

    „Drei Mal hat’s geknallt – wir blieben sitzen, als ob nichts wäre“  

    In Ursuf herrscht Geschäftigkeit, Leben pur, wie es sich für einen Urlaubsort in der Hochsaison gehört. Auf der Straße, die zum Hauptstrand führt, schlendern spärlich bekleidete Touristen. Der Verkauf von Souvenirs läuft auf Hochtouren. An Pensionen sagen Schilder: „Belegt“. Der Strand ist mit bunten Schirmen und erhitzten Körpern übersät. 

    Ein nicht mehr ganz junger Mann mit „Russland“–Cap und seine stämmige Gattin schützen sich vor der Mittagssonne unter einem Schirm. „Wir sind aus der DNR, wir haben nur eine Woche Urlaub und sind nach Ursuf gekommen, weil wir nicht so viel Zeit für die Fahrt opfern wollten. Na, und wir wollten sehen, was sich hier so verändert hat“, erzählt Tatjana. 

    Die letzten Jahre habe das Paar auf der Krim Urlaub gemacht, jetzt sind sie vom Service hier enttäuscht. „Ich komme an, seh‘ das Zimmer, und traue meinen Augen nicht: Wofür zahl ich denn solch ein Geld? [4.000 Rubel pro Nacht – Vot Tak; ca. 40 Euro – dek]. Für dieses Geld bekommst du auf der Krim ein zweistöckiges Apartment! Wenn man den Vergleich hat, ist das natürlich eine Riesenenttäuschung“, entrüstet sie sich. „Ich war außer mir, habe die Kinder angerufen, wollte gleich wieder abreisen.“ 

    Ihr Mann schaltet sich ein. Er ist empört über die Preise in den Geschäften: „Jetzt im Krieg verdienen die Leute ganz gut, es gibt viele Militärangehörige, die können sich das leisten. Die gleichen Lebensmittel wie bei uns kosten hier doppelt so viel.”  

    „Und dann wird das noch so verkauft, als ob sie uns einen Gefallen tun würden und wir ihnen was schuldig wären“, beschwert sich Tatjana. 

    „Hier stehen Autos mit Moskauer Nummern, sogar welche aus Murmansk. Mein Gott, von Murmansk bis hierhin!“, ruft die Urlauberin. „Wir sind doch nur deshalb hier, weil es nur zwei Stunden Fahrt sind.“ 

    Ein Stückchen weiter hat sich eine Familie aus der Stadt Charzyssk mit ihrer neunjährigen Tochter im Schatten eines Bungalows niedergelassen. „Super! Uns hat es sehr gut gefallen, alles top“, erzählt Vater Jegor. Früher hätten die Eheleute auf der Krim Urlaub gemacht. „Hier ist es ruhiger“, sagt seine Frau. „Drei Mal hat es geknallt, aber nicht laut. Wir blieben sitzen, als ob nichts wäre.“ 

    Der Vater fragt seine Tochter nach ihrer Meinung: „Es gibt eine einzige Sache, die blöd ist“, sagt sie bestimmt. „Zwei Tage gab es Quallen.“ 

    Am vielbevölkerten Strand kann man wohl leicht den Krieg vergessen. 

    Urlauber am Strand der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk © Vot Tak
    Urlauber am Strand der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk © Vot Tak

    Kriegsrealien treffen Tourismuspläne 

    Vor dem großflächigen Überfall Russlands auf die Ukraine galt Berdjansk, Oblast Saporischschja, als einer der beliebtesten Urlaubsorte der Ukraine. Pro Saison konnten bis zu anderthalb Millionen Touristen hier unterkommen. Nach zwei Jahren Krieg hoffen die Besatzungsbehörden der Region, wenigstens eine halbe Million anlocken zu können. 

    In meiner Pension mit zwölf Zimmern sind außer meinem nur drei Zimmer belegt. Der Wirt Sergej gibt mir großzügig ein Sechsbettzimmer. Das Interesse sei sowieso nicht groß. Im Vergleich zum Vorjahr gebe es allerdings schon zwei- bis dreimal mehr Besucher. 

    „Vor allem Leute aus Donezk sind hier. Donezk ist quasi unterwegs“, erklärt er mir. „Wie Sie vielleicht wissen, haben sie dort die Leute scharenweise für den Krieg ‚abgegriffen‘. Und mit wem willst du Urlaub machen, wenn dein Mann sich unter der Bettdecke versteckt und nicht mal für ‘ne Dose Bier aus dem Haus gehen kann? Jetzt ist das etwas besser geworden.“ 

    „Was meinen Sie, würde jemand aus Moskau hier Urlaub machen wollen?“ 

    „Kommen auch Leute aus Russland?“, frage ich. „Na ja, aus Rostow, aus der Nähe. Aus Moskau sind Sie die Erste; Sie kommen auf die Ehrentafel“, lacht er. „Wir sind hier ganz schön abgelegen, nicht wahr? Was wäre von Moskau aus eine Alternative? So ganz spontan gesagt, los!“ 

    „Nach Sotschi fliegen“, schlage ich vor. „Nach Sotschi fliegen“, wiederholt Sergej. „Fliegen kannst du hier vergessen. Touristen brauchen Verkehrsverbindungen: Bahnstrecken, Fluglinien, Busse. Nicht jeder hat ein Auto. Der Bahnhof hat früher dafür gesorgt [dass Touristen kommen – Vot Tak]. Sobald es wieder einen Bahnhof gibt, wird alles anders.“ 

    Später ergänzt Sergej allerdings, dass nicht nur die zerstörte Logistik ein Problem ist: „Wir werden hier erstmal keine Sommergäste aus Moskau oder Rostow haben. Selbst wenn es Transportmöglichkeiten gibt. Womit wollen wir sie denn beeindrucken? Weil’s billig ist? Sollen wir schreien: ‚Bei uns gibt’s den billigsten Urlaub‘? Was meinen Sie, würde jemand aus Moskau hier Urlaub machen wollen? Sie kennen ja Ihr Umfeld.“ 

    „Ein bisschen wie ausgestorben“ 

    Berdjansk spricht Propaganda mit mir. Als ich am Stadtstrand entlangschlenderte, erfahre ich, auf welchem Sender man Putin sehen kann, welche Zeitung man kaufen soll, um „mit dem Präsidenten“ zu sein und ausgewählte Zitate von ihm zu lesen. In der Fußgängerzone sitzen ein paar Rentner auf einer Bank. Auf dem Plakat über ihnen heißt es: „Wir wissen, dass wir in den angegliederten Gebieten auf alle zählen können“.  

    Auf der Uferpromenade spazieren Urlauber und Einheimische. Es sind nicht wenige, aber das alles erinnert nur entfernt an die Berdjansker Sommer vor dem Krieg. Ich begegne tatsächlich nur Touristen aus den Oblasten Donezk und Luhansk. Ihre Beweggründe gleichen einander, als ob sie sich abgesprochen hätten: Sie seien hier, weil es nah ist und sie den Ort kennen. Aber: „Die Stadt ist ein bisschen wie ausgestorben.“ Vor 2022 „war alles proppevoll“. Mit dem Urlaub sind sie zufrieden, „nur die Quallen haben etwas gestört“. Vor Beschuss haben sie „schon keine Angst mehr“. 

    Urlauberin am Strand der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk © Vot Tak
    Urlauberin am Strand der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk © Vot Tak

    In den Geschäften wird kein hochprozentiger Alkohol verkauft. Bier geht nur bis 17.00 Uhr über den Ladentisch. Ich komme mit drei jungen Männern ins Gespräch, die auf der Brüstung der Promenade Bier aus Plastikbechern trinken. Sie sind aus Horliwka gekommen, um sich hier für eine Woche zu erholen. 

    „Wir sind so richtig am Arsch“, erzählt der 26-jährige Ruslan, kahl rasiert und im T-Shirt. Er ist der Gesprächigste und der Jüngste, die anderen sind um die dreißig. „Alle wollen, dass es so schnell wie möglich vorbei ist. Dass alles ins Lot kommt und man in Frieden sein Leben lebt. Ich sitz zuhause, musst du wissen, und jeden gottverdammten Tag fliegen 20 Meter überm Dach Flugzeuge drüber. Und wir haben ein Baby. Das ist hart, sehr hart, wirklich brutal. Nie ist man ausgeschlafen; permanent kracht es, ständig fliegt was. Wir kennen das ja, waren auch an der Front.“ 

    „Die haben alle in den Fleischwolf getrieben.“ 

    Alle drei sind in den Schützengräben gewesen, wurden verwundet und deshalb entlassen. Sie hatten schon 2021 des Geldes wegen als Vertragssoldaten angeheuert. 

    Zweihundert [Tausenddek, haben sie gezahlt – Vot Tak]. So viel kostet wohl ein Leben, wie es aussieht. Sergej und ich haben den Feind husten hören“, erzählt Ruslan. „Wir waren bei den Sturmeinheiten.“ 

    „Da ging es hart auf hart …“, bestätigt Sergej. „Wir sind in ein Bataillon geraten, das total scheiße war.“ 

    „Die haben einfach alle in den Fleischwolf getrieben.“ 

    „Als ob wir keine Menschen wären.“ 

    „Hätten Sie den Vertrag kündigen können?“, frage ich nach. „Nein, nur wenn du stirbst“, antworten alle drei im Chor, „oder schwer verwundet wirst.“ 

    „Sind Sie wütend, dass Sie als Kanonenfutter herhalten mussten?“ 

    „Natürlich sind wir sauer, stinksauer“, meint Ruslan. „Obwohl… ehrlich gesagt, tut es mir eher um die Kameraden leid. So viele tolle Jungs, verdammt …“ 

    Die jungen Männer erinnern sich an ihre Freunde, die im Krieg umgekommen sind. Da wird Ruslan von einem Kameraden angerufen. Er unterhält sich lachend und scherzend; dann legt er auf und erklärt beiläufig: „Er sagt, gestern sind 20 Raketen ins Zentrum von Horliwka geflogen … Mit dem Auto sind das 15 Minuten von uns.“ 

    „Gab’s viele Opfer?“ 

    Statt einer Antwort reicht er mir den Plüschdelfin, den er im Lunapark gewonnen hat. „Das ist für dich, zur Erinnerung an den Donbas. Von einem echten Krieger“, sagt er beharrlich, bis ich sein Geschenk endlich annehme. 

     Geisterbahn im Vergnügungspark im besetzten Berdjansk © Vot Tak
    Geisterbahn im Vergnügungspark im besetzten Berdjansk © Vot Tak

    Ein Straßenmusiker macht mich darauf aufmerksam, dass bald [um 23.00 Uhr – Vot Tak] die Ausgangssperre beginnt und es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Ich verabschiede mich von den Jungs aus Horliwka, gehe die Promenade entlang, vorbei an leuchtenden Cafés, wo getrunken, gegessen und gelacht wird. Ich biege in eine dunkle Seitenstraße; nach zehn Minuten bin ich in meiner Pension, ohne auf dem Weg auch nur einer Menschenseele begegnet zu sein. 

    Der Betreiber Alexander empfängt mich am Gartentor und fragt, wie mein Spaziergang war und was ich fotografiert habe. Ich zeige ihm meine Fotos vom Strand, auf denen zufällig auch der Hafen zu sehen ist. Er rät mir, das Bild zu löschen oder gut zu verstecken, damit ich nicht … Er zeigt mit zwei Fingern nach unten, um die „Keller“ anzudeuten. 

    „Ich will Ihnen ja keine Angst machen, aber diese Ecken, die sind spitz…“ 

    „Den Hafen sollte man besser in Ruhe lassen, damit es keine Fragen gibt. Wir wollen ja alle leben; wir leben ja unter einem Staat“, sagt Alexander. 

    „Und was passiert mit mir, wenn sie mich in die ‚Keller‘ bringen?“ 

    „Das wünscht man keinem. Es kommt vor, dass Leute verschwinden. Da geht jemand aus dem Haus und kommt nicht mehr zurück.“ 

    „Kennen Sie jemanden, der verschwunden ist?“ 

    „Ich will Ihnen ja keine Angst machen, aber diese Ecken, die sind spitz…“, weicht er meiner Antwort aus. „Wenn bei Ihnen Fotos gefunden werden, dann werd‘ ich davon nie erfahren und kann auch nichts davon erzählen.“ 

    Ich lösche für alle Fälle die Fotos und lege mich schlafen. Am nächsten Morgen mache ich mich auf den Heimweg. Auf dem Rückweg sitzt im Bus eine rothaarige Swetlana neben mir. Sie war zur Erholung in Berdjansk, und um sich mit ihrer Freundin und deren Mutter zu treffen. Die leben in den besetzten Gebieten. 

    Swetlana hatte in Bachmut gelebt und die Stadt im Sommer 2022 verlassen. „Mein Mann wollte eigentlich nicht weg. Wir dachten, das sitzen wir aus, oder wir bleiben eine Weile im Keller, und das wär’s dann. Eines Tages gab’s einen Angriff, der traf unser Haus, wir waren rechtzeitig unten. Alles ist in Stücke geflogen, gleich am nächsten Tag sind wir los. Kein Wasser, kein Licht, kein Gas, auf offener Flamme kochen … Und überall donnerte es.“ 

    Swetlana ist mit ihrem Mann in Balaschicha bei Moskau untergekommen. Sie haben nun die russische Staatsangehörigkeit, damit sie Arbeit finden können. Ihr Einfamilienhaus in Bachmut und ihre Wohnung in Soledar wurden durch Beschuss zerstört. „Wir sind nach Russland gekommen, bekamen eine Einmalzahlung von 10.000 Rubel und einen russischen Pass. Geht arbeiten, ihr seid jetzt Staatsbürger! Ich hatte mein eigenes Dacht über dem Kopf, ein Haus und eine Wohnung. Jetzt bin ich obdachlos und habe nichts“, sagt sie wehmütig. 

    „Die Einen befreien, die Anderen verteidigen.“ 

    An der Grenze wird Swetlana ewig ausgefragt, ihr Telefon wird lange geprüft, sie ist den Tränen nah. Sie wird verdächtigt, nach Soledar (aktuell direkt an der Frontline – dek) gefahren zu sein. Die Stadt ist in ihrem neuen roten Pass als Geburtsort eingetragen. 

    „Wie kann ich in Soledar gewesen sein? Dort ist niemand, nur die Armee“, ist sie anschließend empört. „Ich bin eine, wie ihr immer sagt, Bürgerin der Russischen Föderation. Aber irgendwie sind wir wohl doch was anderes! Wieso gebt ihr uns dann einen Pass? Keine Entschädigung, nichts. Keine Wohnung, nichts. Die Einen befreien, die Anderen verteidigen.“ 

    Ich frage nach, was dieser Satz bedeutet, den ich auf dieser Reise schon zum zweiten Mal höre. 

    „Ich gehe auf die fünfzig zu. Mein Vater ist Belarusse, meine Mutter Ukrainerin, in Sankt Petersburg habe ich Schwester und Bruder. Wir haben immer gut zusammengehalten. Es ist doch überall dasselbe“, antwortet Swetlana. „Wir brauchen die alle nicht, weder die Einen noch die Anderen. Wir hatten einfach in Ruhe unser Leben. Alle bekriegen einander, und die Menschen haben zu leiden.“ 

    Swetlana dreht sich zum Fenster und schweigt. Ich schaue auch aus dem Fenster, sehe Sonnenblumenfelder vorbeiziehen. Wie in den besetzten Gebieten der Ukraine. Nur ohne Panzersperren. 

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  • Hass im Donbas

    Hass im Donbas

    Dieses Warum beschäftigt mindestens Europa seit mehr als zehn Jahren: Warum haben russische Propaganda, Geld und Waffen in den ukrainischen Donbas-Regionen Donezk und Luhansk so viel stärker verfangen als in anderen Gebieten? Es kann nicht nur an der russischen Sprache oder dem früher hohen Anteil der sich als Russen identifizierenden Menschen liegen, betonen ukrainische Wissenschaftler und Publizisten. Denn dies trifft auch auf Teile der Regionen Odesa, Charkiw und Saporischschja zu.  

    Vielmehr sei schon der Begriff eines vermeintlich homogenen Donbas’ ein Teil der (pro-)russischen Propaganda, während die gesamte Region vielfältiger sei, sich im ländlichen Raum viel mehr ukrainische Traditionen und Sprache sowie Minderheiten wie etwa die griechische Gemeinschaft fänden. Das Warum-im-Donbas erklären sie mit einer besonders aggressiven Propaganda, die eine laute Minderheit zum Volkswillen erhebt.  

    Wie sich das genau entwickelt hat, skizziert auch Konstantin Skorkin: In seinem Artikel für die russischsprachige Ausgabe von The Moscow Times beschreibt er die Ursprünge und Entwicklungsstufen der russischen Einmischung in die politische Entwicklung der ostukrainischen Regionen bis zum Beginn des Kriegs 2014. Der Journalist Skorkin stammt selbst aus Luhansk und berichtet seit Jahren aus seiner Heimat, später aus Moskau, mittlerweile aus dem westlichen Ausland über den Donbas. 

    Graffiti mit dem Schriftzug Noworossija und PTN und den Farben der sogenannten Volksrepublik Donezk © ZUMA Press / Imago

    Dem Krieg im Donbas ab 2014 ist eine jahrelange mediale Hassspirale vorausgegangen. So sehr der Euromaidan selbst auch polarisiert haben mag, ohne ein schrittweise gefestigtes ideologisches Fundament hätte es nie zu diesem durch Russland militärisch unterstützten Separatisten-Aufstand kommen können. Der Donbas wird in die Geschichtsbücher eingehen als Paradebeispiel: So erzeugt man künstlich einen bewaffneten Konflikt – durch Missbrauch lokalpatriotischer Bewegungen und medialen Hass. 

    Bergmann im Donbas statt Bürger der Ukraine  

    Beim Referendum 1991 stimmte noch die Mehrheit der Bewohner des Donbas für die ukrainische Unabhängigkeit – jeweils fast 84 Prozent in den Oblasten Donezk und Luhansk. Doch diese anfängliche Unterstützung wich schnell einer wachsenden Unzufriedenheit. Dafür gab es mehrere Gründe:  

    Erstens litt der Donbas stärker als andere Regionen unter dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft. Viele Unternehmen hier waren stark auf den gesamtsowjetischen Absatzmarkt ausgerichtet und erwiesen sich als ineffizient für den geöffneten Weltmarkt.  

    Zweitens spielte – aufgrund der industriellen Prägung der Region [die viele Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion in die industriellen Zentren des Donbas’ brachte – dek] – die sowjetische Ideologie eine große Rolle. Später erfasste die verarmte Bevölkerung dann schnell eine UdSSR-Nostalgie. Bis 2004 galten die meisten Sympathien dort der Kommunistischen Partei der Ukraine.  

    Drittens: Es überwiegt eine russischsprachige Bevölkerung mit einer verwaschenen Identität, die stärker in einem lokalen oder beruflichen Selbstverständnis wurzelt – „Wir aus dem Donbas“, „Wir Bergleute“ – als in einer Identifikation mit der Gesamtukraine. Ebenso in Bezug auf Russland. 

    Der japanisch-amerikanische Historiker Hiroaki Kuromiya, der sich auf den Donbas spezialisiert, bezeichnete die Region einmal als „Problemkind“ von Kyjiw und Moskau. 

    Was lockt den Donbas gen Osten? 

    Bereits in den späten 1980er Jahren strebten im Donbas erste Organisationen eine Autonomie oder sogar Abspaltung der Region von der Ukraine an, etwa die Internationale Bewegung des Donbas in Donezk oder die Volksbewegung der Region Luhansk – häufig unterstützt von lokalen Gruppen der Kommunistischen Partei, die versuchten, ein Gegengewicht zur ukrainischen national-demokratischen Bewegung zu schaffen. Sie blieben jedoch eine marginale Kraft, die nach der Gründung der unabhängigen Ukraine wieder verschwand.  

    Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Mit der Zeit aber nutzten die lokalen Eliten die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Zwecke: Während der Bergarbeiterstreiks 1993/94 forderten sie unter anderem die Schaffung einer ostukrainischen Autonomie und die Erhebung des Russischen zur Amtssprache. Es gab sogar ein regionales Referendum zu diesen Fragen, dessen Ergebnisse jedoch nie offiziell anerkannt wurden. Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Später räumten die Donbas-Aktivisten selbst ein, dass der wichtigste Faktor für das Scheitern der ersten Abspaltungsversuche die fehlende externe Unterstützung durch Russland gewesen sei. In den Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau war in den 1990er Jahren eher die Krim der Zankapfel. Erst 2004 änderte sich die Situation dramatisch. 

    Wahlen, Angst und Hass im Donbas 

    Da standen sich bei den Präsidentschaftswahlen der regierungsnahe Kandidat Viktor Janukowytsch, ehemaliger Gouverneur der Oblast Donezk, und Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko gegenüber. Die Kandidaten verkörperten zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsrichtungen der Ukraine: Juschtschenko setzte sich für eine europäische Integration ein, während Janukowytsch sich an Russland orientierte.  

    Der Kreml machte Juschtschenko das Leben schwer: Ein Trupp Polittechnologen unter der Leitung von Gleb Pawlowski reiste nach Kyjiw. Da Juschtschenko in den westlichen Regionen der Ukraine mehr Unterstützung genoss, setzte Janukowytschs Stab unverfroren auf eine Spaltung des Landes, indem er den russischsprachigen Südosten gegen den national ausgerichteten Westen ausspielte. 

    Die Propaganda machte aus Viktor Juschtschenko – einem gemäßigt liberalen Banker mit einer Leidenschaft für ukrainische Geschichte – einen radikalen Nationalisten. Als Juschtschenko dann zu einem Treffen mit Anhängern nach Donezk kam, erwarteten ihn in den Straßen riesige Plakate, die ihn in Nazi-Uniform zeigten. 

    Ein regionaler Fernsehsender in Luhansk zeigte zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell.  

    Die Flut der „schwarzen“ Negativ-PR nahm nach Beginn der Proteste auf dem Maidan im Herbst 2004, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingehen sollten (Orange war die Wahlkampffarbe Juschtschenkos), noch weiter zu. Während die landesweiten Medien nach und nach auf die Seite der Revolution wechselten, verbreiteten die von Janukowytsch-Anhängern kontrollierten regionalen Fernsehsender in den südöstlichen Regionen Hass und Propaganda.  

    So zeigte beispielsweise ein formell staatlicher regionaler Fernsehsender in Luhansk zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell: Protestierende Ukrainer wurden mit wilden Tieren und Nazis verglichen. Bilder vom Maidan wurden zu einer suggestiven Videosequenz zusammengeschnitten. „Da wurden heulende Wölfe gezeigt, marschierende Militäreinheiten, eine Gottesanbeterin in Angriffshaltung, springende Affen, Obst, das im Zeitraffer verfaulte“, erinnert sich ein Luhansker Journalist. Viele zweifelten schon damals, ob solch ausgefeilte Beispiele hybrider Kriegsführung wirklich von einem Provinzsender produziert werden konnten. 

    Gleichzeitig wurden lokale Oppositionelle massiv unter Druck gesetzt. So wurde [Ende November 2004 – dek] Juschtschenkos Hauptquartier in Luhansk angegriffen. Einige Tage später ging eine Gruppe angeheuerter Hooligans mit Baseballschlägern auf eine „orange“ Kundgebung im Zentrum von Luhansk los. Im Grunde wurde im Donbas 2004 eine Strategie angewandt, die 2014 landesweit ausgeweitet wurde: Ihr Ziel war organisiertes Chaos und Polarisierung. 

    Trotz allem: Juschtschenko gewann die Wahlen, Janukowytsch verlor. 

    Die Spaltungsideen nahmen neue Formen an. Am 28. November 2004 fand in Sewerodonezk (Oblast Luhansk) ein Kongress mit Lokalpolitikern statt, auf dem eine neue autonome Südost-Republik konzipiert wurde – ihre vorgesehenen Grenzen deckten sich übrigens mit dem vom Kreml 2014 verkündeten Konzept Noworossija (dt. Neurussland). Am Kongress nahm auch der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow teil. Russische Sender, die im russischsprachigen Teil der Ukraine traditionell beliebt waren, präsentierten diesen Kongress als Ausdruck des Volkswillens.  

    Vom Maidan zum Euromaidan – eine Eskalation  

    Den Sieg des ersten Maidan fasste der Kreml als existenzielle Bedrohung auf. Der amerikanische Politikwissenschafter Paul D’Anieri schrieb, die orange Revolution habe der Erwartung vieler Russen, die Ukraine würde eines Tages doch „wieder heimkommen“, einen Dämpfer verpasst und ihren möglichen, unwiederbringlichen Verlust vor Augen geführt. Daher erhielten von nun an alle prorussischen und separatistischen Bewegungen im Donbas jede größtmögliche Unterstützung vonseiten Moskaus. Der Donbas gilt seitdem – wie die Krim – als Vorposten des russischen Einflusses. 

    Einschlägige Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden – wie Donezkaja respublika (dt. Donezker Republik) in Donezk, Molodaja gwardija (dt. Junge Garde) in Luhansk. Trotz ihrer verfassungsfeindlichen Rhetorik drückten die regionalen Behörden ein Auge zu und förderten sie sogar heimlich. Alle diese Organisationen bekamen Unterstützung von ultrarechten Bewegungen in Russland, die wiederum vom Kreml gesteuert wurden – allen voran von Alexander Dugins Eurasische Union. Pawel Gubarew, später Mitbegründer der selbsternannten „Donezker Volksrepublik“, ließ sich in Lagern der Russischen Nationalen Einheit ausbilden.  

    Die Region wurde von einer massiven Propagandawelle überschwemmt, die den lokalen Donbas-Patriotismus über den gesamtukrainischen Patriotismus setzte und ständig die angeblich besonderen Beziehungen des Grenzgebiets zu Russland unterstrich. So wurde zum Beispiel in Luhansk ein Denkmal für „die Opfer der UPA“, errichtet. Dabei waren OUN–UPA praktisch nie im Donbas aktiv gewesen (abgesehen von episodischen Ausflügen, die Vertreter dieser Organisation während des Zweiten Weltkriegs unternahmen). Das war eine zutiefst propagandistische Geste. Sie zielte darauf ab, die Bewohner des Ostens und des Westens, die die dunklen Kapitel der ukrainischen Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, gegeneinander aufzuhetzen.  

    Eine Partei provoziert medialen Schlagabtausch 

    Zur wichtigsten Plattform dieser spalterischen Ideen entwickelte sich die Partei der Regionen, die im Donbas praktisch ein Machtmonopol innehatte. Der Rat der Oblast Luhansk beschloss zum Beispiel das regionale Programm Patriot Luganschtschiny (dt: Patriot des Luhansker Landes), in dem eine ganze Reihe kultureller Symbole aus Sowjetzeiten als Alternative zum nationalen Projekt der Ukraine präsentiert wurden.  

    Solche lokalen Bemühungen stützten sich auf Beistand aus Russland: Regelmäßig fanden im Donbas runde Tische zu Themen wie „Föderalisierung des Landes“ [als Kontra-Forderung gegen den Euromaidan – dek] oder „Schutz der russischen Bevölkerung“ statt, an denen immer auch Gäste aus Moskau teilnahmen. Die Stiftung Russki Mir (dt. Russische Welt) eröffnete in Luhansk eine Filiale.  

    Die über die Jahre entstandene Entfremdung des Donbas und das hohe Maß an Identifikation mit der Region boten diesen polittechnologischen Übungen eine gute Angriffsfläche. 2014 verstanden sich laut einer Studie der Luhansker Nationalen Universität 35,8 Prozent der Bevölkerung der Oblaste Donezk und Luhansk in erster Linie als Bewohner ihrer Region, während sich nur 28,1 Prozent als ukrainische Staatsbürger fühlten. Ein weiterer beliebter Identitätsmarker war die Antwort „Sowjetmensch“ mit 14,4 Prozent.  

    Zur Verstärkung dieser Spaltung übten sich Wortführer der Partei der Regionen in einer Rhetorik der feindseligen und diskriminierenden Sprache. Der Regionen-Politiker Nikolaj Lewtschenko aus Donezk sagte: „Ukrainisch ist die Sprache der Folklore. Wenn Russisch Amtssprache ist, dann gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr, Ukrainisch zu sprechen. […] Seien wir doch realistisch. Die zweite Amtssprache ist lediglich pro forma. In der Ukraine soll es nur eine Amtssprache geben, nämlich Russisch.“ Sein Kollege Juri Boldyrew formulierte es noch radikaler: „Ich bin dafür, dass die Ukraine Galizien loswird. Wenn man Galizien aus meinem Land entfernt und die echte Ukraine mit dem Donbas und der Krim übrig lässt, dann wird sie jenes erste [und echte] Russland sein […] Galizien ist eine Geschwulst am Leib der Ukraine.“  

    Darauf folgte eine Welle negativer Reaktionen aus der patriotischen ukrainischen Intelligenzija und von Vertretern des westlichen Teils der Ukraine. Diese Konfrontation verhärtete sich besonders nach Janukowytschs erfolgreicher Revanche bei den Präsidentschaftswahlen 2010, die er größtenteils den Wählerstimmen aus dem Süden und Osten zu verdanken hatte.  

    Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ hatte Russland leichtes Spiel.

    Der prominente ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, gebürtig aus Iwano-Frankiwsk, erklärte 2010, die Ukraine solle eher den Donbas und die Krim abschütteln, deren Bevölkerung die Ukraine fremd sei. Sein mit dem Schewtschenko-Preis ausgezeichneter Kollege Wassyl Schkljar schlug noch schärfere Töne an: „Wenn die Nation krank ist und dieses Territorium nicht verträgt, nicht verdauen kann, dann ist es besser, sich davon zu verabschieden.“  

    Der Historiker Hiroaki Kuromiya sieht darum auch bei den ukrainischen Intellektuellen einen Teil der Schuld an der ukrainischen Spaltung: „Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ – als ob das, sozusagen, die unzivilisierten Hinterhöfe der Ukraine wären –, hatte Russland leichtes Spiel.“ 

    So verstärkte sich die Spaltung. Bis kurz vorm Euromaidan Russlands Bemühungen praktisch offene Formen annahmen: Im September 2013 fuhr Putins Berater Sergej Glasjew nach Luhansk zu einer bizarren Parade prorussischer Kräfte, nämlich einer Konferenz über die Perspektiven der Ukraine, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Die Veranstaltung wurde von Viktor Medwedtschuks Bewegung Ukrajinski wybor (dt. Ukrainische Wahl) organisiert. Viele der Delegierten sollten ein halbes Jahr später zum aktiven Kern der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehören. 

    Wichtigster Destabilisierungsfaktor: Russland 

    Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich im Donbas immer mehr Hass angestaut. Feindselige Rhetorik und eine Politik der Polarisierung führten zu einem bewaffneten Konflikt. Dabei trafen unterschiedliche Faktoren aufeinander: Politiker und Intellektuelle, die aus einem Zwiespalt politisches Kapital schlagen wollten, alte Traumata und Komplexe, Probleme bei der Entwicklung des ukrainischen Staates. Doch der schwerwiegendste Destabilisierungsfaktor war eine externe Macht: Putins Russland. Ohne dessen Einmischung hätten sich selbst die heftigsten Spannungen zwischen Kyjiw und dem Donbas, zwischen Osten und Westen gelöst – nämlich im Zuge der Evolution einer vielfältigen ukrainischen Gesellschaft. 

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