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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Trump ein Agent Putins?

    Trump ein Agent Putins?

    Putin und Trump auf Kuschelkurs? Putin bezeichnet den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten als „talentierten Politiker“, Trump äußert Verständnis für die russische Angliederung der Krim. Trumps Wahlkampfchef Manafort war zudem lange Jahre Berater des ukrainischen Ex-Präsidenten Janukowitsch (der sich nach seinem Sturz im Februar 2014 nach Russland absetzte).

    Für viel Aufregung im Clinton-Lager sorgte zuletzt außerdem die Veröffentlichung sensibler E-Mail-Kommunikation der Demokraten auf der Plattform Wiki Leaks – laut FBI das Werk russischer Hacker.

    Aber heißt das gleich, dass Trump im Auftrag Moskaus agiert? Ein paar unklare Momente gebe es zwar, meint der Politologe Wladimir Frolow, aber den US-Wahlkampf lenke der Kreml sicherlich nicht. Ihm nutze Trump vielmehr innenpolitisch.

    Donald Trump geschultert von Putin? – Bild © DonkeyHotey/flickr.com
    Donald Trump geschultert von Putin? – Bild © DonkeyHotey/flickr.com

    Im New-York-Times-Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Donald Trump wurden Positionen laut, die mit den außenpolitischen Interessen Russlands überaus stark im Einklang stehen. Das Interview schlug in den USA ein wie eine Bombe und hat in den führenden Print- und Internetausgaben für eine Flut von Kommentaren gesorgt. Die meisten Experten kommen zu einem wenig tröstlichen Schluss: Trump handelt, vielleicht nicht einmal willentlich, im Interesse Russlands.

    Der US-amerikanische Politologe Sam Greene meint, man könne beim Thema „Trump ist ein Agent Putins“ – was natürlich Unsinn ist – schon von einem Medienhype sprechen.

    Sollte man das nicht etwa begrüßen?

    Moskau dürfte vieles von dem gefallen, was Trump sagt. Seine außenpolitischen Einfälle könnten die Stellung der USA in der Welt bedeutend schwächen und die Beziehungen zu den wichtigsten Partnern der USA in Europa und Asien zerstören. Das wiederum würde den amerikanischen Druck auf Russland verringern.

    Von den Absichten Trumps und seiner Mannschaft ist Folgendes bekannt: Er möchte die US-Verpflichtungen im Sicherheitsbereich beträchtlich einschränken (darunter auch die atomaren Sicherheitsgarantien für die NATO-Staaten, Japan und Südkorea); er möchte von der „Demokratieförderung“ im Ausland und dem Sturz autoritärer Regime Abstand nehmen; in Syrien möchte er mit Präsident Assad und mit Russland gegen den Islamischen Staat zusammenarbeiten; er möchte der Ukraine keine amerikanischen tödlichen Waffen zur Verfügung stellen, und er möchte zur russischen Führung konstruktive Beziehungen aufbauen.

    In den Versprechen Trumps, die Beziehungen zu Russland als einer „Supermacht“ wiederherzustellen, sieht Moskau die Bereitschaft, das Recht Moskaus auf seine Interessensphäre im postsowjetischen Raum anzuerkennen.

    Wenn der möglicherweise zukünftige US-Präsident erklärt, dass die Sicherheitsgarantien der NATO erst nach einer Wirtschaftlichkeitsprüfung greifen sollten, dann bedeutet das auch ein Ende des auf die NATO konzentrierten Sicherheitssystems in Europa. Davon konnte Moskau bislang nur träumen.

    Wenn Newt Gingrich, Mitglied des Trump-Teams und einst vehementer Befürworter einer NATO-Erweiterung, sagt, die USA würden wegen Estland, das „in den Vororten von St. Petersburg“ liegt, keinen Atomkrieg anfangen, was ist das dann bitteschön anderes als eine deutliche Anerkennung der russischen Einflusssphäre?

    Wie meinte doch Präsident Putin, der Trump im Laufe des vergangenen Jahres zwei Mal als „markanten und talentierten Politiker“ bezeichnet hat: „Sollte man das nicht etwa begrüßen?“

    Dubiose Berater

    Die Frage ist nur, ob Moskau deswegen etwas mit der Kandidatur Trumps zu tun hat und ob es dessen Wahlkampf unterstützt, was einen Verstoß gegen US-Gesetze darstellen würde. Ergäbe sich diese Möglichkeit, würde der Kreml sie natürlich mit Freuden nutzen. Schließlich geht man im Kreml davon aus, dass die USA und die EU auf eben diese Weise vorgehen, wenn sie prorussische Führer in den postsowjetischen Weiten oder im Nahen und Mittleren Osten absetzen. Tatsächlich aber hat Moskau solche Möglichkeiten nicht.

    Die USA sind nicht Frankreich, wo Oppositionsparteien wie der Front National von Marine Le Pen bei ausländischen Banken Millionenkredite aufnehmen können. In Amerika ist eine ausländische Wahlkampffinanzierung streng verboten.

    Andeutungen, das Unternehmensimperium von Trump und folglich auch sein Wahlkampf seien wohl von russischen Geldern abhängig, scheinen wenig zu beweisen. Tatsächliche Spuren, dass Trump kommerzielle Projekte in Russland oder mit russischer Beteiligung verfolgt, sind ebenfalls nicht zu finden. Es stimmt zwar, dass er in Moskau einen Trump-Tower bauen wollte; dazu gekommen ist es allerdings nicht.

    Manafort und Moskau

    Viel gesprochen wird von Moskaus Einfluss auf Paul Manafort, Trumps Wahlkampfchef. Als Begründung dient hier, dass Manafort einige Jahre als Medienberater von Viktor Janukowitsch gearbeitet hat, als jener noch Ministerpräsident und dann Präsident der Ukraine war. Wer hieraus eilige Schlüsse zieht, übersieht, dass der Kreml all die Jahre eine Entlassung Manaforts erwirken wollte, da dieser als amerikanischer Einflusskanal betrachtet wurde (hierin lag auch einer der Gründe für Moskaus Misstrauen gegenüber Janukowitsch). Janukowitsch hatte anscheinend verstanden, dass der Kreml dadurch seine Kontrolle über ihn zu stärken suchte, und hat Manafort daher nicht gefeuert.

    Eine politische Rolle hat der amerikanische Berater in keiner Weise gespielt. Vielmehr verfolgte Manafort in der Ukraine seine unternehmerischen Ambitionen, für die seine Verbindungen zu Janukowitschs Beamten und Bürokraten die Grundlage bildeten.

    Mit anderen Worten: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Manafort heute unter dem Einfluss Moskaus steht.

    Eine eingehende Betrachtung verdient allerdings jene mysteriöse Geschichte, dass auf dem Parteitag der Republikaner Änderungen im außenpolitischen Programm der Partei vorgenommen wurden. Aufgrund einer direkten Intervention nicht näher genannter Berater Trumps wurde aus dem Programm die Forderung gestrichen, der Ukraine tödliche, US-amerikanische Waffen zu liefern.

    Wer und was hinter dieser Korrektur der Ukraine-Passage steht, ist eine spannende Frage, und hier gibt es Anlass zum Verdacht. Eine direkte Initiative Moskaus scheint es eher nicht gegeben zu haben. Ob es aber mit Hilfe Dritter informelle Konsultationen mit der russischen Botschaft in Washington gegeben hat, könnte wohl Gegenstand einer Untersuchung durch das FBI werden.

    Russlands Spur bei den US-Wahlen

    Zumindest ansatzweise reale Anhaltspunkte für Versuche Russlands, die Präsidentschaftswahlen in den USA zu beeinflussen, finden sich allenfalls in der skandalösen Veröffentlichung des E-Mail-Verkehrs des Democratic National Committee auf der Website WikiLeaks. Die Mails waren von zwei Hacker-Gruppen erbeutet worden, die wiederum US-amerikanischen Cybersecurity-Experten zufolge mit den russischen Geheimdiensten in Verbindung stehen. Zeitpunkt der Veröffentlichung (gleich nach dem Parteitag der Republikaner und kurz vor dem der Demokraten) und Inhalt des vorgelegten Materials zeugen von der Absicht, Clintons Ruf konkret zu schaden. Clintons Wahlkampfteam holte zum Gegenangriff aus: Robby Mook, Kampagnenleiter der Demokraten, beschuldigte in einer Livesendung Russland, sich zugunsten von Donald Trump in den US-Wahlkampf einzumischen.     

    Tatsächlich sieht die Geschichte mit dem Klau und der Verbreitung der E-Mails aus der demokratischen Parteizentrale wie eine klassische „aktive Maßnahme“ aus: Platzierung von kompromittierendem Material, Bloßstellung des zu belastenden Objektes, Demoralisierung seiner Anhängerschaft, indirekte Stärkung der Position des Bündnispartners. Doch zu behaupten, das werde einen Einfluss auf das Wahlergebnis haben, wäre unzulässig.

    Mal angenommen, die Idee zu dieser Aktion stamme aus Russland, so zeugt sie doch von absolutem Unverständnis der Mechanismen amerikanischer Innenpolitik und inadäquater Bewertung der Einflussmöglichkeiten. So etwas wird in einem Land mit 300 Millionen Einwohnern, freien Medien und einem Milliarden-Dollar-Budget für Wahlkampagnen wohl kaum etwas ändern können.

    Wenn es um ein bescheideneres Ziel gegangen wäre – einen Vergeltungsschlag gegen die US-Präsidentschaftskandidatin für den Versuch, mit dem Datenleak der Panama Papers (hinter deren Veröffentlichung Moskau die US-amerikanischen Geheimdienste vermutet) die russische Staatsführung zu diskreditieren, dann kann man eine solche „aktive Maßnahme“ durchaus als erfolgreich bezeichnen. Viel Lärm, die Führung zufrieden, praktischer Effekt gleich Null. Doch mit dem hat man auch kaum gerechnet. Bringt man das aber mit Trump in Verbindung, das heißt nimmt man an, er habe von der Top Secret-Aktion des russischen Geheimdienstes gewusst – dann ist das schon die reinste Verschwörungstheorie.      

    Mit Wettrüsten zermürben

    Die offiziellen russischen Medien machen kein Hehl aus ihrer Sympathie für Trump und ihrer negativen Einstellung gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton. Doch ist das bereits ein Hinweis darauf, dass Russland Trump unterstützt? Nein. Wer sieht sich in den USA schon Nachrichten auf Russisch an? Sogar das englischsprachige RT, das „für Trump feuert“, hat in den USA ein so unbedeutendes Publikum, dass es lächerlich wäre, von einem wie auch immer gearteten Effekt auf die Wahlen zu sprechen.

    Der Grund, warum das russische Fernsehen den republikanischen Kandidaten unterstützt, liegt in der russischen Innenpolitik: Es ist lediglich ein weiteres Mittel, die Regierung Russlands zu legitimieren, wenn sogar ein US-Präsidentschaftskandidat sagt, dass Wladimir Putin eine starke Führungsfigur ist und alles richtig macht. Ein äußerst überzeugendes Argument für den einfachen Bürger Russlands.

    Die viel wichtigere Frage ist, wie Trump im Fall eines Wahlsieges sein außenpolitisches Programm in die Tat umsetzen wird. Die Realisierung seiner außenpolitischen Pläne wird die globalen Turbulenzen nur verstärken, zu akuten regionalen Krisen und zur Verbreitung von Nuklearwaffen führen. Bei aller Attraktivität der Schwächung globaler Positionen der USA entspricht das nicht den Interessen Russlands.

    Andererseits werden einzelne Aspekte von Trumps Konzepten bereits von Obama umgesetzt – etwa der Verzicht auf die Lieferung tödlicher Waffen in die Ukraine und die Ablehnung eines gewaltsamen Sturzes der Regierung Assads in Syrien. Tradition haben in der amerikanischen Außenpolitik außerdem die Forderungen, den Beitrag der Bündnispartner zur gemeinsamen Verteidigung mit den USA zu erhöhen.

    Moskau betrachtet die Präsidentschaft Trumps vorerst als Window of Opportunities in einem Manöver, bei dem man annimmt, von einer Präsidentschaft Clintons sei außer einer noch schärferen Konfrontation nicht viel zu erwarten. Das Problem der „Unerfahrenheit Trumps“ ist Moskau bewusst. Und es bestehen Befürchtungen: Könnten seine populistischen Aufrufe, „Amerika wieder groß zu machen“ (Make America Great Again), zu einem Versuch ausarten – in Reminiszenz an die erste Amtszeit Reagans – die führende Position der USA wiederherzustellen und Russland durch ein Wettrüsten zu zermürben?



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  • Disneyland für Patrioten

    Disneyland für Patrioten

    Gerade ist wieder ein Zeppelin mit neuen Gästen aus Moskau gelandet, der Panorama-Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete schaukelt Besucher durch den Park, während der Reichstags-Nachbau erstürmt wird oder auf der maßstabsgetreuen Kopie des Roten Platzes eine Übung für die Militärparade am 9. Mai stattfindet – so könnte es demnächst aussehen im Freizeitpark Patriot, den das russische Verteidigungsministerium derzeit vor den Toren Moskaus errichten lässt. Was man auf dem über 5000 Hektar großen Gelände (25 Mal der Berliner Tiergarten) als Besucher bereits geboten bekommt, berichtet Dimitri Okrest auf Snob:

    „Wir müssen unsere Zukunft auf ein stabiles Fundament stellen. Ein solches Fundament ist der Patriotismus. Selbst wenn wir noch so lange darüber debattieren würden, was für ein Fundament, welche feste moralische Basis unser Land haben könnte, wir würden auf nichts Anderes kommen“, erklärte im September 2012 auf einem Empfang für die Jugend in Krasnodar Wladimir Putin. 

    Jetzt zieren die Worte des Präsidenten ein Werbeplakat an der Autobahn M1, das für den Park Patriot wirbt. Der Park ist zwar erst zu 10 Prozent fertig, empfängt aber schon Besucher. Das Getöse hier flaut nie ab, und jetzt ist auch noch der Lärm der Bagger dazugekommen. Die Fläche des Parks beträgt 5500 Hektar, 100.000 Quadratmeter davon sind mit Ausstellungspavillons bebaut. Der Park soll 20.000 Patrioten täglich begrüßen können – ihnen zuliebe wurde der angrenzende Wald für 6000 Autoparkplätze niedergewalzt. Vorläufig kommen jedoch in halbleeren Marschrutkas meist zentralasiatische Bauarbeiter.

    „Ich war früher Lehrer, er war Musiker und der da Arzt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeiten wir aber alle mehr mit Schaufel und Beton M-300“, erzählt Abdugan, der seit Anfang des Jahres am Park mitbaut.

    Abdugan muss das Projekt zusammen mit seinen Landsleuten bis 2020 vollenden, Verstärkung ist vorhanden: In den Wäldern der Umgebung sind 650 Einheiten von Militärgerät und zwei Baubrigaden stationiert. Die Baustelle, so die Bewohner der umliegenden Dörfer, ist auch nachts in Betrieb. Im Frühling hat Abdugan das „Partisanendorf“ fertiggestellt. Das ist die bisher einzige fertiggestellte Attraktion – bis zu diesem Zielpunkt rumpelt die Marschrutka durch Morast und Bauschutt.

    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest
    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest

    Ein Security in schwarzer Uniform rückt sein Barett zurecht. Pünktlich um 10:00 Uhr öffnet er das Tor zum Park. Dann steht er wie erstarrt an der Metalldetektorschleuse und wartet auf Besucher. Gegen 10:00 Uhr fegen die einen Usbekinnen alles zum x-ten Mal durch, während die anderen ihre Plätze an der Kasse einnehmen. Es gibt noch gar keine offiziellen Eintrittskarten in den Park, doch einzelne Gäste schauen schon mal vorbei.

    Partisanen-Darsteller in Rotarmisten-Uniform

    Das Vergnügungs-Partisanendorf soll den Alltag der Untergrundkämpfer zeigen und dem Betrachter das Gefühl geben, dabei zu sein. Die Partisanen hier versuchen, die historische Wahrheit treu nachzustellen – in den Erdhütten liegen Wattejacken, die Bücher sind auf die 30er Jahre datiert. Entlang der makellosen Blockhütten aus noch nicht nachgedunkeltem Holz spazieren Widerstandskämpfer in Rotarmisten-Uniform herum. Auf dem Kopf ein Schiffchen und an den Füßen ungeachtet der brütenden Hitze hohe Stiefel. Ist ja schnurzpieps, dass die Partisanen von Brjansk damals eher wie Bauern und nicht wie Kämpfer der Roten Armee aussahen.

    Hier gibt es einen Keller mit Gurkengläsern und gekeimten Kartoffeln, eine Rote Ecke mit einer Lenin-Büste, einen Stall für sechs Kaninchen, eine Banja und ein Gasthaus. Irgendwo im Abseits finden sich Eisenbahnschienen, an denen Schülern einer Diversantenschule gezeigt bekommen, wie man dort Dynamit befestigt, um deutsche faschistische Okkupanten in die Luft zu jagen.

    „Was ist denn das für ein Keller?“, fragt ein kleines Mädchen, auf Papas Schoß in einer Erdhöhle sitzend.

    „Hier lebten die Onkel und Tanten Partisanen. Damals war ein grooooßer Krieg. Es gab keine Freundschaften, alle haben gekämpft.“

    „Und wer ist das auf dem Foto?“ Die Kleine zeigt auf das Portrait Josef Stalins, das in jedem Bunker hängt.

    „Das ist ein Foto von Stalin, der aaaalle anführte.“

    „Und wo ist dann das Foto von Putin?“

    Armee-Merchandise und Grütze mit Dosenfleisch

    Zwischen Dynamit-Attrappen, Landkarten und Aluminiumgeschirr leuchtet ein LCD-Fernseher, die Stimme aus dem Off erzählt: „Während die Partisanen von Putywl bis in die Karpaten vordrangen, änderten sie die Taktik. Sie verübten nicht mehr nur Anschläge und Sabotageakte, sondern hatten nun genügend Schlagkraft, um die faschistischen Truppen in deren Hinterland zu treffen. Sie befreiten Dörfer und sogar Städte, in denen sie die bittere Wahrheit über die Brutalität der Besatzer zu hören bekamen.“

    „Die Magnet-Buttons mit der Topol-M kosten 300 Rubel [4 Euro], die T-Shirts mit dem Partisanen-Opa 1000 Rubel [13,70 Euro]“, sagt die Verkäuferin in ihrer grünen Uniform müde. Zu Mittag ist die Hitze sogar im Wald unerträglich.  

    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt
    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt

    Die Verkäuferin hängt gelangweilt am Ausgang des runden Shops herum, der wie eine Hobbithöhle aussieht, niemand steht nach den Spielzeugsoldaten Schlange. Bei großen Veranstaltungen wurden hier schon massenweise Putin-T-Shirts und Schokokonfekt der Sorte Höfliche Bärchen verkauft, doch heute gibt es die nicht. Seufzend erhebt sich die Verkäuferin bei jedem, der hereinkommt, von ihrer Bank, wartet, bis er wieder geht, und kehrt dann zu ihrem Buch zurück. Über dem Dorf ertönt das Lied des Fahrers an der Front:

    Keine Bombe kann uns schrecken,
    Zum Sterben ist’s zu früh –
    Wir haben zuhaus noch was vor.

    Der hier herumsitzende Partisan lässt sein Smartphone in der Jackentasche verschwinden und drückt die soundsovielte Zigarette aus. Gott sei Dank muss er sich nicht der historischen Authentizität zuliebe Papirossy aus Bauerntabak drehen. Da er als Partisan die ungeschriebenen Gesetze des Parks befolgen und genau wie ein Kellner immer beschäftigt wirken muss, verkrümelt er sich in die Küche – die Glut schüren. Aus der Soldatenkantine, in der eine große Familie mit stämmigen Kindern Platz genommen hat, ist soeben die Bestellung eingegangen:

    „Fünf Mal Würstchen. Schön saftige! Und die Soldaten-Grütze, was ist das? Buchweizengrütze mit Dosenfleisch? Na, dann auch fünf Mal. Wo steht denn der Samogon? Kriegt man hier hundert Gramm, wie an der Front?“

    Der Partisan eilt zum Kohlegrill, das Fleisch braten, und jetzt stellt er plötzlich nicht mehr die Zeit des Zweiten Weltkriegs nach, sondern die 1990er, in denen rechtlose „Geister“ auf die Datschen der Generäle geschickt wurden, um dort private Dienste zu verrichten.

    „Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik“

    Am Rand des Kiefernwaldes donnern Salven: Besucher vergnügen sich beim Schießen mit entschärften Gewehren. Ihnen stehen zur Verfügung: ein Dragunow-Gewehr, Kalaschnikows AK-47 und AK-103, eine Mossinka und eine Witjas Maschinenpistole PP-19-01. Strahlend lächeln Mädchen mit umgehängten Maschinengewehren in die Kameras.

    Der Schießanleiter Nikolai sieht begeistert in die Zukunft und verspricht, dass die langersehnten Parkbesucher bald mit einem Zeppelin aus Chimki hertransportiert werden. Für die Mobilität vor Ort werden Segways und eine Panoramabahn auf Schienen sorgen. Während man im Disneyland von Paris in einer Eisenbahn im Stil des 19. Jahrhunderts durch die Landschaft zieht, lädt man die Gäste des patriotischen Lunaparks zur Fahrt in einem Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete in einem der Waggons ein.  

    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft
    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft

    Im Januar 2015 stand hier noch ein Wald: Die Frösche quakten im Sumpf, im nahen Waldort Sjukowo sammelte man Morcheln. Jetzt ziehen Bauarbeiter eine „Stadt der Militärberufe“ in die Höhe. Im Luftfahrtsektor wird es Flugsimulatoren geben, im Sektor der Kriegsmarine echte Schiffe, bei den Luftlandetruppen ein Übungsfeld für Soldaten und Besucher. Geplant sind auch Sektoren für den Generalstab, die Bodentruppen, Raketentruppen und die Weltraumverteidigung.

    „Dieser Sektor soll der heranwachsenden Generation Patriotismus beibringen, mit einem Thema, das Kinder fasziniert: der Weltraum. Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik. Aufgabe aller Sektoren ist es, künftige Vertragssoldaten und Wehrpflichtige anzuziehen. Im Zentrum des Parks befinden sich die Alexander-Newski-Kirche und die Allee der Helden aller Kriege, die der russischen Armee Ruhm gebracht haben“, heißt es in einem Werbefilm auf Youtube. Ob da auch Teilnehmer an den Kampfeinsätzen in Afghanistan, Tschetschenien, Georgien und Syrien geehrt werden, bleibt unerwähnt. Nebenan wird es ein 3D-Kino geben, wo man die Brester Festung verteidigen oder Sturm auf Berlin nehmen kann.

    Eine Kopie von Kreml und rotem Platz für Militärparaden

    Das Militär wird einen eigenen Kreml mit Mausoleum und Lobnoje Mesto haben – sie wollen im Maßstab 1 : 1 den Roten Platz mitsamt dem Historischen Museum, der Basilius-Kathedrale und dem GUM nachbauen. Die Idee ist, dass dieses gigantische Modell während der Proben für die Parade zum Tag des Sieges am 9. Mai die Hauptstadt entlasten soll. Im Winter soll es hier eine Eisbahn geben, auf der dann Eishockey-Turniere stattfinden, wie sie – seiner aktiven Teilnahme an der Nachthockeyliga nach zu schließen – der Oberste Befehlshaber gern hat.

    Alles passiert unter Zeitdruck: Das Kongresszentrum Patriot-Expo, wo moderne Technik ausgestellt ist und neue Gebäude aus dem Boden wachsen, erinnert an Sotschi vor den Olympischen Spielen. Letzten Sommer fand hier die dreitägige Messe Armee – 2015 statt, auf der 300 Kriegstechnik-Exponate von 1500 einheimischen Herstellern präsentiert wurden. Laut Wjatscheslaw Presnuchin, dem Chef der Abteilung für Wissenschaft und Forschung im Verteidigungsministerium, besteht das wichtigste Ziel darin, Hersteller und Anwender militärischer Produkte an einem Ort zusammenzubringen. Das scheint die ehrlichste Beschreibung der Idee hinter diesem Park zu sein.

    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen
    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen

    Über die gesamte Wand des Kongresszentrums erstreckt sich ein Bildschirm – darauf ein Countdown der Tage bis zu den nächsten Konferenzen. Dann leuchten die Gesichter Putins, Medwedews und Schoigus auf – doch weil der Bildschirm defekte Stellen hat, kann man die oberste Führung nicht sofort erkennen. Die VIP-Gesichter werden von muskelbepackten Kerlen abgelöst, die mit Waffen aller Art schießen, mit Fallschirmen aus Hubschraubern springen und Extremisten liquidieren. Auf dem Dach des Gebäudes funkelt rubinrot ein Stern.  

    Die sich träge fortbewegenden Besucher werden von noch trägeren Wachleuten beobachtet. Die dürfen weder lesen noch rauchen noch Sonnenblumenkerne knabbern. Doch was macht man, wenn man die nächsten acht Stunden absolut nichts zu tun hat? Schatten ist hier auch keiner, also schmoren sie in der Sonne und kaufen sich einer nach dem anderen ein Eis. Und fragen einander per Funk:

    Eskimo am Stiel oder ein Hörnchen?“

    Eis wird von einer Usbekin in einem grünen, torpedoförmigen Anhänger der     Militärhandelsorganisation mit der Aufschrift „Armeequalität“ verkauft. Jeden Tag beginnt sie damit, Snickers, Twix und Mineralwasser der Marke Armee auszulegen. Dann bereitet sie gemächlich Hotdogs (150 Rubel [2 Euro]) und Pommes (50 Rubel [70 Cent]) zu.

    „Möchten Sie nicht vielleicht eine Einmannpackung Militärverpflegung? Nur 700 Rubel [9,60 Euro]! Ganz echt – mit Dosenfleisch, Dosengemüse, Knäckebrot, Fruchtgelee und Schokocreme. Außerdem Streichhölzer, die sogar unter Wasser brennen“, preist die Verkäuferin ihre Ware an. Fotos genau solcher Packungen, die bei Donezk weggeworfen worden waren, haben ukrainische User in sozialen Netzwerken verbreitet. Sie waren für sie ein Beweis, dass die Armee des Nachbarlandes am Konflikt mitmischt.   

    Die Läufe aller Waffen weisen Richtung Westen

    Gleich in der Nähe stehen das Raketensystem Topol [dt. Pappel], eine Panzerfähre auf Ketten und ein Brückenlegefahrzeug. Von der Größe her erinnern sie an kämpfende Ents, die wandelnden Bäume aus Herr der Ringe. Angesichts solcher Riesen wirken die Menschen auf dem Platz wie Zwerge. Neben den Giganten steht das Flugabwehrraketensystem Buk [dt. Buche] – für den Kampf gegen bewegliche aerodynamische Ziele auf geringer und mittlerer Höhe, wie es auf dem Schild heißt. Wahrscheinlich das einzige Modell dieses Flugabwehrraketensystems, das Laien je zu Gesicht bekommen. Das Selbstfahrgeschütz in der Größe eines Lastwagens erlangte im Sommer 2014 Berühmtheit, als eine malaysische Boeing 777 in der Ostukraine vom Himmel fiel.

    Über dem leeren Platz, auf dem Panzer, Schützenpanzer, Kampfjets und anderes Kriegsgerät aufgereiht sind, erschallt eine Melodie, die wir aus Filmen über den Großen Vaterländischen Krieg kennen:

    Die Hütte von Feinden verbrannt  
    Die ganze Familie vernichtet.
    Wohin soll jetzt der Soldat,
    Wem seine Trauer klagen?

    Bis auf die Gedenk-Tracklist und die Georgsbändchen an den Zäunen fehlt das, was man patriotische Symbolik nennt, fast vollständig. Im Patriotenpark ist vorerst alles einfach, wie beim Militär: Das hier ist ein Panzer, der kann schießen und schwimmen. Vor jedem Modell sind akribisch genau seine technischen Daten angeführt – Maße, Geschwindigkeit, Kraftstoffreserve, Standardmunition. Wie viele Menschen damit auf einen Schlag getötet werden können, ist nicht angegeben.    

    „Hey, das sieht echt super aus, wow. Stell dich dazu und leg die Arme um sie“, sagt ein Typ zu seiner Freundin, das Handy knipsbereit. Parallel dazu streicht ein Hobbyfotograf über einen Schützenpanzer BTR-60 mit Frontpanzerung und Strahlenschutz.

    Das Maschinengewehr des BTR weist, wie alle Läufe im Vergnügungspark Patriot, Richtung Westen.

     
    Werbefilm für den Militärpatriotischen Park „Patriot

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  • Russlandphobie-ologie

    Russlandphobie-ologie

    Ab wann ist Russland-Kritik keine Kritik mehr, sondern Russland-Bashing? Wie viel Kritik muss man einstecken können, welche sich auch mal verkneifen? Und wann artet das „Bashing“ in einen regelrechten „Hass“ aus? Das russische Kulturministerium hat einen Forschungswettbewerb ausgeschrieben über „Technologien der Russlandphobie“.

    Leider sind dabei auch die Antworten schon vorgegeben, bedauert Olga Filina in ihrem Beitrag auf Kommersant-Ogonjok – und analysiert Karriere und Wirkung des Begriffs „Russlandphobie“.

    Bild © gemeinfrei
    Bild © gemeinfrei

    Der sowjetische Soziologe Boris Porschnew bemerkte bereits Mitte des 20. Jahrhunderts, mit der Entdeckung des „Feindbilds“ habe die Menschheit einen großen Fund gemacht: Es habe ihre Evolution vorangebracht. Der Durchbruch zum Menschsein sei nämlich erst möglich geworden, indem die Neandertaler zu „den Anderen“, zu „Feinden“ gemacht und dadurch die Konkurrenz vom Antlitz der Erde verdrängt wurde.

    Wie weit diese Hypothese stimmt, ist unbekannt, in der politischen Theorie und Praxis Russlands aber wurde auf die Ausformung eines Feindbildes immer großen Wert gelegt. Nach dem vertrauten Schema: Willst du einen Sprung in die Zukunft tun, finde heraus, wer deine „Feinde“ sind, und dann handle ihnen zum Schaden.    

    Das Kulturministerium als das Amt, das sich um die kulturellen Codes der Nation kümmern soll, erspürte feinfühlig diesen Impuls und schrieb – mit der Erklärung, es reife „nachweislich eine historische Etappe der nationalen Wiedergeburt Russlands heran“ – einen staatlichen Forschungsauftrag zur Erkundung russlandfeindlicher Stimmungen im Land und in der Welt aus. Konkret: Im Internet läuft auf der Plattform für öffentliche Staatsaufträge ein mit 1,9 Millionen Rubel [etwa 27.000 Euro] dotierter Wettbewerb für wissenschaftliche Forschungsarbeiten zum Thema: „Technologien der kulturellen Entrussifizierung (Russlandphobie) und staatlich-institutionelle Reaktionsmöglichkeiten auf diese Herausforderung“. Wer gern Licht in diese wichtige Staatsangelegenheit bringen möchte, ist dazu aufgerufen, bis zum 25. Juli seine Bewerbung einzureichen.

    Und zu tun gibt es viel: Gefordert ist, „Genese und Grundlagen von Phobien offenzulegen“, „das Phänomen der Russlandphobie im Kontext weltweiter Phobiensysteme zu beleuchten“, „Strategeme und Praktiken der Russlandphobie in der Staatspolitik der geopolitischen Gegner Russlands zu rekonstruieren“, „empirisches Material zur innerrussischen Auffächerung der Russlandfeindlichkeit zu systematisieren (Smerdjakowschtschina, Fünfte Kolonne)“ und natürlich verschiedene Analysen am gewonnenen Material vorzunehmen – Problemanalysen, Faktorenanalysen – mit dem Ziel, „praktische Empfehlungen“ zu erarbeiten. Die Zeit drängt (offenbar reift die Wiedergeburt Russlands recht schnell heran), daher erwartet das Ministerium den fertigen Bericht schon im Oktober.

    Offenbar reift die Wiedergeburt Russlands recht schnell heran

    Liest man die Präambel der Aufgabenstellung des Kulturministeriums, so stellt man fest: Hier hat man eine Sammlung bekannter Statements russischer Politiker und Beamter der letzten Monate vor sich, die mit abgehobenen wissenschaftlichen Formulierungen noch künstlich aufgeblasen ist.
    Die Verfasser der Präambel haben sich offensichtlich an Putins Rede beim Treffen des Waldai-Klubs orientiert. Dort warf er die Frage auf nach „der pauschalen Abstempelung [Russlands] und dem Aufbau eines Feindbildes […] durch die Regierungen von Ländern, in denen man doch eigentlich immer den Wert der Redefreiheit predigte“.

    So wie der Präsident die Frage stellte, wirft sie keine Zweifel auf – es ist, wie’s eben ist. Aber danach begannen die schöpferischen Deutungen von Leuten aus dem Staatsapparat oder seiner Nähe, die alle noch ihr eigenes besonderes Scherflein beitragen wollten.

    Bald zeigte sich, dass fast jedes Ministerium und jede Behörde Russlands eine eigene Meinung zum Phänomen der Russophobie und zu deren „Genese und Grundlagen“ hat.

    Ein praktischer Terminus, den sich jeder zurechtbiegen kann

    Zum Beispiel meint das Verteidigungsministerium in seiner geradlinigen Art, hier offiziell vertreten von Igor Konaschenkow, alles liege an der kranken Psyche der US-Militärführung, die sei nämlich in eine „russophobe Hysterie“ verfallen.

    Das Außenministerium in der Person von Maria Sacharowa sieht hinter den aktuellen Entwicklungen pragmatische Interessen: „Russophobie bringt gute Geschäfte, die NATO erhöht ja ihr Budget“.

    Das Kulturministerium, konkret sein Chef Wladimir Medinski, hat bereits mehrmals geäußert, die Wurzeln der Russophobie lägen in einem Wertekonflikt zwischen Russland und dem Westen.

    Schließlich treibt die Staatsduma (insbesondere Alexej Puschkow, Vorsitzender des außenpolitischen Komitees der scheidenden Parlamentsmitglieder) die Idee voran, Russophobie „wandle sich von einer Stimmung zu einer politischen Haltung“ und sei im Grunde ein Instrument zur geopolitischen Einflussnahme.

    Kurz, Russophobie entpuppt sich als einer dieser praktischen Termini, die sich jeder nach seinem Geschmack zurechtbiegen kann, ohne gegen die allgemeine Linie zu verstoßen.  

    Russlandphobie als „clash of civilisations“

    Die Aufgabenstellung des Kulturministeriums hebt die Messlatte der Diskussion nun auf ein neues Niveau, indem sie eine Unterscheidung der Begriffe „Russophobie“ und „Russlandphobie“ fordert. Russophobie wird dabei als etwas Privates und ethnisch Geprägtes gehandelt, Russlandphobie hingegen wörtlich als „Ergebnis des Aufeinanderprallens historischer Projekte, in Huntingtons Terminologie – eines clash of civilisations“. Damit ist Russlandphobie weniger eine Aversion gegen die Russen als gegen die „russische Zivilisation“, die wir ja irgendwie inzwischen auch „russische Welt“ nennen.

    Zum Thema Russlandphobie hat bisher niemand von hohen Tribünen herab etwas verlauten lassen. Insofern kann man die Ausschreibung des Kulturministeriums auch als Auftrag verstehen, den neuen Terminus in den öffentlichen Diskurs einzuführen, ihm eine „wissenschaftliche Grundlage“ zu geben.

    Für diese These spricht, dass die Behörde so klug war, gleich in der Aufgabenstellung der Untersuchung alle notwendigen Ergebnisse vorzugeben (von der Unterscheidung russen- und russlandfeindlicher Stimmungen bis zur Feststellung, die letzteren seien weit verbreitet). Die Forscher müssen für diese Befunde nurmehr das nötige Fundament finden – wofür dann die vorgesehenen drei Monate auch wirklich reichen.  

    Einerseits ist bedauerlich, dass unsere kultivierteste Behörde an einer profunden Analyse der politischen Antipathien, die in der modernen Welt Konflikte und Spannungen schüren, nicht interessiert ist. Andererseits wirkt der Versuch, die Existenz einer besonderen russischen Zivilisation, eines „russischen Projektes“, anhand von „feindlichen Angriffen“ zu beweisen, insgesamt apart. Nach der Menge an russlandfeindlichen Äußerungen zu urteilen, die allein die Ausschreibung dieses öffentlichen Auftrages hervorrief, kann man sagen: Der Streich ist gelungen.  

    Vielleicht diente all das auch nur einem einzigen Zweck: einen Versuchsballon zu starten. Nach Kenntnis von Kommersant-Ogonjok jedenfalls mussten Forscher, die an der Ausführung des Auftrags interessiert waren, vergangene Woche feststellen: Mit der Annahme ihrer Bewerbungen hatte es niemand eilig. Zudem kann der Wettbewerb auch weiterhin noch abgesagt werden. Durchaus möglich, dass das Kulturministerium ein kleines soziales Experiment durchführen wollte, indem es eben einmal einen neuen Begriff ins Spiel brachte – einfach um zu sehen, ob er sich durchsetzen wird, ob er angenommen wird …

    Systematisierung von Phobien

    Auf den ersten Blick könnte das Wort „Russlandphobie“, so abstrus es klingen mag, durchaus ein nützlicher Begriff sein. Es könnte sich weit größerer Nachfrage erfreuen als zum Beispiel das Konzept des „Russländers“, das schon der erste Präsident des Landes erfolglos propagierte.

    Um jemanden als „Russländer“ zu bezeichnen, muss man sicher sein, dass ein Phänomen wie die Staatlichkeit Russlands eine reale, einende Kraft ist. Für die Bezeichnung einer Person als „russlandfeindlich“ hingegen genügt die Annahme, die Welt werde von irrationalen Phobien regiert und Russland betreibe sein eigenes, von der feindlichen (oder zumindest ahnungslosen) Welt losgelöstes, zivilisatorisches Projekt. Letzteres ist uns schon immer leichter gefallen als Ersteres.  

    Die zivilisatorische Komponente des Begriffs „Russlandphobie“ ist nicht unproblematisch. Auch wenn das Kulturministerium klarstellt, dass „derzeit zwischen dem Antikommunismus der Sowjetzeit und der Russlandphobie ein Unterschied gemacht“ wird, beschwört die Aufgliederung in Russen- und Russlandphobie Ideologeme des Kalten Krieges herauf. Sie erlauben es, mit dem einfachen Volk aus dem feindlichen Lager mitzufühlen und das kapitalistische oder sowjetische System, das dieses Volk unterdrückte, zu hassen. Anders gesagt, im Rahmen des Konzepts der Russlandphobie wird angenommen, die Ausländer kämpften nicht gegen die Russen, sondern gegen das russische System. Analog widersetzen wir Russen uns dann nicht „den Pindossy“, sondern ihrer dümmlichen Zivilisation, der wir als Alternative unsere russische Welt entgegenhalten. In gewissem Sinne verleiht das der Polemik, die sich zielstrebig auf das Niveau eines ethnisch motivierten Dorfplatz-Geschimpfes herabbegeben hatte, sogar Kultur.

    Doch während Russo- und Amerikanophobe genug Futter haben – Stereotype nämlich – müssen sich Kontrahenten der russischen Zivilisation erst überlegen, wogegen sie eigentlich Widerstand leisten. Weil die Russen ihr Projekt bisher nicht mal selbst ordentlich definiert haben.

    Auch der Westen entlehnt seine Rhetorik dem Kalten Krieg

    Übrigens versteht auch die ausländische Öffentlichkeit nur mit Mühe, wogegen sie auftritt. In den Reden westlicher Scharfmacher fließen auf wundersame Weise eine dem Kalten Krieg entlehnte Rhetorik, Bilder der tatarisch-mongolischen Invasion und Vorahnungen einer geopolitischen Katastrophe ineinander, zu der die Aktionen Russlands angeblich führen werden.   

    „Ein wichtiger Schluss, den man aus den aktuellen Aussagen westlicher Politiker ziehen kann, ist für uns beruhigend: Das bunte Spektrum an – wie es so schön heißt – ‚russlandfeindlichen‘ Äußerungen ist eher ‚auf den Verkaufserfolg‘ angelegt als zur Mobilisierung der Bevölkerung“, meint Oleg Matweitschew, Philosophieprofessor an der Higher School of Economics. „Das lässt sich leicht beweisen. Wenn ein Feindbild zur Vorbereitung auf eine offene Konfrontation benutzt wird, bemüht man sich immer, den Feind als erbärmlich, entmenschlicht und perspektivlos, letztlich als unbedeutend darzustellen, um das Volk davon zu überzeugen, dass man mit ihm leicht fertig wird. Von Russland spricht man anders: Nicht von einem erbärmlichen Land, sondern von einem furchterregenden, das seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft hat. Solche einschüchternden Bilder paralysieren die Bereitschaft der örtlichen Bevölkerung, gegen den Feind zu kämpfen, dafür erhöhen sie ihre Bereitschaft, den Militäretat aufzustocken. Die kommerzielle Bedeutung der Russlandphobie ist bisher also viel höher als die militärische.“

    Wir bleiben bei der vorgegebenen Richtung, bis auf Weiteres …

    Was eigentlich auch nicht nett ist: Russland wird zur Handelsware, den Gewinn stecken sich aber die anderen ein … Na, immerhin ist das rational erklärbar.

    Und noch etwas ist rational erklärbar: Einfacher, als sich schädlichen Phobien entgegenzustemmen, ist es, sie zu überwinden. Zumal Rezepte dafür auch ohne Ausschreibungen für Forschungsprojekte zugänglich sind, kostenlos.      

    „Die ‚praktischen Empfehlungen zur proaktiven Bekämpfung der Russlandphobie‘, die das Kulturministerium zu bekommen hofft, sind auch so bekannt“, wundert sich Jelena Schestopal, Lehrstuhlinhaberin für Soziologie und Psychologie der Politik an der politikwissenschaftlichen Faktultät der Moskauer Staatlichen Universität. „Das Rezept ist da immer dasselbe: Mehr Kontakt. Damit die Menschen sich nicht gegenseitig dämonisieren, müssen sie miteinander reden: Wir müssen zu ihnen fahren, sie zu uns, das wissenschaftliche und kulturelle Leben muss gemeinsam stattfinden … Und umgekehrt: Je mehr wir uns mit Phobien voneinander abgrenzen, desto fremder werden wir einander.“

    Doch eine so simple Wende in der Auslegung der allgemeinen Linie sieht offenbar keine der amtlichen Interpretationen vor. Wir bleiben also bei der vorgegebenen Richtung. Bis wir neue Vorgaben bekommen …

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  • Verkehrsregeln für russische Medien

    Verkehrsregeln für russische Medien
    Pressefreiheit in Russland – wo verläuft die Linie?  Quelle – fishki.net, gesehen bei Ilya Krasilshchik

    RBC galt lange Zeit als das Investigativmedium Russlands. Mit fundierter Wirtschaftsberichterstattung und Recherchen etwa über Korruption bei Prestige-Bauprojekten, zu Putins familiärem Umfeld oder dem Vorgehen Russlands in Syrien und im Donbass sorgte RBC immer wieder für Aufsehen.

    2009 hatte der Oligarch Michail Prochorow die RBC-Medienholding, zu der ein Onlinemagazin, eine Printausgabe, aber unter anderem auch ein Fernsehsender gehören, in seine Onexim-Group aufgenommen. Unter Direktor Nikolaj Molibog und der neuen Chefredaktion war RBC seit 2013 zum führenden Investigativmedium in Russland aufgestiegen.

    Offensichtlich hatte sich RBC dabei jedoch zu weit vorgewagt: Nach Steuerrazzien in Prochorows Onexim-Group im April kam Mitte Mai der Schlag – die dreiköpfige Chefredaktion des Investigativmediums löste sich auf. Chefredakteur Maxim Soljus war entlassen worden, die beiden anderen, Jelisaweta Ossetinskaja und Roman Badanin, gingen aus Solidarität mit ihm ebenfalls [dekoder bildete die Debatte darüber ab].

    An ihre Stelle traten Jelisaweta Golikowa und Igor Trosnikow, die zuvor unter anderem für die staatliche Nachrichtenagentur TASS gearbeitet hatten. Als die beiden Ende vergangener Woche auf einer Redaktionssitzung anmahnten, im Journalismus seien „Verkehrsregeln“ zu beachten und es dürfe dabei eine gewisse „Linie“ nicht übertreten werden, gelangte ein Mitschnitt an die Presse, eine Abschrift davon wurde veröffentlicht (auch auf Englisch). Es folgte eine Diskussion über Meinungsfreiheit, aber auch darüber, inwiefern andere Medien korrekt handelten, wenn sie die Ausschnitte veröffentlichen.

    Oleg Kaschin kommentiert die Debatte auf slon.ru – und zeichnet das Verhältnis zwischen Macht und Medien im Russland unter Putin nach.

    Eine der größten unabhängigen Zeitungen Russlands hat einmal eine kleine Meldung aus der französischen Le Monde abgedruckt: Die Franzosen schätzten das Privatvermögen des russischen Premiers auf mehrere Milliarden Dollar und die russischen Journalisten befanden diese Information der Veröffentlichung würdig. Auweia, der Premierminister und die Präsidialverwaltung waren da anderer Meinung. Ein privates Blatt hätte das eigentlich getrost ignorieren können, doch plötzlich hieß es, der Hauptaktionär der Zeitung, ein großer russischer Konzern, sei nicht bereit, wegen irgendwelcher Journalisten einen Konflikt mit den Behörden zu riskieren, und wählte zwischen dem Premierminister und dem Chefredakteur der Zeitung, ohne groß zu zögern. Das Geld in den Portemonnaies der Staatsspitze zu zählen, ist für große Medien demnach tabu: doppelt durchgezogene Linie.

    Der Chefredakteur wurde entlassen, gefolgt von praktisch allen leitenden Redakteuren der Zeitung (die später ein neues unabhängiges Medium gründeten), die Zeitung wurde verkauft, der neue Inhaber musste neue Leute suchen – und übrig blieb im Grunde nur der Name.  

    Ein Denkmal für die zerschlagene Medienwelt

    Von Interesse sind vermutlich auch Ort und Zeit der Handlung. Der in dem französischen Beitrag erwähnte Premierminister hieß Viktor Tschernomyrdin, die Zeitung Izvestia, ihr Chefredakteur war Igor Golembiowski, der Aktionär Lukoil. Der Skandal, der die Izvestia beinahe ihre ganze Belegschaft gekostet hat, ereignete sich im April 1997, vor fast 20 Jahren.

    Wahrscheinlich war es der erste Konflikt dieser Art: Die Regierung übt über einen privaten Eigentümer Druck auf die Medien aus, der private Eigentümer sieht sich gezwungen nachzugeben, der Chefredakteur wird entlassen, ein Teil der Journalisten folgt ihm. Diese Technik, die sich unter Putin eingeschliffen hat und jetzt von allen nur noch mit ihm assoziiert wird, kam schon vor seinem Regierungsantritt erstmals zum Einsatz. Und wenn irgendwann mal jemand ein Denkmal setzen will für die unabhängige Presse Russlands, zerschlagen vom Kreml, dann muss dort als erstes Datum das Jahr 1997 eingraviert sein.

    Damals gab keiner der Redaktion die Schuld

    Es wäre jedoch nicht zutreffend zu behaupten, dass bei jenem Zusammenstoß mit der Izvestia alles genauso gewesen ist wie später bei anderen Medien. Das heißt, den Konflikt gab es genauso wie heute, den Druck auf den Aktionär, die Entlassung des Chefredakteurs, den Abgang der Belegschaft, doch etwas war anders: Niemandem in den anderen Medien fiel es in Berichten über den Skandal und in Kommentaren ein, die Schuld am Geschehenen dem Chefredakteur und seinem Team zuzuschieben.

    Golembiowski und seine Mitarbeiter verhielten sich genau wie alle „einzigartigen Journalistenteams“, die folgten, von Jewgeni Kisseljows NTW bis zu Galina Timtschenkos Lenta, doch niemand buhte, niemand lachte sie aus und vor allem sagte niemand, sie hätten ja nunmal wirklich gegen Abmachungen verstoßen, verbotenes Terrain betreten und würden nur zu Recht bestraft. Das gab es ganz bestimmt nicht.  

    „Einzigartiges Journalistenteam“ wurde zum Mem, zum Witz

    „Einzigartiges Journalistenteam“ – um diesen Terminus hat dann erst die Ära Putin jene Technik bereichert, mit der unabhängige Medien zerschlagen werden: Das war im Jahr 2001, der Fall NTW. Vom „einzigartigen Team“ sprach als erstes das Team selbst, als es sich auf eigenen Wunsch hin mit Wladimir Putin traf. Fast zeitgleich begannen diejenigen Medien, die von der Attacke nicht betroffen waren (und die übrigens nicht mehr so waren wie 1997, sondern eine inzwischen maximal kremlloyale Izvestia), die Wörter „einzigartiges Journalistenteam“ bei jeder Gelegenheit zu wiederholen und verwandelten sie innerhalb kürzester Zeit in ein Mem, in einen Witz. Der Begriff selbst schrumpfte durch den aktiven Gebrauch sehr schnell auf seine Abkürzung UShK zusammen (Unikalnyi shurnalistski kollektiw) – es war unmöglich, diese Abkürzung ernsthaft zu verwenden.

    Was ist ein UShK? Das sind Journalisten, die sich viel zu viel aufbürden, die sich dem Glauben an die eigene historische Mission verschrieben haben, obwohl sie in Wirklichkeit bloß die Interessen ihres Eigentümers bedienen, im Fall des damaligen NTW die von Wladimir Gussinski.

    Berechnendes Verfahren oder psychologische Projektion?

    Vermutlich wird man heute nicht mehr feststellen können, was das genau war: eine aufoktroyierte politische Technik, die es ermöglichte, den öffentlichen Unmut über die Zerschlagung des Senders NTW im Keim zu ersticken oder aber eine psychologische Projektion der Journalisten aus anderen Medien? Denen daran lag, in erster Linie sich selbst zu beweisen, dass die Abhängigkeit der Redaktionspolitik vom Eigentümer, die Einmischung der Staatsmacht in die Redaktionspolitik, die Loyalität, die in totale Unterwürfigkeit übergeht – dass dies allgemeine Gegebenheiten sind, die keine Ausnahmen kennen.

    Indem sie sich über die UShKs lustig machte, erklärte die journalistische Gemeinschaft der 2000er Jahre: „Einzigartige Teams“ gibt es nicht, wir sind alle gleich, und die, die so tun, als wären sie anders als wir, werden wir immer hassen und mehr als jede Zensur.

    Heute scheint es, als sei genau das (und nicht etwa die Absetzung der ziemlich langweiligen Sendung Itogi) das wichtigste Ergebnis der NTW-Zerschlagung: Die Regierung hat nicht nur gelernt, mit den Medien fertig zu werden, die nicht ihrem direkten Einfluss unterliegen, sondern auch, die Solidarität der restlichen journalistischen Gemeinschaft zu beschneiden. Denn die zeigte sich gern bereit, sich von den „einzigartigen Teams“ zu distanzieren.

    Kaum jemand spricht mehr von Meinungsfreiheit

    Zum Zeitpunkt der Zerschlagung von RBC (denn die Entlassung von drei der drei Chefredakteure der Mediengruppe ist natürlich nichts anderes als eine Zerschlagung, besonders, wenn man bedenkt, dass es eben diese Chefredakteure waren, die ein nicht besonders einflussreiches Medium mit schwierigem Ruf zur führenden unabhängigen Mediengruppe in Russland gemacht hatten, und dass auch das jetzige Team von eben jenen Chefredakteuren zusammengestellt wurde, die man in diesem Frühjahr entlassen hat) war diese Technik bereits zur Perfektion gebracht. Kaum jemand spricht noch von Meinungsfreiheit, schon gar nicht erlaubt sich irgendwer, die Worte „einzigartiges Team“ in den Mund zu nehmen, und innerhalb der Branche wird erbittert darüber gestritten, ob die Mitschrift eines Treffens zwischen dem zerschlagenen Kollektiv und den neuen aus einer staatlichen Agentur herangeholten Redaktionsleitern in andere Medien durchsickern darf.

    Ein Problem der Gesellschaft, nicht nur der Medien

    Wahrscheinlich ist es aber so, dass das, was im Moment ein Problem der journalistischen Welt zu sein scheint, in Wirklichkeit ein Problem der Gesellschaftsstruktur insgesamt ist:

    Loyalität gegenüber der Staatsmacht, die zu Unterwürfigkeit wird, das Akzeptieren von Regeln, die die Staatsmacht im Alleingang aufstellt und verändert und die Befolgung dieser Regeln; die Alternativlosigkeit zu dieser Staatsmacht und die faktische Unmöglichkeit einer nicht-marginalen Unabhängigkeit von ihr – es wäre seltsam, wenn in einem solchen Koordinatensystem ein vollwertiger Journalismus, eine journalistische Ethik und Gemeinschaft existierten.

    Jeder journalistische Streit ist heute ein Streit um den Umgang mit der Staatsmacht: sich fügen, sich widersetzen oder davonrennen?

    An einzigartigen Journalistenteams gibt es in Russland heute genau eines. Nur ist es riesengroß und auf verschiedene Medien versprengt, aber das hat keine Bedeutung: Medien, die man jederzeit aus dem Kreml anrufen und anbrüllen kann, unterscheiden sich nur in Details voneinander.

    Jeder journalistische Streit ist heute ein Streit um den Umgang mit der Staatsmacht: Soll man mit ihr koexistieren, gegen sie ankämpfen oder vor ihr davonrennen? So formuliert ist die Frage, was vom Durchsickern der RBC-Mitschrift zu halten ist, vielleicht weniger schwierig zu beantworten – versucht es mal.

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  • Pack die Badehose ein

    Pack die Badehose ein

    Zum ersten Mal seit acht Monaten ist am vergangenen Samstag ein russischer Urlaubsflieger wieder im türkischen Antalya gelandet. Zuvor lagen die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf Eis, nachdem die Türkei im November einen russischen Kampfjet an der Grenze zu Syrien abgeschossen hatte. Auch sämtliche Charterflüge in das bei Russen beliebte Urlaubsland waren eingestellt.

    Ende Juni schließlich standen die Zeichen plötzlich wieder auf Annäherung: Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan hatte in einem Brief sein Bedauern über den Abschuss geäußert, kurz darauf gab es ein 40-minütiges Telefonat zwischen Putin und Erdogan. Noch am gleichen Tag ließ der Kreml verlauten, dass Russen wieder in die Türkei reisen könnten, das Charterflugverbot wurde aufgehoben. Für Ende Juli ist nun sogar ein Treffen auf Ministerebene geplant.

    Wie sich mit dem politischen Kurs auch die offizielle Rhetorik auf einen Schlag wieder änderte und warum das schon keinen mehr wundert, analysiert Andrej Archangelski auf slon.ru.

    Der komplette Wandel in den Beziehungen zu einem ganzen Land hängt einzig und allein von einem Anruf Wladimir Putins ab. Das ist keine Neuigkeit, das ist Realität. Wir erinnern uns zum Beispiel daran, wie sich die offizielle Rhetorik nach einem einzigen Satz von Putin änderte: „Nehmen Sie direkten Kontakt zu den Franzosen auf und arbeiten Sie mit ihnen wie mit Verbündeten!“

    Das Beeindruckende ist nicht einmal das Tempo, in dem sich die offizielle Tonart ändert. Vielmehr sind innerhalb der sieben Monate, die seit dem Riss in den Beziehungen zur Türkei vergangen sind, dermaßen viele hässliche Worte über das Nachbarland gefallen, dass man meinen sollte, es gäbe kein Zurück mehr. Zahllose Sprecher, Radio- und Fernsehmoderatoren sowie Experten, die zur weiteren Eskalation der Spannungen zum Einsatz kamen, redeten so, als käme nach ihnen die Sintflut, als würde sich die Situation zu ihren Lebzeiten auf keinen Fall mehr ändern. Das Leben zeigt jedoch, dass sich sogar in so konservativen Bereichen wie den internationalen Beziehungen mehr als einmal pro Jahr etwas tun kann.

    In solchen Momenten treten fundamentale Widersprüche offen zutage: zwischen dem Weltbild dieser Menschen (Russland ist von Feinden umzingelt, und so war das schon immer) und der Wirklichkeit der modernen Welt – in der der Begriff „Feind“ im Grunde genommen gegenüber keinem einzigen Land angemessen ist. Das Wort „Feind“ ist in Bezug auf den internationalen Terrorismus angemessen, darüber herrscht in der Welt Konsens. Was aber die Beziehungen zwischen den Ländern betrifft, so geschieht alles Mögliche, auch Tragisches – doch irgendwann, und sei es erst nach Jahrzehnten, bitten alle auf die eine oder andere Art einander um Entschuldigung, verzeihen ihrerseits und beginnen Gespräche. Weil es anders nicht geht.

    Hate Speech ist reine Formsache

    So blitzartig, wie in Russland die eine Rhetorik von der entgegengesetzten abgelöst wird, drängt sich eine Überlegung auf: nämlich, dass die gesamte gegenwärtige Hate Speech mittlerweile als reine Formsache wahrgenommen wird, als eine Art Konvention. Wie ein Fragment der sowjetischen Doppelmoral: Im Partkom muss man den „faulenden Kapitalismus“ anprangern, und dann kauft man auf dem Schwarzmarkt amerikanische Jeans.

    Als die große Propaganda begann, im Februar/März 2014, konnte man sich gar nicht vorstellen, dass das eine reine Formsache ist. Im Gegenteil, die ganze Wirkung beruhte auf dem Eindruck, dass hier nur echte Gefühle im Spiel seien, eine neue Aufrichtigkeit sozusagen. Entrüstung, Empörung – das alles konnte man doch wohl nicht vortäuschen. Die Vorstellung, dass die Empörung einfach ein Werkzeug ist, das man jeden Moment wieder abschalten kann, hätte vor zwei Jahren noch bedeutet, den Glauben daran zu verlieren, dass auf der Welt überhaupt irgendetwas ernsthaft existiert.    

    Es ist ein schwerer Schlag gegen die Eitelkeit der Benutzer jener Hate Speech, dass die Menschen Propaganda mittlerweile schon als rhetorisches Mittel wahrnehmen: Jedes Mal, wenn das geschieht, wird den Menschen nämlich klar, dass einfach nur ihre Gefühle missbraucht werden (die ihnen eben jene Propaganda untergejubelt hat).

    Wenn der Staat eine 180 Grad-Wende vornimmt, kann man das als „derzeit für uns von Vorteil“ auffassen, doch rein menschlich ist es schwierig, damit zurechtzukommen.

    „Sie waren im Mai in der Türkei? Schämen Sie sich nicht?“, wirft ein regierungstreuer Radiomoderator einem Hörer vor.

    „Ich war nicht bei Erdogan“, antwortet der. „Ich war bei Freunden, die in der Türkei leben.“

    Ein Jubelschrei geht durch die Tourismusbranche

    Es ist bezeichnend, dass die Entspannung ihren Anfang in der Tourismusbranche nahm. In den Medien verbreitete sich schnell, dass diese Branche die Nachricht „mit einem Jubelschrei“ aufgenommen hätte. Auch das ist eine Emotion, nur diesmal eine positive. Und das Wichtigste an dieser Geschichte ist, dass die im Tourismus Beschäftigten ihre Freude nicht verbergen – obwohl ihnen wahrscheinlich klar ist, dass das nicht allen gefallen wird.

    Die Pressesprecherin des Tourismusverbandes sagt im Interview: „Das Charter-Programm (in die Türkei) lässt sich innerhalb eines Monats wieder voll aufnehmen. Und dass die Leute fahren werden, steht sowieso außer Zweifel.“ Ähnliches meint sogar Vizepremierministerin Golodez.

    Der Grund dafür ist ganz einfach: Die Türkei bietet das ideale Preis-Leistungs-Verhältnis für den Touristen aus Russland, sie ist das ganze Jahr über das beliebteste Urlaubsziel. Ein Schlag gegen dieses Ziel bedeutet den langsamen Tod der Branche. Und umgekehrt: Die Wiederaufnahme bedeutet ihr Leben. Wir respektieren die Entscheidung des Staates, sagt die Branche, doch wir machen kein Hehl aus unserer Freude darüber, dass die Welt besser geworden ist und nicht schlechter, und versucht doch mal, uns vorzuwerfen, dass wir uns freuen, dass die Welt besser und nicht schlechter geworden ist.       

    Das Paradox des Lebens in Russland besteht darin, dass es der hiesigen Geschäftswelt lange Zeit nicht nur an politischen, sondern auch an weltanschaulichen Überzeugungen komplett fehlte. Sie konnte nur immer wieder wiederholen: „Wir sind keine Politiker.“

    In den vergangenen Jahren konnten die Unternehmer sich dann davon überzeugen, dass es zwischen Wirtschaft und Politik eine direkte Verbindung gibt. Und dieses Verständnis, so wagen wir zu hoffen, hat wenigstens in manchen Köpfen für einen Umschwung gesorgt. Von der Politik hängt im Fall der Türkei das Leben Tausender Reiseagenturen im ganzen Land ab und außerdem das Befinden von Millionen Touristen.   

    Humanisten und Pazifisten des Jahres 2016: die Reiseveranstalter

    Ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass Pazifismus und Humanismus in Russland keine Tradition haben. Das heißt, sie haben keinen auch nur irgendwie ernstzunehmenden Platz im Massenbewusstsein, ungeachtet dessen, dass diese Wörter in den 80er Jahren gehäuft verwendet worden waren. Die ersten wirklichen Humanisten und Pazifisten des Jahres 2016 waren keine Persönlichkeiten aus Kultur oder Sport, keine Intellektuellen mit Brille oder ohne (manche von ihnen haben sich als Eins-a-Militaristen entpuppt), sondern die völlig neutralen Reiseveranstalter.

    Wer arbeitet im Tourismus? Ganz normale Leute, deren Ansichten man wahrscheinlich größtenteils als patriotisch bezeichnen kann. Andererseits sind sie Menschen von Welt, denen man nicht so leicht einreden kann, dass überall Feinde lauern. Und der Militarismus stellt eine Bedrohung für ihre Branche dar.

    Nimmt man all diese Dinge zusammen, kommt einem unweigerlich das bekannte Zitat von Marx in den Sinn, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Der Jubelschrei bezeugt, dass die Gesellschaft Russlands komplexer geworden ist. Derzeit sind die im Tourismus Beschäftigten die überzeugtesten Humanisten unseres Landes, sie wissen jetzt, warum Frieden besser ist als Krieg, denn sie haben es am eigenen Leib gespürt. Und je weniger Feinde Russland hat, desto besser ist es – für sie und für alle.

    Sobald die Konvention nicht mehr zwingend ist, ist sie plötzlich spurlos verschwunden

    Aufschlussreich wird ein Blick auf die Zahlen der Türkei-Touristen schon im nächsten Monat sein – die werden den Kriegstreibern eine Lehre sein, die dazu aufrufen, „trotzdem keinen Urlaub in der Türkei zu machen“. Ausgehend von diesen Zahlen wird man auch Rückschlüsse ziehen können, wie stark oder schwach die Propaganda das Verhalten der Menschen beeinflusst.

    Es wird sich auch zeigen, dass die Leute jetzt schon wissen, dass sämtliche, auch die härtesten, Worte nichts wert sind und nichts von dem Gesagten es verdient, besonders ernst genommen zu werden. Allen ist klar, dass das eine Konvention ist, die sie einhalten, solange die Notwendigkeit besteht. Doch konnte diese Konvention die grundlegenden Gesetze des Marktes nicht aushebeln. Wie in der Sowjetzeit wird sie als ärgerliche Beeinträchtigung des Lebens aufgefasst. Und sobald die Einhaltung der Konvention nicht mehr zwingend ist – ist sie plötzlich spurlos verschwunden.

    So erklärt sich wohl auch das Tempo, in dem man in unserem Land aufhört, von jemandem schlecht zu sprechen, und beginnt, neutral oder sogar mit Sympathie von ihm zu reden – und so erklärt sich die Bereitschaft der Mehrheit, einen anderen Gang einzulegen.

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    „Es gab einen Mord.“ Der FSB-Beamte im sibirischen Tomsk muss sehr erschrocken sein. Der junge Mann vor ihm ließ nicht locker: „Es gab einen Mord und ich möchte wissen, wer die Verantwortlichen sind.“

    Der Mord, zu dem Denis Karagodin seit jenem Tag forscht, liegt viele Jahrzehnte zurück: Es geht um seinen Urgroßvater Stepan Karagodin. Der Kosake war Bauer, hatte neun Kinder und wurde in den Jahren des Großen Terrors unter Stalin vom NKWD verhaftet und als „japanischer Spion“ erschossen.

    Stepan Karagodins Schicksal ist kein Einzelfall, genauso wie das seiner Familie: Mehr als eine Million Menschen fielen in den Jahren 1937/38 dem Großen Terror zum Opfer. Mehrere Jahre wusste keiner in der Familie Karagodin, wo der Vater war, ob er überhaupt noch lebte. Irgendwann Mitte der 1950er Jahre erfuhr die Familie dann, dass Stepan Karagodin „rehabilitiert“ sei. Da war er schon fast 20 Jahre tot.

    Denis Karagodin gibt sich nicht zufrieden mit der „Entschuldigung“ aus den 1950er Jahren. „Jede Generation meiner Familie hat versucht, sein Schicksal zu rekonstruieren“, sagt er kürzlich im Interview mit Radio Svoboda. Karagodin möchte die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Sammelt seit Jahren Dokumente, die den Mord an seinem Urgroßvater belegen, rekonstruiert den Ablauf der Ereignisse und die Namen der Beteiligten. Alles hat er auf seinem Blog dokumentiert. Denis Karagodin sieht den FSB als Nachfolgeorganisation des NKWD in der Verantwortung, und er lässt nicht locker.

    Iwan Kurilla beschreibt auf slon.ru, was Karagodins Nachforschungen für die russische Gesellschaft bedeuten könnten.

    Jahrelang wusste keiner in der Familie, wo Stepan Karagodin war –  Foto © Denis Karagodin

    Dieser Tage ging die Geschichte von Denis Karagodin durch die Medien: Ein Absolvent der Tomsker Universität, der zu den Todesumständen seines Urgroßvaters Stepan forscht, Anfang 1938, in der Zeit des Großen Terrors. Nach der Verurteilung im „Prozess gegen die Spionage- und Sabotagegruppe von Harbinern und Deportierten aus dem Fernen Osten“ sowie als „Gruppenführer des japanischen Militärnachrichtendienstes“ wurde Stepan Karagodin Anfang 1938 vom NKWD erschossen.

    Denis ging zum FSB und verlangte, Nachforschungen zum Tod seines Urgroßvaters anzustellen und die Schuldigen an diesem Verbrechen festzustellen. In Russland erscheint ein solcher Schritt naheliegend – und gleichzeitig unmöglich.    

    Das Gebot „sich ja rauszuhalten“     

    Millionen von Menschen haben in den Jahren des Staatsterrors in der UdSSR ihre Verwandten verloren, bekamen während des Tauwetters der Ära Chruschtschow lückenhafte Informationen zu deren Rehabilitierung  und dann in Gorbatschows Perestroika ein etwas genaueres Bild – diesen Verlust erlebten sie als persönliches Leid. Der Staat hatte ihnen die Angehörigen entrissen und diese posthum (oder im Glücksfall auch noch zu Lebzeiten, nach Jahrzehnten im Gulag) von Schuld freigesprochen – und dafür konnte und musste man ihm „danke“ sagen.     

    Die Generation, die die Stalinzeit erlebt hat, hatte den Staat fürchten gelernt und ihren Kindern das Gebot mitgegeben, „sich ja rauszuhalten“. Eine besondere, fast abergläubische Angst empfanden die Bürger vor den Organen der Staatssicherheit.

    Wahrscheinlich war die politische Ruhe der relativ wenig repressiven Breshnew-Zeit teilweise der Fügsamkeit der Bevölkerung zu verdanken. Die wusste aus der Erfahrung ihrer Eltern, dass der Staat anfangen kann zu töten. Kein Wunder, dass allein der Gedanke, Ansprüche gegen den Staat geltend zu machen, erst dem in der Zeit nach Breshnew geborenen Urenkel eines Hingerichteten in den Sinn kam.

    Verbrechen als Verbrechen benennen

    Denis Karagodin warf die Frage auf nach der Verantwortung des Staates und der konkreten Terror-Vollstrecker. Und zwar nicht die Frage nach der politischen Verantwortung, über die man schon seit dem XX. KPdSU-Parteitag gesprochen hatte, sondern die ganz banale Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung.

    So ist es doch: Die Ermordung eines unschuldigen Menschen, egal durch wen, verlangt nach Ermittlungen und nach Bestrafung der Täter. Falls die Täter einen Befehl ausgeführt haben, dann muss sich die Strafe auf die ganze Befehlskette erstrecken. Ist seither zu viel Zeit vergangen und aus diesem Befehlsgefüge niemand mehr am Leben, dann müssen in strafrechtlichen Ermittlungen die Namen festgestellt und Verbrechen als Verbrechen benannt werden.

    Die Vergangenheit aufarbeiten

    In Russland hat es weder eine Kommission zur nationalen Versöhnung noch ein Tribunal für die Henker gegeben. Wie Alexander Etkind in seinem kürzlich erschienenen Buch Kriwoje gore (Verzerrtes Leid) aufzeigt, hat die russische Gesellschaft daher die Folgen des Gulag bis dato nicht verarbeitet. Sie schwingen noch mit in Kultur und Wissenschaft, in der Beziehung der Menschen untereinander und der Menschen zum Staat.

    Oft heißt es, eine völlige Verurteilung des Stalinismus sei in Russland nicht möglich, denn im Unterschied zu Deutschland, wo die Entnazifizierung von den Besatzungsmächten vorgenommen wurde, habe die UdSSR keine militärische Niederlage erlitten und sei daher gezwungen, ihre Vergangenheit selbst aufzuarbeiten. Die politische Kräftebalance erlaube es angeblich nicht, die Frage nach den Verbrechen des Staates unter Führung der Bolschewiken zu stellen.

    Verfechter der stalinistischen Sowjetunion reduzieren den Streit oft auf die Opferzahlen: Sind die nicht übertrieben? Waren es wirklich Millionen und nicht eher nur Hunderttausende Getötete? Als würde die Verlagerung der Diskussion in den Bereich der Statistik es obsolet machen, über das tragische und kriminelle Erbe des Staates zu sprechen.  

    Konkretes Schicksal statt trockene Statistik

    Denis Karagodin hat nun sein Modell der Vergangenheitsbewältigung vorgeschlagen: persönliche Ermittlung und eine persönliche Klage wegen Tötung seines Urgroßvaters. Das ist ein konkretes Schicksal, keine trockene Statistik. Die Archive des FSB bergen Geheimnisse von Spitzeln und Henkern – ob sie wohl auf die Forderung eines Bürgers hin geöffnet werden?

    Es ist zu erwarten, dass die Geschichte Karagodins Vorbildwirkung hat. Auch Angehörige anderer in den Jahren des Terrors Verurteilter könnten vor Gericht ziehen. Dass der Staat darauf mit Einverständnis reagiert, ist nicht gesagt. Womit aber will er begründen, solche Ermittlungen zu verweigern?

    In der Sowjetzeit war Angst das Hauptargument. Heute wird sich die Judikative, um solche Ermittlungen zu umgehen, irgendeine juristisch fachkundige Antwort überlegen müssen, die ihrerseits Anstoß für eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft sein kann. Jener Diskussion, die es bei uns weder in den 50er- noch in den 80er-Jahren gab.  

    „Große Geschichte“ und familiäres Gedächtnis

    In den 80er-Jahren fand die Ent-Stalinisierung in den Medien und bei Aktivisten statt. Vielen kam das vor wie eine Art Propaganda: Journalisten schrieben über Repressionen, Memorial sammelte Dokumente von Verfolgten, doch im Grunde blieben die Bürger „Konsumenten“ dieser Informationen und hatten sie irgendwann satt (beteuern jedenfalls jene, die sich gegen eine neuerliche Diskussion zur sowjetischen Vergangenheit aussprechen).
    Jetzt aber geht es um die Rekonstruktion von Familiengeschichte, und in diesem Zusammenhang kann die Ent-Stalinisierung zu einer persönliche Angelegenheit von Hunderttausenden Staatsbürgern werden.     

    Erinnerungsforscher bemerkten vor einiger Zeit, dass das Interesse der Russen an ihren familiären Wurzen rasant ansteigt. Genealogische Forschungen, Familienchroniken, das Durchforsten von Dokumentenarchiven, Geburtsurkunden und Gräbern der Vorfahren verbreiteten sich überall in Russland, in ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Den Platz des „Geschichtslehrbuchs“ nimmt immer öfter die Familiengeschichte ein – als Teil der Landesgeschichte. Und wenn es in diesen Familiengeschichten noch offene, aufgeschlagene Seiten gibt, dann versucht die Enkelgeneration, diese endlich zu schließen.   

    Vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch

    Auf der Website von Memorial finden sich immer mehr Informationen zu Verfolgten, die Sparte wird oft angeklickt. Die Initiative Posledni Adres (dt. Letzte Adresse) montiert auf die Bitte Angehöriger hin Schilder an Häuser, wo Opfer des Staatsterrors abgeholt wurden. Diese wirkungsvolle Bewegung zur Aufarbeitung der Familiengeschichte ist etwas ganz anderes als der Kampf der Intelligenzija in den Medien um das richtige Verständnis der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Das neue Gedenken ist komplexer und vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch.  

    Es gibt eine deutliche Parallele zwischen dem Fall Karagodin und der Aktion Bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment). In beiden Fällen wenden sich Nachkommen ihrer Familiengeschichte zu; sie schreiben ihre Großväter in die Geschichte des Landes ein und betrachten die Geschichte des Landes mit den Augen ihrer Großväter. Im Fall des Unsterblichen Regiments entschloss sich der Staat, die Initiative der Bürger zu unterstützen. Wird er bereit sein, auch andere Initiativen zu unterstützen? Können Bürger den Staat dazu bringen, sich zu verändern?

    Man würde gern dran glauben, dass es auf diese Fragen eine positive Antwort gibt.

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  • Im Schwebezustand – Südossetien

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Soll Südossetien an Russland angegliedert werden? Über ein Referendum zu dieser Frage sollte Ende Mai diskutiert werden, doch die Entscheidung wurde verschoben. Zum wiederholten Mal.

    Die Kaukasusregion Südossetien hatte sich schon in den frühen 1990er Jahren als von Georgien unabhängig erklärt. Völkerrechtlich anerkannt wird das Gebiet erst seit 2008 und nur von Russland, Nicaragua, Venezuela und dem pazifischen Inselstaat Nauru, der kleinsten Republik der Welt.

    Mit der Sowjetunion zerfiel auch der Kaukasus als ethnischer Schmelztiegel. Das Südossetien von heute ist ein Produkt dieser Prozesse. Schon kurz vor Auflösung der Sowjetunion hatte sich die iranischsprachige Volksgruppe der Südosseten als „Republik Südossetien“ für unabhängig von der Georgischen SSR erklärt. Nach dem Zerfall der UdSSR mündete die Situation Anfang der 1990er Jahre schließlich in eine Reihe von Sezessionskonflikten mit Georgien. 2004 hatte der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili angekündigt, Südossetien (und Abchasien) wieder unter georgische Kontrolle zu bringen. Im Sommer 2008 kam es schließlich zum offenen militärischen Konflikt, der enorme Zerstörungen mit sich brachte, vor allem in der Hauptstadt Zchinwali. Am 7./8. August nahmen georgische Einheiten große Teile Südossetiens ein, Russland stieß im Gegenzug weit in georgisches Kernland vor, es kam zu Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten, insgesamt gab es etwa 850 Todesopfer.

    Seit dem Georgienkrieg ist Südossetien in höchstem Maße in die Einflusszone Russlands integriert. Seit 2008 kommen nicht nur die Währung und viele Pässe, sondern auch die Haushaltsmittel und die politische Elite der abtrünnigen Republik mehrheitlich aus Russland.

    Irina Gordijenko recherchierte für die Novaya Gazeta vor Ort. Sie fand eine vergessene Region im Stillstand – und eine zumindest informelle Antwort auf die Frage: Soll Südossetien an Russland angegliedert werden?

    Es leuchten Blumen und Laternen, Springbrunnen plätschern, sogar gratis WLAN gibt es - Südossetiens Haupstadt Zchinwali. © Salvatore Freni Jr./Flickr
    Es leuchten Blumen und Laternen, Springbrunnen plätschern, sogar gratis WLAN gibt es – Südossetiens Haupstadt Zchinwali. © Salvatore Freni Jr./Flickr

    Drei Jahre bin ich nicht in Südossetien gewesen. In dieser Zeit hat sich Grundlegendes verändert. Der Roki-Tunnel, der unter dem Kamm des Großen Kaukasus hindurch Nord- und Südossetien verbindet, ist nicht wiederzuerkennen. Ein- und Ausfahrt erblühen in den Farben der russischen und der südossetischen Flagge (je nachdem), und der Tunnel selbst befindet sich auf seiner gesamten Länge von vier Kilometern in tadellosem Zustand.

    Vor der Hauptstadt Zchinwali [russisch: Zchinwal – dek] sind ein paar kleine, gepflegte Einfamilienhaussiedlungen entstanden, in denen Menschen wohnen, deren Häuser bei den Kampfhandlungen zerstört wurden. Die Hauptstraßen der Stadt sind asphaltiert, auf den Plätzen und Boulevards leuchten Blumen und Laternen, Springbrunnen plätschern. Das Parlamentsgebäude wurde wiedererrichtet, sogar gratis WLAN gibt es.      

    Die Renovierung des Schauspielhauses ist in vollem Gange, die Arbeiten werden jetzt von Regierungsbeamten persönlich kontrolliert, und die örtliche Presseagentur berichtet stolz, „der Rechnungshof der RF hat 2014 und 2015 [in der Republik] keinerlei finanzielle Unregelmäßigkeiten festgestellt“.     

    Das ist erfreulich.

    Staubstürme im Sommer, im Winter ein undurchdringlicher Sumpf

    Nach dem viertägigen Krieg im August 2008 war Südossetien in Chaos und Zerstörung versunken. Die Leute hatten keine Heizung, keinen Strom, kein Warmwasser, viele nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Die Straßen der Stadt wurden zu breiten, holprigen Wegen, mit klaffenden Löchern statt Gullyschächten. Tonnenweise türmten sich Haufen von Steinen und Bauschutt an allen Kreuzungen. Deswegen wurde Zchinwali jeden Sommer von Staubstürmen heimgesucht, im Winter verwandelte es sich in einen undurchdringlichen Sumpf.  

    Obwohl in der Republik ein milliardenschweres Programm der Russischen Föderation zum Wiederaufbau aufgelegt wurde und auch über andere Kanäle Gelder flossen, wurde die Lage mit jedem Jahr katastrophaler. Indessen flatterten stapelweise Berichte über den „dynamischen Verlauf des Wiederaufbaus“ nach Moskau, aus Moskau kam als Antwort die nächsten Tranche.     

    Die Kontrolle über die Verwendung der Mittel oblag im Wesentlichen dem Ministerium für regionale Entwicklung unter der Leitung von Viktor Bassargin. Am Ministerium wurde eine zwischenstaatliche Kommission zum Wiederaufbau Südossetiens eingerichtet, deren Vorsitz der stellvertretende Minister Roman Panow aus Tscheljabinsk innehatte. Mit Panow kamen immer mehr Emporkömmlinge aus der Oblast Tscheljabinsk in die Republik; zur Schlüsselfigur wurde der Unternehmer Wadim Browzew, der zum Premierminister Südossetiens ernannt wurde.      

    Je mehr Beamte vom „Wiederaufbau“ sprachen, desto schamloser wurde gestohlen

    Baufirmen aller Art überschwemmten das Land. Bau- und die Sanierungsprojekte im Rahmen des Wiederaufbaus wurden nicht öffentlich ausgeschrieben und verliefen intransparent; wer Geld bekam und auf welcher Grundlage, war in diesen Jahren absolut nicht nachvollziehbar. Im Zeitraum von fünf Jahren wurde die Finanzierung der Republik dreimal umgemodelt, das Resultat blieb dasselbe. 

    Je mehr russische und südossetische Beamte vom „Wiederaufbau der Region“ und der „Einhaltung aller Auflagen“ sprachen, desto schamloser wurde dort gestohlen – ein Faktum, das im Rechnungshof der Russischen Föderation bereits aktenkundig wurde. Einstweilen lebte die Bevölkerung weiterhin in Armut.   

    Wie die Prüfung des Rechnungshofs ergab, investierte Russland von 2008 bis 2013 mehr als 45 Milliarden Rubel in Südossetien [gut 1,1 Milliarden Euro, Stand Januar 2013], rund 34 Milliarden [850 Millionen Euro] kamen aus dem russischen Staatshaushalt, 10 Milliarden [250 Millionen Euro] von Gazprom, 2,5 Milliarden [63 Millionen Euro] schickte die Stadtverwaltung von Moskau, rund 1 Milliarde [25 Millionen Euro] wurde auf ein spezielles Wohltätigkeitskonto überwiesen, und nochmal 13 Milliarden Rubel [330 Millionen Euro] flossen in das Programm für „sozial-ökonomische Entwicklung der Republik“. Für dieses Geld hätte man in der Region, in der damals schon etwas mehr als 30.000 Menschen lebten und deren Fläche nur etwa 4000 km² beträgt (davon 3600 km² Gebirge), Las Vegas nachbauen können.   

    Für das Geld hätte man in der Region Las Vegas nachbauen können

    Als es bei den Präsidentenwahlen in der Republik im Dezember 2011 fast zu einem Aufstand kam, war das der Tropfen, der für Moskau das Fass zum Überlaufen brachte. Die Bevölkerung stellte sich gegen den Kandidaten, auf den Moskau insistierte – und führte als Grund dafür die totale Bestechlichkeit der südossetischen Führungsriege an.

    Es gelang, den Aufruhr zu beenden, doch man zog Konsequenzen. Sergej Winokurow, von der Präsidialverwaltung der Russischen Föderation mit der Kontrolle über Südossetien betraut, wurde mitsamt seinem Team entlassen.
    Die Staatsanwaltschaft leitete sofort Strafverfahren wegen Entwendung und Veruntreuung ein, und kurz darauf wurde ein Ausschuss des Rechnungshofs in die Republik entsandt, der alles gründlich prüfte.
    Das Ergebnis war wenig erbaulich: Über ein Drittel der Gelder waren nutzlos vergeudet worden. Rund sechs Milliarden [Euro] steckten in unfertigen Bauprojekten fest, ein Teil des Geldes war einfach verschwunden.    

    Die Ergebnisse dieser Prüfung wurden dann gar nicht offiziell bekanntgegeben (ein Exemplar liegt der Redaktion vor), doch während der Durchführung hatten sich die Tscheljabinsker und sonstigen „Aufbaukünstler“ aus ganz Russland spurlos aus dem Staub gemacht.
    Mit den Strafverfahren war es dasselbe. Zu Beginn war von 17 eingeleiteten Verfahren berichtet worden, dann von 24, schließlich stieg die Zahl auf 72, doch von den Ergebnissen erfuhr die breite Öffentlichkeit ebenfalls nichts.
    Der Leiter der zwischenbehördlichen Kommission Roman Panow und einige seiner Mittäter landeten zwar wirklich im Gefängnis, doch wegen einer Strafsache, die mit dem Wiederaufbau Südossetiens gar nichts zu tun hatte.

    Einen Wirtschaftssektor, oh weh, den hat es nie gegeben

    Nach all diesem Hin und Her ging es mit dem budgetären Klondike merklich bergab. In der Präsidialverwaltung sind jetzt Wladislaw Surkow und Lew Kusnezow, der Minister für den Nordkaukasus, für die Aufsicht über die Republik zuständig. Das Budget Südossetiens besteht nach wie vor hauptsächlich aus russischem Geld (dieses Jahr waren das gut 9 Milliarden Rubel [rund 110 Mio Euro]), und es läuft ein Investitionsprogramm, das unter anderem den realen Wirtschaftssektor ankurbeln soll. Doch, oh weh, den hat es nie gegeben. In der Republik sind über 70 Prozent der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst tätig. Die restlichen 30 Prozent sind Taxifahrer und Kleinunternehmer, die mit Produkten aus Russland und Georgien handeln.

    28 Millionen für Kühe, die keine Milch geben

    Die Landwirtschaft ist nicht der stärkste Wirtschaftszweig Südossetiens, auch wenn ihr in den vergangenen acht Jahren besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Von den Maßnahmen, die vom südossetischen Ministerium für wirtschaftlichen Fortschritt angewiesen wurden und die im Bericht des Rechnungshofs genannt werden, klingt eine irrwitziger als die andere. So wurden etwa für den Kauf von Kalmücken-Rindern 28 Millionen Rubel [335.000 Euro] aufgewendet. Aber man hatte, wie sich herausstellte, für ein paar hundert Kühe gleich das Dreifache zuviel bezahlt. Doch vor allem hat sich gezeigt, dass die Kühe praktisch keine Milch geben, ja, das Kalmücken-Rind ist für die südossetischen Gegebenheiten überhaupt nicht gemacht. Im Endeffekt kam der Großteil des Bestands einfach auf die Schlachtbank.  

    Der Minister für Nordkaukasus-Angelegenheiten, Kusnezow, betonte bei einem seiner Besuche in Südossetien, dass der Akzent auf die Förderung des realen Sektors gelegt werden müsse: „Man muss diejenigen ausfindig machen, die, vom Staat unterstützt, in der Lage sind, ein leistungsfähiges Unternehmen zu gründen, das Arbeitsplätze schafft, vernünftige Gehälter sichert und sich zu einer Ertragsbasis für die Republik weiterentwickelt.“

    Ich habe eines dieser leistungsfähigen Unternehmen gefunden, das unter anderem im Rahmen des Investitionsprogramms finanziert wurde: den Sportpalast Olymp.
    Der dreistöckige Palast im Zentrum Zchinwalis wurde mit Unterstützung der Wohltätigkeitsstiftung von Alina Kabajewa gebaut. Nach sechs Jahren Vertröstungen fand im Oktober 2015 tatsächlich die Eröffnung statt. Die Idee hatte wahrlich olympische Ausmaße: zwei Schwimmbecken (ein Kinderbecken, eins für Erwachsene), neun Sporthallen (für Gymnastik, Ringen, Boxen, Gewichtheben etc.), ein medizinisches Zentrum. „Alle Hallen sind komplett ausgestattet mit allem notwendigen Inventar“, hieß es in der Werbung.

    Ein 25-Meter-Becken in einer Stadt, in der Wasser nur begrenzt verfügbar ist

    Den Palast begutachtete auch der Berater des Präsidenten und Aufsichtsleiter in Südossetien Wladislaw Surkow. Nach der Besichtigung, gefolgt von Begehungen anderer sozialwirtschaftlicher Bauprojekte der Republik, „war er höchst zufrieden“.

    Ein Jahr verging. Ein Jahr, in dem kein einziges Sportfest den Weg nach Südossetien gefunden hat. Der Sportpalast ist noch immer geschlossen. Kurz nach seiner feierlichen Eröffnung hieß es, für die Renovierung des gerade erst präsentierten Komplexes und für die Deckung der Fehlbeträge, die während der Bauarbeiten entstanden seien, seien mehrere hundert Millionen Rubel vonnöten. Das Lüftungssystem funktioniert immer noch nicht, das Dach ist überall undicht, die Wände sind von gelblich-grünem Schimmel überzogen, die Raumluft trägt das modrige Aroma subtropischer Wälder. Nun ja, und in einer Stadt, in der Wasser nur morgens und abends nach strengem Zeitplan verfügbar ist, sind Betrieb und Instandhaltung eines 25-Meter-Beckens sowieso problematisch.

    Jetzt wurde der Palast dem Haushalt des staatlichen Sportkomitees für Südossetien zugeordnet, wo man allein beim Gedanken an die Renovierung und anschließende jährliche Wartung solch eines  Monstrums ins Koma fällt. Das Geld, um „das bedeutendste Projekt der Alina-Kabajewa-Stiftung“ zu erhalten, hat einfach niemand.

    Trotz der bitteren Erfahrung der vergangenen Jahre verkünden die Beamten mit erstaunlicher Hartnäckigkeit weiterhin Pläne – einer herrlicher als der andere.

    Die Regierung dementiert stur die stetige Abwanderung

    „Es ist von vornherein klar, dass sich derartige Großprojekte bei uns nicht rentieren“, sagt Assa Tibilowa, Dozentin an der Südossetischen Universität. „Wir müssen kleine Betriebe und Kleinunternehmer fördern. Die Leute wollen ja, aber großangelegte Projekte sind bei uns schwer umzusetzen.“  Warum nur?

    Die Regierung dementiert stur die allmähliche, aber stetige Abwanderung aus der Republik. Doch die Straßen Zchinwalis sind nach 15 Uhr menschenleer, nur der Wind trägt angemalte Styropor-Stücke vor sich her, die sich von der Fassade des frisch renovierten Parlamentsgebäudes gelöst haben.  

    Voriges Jahr hat die Regierung die Ergebnisse der Volkszählung veröffentlicht. Den offiziellen Daten zufolge leben in der Republik 53.000 Menschen, und der Bevölkerungszuwachs hält an. Das zu bestreiten ist sinnlos. Ein kritischer Blick darauf lohnt sich aber:

    Jedes Jahr zum Neujahrsfest überreicht die südossetische Regierung allen Kindern Geschenke. Die Listen dazu erstellt das Bildungsministerium, dem die Polikliniken, Kindergärten und Schulen der ganzen Republik ihre Daten liefern, damit nur ja kein Kind übersehen wird. 2016 waren es 9091 Kinder. In Südossetien sind die meisten Familien kinderreich und haben zwei bis vier Kinder. Nehmen wir also an, in jeder Familie sind durchschnittlich drei Kinder. Das macht 3030 Familien. Nehmen wir weiter das Maximum an, dass nämlich jede Familie komplett ist: Mama, Papa, zwei Großväter, zwei Großmütter und drei Kinder – zusammengezählt sind das 27.273 Menschen. Dann ist noch zu bedenken, dass bei der Zahl der Weihnachtsgeschenke auch die Kinder der Armeeangehörigen des russischen Stützpunkts mitgerechnet werden; dort dienen 4000 Personen, hinzukommen die Familien. Die Zahl der Menschen, die wirklich in Südossetien leben, ist also in Wahrheit noch geringer.

    Die Angliederung an Russland interessiert niemanden, doch das würde keiner laut sagen

    Wladimir Bossikow ist in Südossetien ein bekannter Unternehmer. In den vergangenen Jahren betrieb er verschiedene Projekte, er hatte eine eigene Möbelfabrik, dann versuchte er sich im Anbau von Nüssen, seine neueste Geschäftsidee ist Mineralwasser.

    Bossikow fuhr durch Bergschluchten, untersuchte Mineralwasserquellen und wählte eine der besten am Südhang des Großen-Kaukasus-Bergkamms aus. Russische Laboratorien bestätigten die qualitative Einzigartigkeit dieses Heilwassers. Er rodete den Wald um die Quelle, kaufte die nötige technische Ausrüstung und errichtete eine kleine Fabrik zur Abfüllung.    

    „In unserer Anlage können wir 6000 Flaschen pro Tag abfüllen. Ich möchte versuchen, in den russischen Markt einzusteigen. Wir warten auf die Antwort des russischen Patentamtes“, sagt er. Die Antwort steht bereits seit sieben Monaten aus. Inzwischen steht seine neue Fabrik still, und das einzigartige Mineralwasser löst sich auf in den Wassern des Großen Liachwi.

    „Bereits jetzt können wir leicht selbst, aus eigener Kraft 2 bis 3 Milliarden Rubel [24 bis 36 Millionen Euro] im Jahr verdienen“, sagt Alan Dschussojew, Anführer der sozialen Bewegung Deine Wahl – Ossetien, „aber bitte unterstützt die Kleinbetriebe! Wir haben Potenzial, natürliche Ressourcen, nur die Behörden wollen nicht – weder unsere, noch die russischen. Trotz des Investitionsprogramms und vieler zwischenbehördlicher Abkommen mit Russland, geht es nie um reale Arbeit. Immer nur um Berichterstattung auf Papier.
    In dieser Situation von einem Referendum und einer möglichen Angliederung an Russland zu sprechen, das ist einfach nur viel Lärm um nichts. Meiner Meinung nach muss die Frage über unseren Status ein für alle Mal vom Tisch. Wir sind Russland sehr dankbar und hätten jetzt gern die Möglichkeit, uns zu entwickeln. So denken viele.“  

    Und das stimmt, ich habe mit vielen Menschen gesprochen: Die Frage nach der Angliederung an Russland interessiert niemanden, was die Leute beschäftigt sind Lebenserhalt und Verdienst, doch das würde niemand laut sagen. Wer sich öffentlich gegen ein Referendum ausspricht, kann für einen Gegner Russlands und einen Feind nationaler Interessen gehalten werden. Obwohl von antirussischen Stimmungen hier immer noch weit und breit keine Spur ist.

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  • Was bekommt der Wähler?

    Was bekommt der Wähler?

    Am 18. September 2016 sind Duma-Wahlen: sowohl für die Opposition als auch für die Regierungspartei Einiges Russland eine wichtige Wegmarke im aktuellen politischen Geschehen.

    Während die untereinander recht zerstrittene liberale Opposition eine Chance aufgreifen möchte, im Parlament vertreten zu sein, geht es für die Regierung darum, ihren Stand zu wahren. Zwar hat sie spätestens seit der Eingliederung der Krim einen sicheren Rückhalt in der Bevölkerung. Dennoch ist ihre Legitimität nach den umfassenden Wahlfälschungen 2011 und den massenhaften Protesten 2011/12 zumindest angekratzt. Dazu kommt die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die sich mittlerweile auch auf die Sozialleistungen und die Renten auswirkt.

    Tatjana Stanowaja, Leiterin der Analyse-Abteilung am Zentrum für Politische Technologien, analysiert auf Slon.ru das politische Programm der Regierungspartei – und sieht vor allem einen großen Fehler.

     „Geld haben wir keins, aber haltet durch“ – Dimitri Medwedew auf der Krim. Foto © Dmitry Astakhov/TASS
    „Geld haben wir keins, aber haltet durch“ – Dimitri Medwedew auf der Krim. Foto © Dmitry Astakhov/TASS

    Bald sind Wahlen. Doch die Regierung lässt sich sichtlich Zeit damit, nach der Krim ein neues Programm auszuarbeiten – ein Programm mit einem zukunftsweisenden politischen Vorschlag.

    Der Kreml ist mit Außenpolitik beschäftigt, die Wirtschaft überlässt man Theoretikern, die offenbar unfähig sind, sich zu einigen, und in der Innenpolitik herrscht ein Kampf unter Gleichen: um die Rangordnung, nicht um Ideen.

    Die Wahlen scheinen zum planmäßigen Routineakt zu werden, und wer immer auch gewinnt, es wird jemand aus dem Putin-Lager sein. Sich in dieser Situation etwas Neues auszudenken, grandiose Pläne und Projekte zu ersinnen, dazu fehlt es an Geld genauso wie an Lust. Es ist nicht nur eine programmatische Krise, es ist ein programmatisches Vakuum.

    Man kann natürlich sagen, formal führe die Regierung ihr traditionelles Programm fort: Patriotismus, Souveränität, Erfüllung sozialer Verpflichtungen, Mai-Dekrete (an die man sich plötzlich erinnert), behutsamer Kampf gegen Korruption und sogar eine Entwicklungsstrategie für die nächsten 20 Jahre. Das ist es, was die politische Elite schon die ganzen vergangenen vier Jahre bei Wahlen vorgeschlagen hat. Packen wir noch – beide recht frisch – Krim nasch und die Importsubstitutionen dazu. Dem Volk gefällt’s. Und formal ist das natürlich ein Programm. Aber faktisch nicht.

    Die Ideologie der „belagerten Festung“, Isolationstendenzen, Abstriche in der Ukraine, die schwache Verhandlungsposition gegenüber dem Westen bei zunehmender hurra-patriotischer Rhetorik – all das ist eine Art Anpassung der Elite an die neue Wirklichkeit, in der für das einfache Volk praktisch kein Platz bleibt.  

    Buchstäblich das gesamte Programm von heute betrifft den staatlichen, nicht den privaten Bereich. Was hat die Regierung bei den Wahlen heute der Großmutter und dem Großvater, dem Arbeiter und Bauern, dem Angestellten und Unternehmer de-facto denn anzubieten?

    Das aktuelle politische Programm, mit dem die Staatsmacht zur Wahl antritt, ist diktiert von den Umständen und der objektiven Realität, in der zu leben die Regierungselite gezwungen ist. Die Schlüsselpunkte dieses Programms bedeuten, dass der Vertrag zwischen Gesellschaft und Staatsmacht neu geschrieben werden muss.

    Soziale Askese

    Punkt eins dieses Vertrags ist die soziale Askese. „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, so lautet eine absolut nicht zufällige rhetorische Entgleisung  Dimitri Medwedews, die umgehend Wladimir Putins Unterstützung fand. Die Rentenerhöhung erfolgt nach dem Prinzip „was übrig bleibt“, die Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst kommt irgendwann später.

    Am Essen zu sparen ist gesund, echt russisch und richtig patriotisch. Der TV-Sender Erster Kanal berichtet dann, wie die westliche Konsumgesellschaft mit ihrer zu 70 % übergewichtigen Bevölkerung vor sich hin fault. „Friss Ananas, Bourgeois, und Haselhuhn, wirst bald deinen letzten Seufzer tun“ – das ist im heutigen Russland durchaus aktuell.

    Geld haben wir keins, und das wird sich auch nicht ändern: Diese Botschaft sendet die Regierung dem Volk, ohne sich dafür zu genieren oder sie wenigstens schön zu verpacken. Und noch ist das Volk bereit mitzumachen.

    „Putinisierung” der Elite

    Punkt zwei ist die Putinisierung der Elite. Bis 2014 sah die Machtkonstruktion des Regimes so aus: Auf der einen Seite stand Putin als alleiniger Herrscher, der das gesamte System legitimierte, auf der anderen Seite das Volk, das damit einverstanden war. Nach 2014, als gegen Russland Sanktionen verhängt wurden, wandelte sich „Putin“ von einem Personen- zu einem System-Phänomen. Zum nationalen Leader gesellt sich die „politisch verantwortliche Elite“, Putins Patrioten.

    Immer bemüht, seine Mitstreiter vor Sanktionen zu bewahren, muss Putin seine Legitimität nun mit einer beachtlichen Anzahl von Personen in seinem Umfeld teilen: mit den Rotenbergs, den Kowaltschuks, mit Timtschenko und Roldugin. Gern und freimütig teilt Putin seine Legitimität mit Leuten, die sehr bald zu renommierten Plünderern der Erfolge seiner Ära werden könnten.

    Für den einfachen Menschen hat diese einseitige Abänderung des Gesellschaftsvertrags auch eine ganz praktische Bedeutung. Die zeigt sich  etwa am Phänomen des Systems Platon, das öffentlich und unmissverständlich vom Präsidenten unterstützt wird.             

    Der Krieg

    Punkt drei ist der Krieg: Ein nicht erklärter hybrider Krieg gegen Russland, angezettelt von den Ländern des Westens beziehungsweise von den USA und ihren willenlosen Bündnispartnern. Man könnte meinen, genau hier gehe es um staatliche Interessen. Aber nein, hier doch gerade nicht. Der Staat stellt sich da ganz fest hinter die Interessen des Durchschnittsrussen, um ihn vor dem zersetzenden Einfluss des Westens zu beschützen.

    Beschränkungen bei Auslandsreisen, Rechenschaft über ausländische Konten bei der Steuerbehörde, verschärftes Strafmaß bei Teilnahme an Protestaktionen, strafrechtliche Verfahren wegen Weiterverbreitung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, Kündigung von Arbeitsplätzen aufgrund politischer Meinungen, das Sperren von Websites der Nicht-System-Opposition, eine kritische Einschränkung von Qualitätsjournalismus zu Politik und Wirtschaft: Der Krieg aus dem Fernsehen greift langsam aber sicher auf das Privatleben zwar nicht aller, aber vieler über.

    Natürlich will heute keine Mehrheit gegen Putin protestieren. Auch vor fünf Jahren wollte sie das nicht – hätte aber protestieren können. Ja, heute verachtet die Mehrheit die Liberalen – aber vor fünf Jahren konnte man noch wählen zwischen hurra-patriotischen Medien und einer [unabhängigen – dek] Qualitätspresse. Wenn man sich heute in seiner Auswahl einschränkt, dann nicht mehr freiwillig, sondern gezwungenermaßen.

    Perfektionierung des Systems

    Der vierte Punkt ist, dass man das bestehende System perfektioniert, anstatt es zu verändern. Gleich wird’s mit der Wirtschaft bergauf gehen, das Schlimmste liegt hinter uns (und überhaupt war das nicht unsere Schuld), die Inflation sinkt. In der Politik läuft der demokratische Wettbewerb auf vollen Touren: zwischen der Gesamtrussischen Nationalen Front (ONF) und Einiges Russland (ER), innerhalb der Partei ER selbst, zwischen ONF und unabhängigen Kandidaten für Putin, zwischen unabhängigen Kandidaten für Putin und ER. Beinahe ein perfektes politisches System, beinahe eine effiziente Wirtschaft. „Bei uns ist alles gut“, das sagt Putin dem Volk seit drei Jahren.    

    So mancher könnte glauben, auf dem Programm stünden Reformen, doch das ist ein Irrtum: die Einbeziehung Kudrins in den Wirtschaftsrat ist nicht mehr als eine Suche nach politisch schönen Ideen. Sie zeugt aber nicht von irgendeinem Willen zur Veränderung.

    Objektiv gibt es kein einziges Signal, nicht den winzigsten Hinweis darauf, dass Putin zu einer tatsächlichen Transformation des Systems bereit wäre: zu Justizreformen, dem Schutz der Eigentumsrechte, zur Entwicklung von wirtschaftlichem Wettbewerb, zur Auflösung der Monopole  und realer Privatisierung (statt Minderheitsanteile an Freunde und Bündnispartner zu verkaufen).

    Nicht nur, dass der konservative Trend dem reformativen nicht weicht, er gewinnt vielmehr noch an Stärke dazu. Seine relative Vervollkommnung lässt sich für den gewöhnlichen Russen leicht in eine bodenständigere und einfachere Form bringen. Das bedeutet dann ungefähr Folgendes: Radikale Veränderungen wird es in eurem Leben keine  geben, auf den Staat könnt ihr nicht zählen. Sogar die Renten sollte man besser selber ansparen – es geht also um die Konkurrenz zwischen verschiedenen Szenarien von Gegenreformen des Rentensystems.  

    Dummköpfe und Straßen

    Schließlich Punkt fünf – der einfachste und vertrauteste: Er betrifft Dummköpfe und Straßen. Die Dummköpfe – das sind Sündenböcke, die strafrechtlich und öffentlich zur Verantwortung gezogen werden. Sie helfen dem Regime dabei, Ballast abzuwerfen: verfolgte Gouverneure, verhaftete Bürgermeister, mit Geldstrafen belegte Unternehmer, die Gehälter nicht auszahlen. Hinzu kommt als Drauf- und Dreingabe auf jeden Fall die Festnahme von Ganoven, wie die des Sohns vom Lukoil-Vizepräsidenten.

    Diese lokal begrenzten Einzelfälle werden künstlich hochstilisiert und dem Regime zu Gute gehalten. Doch so ist es nicht: Das Regime ist nicht nur nicht bereit, Korruption systematisch zu bekämpfen. Es hält das sogar für gefährlich.         

    Abschließend die Straßen. Doch in Kombination mit den Dummköpfen will einfach kein schönes Bild entstehen: Nicht nur die Demokratie westlicher Ausprägung kann sich in Russland nicht festsetzen, auch dem Asphalt gelingt das nicht. Das hindert aber niemanden daran, die Straßensanierung zur nationalen Idee 2016 zu erklären, auch wenn die Dimensionen kleiner werden (2007 gab es die „Nationalen Projekte“, 2012 die Mai-Dekrete).

    Und wenn es keine Proteste gegen Platon gegeben hätte, wäre man nicht einmal bis zu den Straßen gekommen: Erst die Reaktionen darauf erzeugten den Wirbel um die Straßen, der dann die Regionen erfasst hat. Nach dem Direkten Draht mit Putin, bei dem die Straßensanierung endgültig zur Idée fixe wurde, wurde demonstrativer Feuereifer auf diesem Gebiet zur Grundvoraussetzung für das politische Überleben regionaler und lokaler Obrigkeiten. Straßen wird es vielleicht nie geben, Baustellen dafür überall.

    Das Besondere an den Wahlen 2016 wird sein, dass die Staatsmacht mit einem Programm zum Schutz staatlicher Interessen antreten wird, wodurch die Interessen der Bürger praktisch vollständig verdrängt werden. Die Wähler sind weg und ihre Probleme ebenso – sogar sich zu beklagen wird gefährlich. Ein echtes Programm wurde durch ein notdürftiges Lunchpaket ersetzt, das nur minimale politische Notwendigkeiten erfüllt.

    Versprechen wird man aber wie immer viel, großzügig und vor allem abstrakt. 2016 wird das Jahr, in dem sich der Unterschied zwischen dem Fernsehrussland und dem echten Russland deutlich herausbilden wird; zwischen einem angekündigten Programm und einem, das objektiv zustande kommt. So beginnt der moralische Verschleiß des Regimes.

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  • „Mir ist klar, warum es diese ganze Prostitution gibt“

    „Mir ist klar, warum es diese ganze Prostitution gibt“

    Wer durch St. Petersburg spaziert, dem begegnen sie immer wieder, auf Zebrastreifen, Autotüren, Plakatfenstern: Anzeigen von Prostituierten und Bordellen. Meist stehen da nur ein Frauenname und eine Nummer dahinter.

    Prostitution ist in Russland ein relativ neues Phänomen, das zu Sowjetzeiten in einer absoluten Tabuzone und im Alltag kaum sichtbar war. Mit der Migration und den wirtschaftlich prekären Verhältnissen verbreitete sie sich erst nach der Perestroika. Da die Prostitution als Gewerbe verboten ist, bewegen sich die Frauen in der Illegalität, sind kaum geschützt, während das ganze Milieu hochgradig kriminalisiert ist. Vereinzelt machen Aktivisten auf die schwierige Lage der Prostituierten aufmerksam, insgesamt jedoch wird das Problem nur wenig thematisiert.

    Das Stadtmagazin Bolschoi Gorod lässt den ehemaligen Security-Mann eines Bordells zu Wort kommen. Der gibt einen subjektiven Einblick in den rauen Alltag.

    Hartes Pflaster – Prostitution in Russland ist illegal, die Frauen sind kaum geschützt. Foto © Ilya Varlamov
    Hartes Pflaster – Prostitution in Russland ist illegal, die Frauen sind kaum geschützt. Foto © Ilya Varlamov

    Ein Freund, der auch Fußballfan ist, bot mir vor ein paar Jahren an,  für ihn als Security im Bordell einzuspringen. Der Job sagte mir zu, und ich blieb Vollzeit dort. Die Wachleute wurden anständig bezahlt – für eine 24-Stunden-Schicht ungefähr 100 Dollar bar auf die Hand. Für Piter war das gutes Geld.

    Der Puff befand sich in einem Souterrain am Stadtrand. Drei Kellerräume waren mit Vorhängen abgeteilt, so dass sich jeweils zwei oder drei Nischen ergaben. So einen Laden kann man aufmachen, wenn man nicht viel Geld hat und Bullen kennt – ein Bordell aufmachen, schnell Kapital anhäufen und in ein anderes Business wechseln.  

    Unser Bordell kam ins Laufen, weil wir im ganzen Stadtviertel Werbezettel aufhängten. Sowas wie Relax 24. Da gab es extra einen Typen, der rumlief und Zettel klebte. Wenn auf diese Inserate hin viele Männer anriefen, bekam er 1500 bis 3500 Rubel [circa 20 bis 40 Euro] Manchmal meldeten sich auch Mädels, die Arbeit suchten.

    Ein Bordell aufmachen, schnell Kapital anhäufen und in ein anderes Business wechseln

    Keine Ahnung, was die Bordellbesitzerin vorher gemacht hatte, aber wahrscheinlich irgendwo am Empfang gearbeitet. Sie kannte die Bullen des Bezirks recht gut, ich denke, da nutzte sie Verbindungen von früher.

    Es war Aufgabe der Administration, Anrufe entgegenzunehmen und Präsentationen für die Kunden zu arrangieren. Die Administration machte die Kasse und die Abrechnungen, zahlte Löhne aus, organisierte den Alltag der Prostituierten und verkaufte alkoholische Getränke. Die Kohle ging an die Puffmutter oder, seltener, an einen Bullen.

    Ich kannte den Bullen, der den Kies holte. Das ganze Polizeirevier, ja der ganze Bezirk wusste, dass hier ein Bordell war. Manchmal kamen die Bullen selber als Freier. Die wurden gratis bedient. Ich hab gehört, dass sie rund 50.000 Rubel [circa 600 Euro] im Monat bekamen, aber ob das stimmt, weiß ich auch nicht.

    Auf Arbeit musste ich absolut nichts tun, nur Gäste begrüßen und verabschieden. Lesen ging nicht wirklich – Geschrei, Gestöhn, laute Musik. Das beste war, auf dem Handy zu spielen oder in sozialen Netzen rumzuhängen.

    Damit wir uns nicht langweilten, schleppten mein Freund und ich Fitnessgeräte an. Wir fanden einen abschließbaren Raum und kauften dafür Sporteinrichtung. Wir hatten da eine Scheibenhantel, ein Reck, einen Barren, Fausthanteln und Gewichte. Ich aß, schlief, trainierte, hing am Handydisplay. Konflikte mit Freiern wurden mit Worten oder Waffen gelöst. Pistole raus und höflich zum Abmarsch auffordern ging immer. Manchmal reichte auch Reizgas.

    Manchmal kamen die Bullen selber als Freier, die wurden gratis bedient

    Der Großteil der Kunden sind Arbeiter. Tadshiken, Usbeken. Manchmal auch ganz normale junge Russen. Wo mir dann oft nicht klar war, warum der keine Freundin hat. Aber nein – er geht in den Puff. Und bezahlt eine Frau, die … na eben eine unter seinem Niveau.

    Der Freier wird reingelassen und setzt sich dann auf die Gästebank. Dann kommen die verfügbaren Mädchen raus und lassen sich anschauen – das ist die Präsentation. Er sucht sich eine aus, die ihm gefällt. Die nimmt er mit aufs Zimmer.

    Die Mädchen kosteten 1200 [knapp 15 Euro]. Dafür kriegt der Kunde einen Blowjob, zweimal Verkehr und eine Entspannungsmassage. Analsex kostet extra. Ein Mädchen, das gut ankam, konnte locker bis zu zehn Freier pro Schicht bedienen. Die, die nicht so oft drankamen, zwei bis drei.

    Nutten gibt es verschiedene – Russinnen, Asiatinnen, Schwarze. Die Schwarzen haben eine eigene Chefin, die sie in Afrika für Russland anwirbt. Sie zahlt ihnen die Reise und eine Unterkunft. Die Mädchen schulden ihr dann rund eine Million Rubel [circa 12.000 Euro]. Diese Summe arbeiten sie im Bordell ab, zahlen ihr also nach jeder Schicht eine Rate. Außerdem bringt ihnen diese Frau Mittel gegen den speziellen Körpergeruch von Schwarzen und traditionelles Essen – so Fleischgerichte mit Reis. Manchmal gab’s auch Kuhschwänze.  

    Wenn sie nicht umgebracht werden oder sonst was passiert, gehen die nach Afrika zurück und starten dort gemütlich ihr eigenes Business. Zum Beispiel einen Supermarkt. Einen anderen Weg gibt es nicht. Dafür können sie herkommen, was ausprobieren und leben dann in Saus und Braus.   

    Die Afrikanerinnen wohnten im Bordell. Ich brachte ihnen russische Schimpfwörter bei. Zum Beispiel „******“ auf die Frage „Wie gehts“. Ich wollte einfach hören, wie sie das Wort „******“ [supergeil] mit ihrem Afroakzent aussprechen.

    Die Mädchen hatten keinen bestimmten Zeitplan. Kein Krankengeld und keine Sozialleistungen. Das ist keine Arbeit

    Die anderen kamen einfach zum Geld verdienen. Zum Spaß einfach nur rumhängen tat dort niemand – die Mädels mussten für die Wachleute zahlen. Auch Gleitgel und was sie sonst noch brauchten bezahlten sie aus eigener Tasche. Gummis kauften sie auch auf eigene Rechnung, und sie bumsten nie ohne. Das war absolute Bedingung. Die Freier versuchten manchmal, das Kondom abzustreifen, aber dann mischten wir uns ein, entweder ich oder die Administration.

    Ganz interessant, dass in diesem Geschäft keine Tadshikinnen genommen werden. Viele Tadshiken haben nämlich was dagegen, dass Tadshikinnen auf den Strich gehen. Dann kommen sie womöglich ins Bordell, stiften Unruhe, verletzen jemanden, nehmen die Frau mit und fahren mit ihr in den Wald und bringen sie um.

    Unsere Luder hatten keinen bestimmten Zeitplan. Kein Krankengeld und keine Sozialleistungen. Das ist keine Arbeit. Manchmal, wenn zu wenige da waren, riefen wir sie an, ansonsten scherte sich niemand drum, ob sie sich frei nahmen oder nicht. War ja ihre Kohle. Soll sie doch selber entscheiden: Kann sie krank herkommen oder nicht? Klar kann sie krank kommen. Manche kommen auch mit Fieber und ****** [arbeiten].    

    Die Mädchen landen freiwillig im Puff. Heutzutage bringt es nichts, jemand zu entführen und zu zwingen. Das gilt als besonders schweres Verbrechen, und wozu bitte jemanden klarmachen, wenn es Leute gibt, die freiwillig auf den Strich gehen?

    Wenn sie nicht umgebracht werden oder sonst was passiert, gehen die nach Afrika zurück und starten dort ihr eigenes Business

    Einmal gab’s bei uns einen Überfall. Stammkunden. Zwei klingelten an der Tür, drei versteckten sich um die Ecke. Ich war nicht dabei, mein Kollege hatte Schicht. Er sah durch den Spion bekannte Gesichter, dachte, alles ok, und machte auf. Sie schlugen ihn sofort nieder, er rollte die Treppe runter. Die, die sich versteckt hatten, stürmten rein. Sie hatten Schlagstöcke. Einer hatte eine Luftpistole. Sie schlugen meinen Kollegen zusammen, schleiften ihn ins Bordell rein, prügelten dort alle nieder. Meinem Kollegen haben sie sein Tablet und sein Geld abgenommen. Die Afrikanerinnen haben sie ausgeraubt, das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Die Kasse mitgehen lassen.     

    Die Frau am Empfang hatte sich auf dem Klo versteckt, aber sie schlugen die Tür ein, zogen sie aus dem Klo und vergewaltigten sie auch noch. Den Wachmann wollten sie auch vergewaltigen.

    Dann kam ein Polizist ins Bordell. Er kam nicht wegen dem Überfall, sondern um seine Knete zu holen. Sie sahen ihn, jagten ihm nach, und als sie ihn erwischten, schlugen sie ihn mit den Schlagstöcken und schossen ihn mit der Luftpistole an. Nahmen ihm zwei iPhones und eine Goldkette ab. Die Gangster, alles Migranten, versprachen, wiederzukommen. Sie wollten Schutzgeld erpressen.    

    Ich und die anderen Securitys beschlossen, sie zu bestrafen.

    Das nächste Mal nahm ich eine Gummigeschosspistole, einen Jagdkarabiner, mehrere Messer und Tränengas mit ins Bordell. Wir warteten, dass sie wiederkommen. Im Endeffekt kamen zwei der Gangster, einen davon erkannten wir. Sie brachten eine Torte mit. Wir stürzten uns auf sie. Sie ließen die Torte fallen und suchten Deckung. Einen verprügelte ich mit dem Pistolenschaft, es begann ein Gerangel, und mein Kumpel schoss den beiden in die Beine.

    Das nächste Mal nahm ich eine Gummigeschosspistole, einen Jagdkarabiner, mehrere Messer und Tränengas mit ins Bordell. Wir warteten, dass sie wiederkommen

    Ich nahm das Messer, packte einen von ihnen am Kragen und tat, als wäre ich ******** [irre]. Ich lachte hysterisch, heulte, brüllte ihn an und biss ihn in die Wange. Als er sein Gesicht hinter seiner Hand verbarg, stach ich mit dem Messer auf seinen Arm ein. Dann drohte ich, ihm das Ohr abzuschneiden.

    Da sah ich, dass in der Blutlache auf dem Boden Tortenstückchen schwammen. Ich fischte mit dem Messer einen Brocken Torte, schwenkte ihn im Blut und fütterte den Burschen mit dieser appetitlichen, prächtig roten Torte. Er aß. Er hatte keine Wahl, ich hatte ihm ja versprochen, ihm sonst den Mund mit dem Messer aufzuschneiden. Sie erzählten uns alles, was sie wussten.

    Dem Typen, der nichts damit zu tun hatte, rieten wir, bis zum Abend ruhig abzuwarten, und ließen ihn frei. Der andere blieb bei uns. Wir hielten ihn als Geisel, bis unsere Leute die anderen Gangster gefunden hatten. Insgesamt hielten wir sie ungefähr 20 Stunden fest. In der Zeit versuchten wir, ihnen die Kugeln aus den Beinen zu ziehen, aber vergeblich. Die Nutten riefen einen Bekannten an, der Arzt war. Der bekam die Kugeln aber auch nicht raus. Wir überredeten sie, ins Krankenhaus am anderen Ende der Stadt zu gehen.

    In der nächsten Nacht nahm uns die Polizei fest – der, den wir laufen gelassen hatten, war zu den Leuten seines Kumpels gegangen. Als die erfuhren, dass wir ihn im Bordell festhielten, verpfiffen sie uns bei den Bullen. Ich hab’s abgesessen. Die, die den Überfall gemacht haben, sitzen immer noch.

    Ich fischte mit dem Messer einen Brocken Torte, schwenkte ihn im Blut und fütterte den Burschen mit dieser appetitlichen Prächtig roten Torte

    Die Mädels im Puff hab ich verachtet. Ich hab mich sogar bemüht, sie nicht zu berühren und nichts zu nehmen, was sie in der Hand hatten. Einmal hab ich Wasser genommen, und usbekische Pistazien.

    Jemand, der so etwas macht wie die, verkommt mit der Zeit. Sie trinken, nehmen Drogen. Wir haben im Bordell Spritzen gefunden. Eine hing sicher an der Nadel – immer völlig fertig, und die Beine voller blauer Flecken. Geschwollene Füße, das Gesicht aufgedunsen, hässlich. Den Job wechseln wollten die Nutten anscheinend nicht. Sie sagten, sie haben im Bordell angefangen, weil sie sich anders nicht finanziell durchschlagen konnten.

    Ich finde es nicht in Ordnung, seinen Körper zu verkaufen, aber ich finde, jeder Mensch hat das Recht, das selbst zu entscheiden. Mir ist klar, warum es diese ganze Prostitution gibt. Daran sind nicht die Mädchen schuld. Schuld sind die Umstände rundherum.

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  • „Russland fällt immer weiter zurück“

    „Russland fällt immer weiter zurück“

    Berühmt wurde er mit seinen Fandorin-Krimis, die sich auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen: Boris Akunin ist weltweit ein Kult-Autor. Dass sich Akunin, der unter Pseudonym schreibt und im wirklichen Leben Grigori Schalwowitsch Tschchartischwili heißt, auch mit Geschichte gut auskennt, das wissen hierzulande die Wenigsten. In Russland jedoch sind in den vergangenen Jahren bereits drei Bände seiner Sachbuchreihe Geschichte des russischen Staates erschienen.

    Zum 60. Geburtstag des Autors im Mai 2016 sprach ZNAK mit ihm über Sinn und Unsinn der Geschichte, die Pferde der Goldenen Horde und Elektroautos am Horizont.

    Setzt auf die Horizontale, nicht auf die Vertikale – Russlands Star-Autor Boris Akunin. Foto © Wikimedia/Dmitry Smirnov
    Setzt auf die Horizontale, nicht auf die Vertikale – Russlands Star-Autor Boris Akunin. Foto © Wikimedia/Dmitry Smirnov

    Alexander Zadoroshni: So gründlich wie Sie, Grigori Schalwowitsch, die Geschichte Russlands erforschen, haben Sie sicher gewisse Gesetzmäßigkeiten festgestellt und formuliert. Was ist Ihrer Meinung nach der Sinn der Geschichte – und was sind ihre Gesetze? 

    Boris Akunin: Ganz kurz gesagt … Geschichtswissen hilft einer Nation, die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden. Unkenntnis und Unverständnis der Geschichte dagegen lässt sie immer wieder in dieselben Fallen tappen. Jeder andere Umgang mit der Geschichte – als Mittel zur Erziehung der heranwachsenden Generation, als Anregung zu Patriotismus, als Rechtfertigung territorialer Ansprüche et cetera – ist ein gefährlicher Irrtum.  

    Das Russland von heute braucht dringend westliche Technologien. Europa wiederum ist interessiert an Russlands Rohstoffen und dem hiesigen Markt. Was denken Sie, sind wir zur Kooperation verdammt, zum „Zusammenleben“, oder werden wir es ohne einander „schaffen“?

    Was soll das heißen, „verdammt“? Es ist doch wunderbar, wenn wir einander brauchen. Natürlich müssen wir Handel treiben und kooperieren. Sonst müssen wir die Chuch’e-Ideologie übernehmen und uns mit Reisrationen allein an großen staatlichen Feiertagen zufrieden geben.

    „Europa geht zugrunde“: Unkontrollierbare Flüchtlingsströme, Terrorismus, der Verlust der Identifikation mit dem Christentum, sexueller Sittenverfall, Finanzkrisen – das ist bekanntlich die Standart-Sichtweise von russischer Seite. Inwiefern entspricht sie der Realität?

    Gar nicht. So wie das derzeitige Europa würden wohl alle gern zugrunde gehen. Natürlich gibt es Probleme, doch die sind nicht so katastrophal wie von Journalisten dargestellt. Westeuropa ist heute die beste und am besten versorgte Region der Welt. Freundliche, aufgeschlossene, friedliche Menschen gibt es dort viel mehr als anderswo, und das ist der wichtigste Gradmesser.   

    Nach dem, was 2014 in der Ukraine passiert ist, werden die Wunden sehr langsam verheilen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt

    Eine Frage konkret zur Ukraine. Über mehrere Jahrhunderte des vergangenen Jahrtausends gehörten die Gebiete der heutigen Ukraine dem katholischen Großfürstentum Litauen an, danach der Königlichen Republik Polen-Litauen.

    Tritt also gegenwärtig diese kulturelle Bruchstelle zutage, sind wir gar keine richtigen „Brudervölker“? Die einen Experten sprechen von einem Bruch für immer, die anderen von einem friedlichen Zusammenleben in einem gemeinsamen europäischen Haus.

    Nach dem, was 2014 passiert ist, werden die Wunden nur sehr langsam verheilen. Ihre Behandlung hat eigentlich noch gar nicht begonnen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt. Doch eine neue Regierung wird ein sehr schweres Erbe antreten.     

    In der russischen Geschichte gab es Institutionen wie die Volksversammlung Wetsche oder die Ständeversammlung Semski Sobor. Was meinen Sie, sind die Russen heute fähig zu einer Demokratie europäischer Qualität?    

    Natürlich sind sie das. Alles hängt von den Regeln ab, die es in der Gesellschaft gibt. Von den Signalen, die die politischen Machthaber von oben herabsenden. Vom Stand der Entwicklung demokratischer Institutionen. Vom Glauben an ihre Wirksamkeit.

    Eine solche Evolution geschieht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen. Doch jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Wenn du den nicht machst, kommst du generell nirgendwohin.

    Von Iwan III. bis heute ist bei uns die Devise aktuell: „Moskau ist das Dritte Rom, ein viertes wird es nicht geben.” Was ist eigentlich das Römische an der russischen Geschichte?

    „Römisch“ oder besser gesagt byzantinisch ist bei uns die Orthodoxie, die fast die gesamte russische Geschichte hindurch Staatsreligion war und es jetzt wieder geworden ist.
    Im strukturell-typologischen Sinn ist Russland allerdings Nachfolger und Erbe des Reichs von Dschingis Khan und der Goldenen Horde und hat immer versucht, sich auf eben jenem Gebiet auszubreiten.

    Als Erklärung dafür, warum Volksherrschaft, Selbstverwaltung und Föderalismus in Russland nur schlecht gelingen, wird oft der jahrhundertelange Einfluss dieses mongolisch-tatarischen Jochs genannt.     

    Die mongolisch-tatarische Phase (der Terminus „Joch“ ist nicht korrekt) hat unseren Staatstyp bestimmt. Übrigens hat dieses Modell auch seine Stärken: eine hohe Widerstandskraft, die Fähigkeit zur Mobilisierung in Zeiten schwerer Bewährungsproben, große Ressourcen an Opferbereitschaft. Erreicht wurde das jedoch auf Kosten von Persönlichkeitsrechten und Gefühlen persönlicher Würde, die wiederum Eckpfeiler des westeuropäischen Modells sind.

    Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine ,straffe Machtvertikale‘ zur Entwicklungsbremse

    In Ihrer Geschichte des russischen Staates führen Sie an, dass die Zentralisierung der Macht mehr Möglichkeiten zu „kumulativer“ Entwicklung und einem mobilisierenden Ruck biete als Demokratie und Föderalismus. Denn bei letzteren gehe viel Zeit für Abstimmungsverfahren verloren.
    Ist also jetzt, wo unsere Gesellschaft einen solchen „Durchbruch“ braucht, die Zentralisierung der Macht gerechtfertigt?

    Nein. Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine „straffe Machtvertikale“ zur Entwicklungsbremse. Das Staatsmodell der Goldenen Horde hat seine historische Schuldigkeit getan.

    Jetzt rückt die sogenannte Soft Power auf den Plan: Lebensstil, wirtschaftliche und technische Entwicklung, Bildungsniveau. Gewinner sind jene Länder, in denen die Entwicklung nicht auf Befehl von oben erfolgt, sondern freiwillig, an Ort und Stelle.
    Provinz und Peripherie werden wichtiger als das Zentrum. Bei uns dagegen gibt es die umgekehrte Tendenz. Deswegen fallen wir immer weiter zurück.  

    Kormlenije, Bestechlichkeit, Korruption – das sind unsere „Muttermale“. Dahinter verbirgt sich folgende Logik: Russland hat riesige Flächen, deswegen besteht eine ständige Notwendigkeit, die auseinanderfallenden Gebiete „zusammenzukleben“, daraus ergibt sich eine gewaltige Bürokratie und daraus wiederum Korruption.

    Ist Korruption also eine natürliche Folge unserer weiten räumlichen Ausdehnung – und damit eine Gegebenheit, die man am besten einfach so hinnimmt?   

    Korruption ist der natürliche Begleiter einer nackten „Vertikale“. Wenn es keine echten Abgeordneten gibt, keine unabhängigen Richter, nur Kontrolle von oben, dann lernt der Beamte schnell eine goldene Regel: Sieh zu, dass du der Obrigkeit gefällst – und mach ansonsten, was du willst.

    Manchmal scheint es, als würde bei uns alles von irgendwelchen Idioten bestimmt. Doch dem ist nicht so. Minister, Bürgermeister, Gouverneure und sonstige Funktionäre sind keineswegs Idioten, sie haben nur eine andere Priorität: Oberstes Ziel jeder Handlung ist es, der Gunst der Vorgesetzten zu dienen, und nicht dem Interesse an der Sache und schon gar nicht der Gunst der Bevölkerung.

    Alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst zischt der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüber und verschwindet am Horizont

    Unsere Geschichte kennt sowohl Beispiele der „offenen“ (Nowgorod) als auch der „geschlossenen“, autarken Entwicklung. Was denken Sie, welcher Weg ist für uns der organischste, welcher verspricht den meisten Erfolg?

    Im 21. Jahrhundert muss man auf die „Horizontale“ setzen, also auf die Entwicklung der Regionen, auf deren kreatives Potenzial. Das Zentrum muss in diesem Orchester die Rolle des Dirigenten spielen und Arbeiten übernehmen, die für die gesamte Bevölkerung von Bedeutung sind. Punkt.

    Und alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst werden wir immer wieder auf das „Pferd der Horde“ steigen und runterfallen – während der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüberzischt und am Horizont verschwindet.

    In Russland ist man gern stolz darauf, dass wir weder Westen noch Osten sind, dass wir einen „besonderen Weg“ haben: einen Staat, den Normannen gegründet und Mongolen gestaltet und geprägt haben.    

    Pah, was wir nicht alles finden, um uns aufzuplustern. „Besonderer Weg“, „wir sind die Besten“, „nein, wir sind die Schlechtesten“. Bei uns klopft man eben gern reißerische Sprüche.
    Man muss dafür sorgen, dass es zu Hause sauber und ordentlich ist. Damit sich die Menschen im eigenen Land wohlfühlen. Damit der Staat dem Volk dient, und nicht umgekehrt. Damit die Menschen nicht erniedrigt werden. Damit den Schwachen geholfen wird, ein normales Leben zu führen, und den Starken, sich weiterzu­entwickeln. Dann wird sich Schritt für Schritt alles bei uns regeln, und die ganze Welt wird uns Respekt zollen.   

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