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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Entlaufene Zukunft

    Entlaufene Zukunft

    Zwar gibt es keine genauen Statistiken, doch vieles spricht dafür, dass die Zahl der gut ausgebildeten russischen Auswanderer steigt. Iwan Dawydow von The New Times versucht, die aktuelle Lage greifbar zu machen und geht der Frage nach, was die jungen Menschen antreibt.

    Der neue politische Kurs des Kremls hat allerlei Auswirkungen, sichtbare wie verborgene. Eine der verborgenen ist die Entstehung einer neuen Klasse von Auswanderern. Junge, talentierte Leute, die in Russland bereits erfolgreiche Unternehmer sind oder beschlossen haben, anderswo bei null anzufangen, verlassen das Land oder planen den Aufbruch. Dabei geht es hier nicht um eine Massenflucht. Beim Großteil der Bevölkerung ist alles genau umgekehrt. Soziologen des Lewada-Zentrums stellen fest: Im Jahr 2015 ist die Zahl der Ausreisewilligen gesunken. Waren im Mai 2012 noch 46 % der Russen dezidiert gegen Emigration, so sind das jetzt 57 %, und die Zahl jener, die definitiv ausreisen wollen, ist im selben Zeitraum von 6 % auf 3 % gesunken. Auf die Frage „Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, aus Russland auszuwandern?“ haben 2012 noch 67 % der Befragten geantwortet: „Daran denke ich überhaupt nicht“, 2015 waren das 73 %.

    So muss es auch sein: Der Hurra-Patriotismus der Propaganda wird ja gerade von den Massen jubelnd begrüßt, die bisher die Folgen des Konflikts mit dem Westen nicht ernsthaft am eigenen Leib gespürt haben. Wobei nach Angaben des Außenministeriums die Zahl der Russen, die ständig im Ausland leben, im vergangenen Jahr um 26.000 gestiegen ist und damit die 2-Millionen-Marke überschritten hat. Aber in den Reihen derer, die sich gestern noch in Russland selbständig machen wollten, die bereit waren, Talent und Grips in die Entwicklung des Landes zu stecken, die nicht von einer Karriere in der Stadtverwaltung oder beim FSB träumten, scheint gar niemand mehr übrig zu sein, der sich nicht für die Preise erschwinglichen Wohnraums in Portugal interessieren, nicht ein bisschen ins tschechische Recht reinschmökern, nicht gelegentlich überlegen würde, womit man denn in London die Leute auf sich aufmerksam machen könnte …

    Genaue Statistiken gibt es dazu noch keine, man muss mit indirekten Daten operieren oder sogar seinen persönlichen Eindrücken. Michail Denisenko, stellvertretender Leiter des Instituts für Demografie an der Higher School of Economics, meint dazu gegenüber The New Times: „Es wandern vor allem Reiche, Gebildete, Fachleute und junge Menschen aus.“ Ihm zufolge ist allein die Zahl jener, die nach Europa ziehen, seit fünf Jahren im Steigen begriffen. Man könne jedoch nicht von einem steilen Wachstum innerhalb eines Jahres sprechen, denn die statistischen Kennzahlen in Europa erfassen längere Zeiträume. Entscheidend ist hier aber nicht, wie viele Leute weggehen, sondern: welche. Anfang der Neunziger liefen vor der russischen Armut jene davon, die sich den Westen als leuchtenden Supermarkt erträumten. In den Jahren des Ölreichtums waren es die Begüterten und die wahren Herrscher über das Land – Silowiki und Staatsbedienstete – , die sich Yachten und Paläste anschafften. Die neuen Emigranten sind ein ganz anderer Fall. Das sind Menschen, die bereit sind, mit eigenen Händen Zukunft zu erschaffen, ihre eigene und die ihres Landes. Und natürlich werden sie das auch machen, sie sind schon mittendrin, bringen Europa zum Staunen: „Die Russen können ja mehr als Kalaschnikows und Panzer herstellen.“ Nur erschaffen sie diese Zukunft weder in Russland, noch für Russland.

    Auch indirekte Anzeichen weisen auf die neuen Emigranten hin. „Das Interesse an der Ausfertigung von Aufenthaltsberechtigungen ist gewachsen, in den letzten zwei Jahren ist etwa die fünffache Menge an Anträgen eingegangen“, erklärt Sofija Axjutina, Koordinatorin für internationale Projekte in der Agentur Euro-Resident. „Früher sind Leute mit beträchtlichen finanziellen Möglichkeiten ins Ausland gegangen, jetzt wollen es auch welche mit kleinem Budget tun.“ Am beliebtesten, sagt sie, sind Spanien, Italien, Deutschland und Belgien sowie, etwas abgeschlagen, Kroatien und Montenegro, wobei früher viele dort hinzogen. Die neuen Emigranten sind also alles andere als Milliardäre und suchen sich wohlüberlegt Orte aus, wo man nicht nur angehäuften Besitz verleben, sondern auch arbeiten und Geld verdienen kann. Politische Reden schwingen sie zwar nicht, ihre Entscheidung ist aber zweifellos als politische Geste zu verstehen. Sie sind nicht gewillt, ihre eigene Zukunft in einem Staat zu riskieren, der von den Silowiki beherrscht wird.

    Sang- und klanglos zu verschwinden ist auch eine Art, in einem Land Politik zu machen, in dem die Bürger keinerlei Möglichkeiten haben, das Vorgehen der Machthaber zu beeinflussen. Der Held aus Tschechows „Fall aus der Praxis“ beantwortet die Frage, was unsere Kinder und Enkel machen werden, so: „Wahrscheinlich lassen sie alles liegen und gehen fort … Einem guten, klugen Menschen steht ja die ganze Welt offen.“ Der Klassiker hat es erraten: Sie gehen fort.

     

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  • Banja, Jagd und Angeln …

    Banja, Jagd und Angeln …

    In der russischen Provinz finden sich immer noch archaische Erwerbsarten, die es bereits in der Zarenzeit gab: Subsistenzwirtschaft, Abwanderung in Großstädte, Schwarzarbeit. Die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen sind nach wie vor die Banja, das Angeln, Jagen und die Gaststätte, wo Staatsvertreter, Volk und Unternehmer die Möglichkeit haben, sich freundlich auszutauschen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Moskauer Higher School of Economics zu Sozialstrukturen in der Provinz.

    Der soziale Status von Bewohnern der Provinzstädte und Dörfer lässt sich nur schwer bestimmen. Weder wurde hier das westliche Klassensystem übernommen, in dem die Einteilung nach Einkommensniveau erfolgt, noch die Ständeordnung mit ihrer Einteilung in Staatsdiener und Angestellte, die ihnen der Staat offeriert. Zu dieser Erkenntnis gelangten Soziologen im Zuge des Projekts Sozialstrukturen der russischen Provinzgesellschaft der Chamowniki-Stiftung.

    Dabei wurde die arbeitsfähige Bevölkerung Russlands in zwei Gruppen eingeteilt – die erste bezieht in irgendeiner Form Einkünfte aus dem Staatshaushalt (insgesamt 71 Prozent), die andere ist als Unternehmer und Freiberufler selbständig (15 Prozent). In diese Kategorie fallen Geschäftsleute, aber auch Wanderarbeiter (Personen, die auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten vorübergehend von Zuhause weggehen). „Wir haben eine Ressourcenwirtschaft und keine Marktwirtschaft, daher gibt es auch keine Klassenunterteilung [im europäischen Sinne]“, erklärt Simon Kordonski, Vorsitzender des Sachverständigenrats der Chamowniki-Stiftung und Professor an der Moskauer Higher School of Economics. „Stände“ ließen sich vier ausmachen: Staatsvertreter (5 Prozent), Volk (66 Prozent), Unternehmerschaft (15 Prozent) und Randgruppen (13 Prozent). Der Staat, so die Meinung der Experten, orientiere sich sich an jener Gruppe, deren Einkommen aus öffentlicher Quelle stamme, während sich „aktive Staatsbürger außerhalb seines Blickfelds“ befänden. Laut Kordonski neutralisiert jeder Stand eine bestimmte Bedrohung, wobei  immer jene Sparte die meiste Unterstützung erfährt, die die akuteste Bedrohung bekämpft. „Im Moment ist das zum Beispiel die Gefahr eines Krieges, also bekommt die Armee am meisten“, schlussfolgert der Soziologe. 

    Der legale privatwirtschaftliche Sektor bietet in der Provinz nicht allen Arbeitswilligen Platz, daher werden sie zu Wanderarbeitern und suchen Arbeit in Großstädten. Aufgeführt wurden außerdem Sonderformen der Beschäftigung: Stufen-Manufakturbetriebe, in denen mehreren Familien je eine Produktionsstufe zugeteilt ist, und die Garagenwirtschaft, bei der man den Garagennachbarn seine Dienste erweist. Beides sind Schattensektoren (laut dem Statistikamt Rosstat macht die Schattenwirtschaft möglicherweise 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus). Die Experten weisen darauf hin, dass die Garagenwirtschaft und Manufakturbetriebe nichts Neues sind: „Das sind historisch bekannte und in der Zarenzeit weit verbreitete Lebenserhaltungsmethoden der Provinzbevölkerung gewesen. Einerseits ist das archaisch, andererseits – was heißt archaisch, wenn wir heutzutage so leben“, überlegt Simon Kordonski.

    Archaisch ist in der Provinz auch das Empfinden für den Status eines Menschen: Es hängt vor allem von seinem Einfluss ab (seinem gesellschaftlichen Status, der bei weitem nicht immer dem offiziellen entspricht), von seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Klan. Die Zugehörigkeit zum Staatsapparat oder das reale Einkommen stehen als Status-Messer erst an dritter und vierter Stelle. Kordonski führte schließlich auch noch jene Institutionen der Zivilgesellschaft an, die es Staat, Volk und Unternehmern ermöglichen, sich zu treffen und ihre Standpunkte zu verhandeln: „Das sind die Banja, das Jagen, das Angeln und die Gaststätte.“

    „Die Menschen warten auf die Zukunft als Wiederholung einer guten Vergangenheit“, erklärte Simon Kordonski. Und Forschungsleiter Juri Pljusnin, Professor an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, präzisierte: „Die gute Vergangenheit stellt sich allerdings jeder anders vor.“

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