Spot an, die halbe Welt schaut zu: Die ukrainische Krim-Tatarin Jamala gewinnt den Eurovision Song Contest 2016 – nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Russland und mit einen Lied, das die leidvolle Geschichte ihres Volkes unter Stalin besingt. „Zu politisch“, kritisierten manche, die den Song auch als eine Anspielung auf die Situation der Krim-Tataren heute verstehen.
Andrej Archangelski befindet auf Colta.ru: Ja, der ESC ist politisch. Und das ist gut so.
Derzeit begegnen Millionen russischer Fernsehzuschauer einmal jährlich dem realen Europa – wortlos, wie Stierlitz seiner Frau. Millionen russischer Fernsehzuschauer haben Gelegenheit – ohne ideologische Interpretation und in natürlicher Umgebung – eben jene Europäer anzuschauen. Die uns unsere Identität nehmen wollen und denen deswegen der Untergang droht. Europa wirkt dabei ziemlich einheitlich: einander ähnelnde Frauen in glitzernden Roben, beziehungsweise Männer in gestreiften Jacketts mit lustigen Fliegen.
Der will uns vernichten? Der mit der Streifenhose und dem lustigen Namen?
Die Bilder vom ESC müssten im Prinzip hart aufeinanderprallen mit dem, was der Fernsehzuschauer täglich von Europa zu sehen und hören bekommt. Im Prinzip müsste er sich fragen: Das also sind unsere Feinde? … Die sollen uns vernichten wollen? … Der da? Mit seinem Propeller und der Streifenhose und dem lustigen Namen? …
Doch die Moderatoren schlagen an diesem Tag tatsächlich einen anderen Ton an als sonst. Als ESC-Kommentator muss man, abgesehen von der grundlegenden Intonation, auch auf die Spielart achten – wie in einer Partitur: „wohlwollend, aber mit leichter Ironie“ oder „mit einem Anflug von Ärger“. All diese Nuancen wurden bereits in der sowjetische Sprecherschule erarbeitet, Vorbilder gibt es also genug. Doch eines ist klar – diese Sendung bleibt harmlos (krass wird’s erst morgen).
Es ist eine heikle Arbeit: Millionen von Zuschauern wissen zu lassen, dass die Eurovision in unserem Fernsehen „eine vorübergehende Erscheinung“ ist, „ein Spiel“, „ein Muss“ – und dabei mit der Stimme regelrecht zu zwinkern. Und all das nur, weil es der russischen Staatsmacht kurioserweise immens wichtig ist, den Wettbewerb derjenigen zu gewinnen, deren Lebensstil sie erklärtermaßen verachtet.
Worte, wie in Bronze gegossen
Der Sieg Jamalas war für alle überraschend (deswegen ist ein Wettbewerb ein Wettbewerb), für das russische Fernsehen aber ganz besonders. Bei der Jurywertung war ja mit riesigem Abstand Australien auf Platz 1 gelandet, beim Publikumsvoting Russland.
„Die Politik war am Ende stärker als die Musik“, so begann der Moderator bei Rossija 1 Boris Kortschewnikow seinen Kommentar zum Ergebnis. Bis zum nächsten Morgen waren diese Worte in Bronze gegossen, wie auch folgende fixe Formulierungen: „Die Völker Europas haben für den russischen Interpreten gestimmt“, und: „Die Abstimmung war politisch“. Für die Propaganda eine tadellose Formel.
Hier können uns Linguisten weiterhelfen: Das Wort „Politik“ gehört in Russland dem Staat. Er hält 99 % der Aktien an diesem Wort. Als psychologischen Abwehrmechanismus auf dieses unnatürliche Monopol entwickeln die Menschen seltsame Konzepte, an die sie irgendwann selbst glauben, wie etwa: „Kultur und Politik existieren unabhängig voneinander“, Kultur oder Sport „sollen nicht politisch sein“.
Wenn man das so sagt, kann man genauso gut sagen: „Kultur und Sport dürfen nicht den Menschen gehören“, denn Politik umfasst sowohl Sport als auch Kultur.
Bei einem Menschen oder einem Ereignis das Politische vom Nichtpolitischen zu trennen, ist äußerst schwierig. Und wozu auch? Wenn das Politische doch ursprünglich das „Menschliche“ bedeutet.
Natürlich ist der ESC politisch – das ist weder ein Geheimnis, noch ein Problem
Die schreckliche Wahrheit ist, dass der Eurovision Song Contest tatsächlich politisch ist – doch ist das weder ein Geheimnis, noch ein Problem. Und zwar genau deswegen, weil Politik eigentlich den Menschen gehört und niemand Angst vor ihr hat.
Der Wettbewerb ist schon allein dadurch politisch, dass jede Abstimmung von Millionen Menschen über eine beliebige Frage auch immer ein Plebiszit ist. Und wird auf einen Staat Einfluss haben. Allein durch seine Existenz glättet der Wettbewerb internationale Wogen, bringt Menschen auf andere Gedanken.
Wenn 26 Länder einander Herzchen und Likes schicken – klar ist das Politik. In ihrer neuen Bedeutung, wo im Zentrum der Mensch steht, und nicht der Staat. Dass einige Länder nie für bestimmte andere voten – auch das ist Politik. Wie im übrigen auch, dass manche Punkte als symbolische „Bitte um Verzeihung“ zu verstehen sind (Deutschland hat seine 12 Punkte Israel gegeben) – auch das wird keine musikalische Bedeutung haben.
Vielleicht geht das als „erster Schritt zur Versöhnung“ in die Geschichte ein
Dass die Ukraine und Russland einander im Publikumsvoting „wieder, als ob nichts gewesen wäre, wie damals“fast die höchste Punktzahl gaben (Russland der Ukraine 10 Punkte, die Ukraine Russland 12) – das zeigt, dass die Eurovision geschafft hat, was bisher niemandem gelungen ist.
Gott sei Dank gibt es diese Art von Politik. Beten sollte man für eine solche Politik, auf die Knie fallen vor ihr. Dass der russische Sänger der ukrainischen Sängerin zum Sieg gratulierte – wer weiß, vielleicht geht das als erster Schritt zur Versöhnung in die Geschichte ein, und insofern ist Sergej Lasarew durchaus ein Sieger, aber in einem anderen, wichtigeren Sinn – dem moralischen.
Der politische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wurde eins zu eins auf die Musik übertragen. Und dabei wohlgemerkt nicht geglättet, dafür ganz und gar ins Menschliche gedreht. Natürlich konkurrierten nicht die Sänger, sondern das Image des jeweiligen Landes. In diesem Wettkampf hat die Ukraine gesiegt. Weil (zumindest) in der heutigen Kultur ein Opferkult und kein Siegerkult vorherrscht, was Michail Jampolski sehr treffend beschreibt.
Heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern
Das ist für die russische Propaganda eine wertvolle Lektion – heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern. Mit dem Ergebnis, dass die Ukraine wieder weltweit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der nächste Songcontest ist ein Garant der Sicherheit für die Ukraine, denn jetzt werden alle teilnehmenden Länder, einschließlich Russland, daran interessiert sein, dass die Ukraine ein sicherer Ort ist.
Mit anderen Worten: Der Sieg der Ukraine bedeutet die Legitimität der Ukraine. Und diese Tatsache wird, um es mit dem sowjetischen Agitprop zu sagen, manch heißen Kopf herunterkühlen.
Schon jetzt gibt es rhetorische Figuren: Teilnehmen oder nicht teilnehmen, und wenn ja, mit wem (еine Variante wäre Schnur von der Petersburger Gruppe Leningrad). Das wird nun eine politische Entscheidung, und gefällt wird sie nicht im Fernsehen.
Wenn es heißt, nächstes Jahr braucht Russland einen Künstler „mit so einem Lied, wie Jamala“, der bitte auch von tragischen Vorfällen singt (gemeint sind etwa die tödlichen Ausschreitungen in Odessa 2014), dann vergisst man komplett die unterschiedlichen Auswahlverfahren in Russland und der Ukraine.
Russland will vorerst „weiter mitspielen“
Jamala gewann aufgrund einer landesweiten Abstimmung, sie hatte starke Konkurrenz und setzte sich mit nur wenig Vorsprung durch: Eben weil es riskant ist, mit so einem Lied an einem Wettbewerb für Unterhaltungsmusik teilzunehmen. Doch ein Künstler kann ein solches Risiko eingehen, ein Staat nicht.
In Russland wurde der diesjährige Kandidat von einem TV-Sender ausgewählt; das wird wahrscheinlich auch nächstes Jahr so sein – und die Bürokratie trifft keine riskanten oder extravaganten Entscheidungen. Am ehesten wird es ein Kompromiss werden, eine möglichst neutrale Variante. Für das „Teilnehmen“ hat sich bisher (gleich nach dem Finale, das ist wichtig) die erste stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses der Staatsduma, Jelena Drapeko, ausgesprochen. Ein gutes Zeichen: Man will also vorerst „weiter mitspielen“ und nicht die Welt ignorieren.
Die Welt ignorieren funktioniert ohnehin nicht. Unmöglich. Das ist das wichtigste Ergebnis des Eurovision Song Contest – für Russland. Natürlich nur, wenn es fähig ist, das zu verstehen.
Unmittelbar nach dem GAU von Tschernobyl marschierten am 1. Mai 1986 – wie jedes Jahr – Tausende von Menschen fähnchenschwenkend durch Kyjiw. Als wäre nichts gewesen. Für Andrej Archangelski ist dieses Bild symptomatisch für den Umgang mit der Katastrophe, von der häufig als Heldengeschichte erzählt wird. Die verheerenden Folgen dagegen werden im offiziellen Diskurs oft ausgeblendet, heruntergespielt oder die Schuld wird anderen zugeschrieben – wie auch unsere Presseschau zum Thema zeigt.
Archangelski diagnostiziert der russischen Gesellschaft auf slon.ru eine Unfähigkeit zu trauern – und warnt vor einem „mentalen Tschernobyl“, dem moralischen Kollaps.
Vom sowjetischen Staatsbürger im Poststalinismus wurde – sofern er nicht Parteifunktionär war oder auf verantwortungsvollem Posten saß – nur eines verlangt: An bestimmten Tagen in Massen Loyalität zu demonstrieren, nämlich am 1. Mai und am 7. November.
Der 1. Mai 1986 war einer dieser Tage. Kyjiw war eine unter tausend Städten, in denen der Feiertag von den Massen begangen wurde; hätte es dort keinen Aufmarsch gegeben – niemand hätte etwas bemerkt. Details und Folgen der jüngsten Katastrophe (am 26. April) [in Tschernobyl – dek] waren der lokalen Parteiführung wahrscheinlich noch nicht bekannt. Zweifellos wusste sie aber, dass in 100 km Entfernung etwas Furchtbares passiert war. Die Frage, ob angesichts dessen die Festivitäten überhaupt stattfinden sollten, wurde auf höchster sowjetischer Ebene verhandelt. Und man beschloss trotz allem zu feiern – um „dem Westen keinen Vorwand zu liefern“ und „keine Panik zu verbreiten“.
Der Anfang vom Ende
Die Millionenstadt wurde tödlicher Gefahr ausgesetzt – um den Schein zu wahren und für die Berichterstattung.
Heute heißt es oft, die UdSSR sei „zugrunde gerichtet“ worden – von innen durch „Liberale“ und natürlich von äußeren Feinden, dem Westen. Tatsächlich aber wurde das Land unter anderem von jenem Maiaufmarsch in Kyjiw „zugrunde gerichtet“.
In der UdSSR gab es zwischen Volk und Staatsmacht lange Zeit eine stillschweigende Abmachung: „Wir tun so, als würden wir der Staatsmacht vertrauen, und sie tut so, als würde sie uns vertrauen.“
Nach dem 1. Mai 1986 hörten binnen einer Stunde Millionen Staatsbürger auf, der Staatsmacht zu vertrauen, sie hörten auf, dieses Land mitsamt seiner Regierung als „das ihre“ zu betrachten. Wahrscheinlich war dieser Maiaufmarsch – und nicht Tschernobyl selbst – der Grund dafür, dass der bisherige Gesellschaftsvertrag zerbrach.
Ein „mentales Tschernobyl“
In jenen Jahren tauchte der Begriff „mentales Tschernobyl“ auf, der leider rasch zum Klischee wurde. Tschernobyl wurde zum Symbol einer nicht nur technischen, sondern vor allem auch moralischen Katastrophe. Die totale Lüge, Scheinheiligkeit und das Fehlen natürlicher menschlicher Instinkte, das alles war schon längst zur Norm geworden. Nun verglich man sie mit der Strahlung, deren Wirkung ebenso unbemerkt, aber lebensgefährlich war. Die zivilisatorische Katastrophe ereignete sich am 26. April, die moralische jedoch schon wesentlich früher; und am 1. Mai 1986 wurde das vielen endgültig klar.
„In Moskau hat man feierlich die Teilnehmer des ‘Fünften Internationalen heroisch-patriotischen Kreativ-Festivals für Kinder und Jugendliche Star von Tschernobyl 2016‘ geehrt. Es ist den Heldentaten der Liquidatoren gewidmet“, erfahren wir heute auf der Website des Katastrophenschutzministeriums.
„Heroisch-patriotisch“, „Heldentaten“, „Star“. Einem 15-Jährigen, der das liest oder sogar daran teilnimmt, fällt nicht im Traum ein, dass der Anlass für dieses Festival ein tragisches Unglück ist. Das wird alles sorgfältig in die unpersönliche, altgewohnte Form der „Heldentat“ verpackt; man könnte fast schon meinen, alle Katastrophen geschähen eigens dafür, dass jemand „Heldentaten“ vollbringen kann.
Sportturniere zum Gedenken an die Helden
Und wenn uns Tschernobyl überhaupt eine Lektion erteilt, dann allenfalls die der „Tapferkeit“. Der Verfasser des Beitrags mit dem Titel „Junge Stars von Tschernobyl“ beendet seinen Veranstaltungsbericht mit der Feststellung: „Wichtig ist, dass die Kinder – unsere Zukunft – mehr von der schwierigen, aber interessanten Arbeit der Experten des Katastrophenschutzministeriums erfahren.“ Das ist also das Wichtigste.
In der Ukraine selbst geht es übrigens nicht weniger absurd zu – da wird etwa ein Turnier mit Schwerathleten veranstaltet zum Gedenken an die Helden von Tschernobyl.
Die Umdeutung der Tragödie zur Heldentat, zur „sportlichen Massenveranstaltung“ ist typisch für den derzeitigen russischen Bewusstseinszustand. Dort, wo es angebracht wäre, „einfach niederzuknien“, wie Wertinski sang, wird man dazu aufgefordert, auf Sprungtüchern herumzuhüpfen oder Feuerleitern rauf- und runterzuklettern. Man kann vom Katastrophenschutzministerium kein „tiefschürfendes Begreifen der Tragödie“ erwarten; dafür wird es sicher andere Veranstaltungen geben – doch die Tendenz wird kaum eine andere sein.
Seit 2012 wird in Russland am 26. April der „Tag der Mitwirkenden an der Liquidation der Folgen nuklearer Unfälle und Katastrophen und des Gedenkens an die Opfer“ gefeiert, und dennoch vermeidet die derzeitige Regierung das Wort „Opfer“, wo sie nur kann.
Sie verdrängt den Schmerz und die Tragödie aus dem Bewusstsein und setzt den Akzent auf das Heldentum (obwohl man die Liquidatoren in erster Linie zu den Opfern zählen sollte – von Ausmaß und Konsequenzen des Unfalls hatten sie 1986 wohl kaum eine Vorstellung.)
Trauer ins Event-Format gepresst
Trauer kann überhaupt nur schwer in ein Eventformat pressen. Am besten ist es, wenn Menschen von sich aus, ohne sich miteinander abzusprechen oder jemanden zu fragen, Kerzen anzünden oder Blumen bringen. Trauer verlangt jedoch das, was man eine „gut trainierte Seele“ und entwickelte ethische Instinkte nennt. Bei uns richtet sich Trauer nach der offiziellen Haltung, die die Regierung einnimmt: Millionen Menschen in Russland haben gelernt, nur mehr gemeinsam mit der Staatsspitze zu trauern, und verlernt eigenständig zu fühlen.
Vor fünf oder zehn Jahren lief an diesen Tagen normalerweise im Staatsfernsehen die Reportage „Das Leben in Prypjat heute“. Jetzt dagegen gibt es im russischen Fernsehen keine Reportage aus Kyjiw mehr, ohne dass die „Kyjiwer Machthaber“ abgeurteilt werden. Die heutige Ukraine – welch Ironie des Schicksals – ist in der Vorstellungswelt des offiziellen Moskau eine Art „politisches Tschernobyl“.
Darauf, dass wir wenigstens an diesem Unglückstag (des Unglücks, in dem Russland und die Ukraine zum letzten Mal wirklich vereint waren) ein Wort des Mitgefühls für das Nachbarland zu hören bekämen, brauchen wir nicht zu hoffen. Ein Untertitel wie „Von der Ukraine geht nach wie vor Gefahr aus“ – das ist alles, was wir über die heutige Haltung der Staatsspitze zur Katastrophe von Tschernobyl wissen müssen.
Schuld sind immer die anderen
Am 15. April hat die Staatsduma eine Erklärung abgegeben „Zum 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und zur Gewährleistung nuklearer Sicherheit im heutigen Europa“. Laut Tatjana Moskalkowa, der damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Komitees der Staatsduma für Angelegenheiten der GUS, „ist diese Erklärung einem einzigen Ziel verbunden:, der internationalen Gemeinschaft die Gefahr bewusst zu machen, die vom verantwortungslosen Umgang der ukrainischen Regierung mit Atomenergie ausgeht“.
„Wegen der verantwortungslosen Haltung Kyjiws hat die nukleare Sicherheit in dem an uns angrenzenden Land in den vergangenen Jahren gravierend abgenommen,“ sagt auch Leonid Sluzki, der Vorsitzende des Komitees der Staatsduma für GUS-Angelegenheiten.
Das Wort „verantwortungslos“ klingt milder als „Strafbrigaden“ oder „Junta“ – doch einziges Ziel ist es, einmal mehr die „Verantwortungslosigkeit der Ukraine“ zu betonen.
Unfähigkeit zu Trauern
Angaben des russischen Vereins Tschernobyl zufolge starben nach dem Unglück rund 9.000 russische Liquidatoren, mehr als 55.000 trugen bleibende Schäden davon – das ist unser Leid, unser Unglück, nicht nur das der Ukraine oder von Belarus. Und genau so muss man davon sprechen. Jede Tragödie hat vor allem eine menschliche Dimension. Das ist der Kontext, in dem sie zu betrachten ist.
Das Leugnen der „tragischen Dimension“ von Tschernobyl in Russland 2016 zeugt vom Verlust elementarer menschlicher Instinkte: Mitgefühl, Mitleid, Trauer.
Vor 30 Jahren wurde eine technische Katastrophe zum Spiegel des moralischen Kollaps im Land. 30 Jahre später zeugt die Reaktion auf die Tragödie von Tschernobyl von einem ebenso katastrophalen Zustand der Gesellschaft heute – von genau demselben „mentalen Tschernobyl“.
Die Besondere Meinung (Ossoboje Mnenije) ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Yevgenia Albats, Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times, ist regelmäßig in der Sendung zu Gast. Geleitet wird Besondere Meinung von wechselnden Moderatoren, unter anderem von Tatjana Felgengauer. Die bekannte Radiomoderatorin ist stellvertretende Chefredakteurin des Senders.
Besondere Meinung ist interaktiv, Zuhörer bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Videostream live aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht. Das Format bietet allerdings weniger tiefschürfende Analysen, sondern zumeist eine adhoc-Reaktion zu aktuellen Ereignissen.
Das betrifft auch Yevgenia Albats’ unten stehende Aussagen zu Poroschenko unmittelbar nach Veröffentlichung der Panama Papers. Dies geschah noch, ehe sich der Hromadske.tv-Redaktionsbeirat von den Anschuldigungen distanziert hatte und ehe es eine weitere Einordnung und Differenzierung der umstrittenen Vorwürfe gegen den ukrainischen Präsidenten gab1.
Bei Besondere Meinung werden nicht nur unabhängige Stimmen eingeladen, sondern auch regierungstreue. Echo Moskwy gilt als unabhängiger Sender mit langer Tradition (gegründet 1991), ist aber seit 2001 mehrheitlich im Besitz derGazprom-Medienholding, die sich ihrerseits mehrheitlich in Staatsbesitz befindet. Zwischen der Redaktion und Gazprom-Media gab es in den vergangenen Jahren mehrfach Konflikte, auch tauchten Hinweise auf, dass in Einzelfällen heikle Inhalte vor ihrer Veröffentlichung mit staatlichen Stellen abgestimmt wurden.2So lassen sich an dem Sender und seinen Formaten auch die Ambivalenzen der russischen Medienlandschaft ablesen, wo eine schnelle Einordnung in Schwarz oder Weiß nicht immer so einfach möglich ist. Auch das sollte man berücksichtigen, wenn man zuhört, wie sich bei Besondere Meinung zwei Grandes Dames des russischen Journalismus über tagesaktuelle Themen austauschen.
Tatjana Felgengauer:Wir setzen die Sendung Besondere Meinung fort, ich heiße Tatjana Felgengauer und ich begrüße im Studio die Chefredakteurin des Wochenmagazins The New Times, Yevgenia Albats. Guten Tag.
Yevgenia Albats: Hallo, Tatjana. Ich muss mich entschuldigen, der Boulevardring war gesperrt wegen einer Eskorte.
Ich stelle Ihnen dieselbe Frage wie vorhin den anderen, weil mich Ihre Meinung dazu interessiert: Weshalb braucht Wladimir Putin eine Nationalgarde?
Deshalb, weil Wladimir Putin am allermeisten auf der Welt sein Umfeld fürchtet. Er braucht Leute, die ihn garantiert beschützen.
Solotow, General Solotow, glaube ich, ist einer von denen, die Putin absolut treu ergeben sind und ihn bis zum Letzten verteidigen würden. Bei Weitem nicht alle in Putins Umfeld würden das tun.
Die größten Terroristen sind für unsere Regierung die Bürger
Eine mögliche Aufgabe ist außerdem der Kampf gegen den Terror (wie Putin gesagt hat), aber da haben natürlich alle Experten gesagt, dass es „außerdem ja auch Massenausschreitungen und Ähnliches“ gebe.
Natürlich – die größten Terroristen sind für unsere Regierung die Staatsbürger der Russischen Föderation. Tanja, ich habe gehört, was Golts dazu gesagt hat, den ich sehr liebe und schätze. Aber trotzdem, mir scheint, dass die derzeit wichtigste Frage die nach dem Schutz Putins ist. Wenn man die Rhetorik hier in der vergangenen Zeit betrachtet, so ist sie komplett, wie soll ich sagen, putinozentrisch: Alles, was in der Welt passiert – alles ist gegen Putin Wladimir Wladimirowitsch gerichtet.
Putinophobie – sie ist die Hauptsache im derzeitigen Weltgeschehen. Die Welt hat überhaupt nichts anderes im Sinn als die psychische und sonstige Gesundheit von Putin Wladimir Wladimirowitsch, sein Vermögen, sein Geld, seine Freunde und so weiter.
Wenn man die Rhetorik der vergangenen Zeit betrachtet, so ist sie komplett putinozentrisch
In Wirklichkeit hat die Welt aber sehr viel anderes zu tun. Und Putin Wladimir Wladimirowitsch steht irgendwo auf Platz 125. Na, vielleicht 127 oder 115.
Sowas kennt man ja. Diktatoren geraten immer wieder in ein Informationsvakuum, das sie selber erschaffen und dem sie selber zum Opfer fallen.
Daher ist die Vorstellung von der Welt da draußen, grob gesagt, beschränkt auf das, was Rossija 24 oder Rossija 1 senden, oder MIA Nowosti und dergleichen, und auf die roten Akten, in denen es ebenfalls um Gefahren für Wladimir Wladimirowitsch Putin geht.
Ganz generell zu den Reaktionen auf die Panama Papers, auf diese gigantischen Ermittlungen: Die Reaktionen anderer Länder und Russlands – inwieweit waren die für Sie vorhersehbar?
Also, absolut klar war, dass man darauf in allen Ländern ablehnend reagieren würde. Weil die Regierungen aller Länder gern etwas verbergen, und Leute mit Geld verbergen gern ihr Geld.
Am meisten interessiert mich natürlich, was hier in Russland passieren wird. Es hat nun endlich geheißen, dass die Generalstaatsanwaltschaft das prüfen wird. Außerdem haben wir gehört, dass Dimitri Peskow keine Anklage erhebt, weil er keine Zeit hat.
Und natürlich bin ich sehr neugierig auf die Reaktionen in der Ukraine. Bei den Offshore-Geschäften dort geht es ja nicht um große Summen, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Poroschenko mit dem Versprechen an die Macht kam, dass er alles absolut transparent machen wird. Und jetzt kommt raus, er hat eine Offshore-Firma, auf die, soweit ich das verstehe, sein Konditorei-Business übertragen wurde oder übertragen werden sollte. Das ist alles jenseits von Gut und Böse. Poroschenko wurde von Menschen zum Präsidenten gewählt, die bereit waren, für die Freiheit ihr Leben zu opfern. Und manche haben es auch geopfert. Da ist das natürlich völlig unmöglich.
Lassen Sie uns nochmal auf Russland zurückkommen und auf die Russen, die von den Ermittlungen betroffen sind. Wer interessiert Sie da am meisten?
Vor allem interessiert mich natürlich dieses ganze Offshore-Netz, das, wie sich herausstellte, dem Cellisten Sergej Roldugin gehörte. Einfach weil das unheimlich viel Geld ist.
Wie viel weiß Putin wohl von der unglaublich erfolgreichen Geschäftstätigkeit Roldugins, von dem er wahrscheinlich bisher annahm, dass er nur Cello spielt?
Da tauchen enorm viele Fragen auf. Soweit ich weiß, wurden diese Offshore-Firmen auf den Virgin Islands und in Panama im Sommer 2015 geschlossen, wurden dann aber auf Offshore-Firmen in Belize übertragen. Ich möchte daran erinnern, dass zu dieser Zeit, genau im Jahr 2015, ein Gesetz erlassen wurde, für das Wladimir Putin selbst lobbyierte: Unternehmen und russische Staatsbürger, die Offshore-Firmen betreiben, waren nun verpflichtet, die Steuerbehörden darüber in Kenntnis zu setzen.
Also möchte ich schon sehr gerne wissen, ob Herr Roldugin oder seine Gehilfen die Steuerbehörden wohl in Kenntnis gesetzt haben oder nicht? Und wie viel Ahnung Putin Wladimir Wladimirowitsch davon hat, was für eine unglaublich erfolgreiche Geschäftstätigkeit dieser Mensch ausgeübt hat, von dem er wahrscheinlich annahm, dass er nur Cello spielt.
Unsere Hörer kommen jetzt wieder auf das Thema der vergangenen Stunden zurück, auf die Nationalgarde. Erstens kam mehrmals die Frage: Der Wunsch, die persönliche Sicherheit zu verstärken, womit hat der zu tun? Und steht er in einem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation im Land?
Ich glaube, wichtig ist hier vor allem zu verstehen, dass Putin – abgesehen davon, dass er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist – vor allem eine Funktion ausfüllt.
Seine Funktion besteht für Unternehmen, für seine nächste Umgebung und so weiter darin, dass er im Land für eine Stabilität gesorgt hat, die es möglich macht, normale Business-Pläne zu erstellen und Einnahmen und Ausgaben zu kalkulieren. Dass er den Zugang zum westlichen Markt geöffnet und die Möglichkeit geschaffen hat, dass man ein Unternehmen in Russland führen und gleichzeitig in den leckeren Ländern Europas leben kann.
Und auf einmal ist das alles vorbei. Und das billige Geld ist auch alle.
Plus die Sanktionen. Da wollten sie die Eurobonds platzieren – daraus wurde nichts. Plus die Nullinvestitionen. Die Geschäfte stagnieren.
Putin hat uns mit seinen unüberlegten Aktionen unserer Zukunft beraubt. Es gibt sie nicht! Aus, vorbei!
Das Wichtigste – darüber schreibe ich gerade jetzt in der aktuellen Ausgabe von The New Times – ist, dass unser Horizont praktisch nur bis zum Jahr 2018 reicht. Wir wissen nicht, wie es dann weitergeht. Das ist furchtbar. So können die Menschen nicht leben, man kann weder ein Familienbudget planen noch ein Firmenbudget. Überhaupt nichts kann man planen, weil der Horizont so begrenzt ist. Putin hat uns mit seinen unüberlegten Aktionen unserer Zukunft beraubt. Es gibt sie nicht! Aus, vorbei!
Das Problem betrifft nicht nur Sie und mich. Wir wissen, dass das Bruttosozialprodukt mindestens noch weitere drei Jahre fallen wird, allen Prognosen zufolge. Und das heißt, wir wissen genau, dass wir Jahr für Jahr ärmer werden, immer ärmer und ärmer, und unser Leben ziemlich schwierig werden wird.
Die Bedrohung für Putin geht von seinem engsten Umfeld aus. Dem engsten! Das sind nicht die Liberalen und die Demokraten.
Aber nicht nur wir wissen nicht, wie es weitergeht, das wissen auch die engsten Vertrauten Putins nicht. Sie haben sich nicht darüber beraten. Sie haben, als sie Putin an die Macht brachten und dann selber aufgestiegen sind, in ihn investiert und Unterschriften geleistet und so weiter. Und überwiesen haben sie diese ganzen … Was war das? Die Kerimow-Strukturen, vier Milliarden Rubel, und dann wurde das Recht, vier Milliarden zu fordern, für einen Dollar an Roldugins Vertraute verscherbelt, ja? Also die, die dafür zahlten und so weiter, die verstehen ja auch nicht: wofür eigentlich?
Früher war klar: Er wurde reicher und sie wurden reicher. Aber jetzt werden alle ärmer. Daher geht die Bedrohung für Putin natürlich von seinem engsten Umfeld aus. Dem engsten! Das sind nicht die Liberalen und die Demokraten. Nein, das sind die im nächsten Umfeld, die plötzlich kapiert haben, dass auch sie nach 2018 keine Zukunft haben. Das ist ein großes Problem.
Kurz zur Situation in Nagorny Karabach, weil auch dort viel passiert – es gibt noch keinen richtigen Krieg, aber die Situation spitzt sich zu. Was denken Sie, wird man den Konflikt wieder auf Eis legen können? Unser Hörer Dimitri fragt, von wem oder was jetzt eine Beruhigung in Nagorny Karabach abhängt.
Die hängt weitgehend von Russland ab, weil Armenien eigentlich eine große Militärbasis für Russland darstellt. Dort befinden sich, glaube ich, drei russische Stützpunkte. Und Armenien ist komplett von der Russischen Föderation abhängig, sowohl was die Grenzüberwachung betrifft als auch die Finanzen. Im Grunde ist das ein absolut abhängiges Protektorat Russlands. Deswegen können Russland und Putin, oder wer auch immer, die Führung Armeniens durchaus zur Vernunft bringen. Sie können dementsprechend auch auf ihre Leute in Nagorny Karabach einwirken.
Andererseits, Aserbaidschan … Die Nachricht, dass auf Seiten Aserbaidschans türkische Söldner kämpfen, gefiel mir gar nicht. Sie gefiel mir deswegen ganz und gar nicht, weil wir wissen, dass Putin natürlich gegenüber Erdogan auf Rache sinnt. Wenn nur diese Situation nicht genau dafür genutzt wird, den Türken irgendwie einen Schlag zu versetzen. Doch ich denke auf jeden Fall, dass der Schlüssel zu Karabach, zur Lösung des dortigen Konflikts, in Moskau liegt.
Man müsste Michail Gorbatschow fragen. Würde mich sehr interessieren, was er zu Nagorny Karabach sagt
Außerdem, Tanja, es ist ein Wahnsinn, diese Nachrichten versetzen mich ständig zurück in meine Jugend. Wie ich für die Zeitung Moskowskije nowosti arbeitete und wir über Stepanakert schrieben, und Primakow nach Baku fuhr, und alle diskutierten die Lage in Nagorny Karabach und studierten die Karten und versuchten zu verstehen, was denn dort los ist. Ich hoffe inständig, dass der Albtraum, der damals in Aserbaidschan stattfand, sich nicht wiederholt für die Minderheiten, die in Aserbaidschan lebten und leben.
Nein, nein, ich will da auf keinen Fall etwas zusammenreimen, aber es ist schon verblüffend, wie … Das erinnert mich sehr an 1989/90.
Man müsste Michail Gorbatschow fragen. Der hört wahrscheinlich unsere Sendung. Würde mich sehr interessieren, was er dazu sagt.
Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats. Danke.
Russland und die Ukraine werden eines Tages wieder nachbarschaftlich miteinander umgehen, meint Oleg Kaschin. Auf dem Weg dahin seien große Gesten nicht wirklich hilfreich. Ein russischer Kniefall in Kiew nach Brandtschem Vorbild, wie von manchen Ukrainern erwartet, sei nicht nur unrealistisch: Es dürfe überhaupt nicht um Schuld und Reue gehen. Beide Länder müssten vielmehr bei sich selbst beginnen, sich mit ihrem jeweiligen Selbstbild kritisch auseinandersetzen und die Traumata des Weltkrieges und der Sowjetgeschichte neu bewerten. Nur so könne auf politischer Ebene eine Versöhnung gelingen.
Unsere Fotostrecke für den Monat April zeigt, dass gute Nachbarschaft zwischen Russen und Ukrainern – und mehr als das – in unzähligen Familien alltäglich gelebt wird.
Klar – Ozeanien war immer im Krieg mit Ostasien. Doch dass Russland und die Ukraine für immer durch eine Mauer aus Hass voneinander getrennt sein könnten, ist nicht einmal jetzt denkbar. Auch wenn in Russland die Ukrainerin Sawtschenko gerade zu 22 Jahren Strafkolonie verurteilt und in der Ukraine Grabowski, der Anwalt der Russen Alexandrow und Jerofejew, ermordet wurde. Der dritte Kriegsfrühling ist nicht der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken und davon zu reden, dennoch: Nachbarschaft, enge Beziehungen, gemeinsame Vergangenheit und kulturelle Nähe – das sind die Sicherheitsreserven, die nach wie vor darauf hoffen lassen, dass das Verhältnis zwischen unseren Ländern und Völkern in nicht allzu ferner Zeit, wenn schon nicht freundschaftlich wird, so doch zumindest gut. Im Lauf der Geschichte haben sich schon viele grimmige Feinde wieder versöhnt.
Man wird ja wohl noch träumen dürfen?
Nehmen wir unsere Geschichte: Die spätstalinistische UdSSR war mit Jugoslawien verfeindet, doch nach Stalins Tod wurde das Reich Josip Broz Titos praktisch sofort zum Bruderland. Gegen Ende des Jahrhunderts war Serbien dann fast das einzige Land der Welt, das man in Russland nicht nur aus diplomatischen Gründen als Bruderland bezeichnete.
In den russisch-chinesischen Beziehungen ist vom bewaffneten Widerstand auf der Insel Zhenbao Dao vor weniger als einem halben Jahrhundert heute nichts mehr zu sehen, obwohl doch die Generation, die sich ernsthaft zu einem sowjetisch-chinesischen Krieg bereitgemacht hatte, noch lebt. Die Zeit, ja sogar eine ziemlich kurze Zeit, kann beliebige internationale Diskrepanzen fortwischen. Und was heute unlösbar scheint, wird morgen ganz normal. Noch ist es weit bis dahin, doch träumen wird man ja wohl noch dürfen, nicht wahr?
Für ukrainische Publizisten ist derzeit das eindringliche Bild des deutschen Kanzlers Willy Brandt sehr wichtig, wie er vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos kniet. So sieht unsere zukünftige Versöhnung von der anderen Seite der russisch-ukrainischen Grenze gesehen aus: Der künftige Präsident Russlands fährt nach Kiew, unterzeichnet ein Dokument zur Übergabe der Halbinsel Krim, und dann kniet er nieder vor dem Denkmal der Himmlischen Hundertschaft oder der Helden der Antiterroroperation und bedauert, was Putins Russland der Ukraine angetan hat. Solche Bilder sind übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass unsere Freundschaft sogar jetzt stärker ist, als es scheinen mag.
Der universelle Kult um den Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern hat einen gemeinsamen sowjetischen Ursprung. Er ist unauslöschlich im Bewusstsein der Massen verankert und wird über die Maßen für Erklärung der aktuellen politischen Ereignisse strapaziert. Der Feind ist immer der Faschist, „wir“ sind immer das Opfer und gleichzeitig die Sieger über ihn. Das Bild Willy Brandts auf den Knien ist genau von dort, woher auch die Banderowzy in unseren Fernsehnachrichten kommen, und das Trauma, das diese Bilder zum Leben erweckt, ist bei Russen wie Ukrainern dasselbe.
Das sowjetische Russland war die arme Verwandte
Die Russische Föderation ist ein riesiges, schwer zu regierendes Land mit schwachen, ineffektiven und korrupten staatlichen Strukturen, die man irgendwann nicht nur reformieren, sondern ganz von Neuem erschaffen muss. Das materielle und immaterielle Erbe, das Russland von der Sowjetunion blieb – das Eigentum der ehemaligen Union, einschließlich jenes im Ausland, ein Platz in der UNO, Atomwaffen – das alles zwang die Russen, ihr Land ernsthaft als direkte Nachfolgerin der Sowjetunion wahrzunehmen. Doch in Wirklichkeit ist alles viel komplizierter. Die UdSSR war keine paritätische Allianz von 15 Republiken. Jede Republik (oder jede Gruppe von Republiken – die baltische, südkaukasische, zentralasiatische) hatte ihre exklusiven Merkmale. Die RSFSR war trotz ihrer enormen Größe immer die arme Verwandte der anderen – ohne eigene kommunistische Partei, eigene Akademie der Wissenschaften, ohne eigenen staatlichen Rundfunk, überhaupt ohne alles.
Das sowjetische Russland hätte man auf den Karten der UdSSR ehrlicherweise als „den Rest“ bezeichnen sollen. Es bestand ja auch im administrativ-territorialen Sinn aus jenen Regionen, die man nicht den anderen Republiken zuordnen konnte. Der Putinsche Mythos von „Neurussland“ (sowie der damit verwandte, ältere Limonowsche Mythos von „Südsibirien“, also von Kasachstan, in das Limonow einst einen Einmarsch geplant haben soll, wofür er inhaftiert wurde) ist ja genau daraus entstanden: Die Regionen der Ostukraine, die sich weder in der Bevölkerungszusammensetzung noch in der wirtschaftlichen Struktur noch in ihrer Geschichte von den russischen Schwarzerdegebieten unterscheiden, wurden einst der innersowjetischen Grenzziehung Teil der Ukrainischen SSR (USSR) zugeteilt. Und ja, besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Krim, die der RSFSR lange nach der Grenzziehung weggenommen und deswegen als willkürlicher, einer Laune Chruschtschows zu verdankender Verlust wahrgenommen wurde.
Zwei gegensätzliche Traumata
Als 1991 diese Nichtganzrepublik zur „Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion“ erklärt wurde, war das eine ziemliche Katastrophe, allerdings keine geopolitische, sondern eher eine psychologische. Und die Bevölkerung dieses größten Bruchstücks der UdSSR und seine Führung begannen mit dem Gefühl zu leben, eben kein Bruchstück, sondern immer noch ein vollwertiges Imperium zu sein, das in gewisser Hinsicht auch zu einer historischen Revanche fähig ist.
Das Trauma der ehemaligen Ukrainischen SSR war ganz anderer Natur. Die größte aller „vollwertigen“ Sowjetrepubliken war genauso ein Flickenteppich wie die RSFSR. Zu ihr gehörten gleichzeitig zentralrussische Oblasts, kaukasische Republiken und derart exotische Gebiete wie Tuwa oder Kaliningrad; die Ukrainische SSR vereinte in ihren Grenzen althergebrachte russische Gouvernements ebenso wie ehemalige Gebiete Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und Ungarns, die vor der Entstehung der Sowjetunion noch nie mit Kiew und Charkow demselben Staat angehört hatten.
Allerdings hat sich schon seit der „Ukrainisierung“ in der Vorkriegszeit die Patchwork-Decke Ukrainische SSR nie erlaubt, die Rolle eines Vielvölkerstaats zu spielen (im Unterschied etwa zum sowjetischen Kasachstan, das sich niemals als Republik der Kasachen begriffen hatte) – es war immer dezidiert eine Republik der Ukrainer, die überhaupt keinen kulturellen oder menschlichen Unterschied zwischen Odessa und Lwiw, Donezk und Ternopil machte.
Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die langjährigen sowjetischen Staatschefs Chruschtschow und Breshnew, die die Sowjetunion insgesamt 28 Jahre regierten, aus der Ukraine nach Moskau gekommen waren. So führte gegen Ende der Ära Breschnew der „Dnipropetrowsker Klan“ das ganze riesige Land, was nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle der Ukrainischen SSR innerhalb der Union bleiben konnte.
Falsches Selbstbild
Für den Kreml unter Chruschtschow und Breshnew war die Ukraine das Zentrum. Aber dieses Paradox wurde in keiner Weise bei der Erschaffung der postsowjetischen ukrainischen Nationalmythologie berücksichtigt – da bekam die ehemalige Ukrainische SSR eine Selbstwahrnehmung ähnlich wie Polen zugeschrieben: Ein Land, das ganz im Zentrum gesamteuropäischer Widersprüche steht, seit Jahrhunderten für einen eigenen Staat kämpft und mehrere Teilungen und einen Vernichtungskrieg überlebt hat.
Wir sehen also, dass sich in dem Konflikt, der 2014 in eine aktive Phase getreten ist, die RSFSR mit dem Selbstbild des Russischen Reiches und die Ukrainische SSR mit dem Selbstbild Polens gegenüberstehen. Der beste Weg zur Versöhnung wäre die beiderseitige Verwerfung dieser Selbstbilder.
Doch man muss realistischerweise davon ausgehen, dass die ukrainische Seite nach dem Maidan und dem Krieg noch stärker daran festhält, dass sie nicht das Land Chruschtschows und Breshnews ist. Sie versteht sich als Land der Opfer des Holodomor, der Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee und der Helden der Antiterroroperation, vor denen jeder Moskauer, so wie Willy Brandt vor den Warschauern, auf die Knie fallen muss (und dem sie auch, wenn er hinkniet, nicht verzeihen).
Deswegen wird sich das Postputinsche Russland wohl herauswinden und in erster Linie für sich selbst etwas verstehen müssen, was es weder 1991, noch danach je verstanden hat.
Russland braucht eine Entsowjetisierung
Zunächst einmal hat das heutige Russland keinerlei Recht auf das moralische und historische Erbe der imperialen Vergangenheit. Die RSFSR, deren reale Nachfolgerin die RF ist, hatte niemals eine vollgültige Staatlichkeit und war für die Russen, die jenseits ihrer Grenzen, in anderen Republiken, lebten, nie die Heimat. Sie konnte ihrer Bevölkerung nie mehr bieten als die Überbleibsel, die dieser Republik vom Unionszentrum zugeteilt wurden, das ihre menschlichen und natürlichen Ressourcen ausbeutete und ihr (im Unterschied zu jeder anderen Sowjetrepublik) nicht einmal eine eigene nationale Intelligenzija zugestand.
Wie ungewöhnlich das heute auch klingen mag, doch früher oder später muss Russland eine Entsowjetisierung durchlaufen und lernen, „wir“ zu sagen. Nicht über Spionageabwehrbedienstete und Begleitsoldaten der Gulags, sondern über jene, deren Knochen im Weißmeer-Ostsee-Kanal verwesen oder im Erdboden in Kolyma eingefroren sind. Nicht über metzelnde Marschälle, sondern über die unbestatteten Soldaten von Mjasnoi Bor oder Rshew.
Die Identifikation, die Suche nach sich selbst im historischen und kulturellen Koordinatensystem – das ist es, was die Ukraine bereits durchlaufen hat, unser Land jedoch bisher nicht.
Anstatt sich mit dem Aufbau seiner eigenen Nation und Staatlichkeit zu befassen, bildete sich das postsowjetische Russland ein, dass in dieser Hinsicht bei ihm alles in Ordnung sei. Und hat nun nach 25 Jahren einen umfassenden moralischen Bankrott anzumelden, zu dessen anschaulichstem Symbol das mit Somalia vergleichbare Kriegschaos wurde, das die Streitkräfte der RF auf den Trümmern des Donbass verursacht haben.
Für die Krim gelten eigene Regeln
Das ist es, was man der Ukraine tatsächlich wird zurückgeben müssen, indem man ihr hilft, Staat und Infrastruktur auf den von der russischen Welt zerstörten Gebieten wiederaufzubauen und keinerlei Dankbarkeit dafür erwartet. Eine besondere Schuld, die jeder Regierung Russlands nach Putin bleiben wird, sind die Bewohner des Donbass, die bereit waren, loyale Russen zu werden und sich die Möglichkeit nahmen, zusammen mit den Territorien in die Ukraine zurückzukehren. Diese Menschen wird Russland bei sich aufnehmen und mit allem versorgen müssen: mit Arbeit, Bildung, Wohnung – mit allem, was sie dank des „neurussischen“ Abenteuers verloren haben.
Wichtig ist, zu verstehen, dass für die Krim all das nicht gilt. Es ist klar, dass Unstimmigkeiten zwischen der RSFSR und der Ukrainischen SSR auch in Zukunft auf der Krim ausgetragen werden. Die Machthaber im künftigen Russland werden für die Halbinsel auf jeden Fall eine neue Zukunft suchen müssen; anstelle der „Rückführung“ zu ukrainischen Bedingungen, die ein Phantasma und gegen die Krimbewohner selbst gerichtet ist. In diesem Sinn liegt Alexej Nawalny absolut richtig – die Krim ist kein Wurstbrot. Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, sie zu halten, wird sehr bald feststellen, dass Russland diese Regierung gar nicht braucht.
Die Frage der Reue, die berühmten Knie Willy Brandts – auch das darf in der russisch-ukrainischen Beziehung der Zukunft einfach kein Thema sein. Lokale Kriege zwischen Nachbarländern – derer gab es in der Geschichte der Menschheit mehr als globale Katastrophen im Ausmaß eines Zweiten Weltkrieges. Die heutigen Serben und Kroaten haben vielleicht kein brüderliches Verhältnis, doch schneiden sie einander die Kehlen nicht durch. Die Ukrainer und wir Russen sind ihnen ähnlicher als den Deutschen, Juden und Polen, und wir müssen uns genau so verhalten wie sie: Ohne unnötig Schuld auf uns zu nehmen, wieder lernen, Nachbarn zu sein, zu handeln, zu reisen und einander zu verstehen.
Die staatliche und historische Weisheit, die eine künftige russische Regierung bei der Gestaltung der Beziehungen zur Ukraine braucht, wird darin bestehen, eine Alternative zum Modell „zahlen und bereuen“ zu finden. Denn das, und auch dies gilt es bereits jetzt zu verstehen, bringt Russland nichts Gutes. Und nicht nur Russland. Das sollte auch den Ukrainern klar sein. Frieden und gute Nachbarschaft ist ihnen nur mit einem Russland möglich, das nicht nur von imperialen Ambitionen befreit ist, sondern auch von unverdienter imperialer Schuld.
F – S – B: diese drei Buchstaben haben heute in etwa die gleiche Signalwirkung wie früher KGB. Die Journalistin Olga Beschlej schildert aus eigener Erfahrung, wie der Geheimdienst mit ihr Kontakt aufnahm und welches Kopfkino das in Gang setzte: Ihr persönlicher FSB-Film beginnt mit einer turbulenten Wohnungssäuberung und gipfelt in einem riesigen rosa Vibrator. Ein Kabinettstück zu Überwachung und Überwachungsmanie, das diesen Monat im russischen Internet tausendfach geteilt wurde. Wir meinen: vollkommen zu Recht, und teilen den Text nun einmal mehr – auf Deutsch.
„Werfen Sie mindestens eine nutzlose Sache pro Tag weg.“
– ADME, 10 Tipps, wie Sie Ihr Zuhause entrümpeln
I.
Unlängst war ich auf einer Veranstaltung, auf der erfahrene Journalisten und Autoren von Büchern über Geheimdienste erklärten, was man tun soll, wenn man einen Anruf vom FSB bekommt. „Auf keinen Fall“, sagten sie, „dürft ihr euch mit ihnen auf ein Treffen im Café einlassen. Lasst das Gespräch nicht in deren Dienststelle stattfinden. Geht keine informellen Beziehungen mit ihnen ein. Glaubt nicht, dass ihr sie überlisten könnt.“ Den erfahrenen Kollegen zufolge soll man sofort, nachdem einen der FSB kontaktiert und einen Gesprächstermin vorgeschlagen hat, in allen sozialen Netzen darüber berichten.
Glaubt nicht, dass ihr sie überlisten könnt
„Wenn ihr das nirgendwo bekanntgebt, dann schreibt der Agent, der euch angerufen hat, eine Dienstmeldung, dass der Kontakt hergestellt ist und man mit euch arbeiten kann. Irgendwann taucht er wieder bei euch auf. Daher stellt lieber gleich klar, dass ihr einen Knall habt und man mit euch lieber nichts am Hut haben soll. Dann schreibt der Mitarbeiter in seine Dienstmeldung: ‚Hat einen Knall.‘ Und ihr habt eure Ruhe.“
Diese Anleitung fand ich äußerst beunruhigend. Denn ich war im August 2015 vom FSB zu einem informellen Gespräch geladen worden. Ich hatte abgelehnt, aber nirgends darüber geschrieben.
Es wurde Zeit, diesen Fauxpas auszubügeln.
II.
Das war am 10. August 2015 gewesen.
Tagsüber.
Ich kann die Uhrzeit auch genauer sagen, denn um 13:35 schrieb ich meiner Chefin im Office-Chat: „Katja, ich krieg grad einen Anruf vom FSB.”
Namen, Vornamen und Funktion des FSB-Mitarbeiters habe ich ebenfalls gespeichert. Als er sich vorstellte, habe ich sie gleich notiert. In irgendeinem Dokument, das ich gerade auf meinem Bildschirm offen hatte. Aber was das für ein Dokument war, weiß ich nicht mehr, und ich habe es noch nicht wiedergefunden.
Ich habe auch eine Aufnahme des Gesprächs. Auf meinem vorigen Telefon hatte ich ein Programm, das eingehende Anrufe automatisch aufzeichnete. Nicht am selben Tag, sondern erst viel später kam mir in den Sinn, dass diese Aufnahme wichtig sein könnte, und ich schickte sie an meine eigene E-Mail-Adresse. Letztens habe ich sie dort gesucht und festgestellt, dass ich mir regelmäßig E-Mails „ohne Betreff“ schicke, und fand da ein tatsächlich nicht unwichtiges Training für knackige Pobacken. Das Telefon von damals habe ich nicht mehr, also kann ich mir auch das Original nicht mehr anhören.
Olga Iljinitschna? Hier der Föderale Sicherheitsdienst
Im Endeffekt will ich darauf hinaus, dass ich gewissermaßen verantwortlich gehandelt habe, trotz des Schauders, der mich an der Kehle packte, als aus dem Hörer eine freundliche junge Männerstimme ertönte: „Olga Iljinitschna? Hier der Föderale Sicherheitsdienst.“
Der Anruf überraschte mich in der winzigen Küche meiner Mietwohnung. Ich saß im Pyjama an einem Text und aß gerade die letzten Bissen Rührei. Die Sonne überflutete den Tisch und wärmte mir die Hände. Es war schwül. Der Herr stellte sich vor und lud mich höflich zu einem Gespräch in eine der Dienstellen des FSB ein.
Mit Mühe brachte ich heraus:
„Worum geht es?“
„Das erfahren Sie bei dem persönlichen Treffen.“
„Und warum nicht gleich?“
„Nicht am Telefon.“
Einen Moment lang überdeckte pure Fassungslosigkeit alle sonstigen Gefühle in mir.
„Wieso nicht am Telefon? Werden Sie etwa abgehört?“
„Wer hört hier mit?“, kommt es verwundert aus dem Leitung.
„Keine Ahnung. Ich sag das nur immer, wenn ich glaube, dass Sie mich abhören.“
Wir schwiegen kurz.
„Olga Iljinitschna, an welchem Tag, und zu welcher Uhrzeit würden Sie gern herkommen?“
„Kann ich auch ablehnen?“
„Würde ich Ihnen nicht raten.“
„Und was passiert, wenn ich nicht komme?“
„Das wäre nicht in Ihrem Interesse.“
„Interessiert Sie meine Arbeit?“
„Kann ich nicht sagen.“
„Eine konkrete Geschichte?“
„Ich habe nicht gesagt, dass wir Sie aus dienstlichen Gründen herbestellen.“
„Sie interessieren sich also für meine Beziehung mit einem 47-jährigen, nicht arbeitenden Mann?“
Der Mann in der Leitung stockte.
„Nein.“
„Aber die restliche Zeit verbringe ich ausschließlich mit Journalismus.“
Wir schwiegen wieder ein wenig. Und da sagte ich, als ob in meinem Kopf plötzlich etwas angesprungen wäre:
„Wissen Sie was, ich rufe wohl meinen Anwalt an.“
III.
„Hallo, bin ich beim FSB? Hier Beschlej!“
„Hier ist nicht der FSB, ich habe Ihnen doch meine private Nummer gegeben!“, kommt eine genervte Stimme aus der Leitung. „Warum schreien Sie so?“
„Ah. Weiß auch nicht. Damit Sie mich gut verstehen. Also, alle sagen, wenn keine offizielle Ladung vorliegt, dann muss ich nicht kommen.“
„Wer – alle?“
„Na, die Juristen und Journalisten, die ich kenne. Die sagen, ich kann ablehnen. Und wenn Sie eine Ladung haben, dann komme ich mit meinem Anwalt.“
Wir sind zivilisiert. Wir verpassen den Leuten während des Gesprächs keine Elektroschocks
„Hören Sie, ich habe keine Ladung. Ich möchte Sie zu einem informellen Gespräch zu uns einladen, das Sie in keiner Weise gefährdet. Wovor haben Sie Angst? Wir sind ja nicht das Innenministerium. Wir sind zivilisiert. Wir verpassen den Leuten während des Gesprächs keine Elektroschocks .”
„War das jetzt ein Scherz?“
„Nein, wir machen das wirklich nicht.“
Wir schwiegen kurz.
„Na, wie gesagt, ich komme nicht.“
„Und wenn wir uns in einem Café treffen?“
„Nein, ich komme trotzdem nicht.“
Wir schwiegen wieder.
In der Leitung raschelte es, als ob mein Gesprächspartner Seiten umblätterte.
„Vielleicht haben wir unsere Bekanntschaft falsch angefangen“, sagte er nun ganz sanft. „Sie sind doch Journalistin. Sind Sie denn gar nicht neugierig, worüber ich mit Ihnen sprechen will?“
„Nun ja … klar bin ich neugierig.“
„Ihnen ist doch wohl bewusst, dass der FSB die einzige Quelle für wirklich hochwertige Informationen ist?“
„Nun ja …“
„Und Sie, Olga Iljinitschna, verweigern das Gespräch. Wissen Sie, wie viele Ihrer Kollegen eine solche Möglichkeit nie und nimmer ausschlagen würden? Und wissen Sie, wie glücklich viele Journalisten über so eine Gelegenheit wären?“
„Glücklich?!“
„Sie haben keine Ahnung, wie froh die Leute manchmal von uns weggehen!“
„Froh?! Vom FSB?!“
„Vom FSB! Wir sind Meister im Teamwork, von dem alle Beteiligten profitieren.“
Olga Iljinitschna, … darf ich Ihr James Bond sein?
„Aber Moment mal, wenn Sie schon Journalisten haben, zu denen Sie das alles durchsickern lassen, wozu brauchen Sie dann noch mich?“
„Sie sind ein äußerst interessanter Mensch.“
„Ich?“
„Ungewöhnlich. Kreativ. Begabt. Ich würde sogar sagen … herausragend!“
Etwas regte sich in mir. Der erbärmliche Teil meines Selbst, der immerzu gierig nach Lob und Anerkennung verlangte.
„Ach, kommen Sie, herausragend …“
„Nein, wirklich. Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchem Genuss ich Ihr Facebook lese. Diese Ironie, dieser Humor.“
„Im Ernst? Sie lesen mein Facebook?“
„Sie haben eine große Zukunft! Und Sie könnten uns helfen!“
Wieder raschelte es in der Leitung.
„Hier, zum Beispiel, am 5. März: ‚Ich will kein Büro-Nerd sein, ich werde jetzt Bond-Girl‘. Olga Iljinitschna, … darf ich Ihr James Bond sein?“
Ich stellte mir vor, wie statt einem Aston Martin ein schwarzer Rabe bei mir vorfährt.
„Nein.“
IV.
Die ersten Tage nach dem Anruf des FSB-Beamten war ich tatsächlich damit beschäftigt gewesen, allen meinen Bekannten davon zu erzählen. Wie ich später erfuhr, hatte ich intuitiv fast richtig gehandelt. Fast – denn ein schwerer Fehler war mir trotzdem unterlaufen.
Würde ich jetzt eine Anleitung schreiben, was man tun und was besser lassen soll, wenn einen der FSB anruft, dann wäre der erste Punkt: ERZÄHLE ES NIE DEINER MAMA.
„Olga! Du hast bestimmt ein Verfahren laufen!“
„Aber nein, Mama, was denn für ein Verfahren, ich bitte dich …“
„Ich sag’s dir!“
„Es gibt doch nicht mal eine offizielle Einladung.“
„Aber ein Verfahren!“
„Was denn für eins?“
„Irgendeins! Einfach so ruft einen der FSB nicht an! Am Ende sperren sie dich ein?!“
„Ja, wofür denn?“
„Wofür sitzen denn jetzt alle? Wegen irgendeinem Repost! Wegen vulgärer Sprache auf Facebook!“
„Wegen vulgärer Sprache sitzt man noch nicht.“
„Das sag ich dir jetzt als Mutter: Hör auf so schmutzige Wörter zu benutzen, Tante Tanja liest mit, wie soll ich der noch in die Augen schauen? Was sind das überhaupt für Ausdrücke, ein Mädchen wie du, schämst du dich nicht, wenigstens hast du aufgehört zu rauchen, ich kann nicht glauben, dass meine Tochter …“
„Mama …“
„Komm mir nicht mit ‚Mama‘! Der FSB ruft dich an! Am Ende machen Sie noch eine Hausdurchsuchung bei dir.“
„Ja, wieso denn eine Hausdurchsuchung?“
„Wieso gab es eine bei Sobtschak? Das arme Mädel, nicht mal anziehen durfte sie sich. Du wirst auch noch völlig nackt auf dem Flur stehen, das sag ich dir schon seit langem, du sollst zuhause Wollsocken anziehen, bei euch zieht’s von unten, durch diesen Spalt unten am Fenster …“
„Mama …“
„Olga, merk dir das. Wenn sie da sind, ruf mich sofort an. Ich komme.“
Nach drei Tagen begannen dann seltsame Dinge mit mir zu geschehen. Beim Fensterputzen in der Küche fiel mir plötzlich auf, dass in die Außenmauer ein dicker Eisennagel eingeschlagen war. „Wenn sie kommen, kann ich da einen Beutel mit meinem Notebook aufhängen“, dachte ich und ärgerte mich gleich: „Na, da hast du ja was gefunden, worüber du dir den Kopf zerbrechen kannst.“
Doch der Nagel ließ mir auch am nächsten Tag keine Ruhe.
„Die schicken doch immer einen rund ums Haus. Der sieht dann, wie ich den Beutel aufhänge. Aber vielleicht auch nicht. Da steht ein Baum. Ich muss schauen, ob man unser Fenster von unten sieht. Verdammt, was soll der schon von dir wollen, du dumme Kuh.“
Auf dem alten Notebook sind Nacktfotos
Weitere zwei Tage später stand ich mit Einkaufstaschen unter dem Fenster und versuchte den Nagel zu erspähen.
„Man sieht ihn.“
Die Krise bekam ich in der Nacht auf den sechsten Tag. Ich wachte auf, als hätte ich einen Stoß in die Rippen bekommen, und dachte: „Auf dem alten Notebook sind Nacktfotos.“ Vor meinem inneren Auge erschien ein schmächtiger Mann um die 35. Hinter einem massiven Schreibtisch. In dunkelblauem Jackett, Krawatte und verschwitztem Hemd. Sein Gesicht kaum zu sehen, weil die Tischlampe auf mich gerichtet war.
„Olga Iljinitschna, was soll denn das … nach außen hin so ein anständiges Mädchen. Was wird denn da Ihre Mama sagen?“
Ich sprang aus dem Bett, riss den Schrank auf, zog die Kartons mit dem alten Technikkram heraus. Dieses Notebook funktionierte kaum mehr, doch ich schaffte es, es hochzufahren. Der Ordner mit den unseligen Fotos war so gut verborgen, dass ich ihn eine ganze Stunde lang suchen musste. Schlussendlich war alles gelöscht.
Gut, dass ich die Fotos noch irgendwo auf CD habe. Shit
Mir wurde ein wenig leichter. Ich versteckte den Computer wieder im Karton und ging ins Bett. Um die Fotos tat es mir ein bisschen leid. Ich hatte sie mit einer Freundin im vierten Studienjahr gemacht, und wahrscheinlich war ich nie so schön und fraulich wie auf diesen Fotos. Mein Blick so direkt und ruhig, als ob Stehen mit nackten Brüsten ganz normal für mich wäre. Gut, dass ich noch irgendwo die CD habe.
Shit.
Die darauffolgende Stunde suchte ich sie.
Ich durchwühlte die Kartons und fand eine verstaubte Plastiktüte. Das waren meine Schulsachen. Mir fiel ein, dass die Ermittler bei der Hausdurchsuchung von irgendeinem Oppositionellen die Schulhefte mitgenommen hatten. Ich griff in die Tüte und zog das Russischheft der fünften Klasse heraus. Ich schlug es irgendwo auf. Am Anfang der Seite stand in salatgrüner Kugelschreibertinte: „Diktat über Fremdwörter aus dem Französischen“. Unter der Überschrift tummelten sich Wörter wie „Builljon“, „Champinjon“ und „Kompanjon“. Mangelhaft.
Ich musste daran denken, wie Mama über dieses Diktat gelacht hatte. Der Mann hinter dem massiven Schreibtisch wieherte auch, den Kopf zurückgeworfen: „Schau, Wassja, Builljon, Champinjon und Kompanjon, ahahahahahaaaa!“ Hinter seinem Rücken tauchte ein Schatten auf, den es ebenfalls vor Lachen schüttelte.
Es war widerlich. Und dieses dumme, ach so niedliche Diktat schien mir plötzlich intimer als die gynäkologischen Ultraschallbilder, die ich schon in eine extra Tüte gepackt hatte. Ich nahm einen Koffer und legte die medizinische Unterlagen und Schulhefte dort hinein. Diese Sachen wollte ich am nächsten Tag zu einem Freund bringen. Dann kamen meine Notizblöcke von der Arbeit dran. Sie kamen mir alle plötzlich schrecklich kompromittierend vor: Putin und Nawalny auf jeder Seite, die Telefonnummern der Auskunftspersonen, Skizzen und Grafiken, Daten von soziologischen Umfragen, Sätze wie „lasst mich schlafen“ oder „fuck it all“ in den Ecken.
Bis acht Uhr morgens zerriss ich meine Tagebücher in kleine Schnipsel
Bis fünf Uhr morgens schrieb ich alles Wichtige heraus und speicherte es in der Cloud, dann zerriss ich die Notizblöcke in winzige Schnipsel. Irgendwann suchte mich die Vorstellung heim, wie der Mann im blauen Jackett die Papierfetzen mit einer Pinzette zusammenfügen würde, doch mit Willenskraft zwang mich, dieses Bild aus meinem Kopf zu jagen.
Wieder legte ich mich hin. Der Schlaf ließ lange auf sich warten. Ich wälzte mich hin und her. Sah zum Fenster hinaus. Horchte. Döste endlich ein. Träumte etwas Beklemmendes. Gegen sieben Uhr morgens wachte ich mit dem Gedanken auf, dass der FSB bloß nicht erfahren durfte, dass ich im vierten Studienjahr in einen Professor vernarrt war, zu Beginn des Magisterstudiums in einen Schauspieler am Theater Satirikon und in Jane Austens Mr. Knightley, der mir bis heute nicht egal ist.
Bis acht Uhr morgens zerriss ich meine Tagebücher in kleine Schnipsel.
Um neun zog der Mann im Jackett meine Spitzenhöschen aus dem Wäschekorb und sagte: „Da haben wir sie, die Schmutzwäsche der Opposition.“ Ich warf die Waschmaschine an.
Unterdessen wuchs der Müllberg.
Ich habe mal in einem Artikel mit Tipps zum Ausmisten gelesen, wenn man alles Unnötige loshaben will, dann soll man jeden Gegenstand in die Hand nehmen, ihn ansehen und sich fragen: „Verspüre ich Freude über den Besitz dieses Gegenstandes?“
Während meiner Vorbereitung auf die hypothetische Hausdurchsuchung stellte ich mir vor, wie ein fremder Mensch meine Sachen anfasst, und fragte mich dabei: „Verspüre ich Entsetzen?“
Ich warf das Halloweenkostüm aus Schulzeiten weg, die gefakten Chanel-Stiefel, die Gay-Pornos und eine originalversiegelte CD mit einer bizarren Rede von Schewtschuk zur Geschichte Russlands. Das hätte ich alles schon längst wegwerfen sollen, doch jetzt war dieses Zeug nicht mehr überflüssig, sondern bedrohlich. Jedes Ding bekam eine neue Bedeutung.
Ich wischte den Boden und die Regale. Räumte den Tisch auf.
Endlich war alles fertig.
Alles war sauber.
Alles war leer.
Im Zimmer zog es ordentlich, der letzte Staub senkte sich in der Sonne. Über den nassen Boden fegte ein kalter Luftstrom. Auf einmal fröstelte es mich. Ich erinnerte mich, dass in einer Schublade in der Kommode meine Wollsocken lagen. Ich öffnete auf gut Glück die unterste, wühlte in den dort vergessenen Klamotten und spürte plötzlich etwas Großes, Hartes, Geschmeidiges.
Ich bekam Gänsehaut, als mir einfiel, was dort lag.
Der Mann im blauen Jackett steckte grinsend die Hand in die Schublade, pfiff beeindruckt und zog einen riesen, rosa Schwanz mit Schaltern zwischen den Anziehsachen hervor.
„Der gehört nicht mir“, sagte ich.
Der Mann drückte auf einen Schalter. Der Schwanz begann aggressiv zu zappeln.
„Wer wird denn zuhause fremde Schwänze aufbewahren?“ merkte der Besucher zu Recht an.
Nehmt bitte diesen Schwanz in Pflege
Dieser Penis war ein Geburtstagsgeschenk meiner besten Freundin gewesen, das ich, verstört und fassungslos, schnell und sündig irgendwo versteckt hatte. Und da war er nun. Riesig, lang, in peinlichem Rosa. Stolz wie ein Jedi-Schwert. Das Excalibur der modernen Jungfer.
Oh Gott, welche Schmach.
Ich packte den rosa Penis und stürzte zu dem Koffer mit den Sachen, die ich zu Freunden bringen wollte.
„Nehmt bitte diesen Schwanz in Pflege“, kommentierte das blaue Jackett.
Ich hielt inne. Stimmt. Seinen Bekannten einen Koffer mit einem Notebook, Heften und Dokumenten zu geben – das ist das Eine. Einen Koffer mit einem Schwanz aushändigen … das kam mir auf einmal schrecklich unanständig vor. Sogar ein bisschen niederträchtig.
Fast hätte ich ihn in den Müllsack gesteckt, doch dann sah ich den rosa Schwanz in den schrundigen Händen der Obdachlosen im Hof, der Hausmeister, der Müllmänner. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich rannte mit dem Schwanz in der Hand durch die Wohnung. Es muss doch irgendwo einen Ort geben, wo nichts gefunden werden kann.
Mein Blick wanderte über die leeren Regale, hinüber zu den Bücherbrettern. Hinter den gesammelten Aufsätzen von Dostojewski verstecken? Der Mann im blauen Jackett kicherte fies. Wohin? Wohin damit? Ich überflog die Buchrücken. In meinem Kopf blitzten Satzfetzen auf.
Plötzlich versiegte die Energie, die mich stundenlang angetrieben hatte.
Verschwand, als hätte es sie nie gegeben.
In meinem Kopf wurde es leer und still.
Und dann packte mich endlich eine maßlose Erschöpfung, ich legte den Schwanz entschlossen mitten auf den leeren Tisch und ging schlafen.
P.S.
Der freie Schwanz, wie ich dieses Erzeugnis seither insgeheim nenne, liegt immer noch auf meinem Tisch. Manchmal findet ihn ein Gast unter Stapeln von Papier und Notizbüchern, betrachtet ihn staunend von allen Seiten und legt ihn zurück.
Michail Gorbatschow hat in Russland einen denkbar schlechten Ruf. In breiten Kreisen der Bevölkerung gilt er als verantwortlich für den Untergang des sowjetischen Imperiums, eine Einschätzung, die von der derzeitigen Staatsführung durchaus bewusst weiter kultiviert wird.
Anlässlich von Gorbatschows 85. Geburtstag im März 2016 führte das staatliche Meinungsforschungsinstituts WZIOM eine Umfrage durch. Sie ergab, dass zwar 46 Prozent der Befragten einräumten, Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber auch 47 Prozent der Ansicht sind, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinen sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.
Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Stimmung in Russland sind diejenigen Stimmen umso bemerkenswerter, die entgegen dem Mainstream auch die positiven Aspekte seiner liberalisierenden und auf Rechtsstaatlichkeit zielenden Politik würdigen. Zu ihnen gehört der langjährige Kulturredakteur der Zeitschrift Ogonjok (seit 2009: Kommersant-Ogonjok), Andrej Archangelski, dessen letzte Woche auf Slonerschienenen Artikel wir hier wiedergeben. Archangelski, geboren 1974, ist selbst in den Gorbatschow-Jahren in Moskau aufgewachsen und liefert hier ein sehr leidenschaftliches, sehr persönliches Statement zu einem Politiker, der, wie er sagt, seine „Seele gerettet“ hat.
Wenn es um Gorbatschow geht, sagen Leute, die ihn ablehnen, meist: „Was hat er uns denn schon gegeben, euer Gorbatschow?“ Die Frage ist rhetorisch, gemeint ist – dass nichts.
Als Äußerung ist das sehr aufschlussreich, das wichtigste Wort hier lautet: „gegeben“. In der durch und durch materialistischen Konstruktion der Frage „Was hast du mir gegeben?“ wird die Liebe zum Staatsoberhaupt als Menge der von ihm gebotenen materiellen Güter gemessen: Er hat den Menschen separate Wohnungen gegeben, zum Beispiel, oder hat uns billigen Wodka gegeben. Und mag diese Frage auch rhetorisch sein, zum Jubiläum Gorbatschows, der 85 geworden ist, kann man versuchen, sie zu beantworten.
Das Erste und Wichtigste: Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen. Ich bin ein typisches Produkt der Perestroika; als sie begann, war ich in der vierten Klasse. In Mathematik war ich schlecht, die Regeln des Lebens in der Sowjetunion beherrschte ich aber schon gut. Zum Beispiel, dass man nicht nur für Wissen gute Noten bekam, sondern auch dafür, der Lehrerin brav nach dem Mund zu reden. Die vierte, fünfte sowjetische Generation hatte die Fähigkeit „sich im Leben einzurichten“ bereits im Blut, das war ein Instinkt, alle sagten von klein auf ja, waren einverstanden, nickten. In all dem lag eine unerklärliche Trostlosigkeit, doch grundsätzlich war klar: So ist es eben. Punkt.
Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen.
Man musste lernen, seine Gedanken zu verbergen, sich zu verstellen, nicht aufzufallen, Loyalität zu demonstrieren. Auf der Straße das eine sagen, in der Schule was anderes, zu Hause was Drittes – kurz, ein Doppelleben zu führen, wie jedermann. Und da kam Gorbatschow und rettete mich (und viele andere) vor diesem Zwang zur permanenten Heuchelei. Man konnte natürlich weiterhin lügen, doch ab jetzt hatte man die Wahl: Jetzt konnte man auch NICHT lügen. Lügen war nicht mehr lebensnotwendig. Und mehr noch, die Wahrheit zu sagen lohnte sich nun, wenn man das so zynisch ausdrücken will: Nicht die Ähnlichkeit mit anderen, sondern die Andersartigkeit wurde zur Erfolgsgarantie.
Heutzutage ist es schwierig, das zu erklären, aber die Perestroika hat eine enorme menschliche Energie freigesetzt, Millionen verschiedener Talente entfesselt und die Entwicklung von Stärken möglich gemacht. Die fünf Jahre Perestroika waren wie ein ewiger Frühling der Gedanken und Gefühle, fast ein Karneval, in der Tat eine glückliche Zeit: Wenn der Wunsch, nicht zu lügen, nicht nur nicht bestraft, sondern sogar – im Gegenteil – vom Staat gefördert wird.
In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher.
Auch der soziale Erfolg hatte zu tun mit der Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, beziehungsweise einfach das, was man dachte. Deswegen bin ich Gorbatschow verbunden was meine Fähigkeiten, meine Berufswahl und meine Karriere angeht. Vor allem aber hat er mich und Millionen anderer vor einer doppelten inneren Buchhaltung bewahrt, vor moralischer Zersplitterung und Zerstörung. Er hat meine Seele gerettet – das scheint mir keine Übertreibung zu sein. Man kann lang und breit darüber reden, dass solche Dinge nicht vom Staat abhängen, aber das stimmt nicht: In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher. Auch jetzt spüren die Kinder ganz genau, wie man sich verhalten muss, um Erfolg zu haben. Die Kinder der Perestroika hatten mit dem Staat Glück wie keine andere Generation – im Grunde verlief ihr gesamtes bewusstes Leben „in Freiheit“, damit war in Russland selten eine Generation gesegnet.
In Freiheit, die in Russland gern präzisiert wird: „Freiheit wozu?“, „Freiheit wovon?“ – die aber einfach nur bedeutet: die Möglichkeit zu haben, nicht zu lügen.
In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen.
Noch etwas, was Gorbatschow uns gegeben hat: Er hat den Menschen die Sprache zurückgegeben. Hat den Menschen die Kommunikation wiedergegeben, die Möglichkeit, sich frei zu unterhalten. In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen. Die Sprache des Verschweigens, die Kultur des Verheimlichens war bis zum Jahr 1980 so weit gekommen, dass man mit der offiziellen Sprache, mit der Sprache der Zeitung Prawda nicht einmal die einfachsten Gedanken ausdrücken konnte. Die sowjetische Sprache hatte einen gigantischen Zerfallsprozess erlebt. Das, was bis 1985 gesprochen wurde, war kein Gedankenaustausch, sondern ein Ritual, eine Wiederholung, eine Tautologie, die völlig sinnlos wurde.
Es ist eine erstaunliche Leistung des Totalitarismus, wenn das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich die Sprache, den Menschen stört, anstatt ihm zu helfen. „Schweigen ist Gold“, bekam man bei uns auf Schritt und Tritt zu hören, und das Schweigen wurde zur einzigen ehrlichen Form der Kommunikation. Genau dasselbe geschieht mit der Sprache jetzt wieder. Der Ausdruck „ich habe dich gehört“ ist ein deutliches Indiz dafür, dass diese Stummheit zurückkehrt – Schweigen als Form der Kommunikation.
Bei Hannah Arendt findet sich folgende Beobachtung über Menschen in Deutschland in den 1930ern, die gegen den Totalitarismus immun geblieben waren. Arendt stellt die Frage: Worin unterschieden sich diese Menschen von der Mehrheit? Sie kommt zu dem Schluss, dass etwa hohe Kultiviertheit oder Bildung dabei überhaupt keine Rolle spielen. Die Fähigkeit zum Widerstand haben sich nur Menschen einer bestimmten psychischen Wesensart bewahrt, stellt Arendt fest, jene, die es gewohnt waren, einen ständigen inneren Dialog mit ihrem zweiten Ich zu führen, oder, vereinfacht gesagt, mit ihrem Gewissen. Menschen, die es gewohnt sind, jede ihrer Handlungen mit ihrem inneren Kammerton abzustimmen, können nicht gegen ihn agieren – einfach weil sie damit nicht weiter leben könnten, ihr Gewissen würde sie quälen. Der Jammer ist, so Arendt, dass für die meisten Menschen dieser innere Dialog nichts Unumgängliches ist, beziehungsweise dass sie diese zur Notwendigkeit gewordene Gewohnheit einfach nicht besitzen.
Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht.
Die Perestroika – das waren Gespräche, klar, aber das Wichtigste war, dass Gorbatschow das innere Gespräch des Menschen mit sich selbst in Schwung brachte. Gorbatschow gab also den Leuten ihr inneres zweites Ich zurück, ihr Gewissen – beziehungsweise nicht das Gewissen selbst, sondern die Möglichkeit, nach dem Gewissen zu entscheiden.
Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht; dabei genießen ausnahmslos alle heutzutage ihre materiellen Vorteile, ihre wirtschaftlichen Folgeerscheinungen: den freien Markt, den Austausch von Waren, die Reisefreiheit. Nein, etwas Materielles hat uns Gorbatschow wirklich nicht gegeben, keine Lebensmittelprämien oder Wohnungen. Aber so ein „Geben“ ist selbst eine zwiespältige Sache: Denn Materielles, das gegeben wird, kann auch weggenommen werden. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, das ist ungefähr das Schema, nach dem das Leben heute in Russland wieder läuft. Doch was Gorbatschow uns gegeben hat, kann uns niemand nehmen. Weil es eben keine Sache ist.
Man kann nicht mal sagen, dass er uns „die Freiheit gab“ – das wäre geradezu beleidigend, Freiheit kann man jemandem nicht geben wie einen Rubel, wir haben sie selbst errungen. Doch Gorbatschow hat die Bedingungen dafür geschaffen, vom Leben das Beste zu nehmen und nicht das Schlechteste. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, in einem volleren Sinne zu Menschen zu werden, und jeder machte daraus, was seinen Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Dass wir dieses offene Fenster zur Freiheit nicht umfassend genutzt haben (wann wird es wohl das nächste Mal offenstehen?), ist wahr. Aber dennoch haben die Menschen, die die neuen Regeln angenommen haben, das Verhältnis zwischen Freiheit und Unfreiheit in Russland grundlegend verändert. Freiheit, das sind jetzt nicht mehr zwei Dutzend in Küchen sitzende Dissidenten, Freiheit ist das Gut von Millionen Menschen geworden. Und diese Menschen nehmen an scheinbar zwecklosen Protestmärschen teil, gehen als Wahlbeobachter in Stimmlokale und wechseln auf der Brücke, auf der Nemzow ermordet wurde, täglich das Wasser in den Blumenvasen.
Gorbatschow hat die Sozialstruktur Russlands verändert, 15 Prozent des Landes (jene, die nicht zu den 85 Prozent1 gehören) – das ist trotz allem schon näher an einem Normalzustand als die sieben Personen, die 1968 auf dem Roten Platz waren. Gorbatschow ist es gelungen, eine Art fragile Balance zu erzeugen, mehr solche Menschen hervorzubringen, denen der innere Dialog mit ihrem zweiten Ich wichtiger ist als der Monolog der Propaganda. Und dank der Energie von vor 30 Jahren sind sie weiterhin da, und möglicherweise hat auch Gorbatschow es dieser Energie zu verdanken, dass er in seinem 86. Lebensjahr steht. Großartige Sache, kann ich nur empfehlen.
1.Gemeint ist die in Umfragen erhobene Zustimmung zur Tätigkeit des Präsidenten oder der Regierung. Wladimir Putin verzeichnet durchgängig Zustimmungswerte von über 60 %, seit Beginn der Ukraine-Krise liegt diese Zahl um 85 %.
Die Rolle der Frau in der russischen Gesellschaft ist paradox: Zum einen sind fast alle Frauen berufstätig, mit großer Selbstverständlichkeit auch in typischen Männerdomänen – ein Erbe nicht zuletzt auch der sozialistischen Vergangenheit. Auf der anderen Seite herrscht die Auffassung vor, Frauen haben vor allem eins zu sein: liebreizend, häuslich und auf charmante Weise schwach. Gerade am heutigen Weltfrauentag, der in Russland am Arbeitsplatz, mit Freunden und in den Familien ausgiebig gefeiert wird, ist das Klischee der „holden Dame“ immer wieder Leitmotiv.
Irina Begimbetowa und Emma Tertschenko setzen sich damit auseinander, wieso sexistische Werbung und Marketingkampagnen in Russland ausgezeichnet funktionieren, weshalb Frauen weniger verdienen als Männer und doch soviel Geld dafür ausgeben, ihnen zu gefallen – und warum Feminismus in Russland heute selbst von Frauen immer noch als ein Schimpfwort verstanden wird.
Die Schauspielerin Julija Topolnizkaja, die in dem Videoclip zu dem Leningrad-Song Exponat die Hauptrolle spielt, erzählte in Interviews, sie habe Angst gehabt, den Zuschauern könnte ihre Darstellung nicht gefallen. Wie sich herausstellte, war diese Sorge unbegründet. Dafür spricht erstens der Irrsinserfolg des Videoclips: mehr als 51 Millionen Views auf YouTube innerhalb von einem Monat.
Zweitens die dort geposteten Kommentare. Die schauspielerische Leistung beschäftigt die Zuschauer offensichtlich weniger, etwa die Hälfte der Kommentare betrifft – vollkommen ernst gemeint! – die Frage, welche Chancen die junge Frau mit den Mega-High-Heels wohl habe, ihren heißbegehrten Sergej zu erobern. „Die ist doch potthässlich!“, jauchzt eine gewisse X. „… und ihr Arsch ist echt ein bisschen zu fett“, meint Y. schadenfroh, und Z. merkt mitleidig an: „Die roten Schuhsohlen hätte sie sich auch sparen können. Ein Mann guckt nicht auf die Schuhe, den interessiert zuerst die Figur und dann das Gesicht.“ Oder, es wird gleich abgebügelt: „Mädchen, die fluchen – das ist nicht schön.“
Die Ironie des Clips geht an den Kommentatorinnen weitgehend vorbei, dafür kennen sie sich mit den elementaren Dingen aus: Sollen sich doch irgendwelche abgehobenen Damen um ihre Frauenbefreiung kümmern – sicherer und kuschliger lebt es sich nach den Regeln der gewohnten sexistischen Welt.
Die Angstverkäufer
Eine junge Frau mit entblößtem Oberkörper blickt lasziv von einem Plakat herunter, wobei sie ihre Brüste mit den Händen bedeckt. „Klein, aber mein!“, lautet der Text zu dem Bild. Es handelt sich um Werbung für Wohnungen in dem Neubaugebiet von Tscheboksary. Ihre Macher würden nicht nur in den USA, sondern vermutlich auch im traditionalistischen China zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt werden. In Russland ist so etwas an der Tagesordnung.
„Klein aber mein“ – Werbung für Wohnungen in einem Neubaugebiet in Tscheboksary
Oder: Der Showman Dimitri Nagijew wechselt in einem Restaurant vielsagende Blicke mit einer Unbekannten. „Sie ist aus Petersburg, aber sie kann auch asiatisch. Und sie ist jederzeit und überall bereit, meinen Hunger zu stillen“, ertönt eine Stimme aus dem Off. Es ist natürlich nicht die junge Frau am Tisch, die den Hunger stillen soll – gemeint ist eine Kette von Asia-Restaurants in St. Petersburg namens Eurasia. Ein weiteres Beispiel ist die Werbung für ICQ-Internettelefonie, bei der Pawel Wolja die Qualität des Internetsignals mit der Größe der weiblichen Brust vergleicht: „Internet 2G ist wie 70A: immerhin was da, Gott sei Dank.“
Geht es um Mayonnaise oder Pampers, dann blicken uns Hausfrauen vom Bildschirm entgegen, alles Übrige sollen Busen und Popos an den Mann bringen, und für die Frauen selbst gibt es Dutzende, ja Hunderte von Kursen zum Thema Wie werde ich unwiderstehlich.
Sexismus wird verkauft und gekauft. „Wir beobachten die sozialen Netzwerke und die Internetforen genau, bevor wir eine Werbekampagne starten: In Russland sind es wenige Leute, denen die Rechte der Frauen wirklich wichtig sind. Eine feministisch ausgerichtete Kampagne wird hier leider immer nur für eine kleine Zielgruppe funktionieren“, erklärt Michail Perlowski, Kreativ-Direktor der Werbeagentur AnyBodyHome! Und fügt in bester Sexismustradition hinzu: „Unter den Produktmanagern, unseren Auftraggebern, sind viele alleinstehende Frauen mit Kindern. Die kleben an ihren Sesseln, sie müssen ihre Familie ernähren. Die denken sich nichts Neues aus, verwenden einfach die althergebrachten Stereotype, die das Massenpublikum garantiert ansprechen.“
Das Erfolgsrezept sexistischer Vermarktung heißt: Verkaufe Angst. Die Angst, alt zu werden, hässlich zu werden und allein zu bleiben. Es gibt zu wenig Männer, nicht genug für alle, und wenn du nicht schön bist, heiratet dich keiner, und selbst wenn, lässt er sich wieder scheiden und keiner will dich mehr haben. Mit Angst kann man einer Frau alles aufschwatzen, um diesem elenden Schicksal zu entrinnen.
Die russischen Frauen springen voll darauf an. Daten des Branchenverbands Cosmetics Europe zufolge betrug das Marktvolumen für Kosmetik in Russland im Jahr 2014 24,6 Milliarden Dollar. Heruntergerechnet bedeutet das, dass eine Russin im Jahr durchschnittlich 192 $ für Kosmetik ausgibt. Mehr als eine Französin (166 $), eine Deutsche (142 $) oder eine Engländerin (165 $).
Wenn man diese Ausgaben dann noch ins Verhältnis zum Durchschnittslohn setzt, erscheint das schier unbegreiflich: Eine Russin gibt ca. 30 Prozent ihres Gehalts für Kosmetik aus, während es für eine Französin oder Italienerin rund 5 %, für eine Deutsche ca. 4 % sind. Ein Drittel ihres Einkommens also wendet eine Russin für ihre Schönheit auf, obwohl (oder gerade weil? – das bleibt ein Rätsel) der geschlechtsspezifische Gehaltsunterschied in Russland größer ist als in allen anderen Ländern Europas. Die durchschnittliche Russin verdient um 30 % weniger als ihr Mann, der Durchschnittsrusse; die Deutsche um 21,6 %, die Engländerin um 19,7 %, die Französin um 15,2 %.
Nicht einmal die Wirtschaftskrise wirkt sich auf die Ausgaben der Russinnen für ihre Schönheit aus – sie sinken kaum einmal, steigen sogar eher. Bei der letzten Erhebung des Lewada-Zentrums wurde auf die Frage, wie oft man zur Kosmetikerin gehe, um 10 % seltener „nie“ geantwortet als beim Mal zuvor.
Feminismus verkauft sich nicht
Sexismus ist in Russland eine heiße Ware, doch ein Ausgleich aus der feministischen Produktpalette fehlt. Formal war Russland (genau genommen, sein Vorgänger die Sowjetunion) weltweit das erste Land, in dem der Feminismus gesiegt hat. Doch dieser Sieg betrifft nur politische Rechte und das Recht auf Arbeit.
Im kulturellen Diskurs fehlt der Feminismus fast vollständig, so dass man sogar gebildeten Leuten die Bedeutung des Begriffs erklären muss. Im Grunde sind nur die radikalen Ausläufer des Feminismus bekannt, beziehungsweise der Feminismus wird überhaupt nur in karikierter Form wahrgenommen.
„Eine Feministin ist ein Mensch, der in mehreren früheren Inkarnationen ein Mann war und dann plötzlich, völlig unerwartet, als Frau auf die Welt kommt“, so der Crashkurs auf einer Website. „Natürlich ist dieser Mensch schockiert. Er ist empört! Vielleicht war er im vorigen Leben Fallschirmjäger. Und auf einmal wird er wie eine Frau behandelt. Soll Kinder gebären, Essen kochen und statt Granaten feurige Blicke werfen. Nichts ist schlimmer für einen gestandenen Mann, als für eine Frau gehalten zu werden! Und wütend beginnt er, für seine Rechte zu kämpfen.“
Die Koordinatorin des Projekts Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung, Irina Kosterina, ist mit Aufklärungsveranstaltungen in ganz Russland unterwegs und erzählt, sie werde oft gebeten, das Wort „Feminismus“ nicht zu benutzen. „Was den statistischen Durchschnittsrussen angeht, ist dieser Begriff zu bestimmten progressiven, fortschrittlichen, gebildeten Gruppen durchgedrungen und sie haben keine Angst mehr davor. Aber manche fürchten ihn immer noch“, sagt Kosterina.
Die Schriftstellerin und Business-Trainerin Irina Chakamada meint, es sei überhaupt nicht mehr sinnvoll, vom Feminismus zu sprechen, denn die aufgeklärte Menschheit lebe schon lange im Zeitalter des Postfeminismus. Feminismus sei die Zeit der Revolution, des Kampfes für die Rechte der Frauen gewesen, im Postfeminismus ruhe man sich auf den Lorbeeren dieser Siege aus. Die Postfeministinnen pflegen das Vermächtnis der Feministinnen, doch anstatt für die Selbstverwirklichung zu kämpfen, können sie sich auf ihre Umsetzung konzentrieren.
Vielleicht stimmt das für die aufgeklärte Menschheit, doch Russland ist einer kulturellen feministischen Revolution noch nicht mal nahegekommen. Da es keine revolutionäre Bewegung gibt, wirken auch Versuche, sich an ihre Spitze zu stellen, ziemlich fragwürdig.
Vor vielen Jahren war es Maria Arbatowa, die die Rolle der Fahnenträgerin des russischen Feminismus für sich beanspruchte. Diese Rolle spielte sie in ihrer in den 90ern beliebten Talkshow Ja sama (Ich mach das selbst). Eigentlich sagte Maria im Fernsehen nichts Radikales, sondern predigte einfache Wahrheiten im Sinne liberaler europäischer Werte. 1999 verließ Arbatowa die Talkshow. Ihr Image zu Geld zu machen, gelang ihr jedoch nicht.
Heute darf die 35-jährige Journalistin und Bloggerin Bella Rapoport den Titel der berühmtesten Feministin für sich in Anspruch nehmen. Ihre Karriere als Feministin begann in den sozialen Netzwerken, wo sie ihre Gedanken mit Freunden teilte und idealistisch der Meinung war, sie lebe nicht vergeblich, wenn wenigstens einer Frau auf dieser Welt die Augen geöffnet würden.
Vor zwei Jahren schrieb Rapoport in Snob eine Kolumne mit dem Titel Das Recht auf Sex, in der sie sich Gedanken über die Tatsache machte, dass das Recht der Männer auf Sex im herrschenden Wertesystem stärker gewichtet wird als das der Frauen. Die Kolumne brachte Bella Popularität ein (bis heute über 135.000 Aufrufe), woraufhin auch andere Medien sie als Autorin einluden.
Weiter punkten konnte sie im Meduza-Gate: Im März des vergangenen Jahres publizierte das Online-Magazin Meduza die Anleitung Wie es funktioniert, in Russland kein Sexist zu sein und warb dafür in den sozialen Netzwerken mit dem Satz „Männer, hier lernt ihr, Miezen1 nicht zu beleidigen“. Mehr als ein Artikel befasste sich mit dem Wort „Mieze“, die Bloggerszene lief Sturm, und Rapoports Kolumne zu dem Thema auf Colta.ru erreichte fast 268.000 Aufrufe.
In den letzten Monaten hat Bella übrigens nichts mehr veröffentlicht, und künftig will sie viel weniger über Feminismus schreiben als bisher. Sie brennt nicht darauf, das Banner der wichtigsten Frauenrechtskämpferin Russlands zu tragen. Sie sei müde und enttäuscht, sagt sie – darüber, wie die Gesellschaft auf sie reagiere und wie man in Russland mit Frauen umgehe. In den sozialen Netzwerken und den Kommentaren zu ihren Kolumnen hatte man Bella Rapoport rasch klargemacht, was sie „in Wirklichkeit ist“: Eine hässliche Jüdin, die die russischen Frauen ins Verderben stürzen wolle, eine Lesbe und einfach eine dumme Nuss.
Wölfe als Hüter der familiären Werte
Auf der Agenda des westlichen Feminismus steht derzeit, den Weg freizumachen für Frauen im Beruf, die Gehälter anzugleichen, Plätze in Aufsichtsräten sicherzustellen. Das wirkt in Russland, wo die Grundrechte der Frauen grob missachtet werden, eher wie eine Karikatur. Jedes Jahr sterben mehrere Tausend Frauen an häuslicher Gewalt – 2013 waren es 9000. Der Statistik zufolge werden 40 Prozent der Gewaltdelikte innerhalb der Familie begangen.
Dieses Problem lässt sich nicht ohne staatliches Eingreifen lösen, aber die Aktivistinnen haben Mühe, sich über all die Rhetorik der „spirituellen Klammern“ und der „Werte“ hinweg Gehör zu verschaffen. Eine kleine Anekdote: Im vergangenen Jahr war der Russische Frauenverband an der Vergabe der präsidialen Fördermittel für gemeinnützige Organisationen beteiligt. Er versagte einem Projekt die beantragten 4 Millionen Rubel für eine umfassende Informations- und Auskunftsplattform für weibliche Opfer häuslicher Gewalt. Dafür wurden 9 Millionen Rubel an den Biker-Club Nachtwölfe für die Organisation von Neujahrsfesten vergeben.
Punktuell entstehen in Russland aber dennoch Projekte zum Schutz von Frauenrechten. Nachdem sie die Födermittel nicht erhalten hatten, realisierten die beiden Juristinnen Anna Riwina und Mari Dawtjan die Website in Eigenleistung, unterstützt von Freunden und Freiwilligen und in Zusammenarbeit mit einem Konsortium regierungsunabhängiger Frauenverbände.
Es gibt auch ganz rührende Projekte im Geist der Suffragetten des frühen 20. Jahrhunderts, in St. Petersburg zum Beispiel die von den vier jungen Künstlerinnen Anna Tereschkina, Antonina Melnik, Maria Lukjanowa und Nadeshda Katastrofa gegründete Nähkooperative Schwemy. Die Kooperative funktioniert auf der Basis von Gleichberechtigung, sämtliche Entscheidungen werden im Konsens gefasst, und die Gründerinnen verstehen das Nähen als Prozess der Emanzipation: Sie steppen nicht einfach Nähte, sondern hören während der Arbeit Audiobooks, zum Beispiel von Marx.
Ihren Prinzipien verleihen die jungen Frauen durch ihre genähten Werke Ausdruck. So nähten sie etwa die Kostüme für das Stück Vagina-Monologe – einem New Yorker Theatermanifest, das 1996 zum ersten Mal aufgeführt wurde, 2005 nach Russland gelangte und seither mehr oder weniger erfolgreich von Bühne zu Bühne zieht. Eine andere Spezialität des Ateliers sind die queer-feministischen Röcke – luftige Umhänge mit großen Taschen, die nach dem Willen der vier Näherinnen sowohl von Frauen als auch von Männern getragen werden sollen.
Das mögen manche als lächerlich empfinden, aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, mit Spießbürgern in der Sprache der Röcke zu sprechen. Diese Sprache ist ihnen im Gegensatz zu den Wörtern „Misogynie“ und „Objektivierung“, mit denen zeitgenössische feministische Autorinnen um sich werfen, vielleicht verständlich.
1.In einer früheren Version hatten wir für russisch „tjolotschka“ die (nicht ganz korrekte, aber wörtlichere) Übersetzung „Kälbchen“ verwendet – „Mieze“ ist näher am russischen Idiom.
Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow liefert sich derzeit einen Schlagabtausch mit der russischen Opposition: Nachdem er sie erst auf einer Pressekonferenz als „Volksfeinde“ bezeichnet hatte, sorgte er weiter mit Posts in Sozialen Medien für Aufruhr.
Während der Kreml-Sprecher abwiegelt, reagierte die Opposition alarmiert. Zumal auch die Spuren zur Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015 nach Überzeugung der Opposition in die nächste Umgebung Kadyrows führen – PARNAS-Politiker Ilja Jaschin veröffentlicht seinen Bericht dazu am 23. Februar.
Iwan Dawydow analysiert in der New Times, weshalb auch ein Tortenwurf eine Atmosphäre der Angst entstehen lassen kann.
Anfang Februar gegen halb zehn Uhr abends nimmt der Vorsitzende der Partei der Volksfreiheit PARNAS, Michail Kassjanow, in einem Moskauer Restaurant sein Nachtmahl ein. Drei Unbekannte platzen herein und werfen dem Politiker eine Torte ins Gesicht. „Feind!“ schreien die Angreifer. Es waren „ungefähr zehn Personen“ von „nicht-slawischem Aussehen“, so steht es später in Kassjanows Anzeige bei der Polizei. Moskauer Polizisten nehmen in der Nähe des Restaurants drei ihrer Kollegen aus Tschetschenien fest, doch der Geschädigte identifiziert sie nicht als Täter.
Man könnte meinen, damit habe auch die Geschichte mit Ramsan Kadyrows Instagram-Video ein Ende gefunden, in dem Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu sehen war.
In den Social Media entflammte unter Oppositionellen sogar eine Diskussion: Darf man über den Vorfall scherzen oder nicht? Es handele sich ja schließlich um ein klassisches Motiv aus alten Schwarz-Weiß-Komödien: Ein Mensch kriegt eine Torte ins Gesicht. Direkter Verweis auf Charlie Chaplin und Buster Keaton. Ein unfehlbarer Gag, der noch immer funktioniert. Sie haben Blutvergießen erwartet? Wir servieren eine Farce!
Kadyrow hat alle übertrumpft. Aber hat das überhaupt etwas mit Kadyrow zu tun? Komm, los, beweis erst mal, dass das mittlerweile gelöschte Video etwas mit dem Vorfall in Moskau zu tun hat. Sind etwa patriotisch gestimmte „Personen nicht-slawischen Aussehens“ in der Hauptstadt des Imperiums eine Seltenheit?
Kadyrow selbst reagierte mit: „Schon wieder ich?“ und einem Schwarm lustiger Smileys. Um später ein Foto zu posten – wie immer, bei Instagram –, auf dem der Sänger Nikolaj Baskow bei einem Fest in Grosny eine Torte ins Gesicht kriegt. Und alle, inklusive Baskow, amüsieren sich prächtig. Eine liebenswürdige Tradition in den Bergen, muss man eben verstehen.
Dieselbe Muss-man-eben-verstehen-These äußerte Kadyrows Sprecher Alwi Karimow: „Ramsan Achmatowitsch hat einen sehr feinen Humor, äußerst tiefgründig. Der ist einfach einzigartig, basierend auf unserer Folklore, die schon über Jahrhunderte lebt. Leider hat nicht jeder Sinn für Humor. Selbst wenn er etwas im Spaß sagt, kommt es vor, dass Leute das ernst oder gar persönlich nehmen. Spaß muss man eben verstehen.“
Aber noch etwas muss man verstehen: Das Leben jedes Menschen, der es riskiert, das Regime zu kritisieren, ist transparent – wenn die wollen, finden sie dich. Sogar in einem feinen Restaurant. Und die Security schützt dich nicht.
Wenn du ein bekannter Politiker bist, wird der Kreml natürlich reagieren. In diesem konkreten Fall etwa riet der Pressesprecher des Präsidenten, Dimitri Peskow, dazu, die Angreifer „nicht mit der Führung Tschetscheniens und anderer Regionen Russlands“ gleichzusetzen. Die Polizei wird sich tätig zeigen. Aber eben nur, wenn du ein bekannter Politiker bist.
Die schreckliche russische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, dass es sich um Terror handelt, wenn getötet wird, und zwar massenhaft. Oder zumindest, wenn „lange Haftstrafen sich in endlosen Etappen dahinziehen“, ebenfalls zu Tausenden.
Aber Terror, das ist, wenn man Angst hat. Drohungen in sozialen Netzwerken – sind Terror. Das Eindringen in die Privatsphäre und die Verfolgung wegen politischer Ansichten – auf ihre Art vielleicht lustig, mit Argumenten aus Sahne statt Blei – ist Terror. Anschläge auf Freiheiten, auf das Recht der freien Meinungsäußerung (übrigens nur innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens, denn mit jenen Widersachern, die diesen Rahmen übertreten, geht der Staat schon lang nicht mehr zimperlich um) – all das ist Terror.
Und wenn sich der Staat nicht einmischt, heißt das, der Terror ist zumindest staatlich genehmigt. Und gut und nützlich für die Machthaber.
Ach, wird etwa in Russland getötet? Bald jährt sich der Todestag von Boris Nemzow. Wird etwa verhaftet? Viele der Bolotnaja-Aktivisten haben ihre Strafen schon abgesessen nach völlig abstrusen Urteilsbegründungen, ein paar warten auf ihre Verhandlung, die Ermittler sind noch an der Arbeit …
Selbst wenn es sich bei alldem nur um nationale Besonderheiten „basierend auf Folklore“ handelt – nein, das ist kein regionaler Trend, sondern ein staatlicher. Um staatlich genehmigten Terror auszuüben, muss man lange anstehen.
Da stehen Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung des Abgeordneten Jewgeni Fjodorow an, die es der Fünften Kolonne schon lange heimzahlen wollen (am 11. Februar bewarfen sie das Auto von Kassjanow mit Eiern, auch sehr witzig), da steht die Antimaidan-Bewegung. Und das jetzt, wo der Staat nicht direkt sagt: „Los, macht schon“, sondern lediglich durch seine Untätigkeit zu verstehen gibt: „Ist schon ok.“
Dass es Bedarf an Terror und an Terrorbereitschaft gibt, ist offensichtlich – und Nachfrage erzeugt Angebot.
Gegenspieler mit Torten und Eiern zu bewerfen, damit rühmten sich einst Aktivisten der in Russland mittlerweile verbotenenNationalbolschewistischen Partei. Doch die Nazboly überfielen seinerzeit die Großen dieser Welt und mussten für ihre Scherze bitter bezahlen.
Die heutigen Tortenwerfer hetzen Menschen, die weder Polizei noch Justiz noch Staatsanwaltschaft stärkend hinter sich haben. Sondern nur ihre Sicht auf das Schicksal des Landes. Das ist, milde ausgedrückt, widerlich. Einfach widerlich.
Ansonsten, klar, irre lustig. Eine Torte ins Gesicht – ganz wie bei Charlie Chaplin.
Um den 20. Februar 2014 eskalierten die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Was genau damals geschehen ist, bleibt bis heute in Vielem unklar und gibt Anlass zu Spekulationen, die unversöhnlich aufeinanderprallen. So wird die Verantwortung für die Gewalt und die Opfer oft ausschließlich auf der Seite der Regierungskräfte oder der Demonstranten verortet, obwohl die Realität wesentlich komplizierter ist.
Kurz vor dem Jahrestag der Ereignisse hat 2016 im russisch- wie ukrainischsprachigen Internet ein Interview mit einem Maidan-Aktivisten für Aufruhr gesorgt, der berichtet, wie er am 20. Februar 2014 aus dem besetzten Kiewer Konservatorium das Feuer auf die Regierungskräfte eröffnet hat. Die Aussagen des Interviews rücken viele allzu einfache Versionen gerade, lassen selbst aber auch zahlreiche Fragen offen: Welche Rolle haben diese Schüsse gespielt? Waren sie es, die – nach bereits zwei vorhergehenden Tagen voller Gewalt und mit insgesamt 39 Todesopfern – dann weitere Angriffe der Sondereinheit Berkut provoziert haben? Inwieweit sind die Aussagen, die im übrigen mit den später rekonstruierten Fakten im Wesentlichen übereinstimmen (siehe unsere Links unter dem Text), vom Wunsch des Befragten beeinflusst, seine eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen?
Das Interview führte Iwan Sijak von bird in flight, einem Internetmagazin, das auf Russisch in der Ukraine erscheint und eine länderübergreifende Leserschaft besitzt. Das Magazin leitet den Text folgendermaßen ein:
„In der Geschichte der modernen Ukraine existiert kein wichtigeres Datum als der 20. Februar 2014. Damals wurden auf den Kiewer Straßen 48 Maidan-Aktivisten und vier Milizionäre erschossen. Bald darauf verließ Präsident Janukowitsch fluchtartig das Land, es begann die Krim-Annexion, dann der Krieg im Donbass. Im weiteren Sinne brachte dieser Tag den ersten Schritt zum Verlust von sieben Prozent des ukrainischen Territoriums und von vielen Tausend Leben.
Am frühen Morgen des 20. Februar konnte man keines dieser Ereignisse vorausahnen. Es hatte bereits schwere Kämpfe gegeben, bei denen 31 Aktivisten und 8 Sicherheitskräfte umgekommen waren, die Miliz [bis September 2014 war das die Bezeichnung der Polizei – dek] hatte die Protestierenden massiv zurückgedrängt und bezog schon Position auf dem Maidan. Auf dem Platz waren bloß noch einige hundert erschöpfte Aktivisten. Es bestand kein Zweifel, dass der nächste Sturm das Ende des Aufstandes bedeuten würde und dieser als schlichte ‚Massenunruhen‘ in die künftigen Lehrbücher eingehen würde.
Seine präzisen taktischen Aktionen schlugen die Sicherheitskräfte in die Flucht und verhinderten den Untergang der Revolution der Würde – mit solch vagen Worten beschreibt die ukrainische Wikipedia die Rolle Iwan Bubentschiks in der Geschichte. Zum ersten Mal erzählte er über die Ereignisse an diesem Tag im Film von Volodymyr Tykhyy Branzi (Die Gefangenen). Im Vorfeld der Premiere traf unser Korrespondent Iwan Sijak den aus Lwiw stammenden Maidan-Aktivisten, um dessen Version der Ereignisse zu erfahren.“
Iwan spricht Ukrainisch, bird in flight gibt seine Worte auf Russisch wieder.
„Ich möchte eine Angelschule für Kinder aufmachen. Das war es, worum ich mich vor dem Maidan gekümmert habe. Als in Lwiw die Studenten anfingen gegen Janukowitsch zu protestieren, bin ich hingefahren, um sie zu unterstützen. Alle sagten, man müsse nach Kiew, also bin ich hin. Schwer zu sagen, an welchem Datum genau, aber es war der erste Tag. Ich war vom ersten Tag an auf dem Maidan.
Zunächst standen wir an der Säule [Denkmal für die Unabhängigkeit der Ukraine], haben die Studenten beschützt. Dann bildeten sich die sogenannten ‚Hundertschaften‘, ich bin der Neunten beigetreten. Wir wohnten in der Gontschar-Straße, im Haus der Partei Narodny Ruch, und sind jede Nacht um halb zwölf runter zur Metrostation unter dem Maidan, als Wachen. Wir hielten alle Ausgänge unter unserer Kontrolle, denn von dort konnten die Sondereinsatzkräfte auftauchen, für Sabotageaktionen oder um die Proteste aufzulösen.
Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan.
Ich erinnere mich, an der Gruschewskaja Straße standen die Sicherheitskräfte des Innenministeriums, die ließen uns nicht durch [zum Regierungsviertel]. Wir hatten einen Brief dabei, dass wir Bürger der Ukraine seien und das Recht hätten, uns frei zu bewegen. Haben gesagt, wenn sie unser Recht darauf bis zum nächsten Tag nicht wiederherstellen, werden wir stürmen. Und so kam es auch. Am nächsten Tag flogen schon Steine und Molotow-Cocktails.
– In den Tagen vor dem 20. Februar haben die Spezialeinheiten von Janukowitsch alles unternommen, um den Maidan zu zerschlagen. Sie legten das Gewerkschaftshaus, das sehr wichtig für uns war, in Schutt und Asche. Wir haben dort gewohnt, geschlafen, haben die Toilette dort benutzt, dort Essen bekommen und medizinische Versorgung. Danach, am nächsten Morgen, gab uns Gott die Chance, ins Konservatorium hineinzukommen. Wir haben einen Roma-Jungen zum Fenster hochgehievt, er hat von innen die Türen geöffnet. Dort konnten wir ein bisschen Schlaf kriegen. Jemand schlief eine Stunde, jemand eine halbe, je nachdem wie viel man eben konnte während der furchtbaren Attacken, die gegen uns im Gang waren. Viele waren verzweifelt, ich aber nicht. Ich glaube fest an die Kraft Gottes und an die Gerechtigkeit.
Im Konservatorium gab es Jungs mit Jagdgewehren. Die schossen mit Schrot auf die Spezialkräfte, die knapp 70 Meter von uns entfernt waren. Aber ich habe sie von den Fenstern vertrieben, denn als Antwort begann die Miliz das Haus mit Molotow-Cocktails zu bewerfen, sie wollten unseren einzigen Zufluchtsort in Brand setzen. Der Schrot ging denen nur auf die Nerven.
Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich zu viel verlange. Also habe ich für 20 gebetet. Und gegen Morgen tauchte dann ein junger Kerl auf mit einer Kalaschnikow und 75 Patronen in einer Tennistasche. Viele würden gerne hören, dass wir die Maschinenpistole den Tituschki abgenommen haben, während der Kämpfe am 18. Februar. Sie hatten damals Waffen erhalten, um uns zu töten. Aber so war das nicht.
– Ich schoss aus dem vom Maidan aus gesehen letzten Fenster im zweiten Stock, hinter den Säulen hervor. Von hier aus waren die Milizionäre beim Denkmal mit ihren Schilden gut zu sehen. Sie standen gedrängt hinter Sandsäcken, rund 200 Mann, mehr hätten dort nicht hingepasst. Immer wieder stießen Trupps mit Pumpguns vor. Die schossen direkt auf die Barrikaden, knallhart.
Ich habe auf die gezielt, die das Kommando hatten. Hören konnte ich nichts, aber ich sah sie gestikulieren. Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse. Schießen habe ich in der Sowjetarmee gelernt. Ich habe auch eine Ausbildung beim Militärgeheimdienst gemacht. Wir wurden dort für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktgebieten trainiert.
Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse.
Ich habe sie im Genick getroffen, heißt es, und das stimmt. Sie standen zufällig mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht warten, bis sie sich umdrehen. So hatte Gott sie hingestellt, so geschah es.
Die anderen musste ich nicht töten, nur auf die Beine zielen. Ich verließ das Konservatorium und bewegte mich entlang der Barrikaden. Schoss, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten 20 bis 40 Maschinengewehre. Bat die Jungs, einen schmalen Schlitz zwischen den Schutzschilden für mich offen zu lassen. Das wird jetzt mancher nicht gern hören … Die weinten vor Freude. Die wussten, dass wir das unbewaffnet nicht schaffen.
– Ich kam bis zum Gewerkschaftsgebäude, dann hatte ich keine Patronen mehr. Aber es hatte sich bereits herumgesprochen, und die Sicherheitskräfte rannten davon. Sie warfen alles hin. Sie kletterten übereinander weg wie die Ratten.
Nicht alle ihre Einheiten schafften es, den Maidan-Aktivisten zu entkommen. Unsere Jungs kletterten über die Barrikaden und sind hinter ihnen her. Sie nahmen Gefangene, Gruppen von zehn, zwanzig Leuten und führten sie hinter den Maidan, Richtung Kiewer Stadtverwaltung. Die aktivsten von unseren Helden verfolgten sie bis zur Institutsstraße, und dann kam bald der Befehl, auf die Demonstranten zu schießen.
Mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig.
Das war ein schwerer Moment, denn ich wusste, dass ich die Schüsse gegen unsere Jungs aufhalten konnte. Auf dem Maidan versprachen mir ein paar Leute, Patronen zu bringen – ich sage nicht, wer, aber es waren Personen mit einigem Einfluss. Ich glaubte ihnen, lief hin und her … Das waren die schwersten Minuten meines Lebens, ich war völlig hilflos. Es heisst immer, auf dem Maidan gab es viele Waffen. Aber das stimmt nicht. Niemand hätte sonst zugelassen, dass die Miliz auf unsere Leute schießt. Aus meiner Hundertschaft auf der Institutsstraße sind Igor Serdjuk und Bogdan Wajda umgekommen.
– Ich verteidige meine Heimat, mein Volk. Als ich keine Patronen mehr hatte, war das für mich, als hätte man einem Chirurgen das Skalpell genommen. Ein Patient braucht dringend Hilfe, doch der Chirurg hat kein Skalpell … Und der Mensch stirbt vor den Augen des Arztes.
Ich habe in der ATO-Zone Berkut-Leute getroffen, die für die Ukraine kämpfen. Aber ich will nur mit Leuten zu tun haben, die wie ich sind, oder besser. Es gab gewisse brenzlige Momente … Wenn sie bewusst Krieg führen, und nicht für Orden oder Privilegien, dann kann der Krieg eine Läuterung für sie sein. Zu tun haben will ich trotzdem nichts mit ihnen.
Auf dem Maidan sind wir einen Schritt in die richtige Richtung vorangekommen und um eine Erfahrung reicher geworden, die uns weitermachen lässt. Aber mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig. Deswegen will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Und sie mit mir? Nach der Premiere des Films wahrscheinlich schon.
Meine Opfer sind Verbrecher, Feinde. Ich muss reden, damit die anderen wissen, was mit Feinden zu tun ist.“
Informationen und Links:
Bei der Diskussion darum, wer wann auf wen geschossen hat, darf eines nicht vergessen werden: Gegen friedliche Demonstrationen im November und Dezember 2013 setzten Polizei, Spezialeinheiten und der Geheimdienst SBU brutale Gewalt ein. Währenddessen schwollen die kleinen, pro-europäischen Proteste im November zu einer riesigen, landesweiten Protestbewegung an. Ziviler Widerstand und Selbstorganisation kennzeichneten diese größtenteils gewaltfreie Bewegung, an der russischsprachige Ukrainer genauso ihren Anteil hatten wie ukrainischsprachige. Politiker aus Janukowitschs Lager liefen zur Opposition über, seine Machtbasis bröckelte bereits vor dem 20. Februar. All das kann und soll den Einsatz von Gewalt seitens einiger Demonstranten nicht rechtfertigen. Die Ereignisse müssen aber im Zusammenhang gesehen werden.
Daher hier einige Links zu Artikeln und Dokumentationen, die die Proteste und ihre Eskalation zu rekonstruieren versuchen. Die Redaktion beabsichtigt dabei keine einheitliche, widerspruchsfreie Darstellung. Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Ereignisse ist das auch kaum möglich.
Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen: Der russische Präsident erteilte der zuvor oft beschworenen Partnerschaft mit der NATO ein klare Absage und positionierte Russland in unerwartet deutlicher Rhetorik als wiedererstarkte Weltmacht, die in der von ihm propagierten multipolaren Weltordnung ihre eigene Rolle zu spielen gedenke. Wie unerwartet diese Äußerungen für den größten Teil der Zuhörer kamen, ja wie schockierend sie für viele waren, rekonstruierte kürzlich der CICERO: „Die Konferenzgäste tauschen ungläubige Blicke aus, heben die Hände, zucken die Schultern. Alle Gesten fragen dasselbe: Was soll das?“ Manche, berichtet der Autor des Artikels, sprachen gar vom Beginn eines neuen Kalten Krieges.
Mitte Februar steht nun wieder eine Sicherheitskonferenz in München an, zu der ursprünglich Putin erwartet wurde, nun aber wohl doch Premierminister Medwedew oder Außenminister Lawrow fahren werden – letzte Klarheit darüber, wer die russische Delegation leiten wird, scheint noch nicht erreicht. Die Tatsache, dass Putin kürzlich der BILD ein ausführliches programmatisches Interview gegeben hat, lässt vermuten, dass auch die diesjährige Konferenz den Rahmen für eine russische Standortbestimmung bieten könnte. In welcher Weise könnte Russland die heißen Eisen Ukraine, europäische Sicherheit, Terrorismus in der derzeitigen angespannten Situation handhaben? Wird versucht, einen neuen Dialog mit dem Westen anzuknüpfen, oder stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation? Darüber macht sich Wladimir Frolow für SLON Gedanken.
Wladimir Putin wurde zur alljährlichen Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen, die traditionell im Februar stattfindet. Und obwohl die Teilnahme des russischen Präsidenten noch nicht offiziell bestätigt ist, gibt es Anzeichen, dass seine neue „Münchner Rede“ schon in Arbeit ist. Einmal in seinem letzten Interview in der deutschen Klatschpresse, und in dem neuen Dokumentarfilm Weltordnung, in dem Putin seine Sicht auf die heutige Welt darlegt.
Offenbar will sich Putin mit dem Westen aussprechen, und die neue Münchner Rede ist das ideale Format dafür. So erklärt sich auch die für viele befremdliche Auswahl der Boulevardzeitung BILDals Plattform für ein richtungsweisendes Interview. Die BILD ist eine Botschaft „an die Welt“ und „an die Völker“ (orbi). Der Auftritt auf der Münchner Konferenz eine Botschaft „an die Stadt“ (urbi) – also die westlichen Eliten.
Sagt uns nicht, wie wir leben sollen
Sollte Putin nach München fahren, dann wäre das ein mutiger Schritt. Im Vorjahr hatte man als Abgesandten den russischen Außenminister Sergej Lawrow dorthin geschickt, der vor dem Hintergrund des glänzenden Angriffs russischer „Freiwilliger und Fronturlauber“ auf den Donezker Flughafen und auf Debalzewo [Debalzewe] massivem Widerstand ausgesetzt war, um nicht zu sagen ausgelacht wurde. Das Publikum dort ist gnadenlos, und Antworten auf Zuhörerfragen gehören zum Format.
Im Laufe des Jahres ist aber, insbesondere seit dem Einsatz Russlands in Syrien, das Beziehungsklima zwischen Russland und dem Westen etwas milder geworden, und neuerliche Widerstände in München wird es wohl nicht geben. Auch weil Putin ein erfahrener Polemiker ist und auf unbequeme Fragen zu antworten weiß. In letzter Zeit allerdings klingt es immer mehr nach einem „sagt uns nicht, wie wir leben sollen“.
Die letzten Auftritte des russischen Präsidenten bestanden vorwiegend in der Aufzählung wohlbekannter Kränkungen, die der arglistige Westen, allen voran die USA, Russland zugefügt hat: die Ausweitung der NATO, die militärischen Interventionen in Jugoslawien, im Irak und in Libyen, die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo, der vom CIA initiierte Arabische Frühling und die Destabilisierung des Nahen Ostens, der Ausbau der Raketenabwehr in Europa und Asien, der „Staatsstreich in Kiew“ und die „dumme Verhängung von Sanktionen gegen Russland“.
Doch dieses sentimentale Narrativ ist vor allem faktisch nicht ganz korrekt.
Der Streit um angebliche Versprechen, nach der Wiedervereinigung Deutschlands die NATO nicht Richtung Osten auszuweiten, ist schon lange beigelegt. Derartige Versprechen, geschweige denn Verpflichtungen, hat es einfach nie gegeben: Im Jahr 1990 hatte niemand an eine NATO-Osterweiterung gedacht. Es gab lediglich das Versprechen, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine Truppen anderer NATO-Länder bereitzustellen (die Armee der BRD betraf das nicht).
Ausreichend wirksam verfocht Russland seine Sicherheitsinteressen in der Grundakte von 1997, in der verankert wurde, dass auf dem Territorium neuer NATO-Mitglieder keine Atomwaffen, keine militärische Infrastruktur und keine wesentlichen Truppenkontingente stationiert werden. Diese Garantien werden bis dato eingehalten. Ungeachtet dessen, dass einzelne NATO-Mitglieder versuchen, sie als Reaktion auf Russlands Vorgehen in der Ukraine und sein demonstratives militärisches Muskelspiel an den Nato-Grenzen aufzuheben.
Doch derartige Zwistigkeiten interessieren heute kaum jemanden, etwas Neues muss her. Was genau hat Moskau im Angebot?
Der erboste Moralapostel
In den 70er und 80er Jahren bestand eine Tradition der sowjetischen Außenpolitik darin, dass die UdSSR-Führung bei internationalen Themen stets öffentlich mit großangelegten Initiativen zur Friedensthematik auftrat (meistens ging es um atomare Abrüstung). Diese Initiativen wurden sodann auf internationalen Foren und in bilateralen Verhandlungen diskutiert und weiterentwickelt. Doch Wladimir Putin bringt in letzter Zeit nichts dergleichen hervor, abgesehen von seinem nicht auf Gegenliebe stoßenden Vorschlag an die UNO, gegen die in Russland verbotene Terrororganisation ISIS eine „neue Anti-Hitler-Koalition“ zu gründen. Ansonsten gibt es lediglich Versuche, den Westen mit Moralpredigten zu belehren.
Wie der Politologe Iwan Krastew feststellt, wirkt Wladimir Putin im Film Weltordnung wie ein „erboster Moralapostel“, der die Außenwelt wie ein „Familiendrama um Liebe, Hass und Verrat“ betrachtet. Russlands Außenpolitik der letzten Jahre beschreibt Krastew als „Großmachtsgefühlsduselei“, die sich nicht auf nüchternes Kalkül von Interessen stützt, sondern auf Kränkung durch Ungerechtigkeit.
Moskau ist der Ansicht, das europäische Sicherheitssystem befinde sich aufgrund der Osterweiterung von NATO und EU in der Krise. Diese Politik bedrohe die Interessen Russlands, das geradezu gezwungen gewesen sei, über die Angliederung der Krim und die Unterstützung der Aufständischen im Donezbecken Gewalt anzuwenden, um „eine weitere Expansion westlicher Bündnisse auf für Moskau überlebenswichtige Territorien aufzuhalten …“.
Damit möchte Moskau natürlich dem Westen gegenüber rechtfertigen, dass es 2014 in der Ukraine die Hölle anfachte, anstatt, wie 2005, mit der bestehenden Regierung zu verhandeln. Doch für den Westen funktioniert diese Logik nicht. Die europäische Ordnung sah definitiv stabil und sicher aus. Die Probleme begannen 2014, und es war völlig klar, wer sie lostrat.
Die Frage der Agenda
Doch was kann das europäische Sicherheitssystem ersetzen, und wie kann das Sicherheitsvakuum gefüllt werden? Putin sagt im Großen und Ganzen, man hätte die mittel- und osteuropäischen Länder nicht in die NATO aufnehmen, sondern etwas „Neues, Gemeinsames, Europa Vereinendes“ schaffen sollen. Damit führt er quasi von Neuem die Breschnew-Doktrin ein: eine beschränkte Souveränität der zwischen Russland und Westeuropa liegenden europäischen Staaten – in einer Form, die sich nun schon weit über den postsowjetischen Raum hinaus erstreckt.
Gleichzeitig leistet sich Putin ein paar ziemlich unvorsichtige Aussagen. Zum Beispiel spricht er von der Priorität „menschlicher Schicksale“ vor Grenzen, vom Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Völker vor der Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates. Wogegen Moskau mit dem Konflikt im Nordkaukasus die gesamten 1990er Jahre hindurch deutlich verstieß. Ganz abgesehen vom „Prinzip der Gerechtigkeit“, das er zur Lösung territorialer Unstimmigkeiten ins Instrumentarium der russischen Politik übernahm (nun ja, Japan könnte ihm beipflichten).
Mit einem solchen Ideensortiment kann man in München nicht auf Erfolg zählen, und der Kreml wird sich für all diese mehrdeutigen Thesen eine unschuldigere Interpretation überlegen müssen. Eine positive Agenda von russischer Seite steht noch aus.
Die NATO auflösen?
Vielleicht hat Moskau vor, dem Westen eine aktualisierte Version des Vertrags über europäische Sicherheit vorzulegen – dieser Vertrag war die erste außenpolitische Initiative von Präsident Medwedew, sehr feierlich am 5. Juni 2008 in Berlin verkündet und bisher der fundierteste Vorschlag der Russischen Föderation zur Modernisierung des europäischen Sicherheitssystems. Er sollte eine Mischung darstellen aus Nichtangriffspakten vom Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928) und den Statuten des Völkerbundes. Er schlug – gestützt auf die These einer geeinten und unteilbaren Sicherheit – ein Beratungssystem der Mitgliedsländer vor, das Russland ein schlecht verschleiertes Vetorecht gegen alle Unternehmungen der NATO eingeräumt hätte.
Das ist natürlich besser, als NATO und EU aufzulösen oder ein neues Jalta-Abkommen über die Aufteilung der Einflusssphären zu schließen. Doch der Westen braucht einen solchen Vertrag nicht, insofern ist hier kein Erfolg zu erwarten. Außerdem wird Putin wohl kaum mit dem Ziel nach München fliegen, die gescheiterte Initiative Medwedews fortzuführen.
Vor dem Hintergrund des Feldzugs in Syrien ist zu erwarten, dass Putin in seiner Münchner Rede den Schwerpunkt darauf setzen wird, gemeinsam mit dem Westen den internationalen Terrorismus im Nahen Osten und in Afghanistan zu bekämpfen. Erst recht, weil in dieser Hinsicht bereits erste Schritte mit Frankreich gemacht worden sind, was Syrien betrifft (Putin bezeichnete französische Militärangehörige als „Verbündete“), und manche Vorzeichen auch für eine solche Entwicklung in Libyen sprechen.
Moskau formuliert derzeit neue Organisationsprinzipien seiner Außenpolitik: Maßnahmen gegen die Verbreitung von Chaos und den Zusammenbruch des Staatswesens sowie die Aufrechterhaltung der staatlichen Kontrolle in denjenigen Regionen, die für die Russische Föderation von existentiellem Interesse sind. Hier wird dem Anspruch nach eine neue außenpolitische Doktrin formuliert, die im Gegensatz zur amerikanischen Doktrin der „Förderung von Demokratie“ steht. Stattdessen bietet Moskau die Erhaltung und Festigung autoritärer Regime als schrittweisen Übergang zu einer Demokratie mit „nationaler Färbung“. Das ist natürlich eine globale Agenda, die Agenda einer Supermacht. Aber mit Europas Sicherheit steht sie indirekt dennoch in Zusammenhang.
Taktik der kleinen Schritte
In München will man jedoch etwas anderes hören: vor allem von einem Ende des Konflikts in der Ostukraine. Aber alles hängt am Unwillen Moskaus, sich auf die Demontage der „Volksrepubliken“ einzulassen. Und Anzeichen, dass man diese Position überdenkt, gibt es bislang nicht. Eher setzt man darauf, dass durch Kiews Verschulden die Verhandlungen scheitern und die Sanktionen aufgehoben werden, weil Minsk II (die Wiedererlangung der Kontrolle über die Grenze zur Russischen Föderation) von Seiten der Ukraine nicht erfüllt werden kann.
Wenn Wladimir Putin den Dialog mit dem Westen über Sicherheit wiederaufzunehmen und das unglückliche Kapitel „Ukraine“ irgendwie zu beenden gedenkt, sollte er Themen wie Geopolitik, Aufteilung von Einflusssphären, neue Weltordnung und Umformatierung der bestehenden europäischen Sicherheitsstrukturen lieber vermeiden.
Wenn aber der russischen Regierung die konfrontative Atmosphäre des Blockdenkens lieber ist, dann gibt es keinen besseren Weg, die eigene Bedeutsamkeit auf den Status einer Supermacht zu heben, als den, mit der NATO über Rüstungsbeschränkungen zu verhandeln.
Der Sorge darüber, dass die jeweiligen militärischen Infrastrukturen territorial wieder näher aneinander heranrücken, kann durch eine Modernisierung des Wiener Dokuments entgegengetreten werden: zum Beispiel, indem man die Anforderungen verschärft, dass geplante Manöver – eben auch jene, die zur Überprüfung der Kampfbereitschaft überraschend durchgeführt werden – unbedingt angekündigt werden müssen, sowie durch neue Abkommen über die Abwehr militärischer Vorfälle im Luftraum und auf See.
Man könnte weitergehen und die Verhandlungen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa wiederaufnehmen (2015 hat Russland seine Mitwirkung an den Mechanismen des KSE-Vertrags aufgekündigt) und neue Beschränkungen für den Aufbau schwerer Waffen ausarbeiten, durch die die Angst vor einem plötzlichen Einmarsch sinken würde. Man könnte den Dialog über Raketenabwehr und den Austausch von Daten zu Raketenstarts, über die Art der Bedrohung durch Raketen und das Zusammenspiel der Systeme von NATO und Russland weiterführen.
Auf dem Gebiet der Sicherheit gibt es eine gemeinsame Agenda, mit der man sich befassen könnte, um so allmählich wieder Vertrauen aufzubauen. Würde Putin den Akzent auf eine reale, nicht auf eine fiktive Agenda setzen, auf eine Rückkehr zur Taktik der kleinen, aber konsequenten Schritte, auf Berechenbarkeit, so würde seine zweite Münchner Rede bedeutender werden als die erste. Sofern er sich überhaupt zu dieser Reise entschließt.