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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Post-Putin-Ära läuft schon“

    „Die Post-Putin-Ära läuft schon“

    Fünf Jahre sind vergangen, seit zehntausende Menschen im ganzen Land auf die Straße strömten, Unzufriedene, die vehement Wahlfälschung anprangerten. Massenproteste – einen ganzen Winter lang. Heute wirkt das wie aus einer anderen Welt. Viele Analysten sehen den Willen, sich politisch zu betätigen, in Russland inzwischen an einem Tiefpunkt angelangt. Einen etwas anderen Blick auf den Zustand des Landes hat Gleb Pawlowski.

    Pawlowski galt einst als eine der grauen Eminenzen des Kreml und ist mit seiner früheren Nähe zur Macht eine gewichtige Stimme für die russische Medienlandschaft. Sowohl Jelzin als auch Putin half er als Polittechnologe jahrelang, hohe Zustimmungswerte zu bekommen, fiel später jedoch in Ungnade und wandelte sich zu einem zynisch-kritischen Kommentator seiner Zeit. Einer, der nie aufgehört hat, die Putinsche Politik als inszenierte Welt, als Theater zu sehen und in kühlen strategischen Kategorien zu denken.

    Im Interview mit dem Webmagazin Colta.ru erklärt er nun, warum er ausgerechnet dem Jahr 2017 eine neue Politisierung der Gesellschaft prophezeit, was er darunter versteht und was das für ihn mit Putins jüngster Rede zur Lage der Nation zu tun hat.

    Beginnen wir mit den jüngsten Ereignissen. Die Rede des Präsidenten vor der Föderalversammlung wird allgemein als „versöhnlich“ eingeschätzt. Worauf ist Ihrer Meinung nach diese demonstrative Neutralität seiner Ansprache zurückzuführen?

    Die Programmrede enthielt nichts von dem, was man angstvoll erwartet hatte; sie wurde als versöhnlich und beruhigend empfunden. Es war aber auch keine Rede zur Lage der Nation. Wenn der Präsident die Situation nicht eskalieren lassen will, wendet er sich nicht an sein Land, sonst würde seine Rede extrem ausfallen. Putin möchte vorerst dem populistischen Expansionstrend, den er selbst vorgegeben hat, nicht mehr folgen. Also hören wir am Rednerpult eine „Botschaft seines Redenschreibers“.

    Da erinnert er plötzlich an das Exportpotential der Landwirtschaft, obwohl dieses Thema schon zehn Jahre alt ist. Ich hatte früher schon, 2010 war das wohl, geraten, in der Propaganda auf Russland als neuen Agrarexporteur zu setzen, doch hatte der Kreml sich das damals nicht getraut. Oder er spricht ausführlich von der High-Tech-Branche. Das ist gut, wenn man nicht vergisst, dass die digitale Wirtschaft und Kommunikation schon seit fünf Jahren staatlicherseits bombardiert wird. Die hätte man einfach nur nicht stören dürfen. Jetzt braucht man wirklich viel Haushaltsmittel, um dem Verwundeten wieder auf die Beine zu helfen.

    Putin sucht Themen, die niemandem wehtun, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss. Denn in der Politik gibt es keine wichtigen Themen, die konfliktfrei wären, und das ist auch ganz normal: Das Land politisiert sich. Aber dann fragt man sich: „Worüber schweigen wir heute eigentlich?“

    Mussten die Eliten beruhigt werden, angesichts der „Korruptions-Show“?

    Ja, die Rede sollte den Grad ihrer Politisierung reduzieren. Es politisieren sich ja gerade die Eliten – über repressive Injektionen und das Gezeter bezahlter Aktivisten. Wem aber gibt Putin die Anweisung, sich zu beruhigen? Jenen, die provozieren, oder jenen, die schon provoziert wurden? Auf jeden Fall hat der Präsident keine einzige direkte politische Direktive ausgegeben, die einen Kurswechsel verlangen würde. Über die Rede verteilt gab es eine Menge Andeutungen, ohne dazugehörigen Adressaten. Im derzeit bestehenden Block-System des Regimes sind alle steuernden Zwischenelemente zerstört worden; für alles ist Putin zuständig. Wie soll er sich da verhalten? Also versucht er, die Politik Russlands diskursiv zu korrigieren, wobei er lediglich das Repertoire der Termini und Timbres seiner Phrasen ändert. Das ist eine sehr schwache Einflussnahme. Dafür wird die Zuständigkeit der höchsten Instanz auch dort gewahrt, wo es an der Zeit wäre, andere entscheiden zu lassen.

    Der hellen Aufregung nach zu urteilen ist der Fall Uljukajew das wichtigste Ereignis der politischen Saison. Wie interpretieren Sie die Verhaftung?

    Wir erörtern endlos nicht-politische Ereignisse als politische Zeichen. Noch trauriger ist, dass wir ausgerechnet jene Bilder diskutieren, die man uns auf dem monopolisierten Markt des Verkäufers aufschwatzen möchte. Wir trauen uns nicht, sie nicht zu kaufen, wir schlucken oder kauen sie, jeder was er kann. Worum geht es denn im Fall Uljukajew? Schauen Sie: Der Fall wurde von Anfang an wie eine Premiere im Theater vorbereitet, was der Präsident auch völlig unzweideutig über seinen Pressesprecher erklärt hat. Die Vorbereitung lief ganz nach den Regeln des Theaters: Bühnenbild, Inszenierung und Reaktionen der Kritiker wurden im Vorfeld genau durchdacht. Wenn wir über solche Sachen reden, reden wir in Wirklichkeit von nichts Politischem. Das sind sklavische Diskussionen. Inhaltsleerer Tratsch über das Leben der Herrschaften.

    Putin sucht Themen, die nicht ins Fleisch schneiden, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss

    Wir hoffen wie immer, dass uns das etwas über den inneren Aufbau und Zustand des Kreml sagt.

    Die erklären uns nur, was sie erklären wollen. Wenn Sie im Theater sitzen, erfahren Sie auch nichts über das Leben hinter den Kulissen. Die Dramaturgen des Kreml betreten nicht die Bühne. Es gibt hier auch kein gesellschaftliches Interesse, da es ja keine öffentliche Politik gibt. Die Sache ist nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, wie die Politsendungen im Fernsehen: Da hat man ein Fenster, in das man zwar reinschauen, in dem man aber nichts ändern kann.

    Andererseits lässt sich die Technik diskutieren, mit der das bewerkstelligt wurde. Wie der Präsident und Oberste Befehlshaber des Landes über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg aus irgendeinem Grund die Abhörprotokolle der Telefongespräche seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen hat. Das allein vernichtet das Vertrauen in die Angelegenheit, ganz gleich, wieviel Schmiergelder Uljukajew genommen hat. Diese Falle, die nach allen Regeln des Theaters gebaut wurde, macht die ganze Geschichte rechtlich gesehen irrelevant. Wir diskutieren, was Uljukajew bei Rosneft gemacht hat, obwohl die Bedeutung dieses Konzerns bis ins Absurde hochgespielt wird. Rosneft heute, das ist einfach ein staatliches Super-YUKOS.

    Auf welche Weise ändert die weltweite Wende zum Rechtspopulismus die Lage Putins auf der außenpolitischen Bühne? Schließlich hat er als einer der ersten diesen Trend aufgegriffen, als er nach den Ereignissen um die Krim begann, „im Namen des Volkes“ zu regieren.

    Der Erste ist nicht unbedingt auch Herr der Entwicklung. Putin war gut, solange das liberale Establishment den Mainstream in der Welt bildete. Wenn Trump zum Mainstream wird, dann ist Putin überflüssig.

    Es ist ja schön und gut, ein krasser Macher zu sein, wenn rundum nur Warmduscher zu finden sind. Aber was soll man tun, wenn auch alle anderen Machos sind – und du nicht mehr alle mit deinem Geld beeindrucken kannst. Das ist wie mit unserer Ukraine-Politik, wo nur raffgierige Gruppen geblieben sind, die alle dringend Geld haben wollen. Bezeichnend ist auch der Präsident der Philippinen, der sich mit Liebesgestöhn an uns schmiegt, wo doch klar ist, dass er einfach nur Kredite braucht.

    Mit Trump öffnet sich ein Fenster der Möglichkeit, unsere Politik, die im Sumpf feststeckt, zügig wieder auf Kurs zu bringen. Populismus als Trend eröffnet die Gelegenheit, eine Sache schnell durch eine andere zu ersetzen. Aus der Ukraine-Geschichte sollten wir möglichst herauskommen, doch wird uns das nicht leicht gemacht. Es gibt nichts, womit wir ein Spiel zwischen den USA und der EU beginnen könnten, weil wir uns auch mit Europa zerstritten haben und Asien uns nur ausnutzt. Wenn wir mit Maria Sacharowa weiterhin das Universum verlachen und den Nationen ins Gesicht spucken, wird man wohl kaum mit uns verhandeln wollen. Das europäische Establishment wird nicht verschwinden – es wird von einer alten Kultur und einem System gut regulierter Volkswirtschaften getragen und sich weder Putin noch Trump beugen.

    Der Präsident hat über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg die Abhörprotokolle seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen. Das vernichtet Vertrauen in den Fall Uljukajew

    Also ist der Sieg von Trump gar nicht so sehr ein Triumph für Putin?

    Im Kreml war man lange nicht mehr so glücklich wie nach dem Sieg von Trump. Diesen armen Würstchen kommt der Sieg wie der ihre vor, doch beweist das nur, wie inadäquat sie sind. Denn wer Trump auch immer sein mag, er bleibt der Anführer der stärksten Volkswirtschaft und der Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Welt. Er wird uns nicht folgen, nicht hinter uns hergehen, sondern über uns hinweg. Leute wie Trump wenden sich schnell ab, sobald jemand nicht mehr von Nutzen ist.

    Trump hat Russland als Symbol gebraucht, um die Präsidentenwahlen zu gewinnen. Er hat sein Spiel gegen das gesamte Establishment in D.C. gespielt. Da brauchte es ein Symbol, das ihn als Feind Washingtons kenntlich machen würde und dabei den Wählern gleichgültig wäre, sie nicht spalten würde. Russland ist dem amerikanischen Wähler völlig egal. Trump wusste aber sehr wohl dass er die Demokraten in Washington mit Russland reizen würde wie eine klappernde Konservendose am Schwanz einer Katze – so hat er hat die Demokraten aufgeregt, zur Freude seiner Wähler.

    Wenn der Kreml aber unvorsichtig wird und anfängt, andauernd die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wird er wieder zu einer bequemen Zielscheibe der Weltöffentlichkeit. Dann würde Russland wieder die gleiche Rolle zuteil, die es im amerikanischen Wahlkampf hatte, nur eben für alle – inklusive der Populisten. Das wäre eine sehr gefährliche Lage. Es würde uns selbst von jenen wenigen Freunden und Verbündeten isolieren, die noch geblieben sind.

    Wenden wir uns wieder der Innenpolitik zu. Selbst wenn die Verhaftung Uljukajews ein vereinzeltes, gut inszeniertes Schauspiel ist, so haben wir doch in letzter Zeit eine ganze Reihe von Strafverfahren gegen Gouverneure, hochgestellte Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden und so weiter erlebt. Werden gerade die Spielregeln verschärft?

    Beginnen wir damit, dass ein Vergleich mit der Zeit vor 2012 sinnlos ist. Die dritte Amtszeit Putins stellt eine Verletzung seiner eigenen, selbst auferlegten Regeln dar. Er hat jene Erwartungen enttäuscht, die er selbst formuliert hat. Das erfolgte ab Sommer 2012. Der Prozess gegen Pussy Riot begann, das Dima-Jakowlew-Gesetz wurde verabschiedet; so etwas wäre zuvor unmöglich gewesen. In der gleichen Zeit gab es auch den ersten Versuch, ein Antikorruptions-Theater aufzuführen, den Fall Serdjukow. Es wurde allerdings schnell klar, dass man nicht jeden X-beliebigen als Zielscheibe nehmen kann. Das Motiv der Gaunerei hätte die gesamte Führungsschicht mit hineingezogen; dazu war Putin aber noch nicht bereit.

    Dann ging es weiter bergab. Eine grundlegende Veränderung gegenüber der Situation von 2012 bestand – insbesondere nach der Geschichte mit der abgeschossenen Boeing – in dem Aufkommen einer komplexen, nun schon auf ein weltweites Publikum ausgerichteten Medienmaschinerie. Plötzlich gab es das Ziel, mit den inneren Angelegenheiten auf eine internationale Bühne zu treten. Im Kreml begann man, weltweit um Publikum zu kämpfen. Sie spielten dafür auf sämtlichen verfügbaren Klaviaturen: Russia Today, Soziale Netzwerke, eine affilierte Klientel in westlichen Parteien von unterschiedlich starkem Gesindel. Das ist der Testlauf einer strategischen Maschine, die bereits nicht mehr „intern“ bleiben konnte. Die Wirtschaft wurde dem Aufbau eines globalen Mega-Einflusses geopfert.

    Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft. Schnitt und Montage werden fortgeführt, mit dem Content wird es allerdings, soweit ich das absehen kann, Probleme geben.

    Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft

    Die politische Aufgabe besteht heute darin, eine Bevölkerungsgruppe zu erfassen und sie danach zur entscheidenden zu erklären. Bei uns redet man gern von „Mehrheit“, dabei haben doch die Wahlen im September gezeigt, dass die Krim-Mehrheit nicht einmal wirklich zu den Wahlen geht und umso weniger zu weiteren Schritten bereit ist. Die sind nicht willens, Krieg zu führen, ja nicht mal als Statisten wollen sie agieren. Die Mehrheit wird heute von Schauspielergruppen dargestellt, Bikern, Kosaken und Experten im Fernsehen. Das sind alles eindeutig Minderheiten. Es gibt überhaupt keine Mehrheit. Und je kleiner die Mehrheit, umso wichtiger sind diese Aktivisten, die vorgaukeln, dass es sie gebe.

    Aktuelles politisches Moment ist, dass die Regierung versucht, den Grad der Aggression im Land zu reduzieren, weil es schwieriger geworden ist, es zu steuern. Und dann erscheint es dem Regime aber wichtiger, Uljukajew hinter Gitter zu bringen, als das Land mit Signalen zu beruhigen, dass man in Sicherheit sei. Dabei ist nicht einmal die Regierung in Sicherheit, und sie regiert auch nicht, sondern wartet einfach ab, wie das alles enden wird.

    Und inzwischen wird das Land kollektiv von Rosneft, dem FSB und dem Sicherheitsrat regiert?

    Nicht im Kollektiv. Jeder für sich, und nicht das ganze Land. Je nach Zuständigkeiten der Apparate hat jeder seinen Kontrollbereich. Insgesamt ist es ein kunterbuntes, fragmentiertes System. Sogar der Duma fällt etwas zu: Sie ist kein Parlament, kein Repräsentationsorgan, überhaupt keine Macht, und doch beschließt sie die Gesetze. Von denen einige mit der Konstruktion einer Maschinerie zu tun haben werden, die der Bevölkerung Geldstrafen abpressen soll, um dem Staatshaushalt die Erdöleinnahmen zu ersetzen.

    Das besagte neue Wirtschaftsmodell.

    Eher ein neues Fiskalmodell. Die Speisung dieses Modells funktioniert auf dieselbe Weise wie früher. Einen unfertigen Staat, in dem den Bürgern unternehmerisches Engagement und Sicherheit genommen und das Privateigentum in den Untergrund abgedrängt wurde, können Sie nicht auf Steuereinnahmen umstellen. Die Bürger können Ihnen keine Haushaltsgrundlage über Steuern verschaffen, das sind einfach Mittel um Haushaltslöcher zu stopfen. In reichen Regionen wie Moskau ist das Prinzip einfach: Sie haben eine gewisse Summe vor uns verheimlicht? Macht nichts – dann nehmen wir halt 200 Rubel [etwa 3 Euro – dek] fürs Parken. Das geht, solange es massenhaft verborgene Einkünfte gibt, die die Bürger nicht deklarieren.     

    Was kann das System tun, um den Druck zu verringern und die Steuerbarkeit zu erhöhen?

    Der Druck im System steigt, es wird zunehmend schwächer. Man kann sich verschiedene Entwicklungsszenarien vorstellen. Eine erste Variante wäre, den Druck mit Mitteln des Systems selbst zu senken, und zwar über die formal verfassungskonformen halbautoritären Strukturen.

    Zum Beispiel bei den Wahlen – könnte man nicht wenigstens auf Gemeindeebene die Ventile öffnen? Nein, nicht mal das, dem kommt die irrationale Angst vor Wahlen in die Quere. Eine Regierung, die aus einer Fügung bestimmter Umstände hervorgeht, behält diese für immer in Erinnerung und fürchtet sich vor deren Wiederholung. Die Sowjetmacht hat nie das bekämpft, woran sie zugrunde ging, sondern die ohnehin zahlenmäßig irrelevanten antisowjetischen Untergrundorganisationen – weil sie selbst aus dem Untergrund kam. Die heutige Regierung ist aus Wahlen hervorgegangen – zwar aus populistisch moderierten, aber öffentlichen. Also hat sie Angst vor Wahlen und agiert mit Verboten, Filtern und Sperren ohne Ende. Aber es gibt Wahlen – und Möglichkeiten, die Interessen bestimmter Gruppen in Szene zu setzen, gibt es ebenfalls.         

    Eine zweite Variante wäre, eine fieberhafte Wirtschaftsaktivität in Gang zu bringen. In irgendwelchen Branchen einen Aufschwung mittelgroßer Betriebe zu erzeugen, mit Steuerbefreiungen und bereitgestellten Kreditsystemen. Hier stellt sich dann sofort die Frage: Und wer kontrolliert das? Und wenn etwas schiefgeht?

    Als Versicherung scheint unserer Staatsmacht der durchschaubare Mensch zu dienen. Wenn kein durchschaubarer Mensch im Plan vorkommt, dann hält man den Plan für gefährlich. Wobei der durchschaubare Mensch selbst absolut nichts durchschauen muss.

    Das jüngste Beispiel dafür ist die Ernennung von Jewgeni Sinitschew vom FSB zum Gouverneur von Kaliningrad. Dieser Mann erklärte aufrichtig, er habe von Amtsführung keine Ahnung, das sei ihm zuwider. Er plagte sich lange damit, scharenweise rannten sie ihm die Tür mit irgendwelchen Handelsprojekten ein, mit Schmiergeldern, und er bekam es mit der Angst zu tun, hielt alles für Provokation. Man erbarmte sich, er wurde abgelöst.

    Dasselbe bei Nawalny: Einmal zum durchschaubaren Menschen erklärt, und der Kreml hält an ihm fest. Sollte das System ihn verlieren, befürchtet es, überhaupt nicht mehr zu durchschauen was passiert.  Wobei ich überzeugt bin, dass Nawalny keine geheimen Abmachungen mit dem Kreml hat.

    Wir befinden uns in so einer Übergangszeit, wo eine Möglichkeit zu politischem Handeln entsteht. Wer als erstes auf diese öffentliche Fläche hinaustritt, riskiert zwar viel, kann dafür aber einen Platz darauf einnehmen. Der Kreml beeilt sich, der erste zu sein. Stellt sich die Frage: Wessen Interessen kann er vertreten? Nach 20 Jahren gibt es nach wie vor keine Antwort darauf. Über Fürst Wladimir den Heiligen kann man endlos philosophieren, aber wessen Interessen sind das bitte? Wenn das System auf diese Frage keine Antwort findet, wird es nach Putins Abgang einfach fortgeblasen. Bis zu einem gewissen Grad ist ihnen das klar.

    Es braucht eine Koalition von Interessen, keine erschlagende Fernseh-Mehrheit. Das wird ein schwieriger und gefährlicher Übergang, und er hat schon begonnen.    

    Für die Beantwortung dieser Frage muss man verstehen, welche Interessen man im Spezialoperations-Modus überhaupt vertreten kann, wie im Fall von Rosneft.

    Ja, die Technik der Spezialoperationen sind ein Störfaktor. Eine Spezialoperation darf von den anderen nicht durchschaut werden – sobald jemand dahinterkommt, ist es vorbei. Unverständliches kann keine breite Koalition um sich versammeln. Uljukajew wurde verhaftet, und die Beliebtheitswerte stiegen um drei Prozent, hurra. Und weiter? Wo wollt ihr euch diese drei Prozent hinstecken? Wächst dadurch das BIP um drei Prozent oder gehen drei Prozent als Freiwillige nach Syrien? Nein, das ist einfach eine Selbstbeweihräucherung der Staatsspitze. Ich sah, frohlockte und wies mit dem Zeigefinger durch den Bildschirm: „Pass bloß auf, Alter – ich hab 90 %!“ Dieses alte Schema des Mythos hat bis auf einen kurzfristigen Kitzel keine Wirkung mehr.

    Das russische Regime ähnelt in gewisser Weise der Antike: Es ist eine Welt der Mythen. Wie konnten erwachsene Menschen, die Griechen, die mathematische Überlegungen anstellten, an Zeus glauben? Genauso wie wir jetzt an Putins Beliebtheitswerte glauben. Es gibt ein mythisches Band: Umfragen und Wahlen. Auf keines von beiden kann man verzichten.

    Die Wahlen demonstrieren, dass es keine Alternative gibt, und zwischen den Wahlen gibt es Umfragen, das sind ja mythische Wahlen, und die zeigen, dass es auch keine Alternative geben wird. Vom Volk ist das völlig losgelöst, so ist die Struktur des Mythos. In die kann man reingezogen werden, aber irgendwann funktioniert sie nicht mehr.

    Es würde reichen, Fragen zu stellen, die den Mythos durchkreuzen. Nur ein Geisteskranker kann behaupten, es gäbe keine Kandidaten auf die Präsidentschaft. Gibt es etwa keine Minister im Land, keine Gouverneure, keine Führungspersönlichkeiten auf nationaler Ebene? Sogar Setschin, Belych oder Kirijenko könnten genauso gut wie Putin regieren. Selbst auf der kürzesten Liste ließen sich auf Anhieb fünfzig Kandidaten finden. Dass es keine Alternative zu Putin gibt, ist ein Märchen aus der entpolitisierten Welt.   

    Angeblich gibt es das Bedürfnis nach einer starken Hand, deren Rolle Putin übernommen hat.

    Das ist kein Mythos mehr, sondern Propaganda. Was ist das für eine starke Hand, und was kratzt sie? Hat sie etwas importsubstituiert? Hat sie das gespaltene Volk der Ukraine irgendwohin geführt? Sehen Sie sich den unglückseligen Donbass an – da sehen Sie die Taten der starken Hand. Schluss mit den Luftschlössern. Putin ist tatsächlich kein untalentierter Leader, aber er hat ein Problem: Er hat sein Programm, den ihm möglichen Teil erfüllt, komplett. Er hat gemacht, was er konnte, und jetzt denkt er sich aus, was er noch tun könnte. Und wenn er noch 20 Jahre an der Macht bleibt, denkt er sich weiter irgendwas aus, solange es noch materielle Ressourcen gibt.  

    Worin bestand denn das Programm, mit dessen Umsetzung er die ganze Zeit beschäftigt war?

    Ein Minimum an fiskaler und polizeilicher Ordnung im Land. Die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in den Staat, freilich auf sehr niedrigem Niveau. Der Kaukasus. Seine Macht fußt auf einer Entpolitisierung bei gleichzeitigem „bonapartistischen“ Manövrieren zwischen Eliten und Volk. Die Entpolitisierung war die Basis von allem, ein Konsens zwischen der Bevölkerung und allen Kräften, die im Jahr 2000 zur Mannschaft gehörten.

    Entpolitisierung des Landes bedeutete die Entfernung von Konflikten aus der Öffentlichkeit. Sie haben einen Konflikt mit jemandem? Kommen Sie bitte in unseren Empfangsraum, zur Besprechung. Putin war Moderator unzähliger solcher Geschäfte, bis er genug davon hatte. Dieser Ansatz war für etliche Dinge bequem, stieß aber gegen eine Wand zunehmender Komplexität. Das Land war zu komplex geworden und die Konflikte zu kompliziert. Sollen wir denn bis in alle Ewigkeit damit beschäftigt sein, zu entscheiden, welche Interessen die richtigen sind und welche nicht? Die Antwort ist durch die Abschaffung unabhängiger Parteien und politischer Kräfte von der öffentlichen Bühne bereits gegeben. Dann zog sich alles in die Länge. Zerstört hat diesen Konsens Putin selbst – durch die Rochade und dann durch die Krim, indem er im Land eine Atmosphäre des Kampfes für eine mobilisierte Mehrheit und der Suche nach virtuellen Feinden schuf.

    Dieses Jahr wird, glaube ich, die Frage nach den Aufgaben des politischen Moments aufwerfen. Das bisherige Spiel Staat jenseits der Politik haben wir eindeutig hinter uns gelassen. Insofern befinden wir uns wieder in einer politischen Zeit. Es läuft ein Prozess des Auftauens, der Politisierung einer Welt nicht anerkannter Interessen. Dazu gehören neue Subjekte, die wir einfach nicht kennen. Als politisches Subjekt kennen wir nicht mal Setschin: Bisher ist er ein latenter Player, ein Gesicht, das auf einen Sack Dollar gemalt ist. Aber sie alle werden unweigerlich an die Oberfläche gelangen.

    Und die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Wo ist das Programm der nächsten Präsidentschaft? Damit sollten wir uns das ganze nächste Jahr auseinandersetzen, nicht mit Putin. Es sind keine Debatten in Sicht, obwohl sie nicht verboten sind. Die Frage geht also an die Gesellschaft. Die Politiker können sich nicht durchringen, auf die Bühne einer Übergangszeit zu treten. Die denken: Wenn Putin geht – dann beginnt die Übergangszeit. Aber das ist eindeutig ein Fehler. Der Zug ist schon losgefahren, wir müssen herausbekommen, wohin die Reise geht.   

    Ich hatte erwartet, dass wir das früher herausbekommen würden, rund um die Wahlen im September. Hätten wir auch, wenn in der Duma ein oder zwei neue Fraktionen entstanden wären, aber das war nicht der Fall. Also schlägt der Prozess einen anderen Weg ein. Wer tatsächlich als erster die Bühne des Übergangs betreten und sich, ohne vernichtet zu werden, ihrer bemächtigen wird – ich weiß es nicht. Aber wir treten in eine Periode ein, in der wir nicht nur nicht umhinkommen, politisch rechts und links zu definieren, was bisher kaum etwas bedeutet, sondern auch die Sprache zu verfeinern, auf der wir sprechen.   

    Das politische Feld wurde all die Jahre niedergebrannt, und jetzt …

    Jetzt rollt eine Menge mit Verbrennungen davongekommener politischer Krüppel heran, die wir inzwischen geworden sind. So, wie die Debatten geführt werden, ist es nicht möglich, eine Seite zu finden, der man sich anvertrauen kann.

    Es gibt Bürgergemeinschaften – die konnten nicht völlig zerstört werden, weil sie nicht allzu eifrig in die Politik drängten, mal abgesehen von Menschenrechtsorganisationen. Aber ob die Zivilgesellschaft als Repräsentant der Nation auftreten kann, weiß ich nicht. Auf dem vergangenen Allrussischen Bürgerforum wurde erstmals anerkannt, dass die Zivilgesellschaft nicht nur eine Liste von NGOs ist und kein Ghetto für eine Handvoll Wohltäter und Umweltschützer. Jetzt ist klar, dass die Zivilgesellschaft gleichbedeutend mit der politischen Nation ist. Sie besteht aus lauter Gemeinschaften. Russland besteht aus lauter Minderheiten, die sich zu Interessensbündnissen zusammenschließen werden. Daher wird es Konflikte unterschiedlicher Intensität geben, nicht nur mit der Regierung.

    Wird die Post-Putin Ära noch unter dem jetzigen Präsidenten beginnen?

    Ja, sie läuft schon. Deswegen ist es ja so schwierig, derzeit politisch und historisch den eigenen Standpunkt zu bestimmen. Die Post-Putin-Ära zeichnet sich durch einen Zuwachs an Unbestimmtheit aus. Sogar Putin versucht, in ihr seinen Platz zu finden.

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  • Schnur hält die Fäden zusammen

    Schnur hält die Fäden zusammen

    Er füllt Clubs und Konzerthallen zuverlässig: Musiker und Rüpel Sergej Schnurow mit seiner Ska-Punk-Band Leningrad. Er ist das Aushängeschild des russischen Undergrounds. So sehr, dass Schnurow eigentlich schon wieder kein Underground ist: Weil er zu den beliebtesten Musikern in Russland zählt. Jedenfalls für die Menschen, bei denen er mit seinem exzessiven Schimpfwortgebrauch – in Russland ist so etwas ein absolutes Tabu – den Ton für ein Lebensgefühl trifft. Und das seit knapp 20 Jahren. Wie schafft er das, fragt sich Jan Schenkman in der Novaya Gazeta? Ein Porträt.

    Wir bringen den Menschen Lachen und Freude – Sergej Schnurow / Foto © Gennadi Guljaew/Kommersant
    Wir bringen den Menschen Lachen und Freude – Sergej Schnurow / Foto © Gennadi Guljaew/Kommersant

    Angst, blöd rüberzukommen, kennt Schnurow nicht, das ist ihm schon lange scheißegal. Seit vielen Jahren sagt er immer dasselbe, verändert nur die Form, aber mit ihm zu reden, ist immer wieder interessant. Der Bandleader von Leningrad versteht es wie sonst niemand, die kompliziertesten Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Jede Antwort ein Aphorismus, wie der Refrain: „Nüchtern bin ich ein Leningrader, betrunken ein Petersburger.“ 

    – Wovor haben Sie am meisten Angst?

    – Ich habe manchmal Anfälle absoluter Furchtlosigkeit. Das macht mir Angst.

    Eine blitzschnelle Reaktion, aber man sieht sofort, wie müde er ist. 2017 feiert Leningrad Jubiläum – 20 Jahre. Nach wie vor macht es Schnurow Spaß, Lieder zu schreiben und zu spielen, das gelingt ihm immer noch gut. Aber was er echt nicht versteht: Wieso soll er für das gesamte Gefüge der Welt geradestehen und Fragen zum Thema „Wie gestalten wir Russland“ diskutieren? Warum wählt ihn das Männermagazin GQ mit beneidenswerter Regelmäßigkeit zum Mann des Jahres, und das ganze Land freut sich? Warum ändert sich so lange nichts?   

    Ganz einfach. Man kann gut und gerne sagen, Russland sei hoffnungslos in den 2000er Jahren stecken geblieben und könne sich nicht davon lösen – und der wichtigste Gestalter der 2000er ist nun mal Sergej Schnurow. Er hat die Tür nach den 1990-ern eigenhändig geschlossen und sich dabei als letzter unter unseren Rockstars eingereiht, obwohl er sich gar nicht als Rocker sieht. Von daher haben viele das Gefühl: Es hatte doch alles so gut begonnen – Grebenschtschikow, Zoi, Schewtschuk – und am Ende dann: Schnur. Haben wir etwa davon geträumt? Sind das nicht Anzeichen von Verfall?

    Die Kritik trifft den Falschen. Jede Zeit hat ihre Lieder, und für die Zeit, in der wir leben, hat er ein sehr genaues und feines Gespür. Die 2000er Jahre haben, ganz ihrem Namen entsprechend, alle Werte annulliert und uns von der Pflicht befreit, klug, ehrlich und gut zu sein. Genau das hat auch Schnur getan, noch dazu auf geistig und künstlerisch hohem Niveau. Seine zentrale Botschaft: Ja, so missraten sind wir, aber drauf geschissen, entspannt euch, besaufen wir uns, und komme, was da wolle.    

    Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht

    Oh, wie euphorisch wir in den Clubs abgetanzt haben! Zu Ljudi ne letajut (dt. Menschen fliegen nicht) und Po kakoj-to gluposti nam wsem moshet powesti (dt. Aus Dummheit kann jeder mal Glück haben). Das war der nächste Schritt nach Mamonows Ja gadost, ja dran, sato ja umeju letat (dt. Ich bin widerlich und dreckig, aber dafür kann ich fliegen!). Nicht mal fliegen war also unbedingt nötig. Ja, so sind wir, na und? Wir können nichts, wir wollen nichts, Hauptsache der Ölrubel rollt, bei Auchan ist Ausverkauf, und ein Türkeiurlaub kostet sowieso nichts.

    Er sang: Nikowo ne shalko, nikowo, ni tebja, ni menja, ni ewo (dt. Leid tut einem niemand, nicht du, nicht ich, nicht er). Und wenn einem niemand leid tut, kann man sich alles erlauben. Lügen und Betrügen, Diebstahl und Besäufnis, dumme Weiber und debiles Gerede über Handys und Kohle. Ja, so sind wir.     

    Klingt fürchterlich, aber man kann es auch anders sagen: Schnurow hat uns erlaubt, wir selbst zu sein und uns darüber keinen Kopf zu machen. Die PR-Agenten von Pelewin, falls sich noch jemand erinnert, haben Unruhe verkauft, Schnur hingegen wirkt trotz seiner Exzentrik tröstlich. „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen“, sagte er bei Posner, „und es damit auch ein klein wenig überwinden. Die Energie der russischen Selbstzerfleischung verwandeln wir in eschatologische Begeisterung.“  

    https://youtu.be/Lq7gJqXobcE?t=14m

     
    Sergej Schnurow bei Wladimir Posner: „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen.“

    Sein liebster Trick – die Latte so tief zu hängen, dass man gar nicht tief fallen kann. Er identifiziert sich weder mit  Großmachtstreben noch mit Antitotalitarismus, weder mit Avantgardekunst noch mit den Klassikern der russischen Literatur, so etwas nervt ihn ernsthaft. Es widerspricht seinem inneren Grundprinzip, sich selbst als schwarzes Schaf zu lieben. Sein Credo: Was auch immer der Mensch aus sich gemacht hat, von seinen Höhlen bewohnenden Vorfahren hat er sich nicht weit entfernt. Egal ob im Beamtensessel, unter der Brücke, auf dem Bolotnaja-Platz oder auf der Baustelle – alle sind gleich und ebenbürtig, wie nackt in der Banja. Niemand ist besser.

    Wegen seiner landesweiten Popularität, seiner Ausgelassenheit und seines zwielichtigen Anstrichs wird Schnur oft mit Jessenin und Wyssozki verglichen. Hört man allerdings genau hin, dann ist die Analogie eine andere, nämlich Dowlatow:

    „Tolja“, sage ich zu Naiman. „Lass uns doch Lew Ryskin besuchen.“ – „Nein, will ich nicht. Der ist so sowjetisch.“ – „Wie, sowjetisch? Sie irren sich!“ – „Na, dann eben antisowjetisch. Ist doch egal.“ 

    In diesem Sinne ist Schnurow natürlich eine Klammer. Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht. Dass in seinem Lied 37 nicht das Jahr ist, in dem die stalinistischen Repressionen ihren Höhepunkt fanden, sondern lediglich eine Schuhgröße, ist ja kein Zufall. Und es ist auch kein Zufall, dass im Clip zu V Pitere – pit (dt. Piter – das heißt Trinken) ein Verkehrspolizist zuerst in die Newa geworfen wird, und später säuft man dann gemütlich miteinander. Denn eine Uniform lässt sich ausziehen und zu 1937 kann man so oder so stehen, aber Frauen wollen Kleider und Männer wollen Wodka – das wird keine Ideologie der Welt jemals ändern.     

    Mir gegenüber hat er diesen Gedanken mal anders ausgeführt: Die Band Leningrad stehe für Party und Liebe. Selbst wenn man eins hinter die Löffel bekommt, am Schluss müssen sich alle umarmen. Seine Lieblingsplatte sind die Bremer Stadtmusikanten, und das erklärt einiges: „Wir bringen den Menschen Lachen und Freude.“

    Man findet bei ihm massenhaft vulgäres Mat, auch Brutalität und Grobheiten, aber nie Bosheit und Aggressionen. Wissenschaftlich sind schwere Schlägereien bei Leningrad-Konzerten jedenfalls keine belegt. Und selbst wenn etwas passiert, liegen sich am Ende tatsächlich alle in den Armen. Es gibt keinen Grund, einander ernsthaft böse zu sein.   

    Nur wenige bemerken, dass diese Musik eigentlich sehr warmherzig ist. Die Lippen formen sich von selbst zu einem Lächeln, alle sind glücklich. Das Geheimnis ist einfach: „Ich verspüre keinen Hass auf mein Volk“, sagt Schnurow. „Ich lebe hier, ich bin genau so, und ich bin auch nicht von mir begeistert. Man braucht sich nur nicht über andere zu stellen, dann ist niemand sauer.“

    Aber gerade das ist es, was sie sauer macht – die einen wie die anderen: Liberale genauso wie Patrioten. Dass der im Großen und Ganzen harmlose und apolitische Schnur auf einmal so viele aufregt, ist ein zuverlässiges Zeichen für tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft.  

    Folgendes ist passiert: Als er jegliche moralische Ansprüche auf null herunterschraubte und den Leuten ihr wahres Wesen zurückgab, war Schnur sich sicher, dass dieses Ass nicht übertrumpft würde. Für die 2000er Jahre stimmte das auch. In den 2010er-Jahren zeigte sich aber, dass es auch unter null geht. Schnur hat sich nicht geändert, er hat im Grunde getan, was er immer getan hat: Freude verbreitet, den Skomoroch, den Possenreißer gespielt. Ich weiß noch gut, wie bei einer Feier in seinem Betrieb Männer im Smoking und Frauen im Abendkleid einträchtig das Drei-Buchstaben-Wort schrien, das die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten hat. Genau das gleiche taten die einfach gekleideten Besucher auf seinen Stadionkonzerten. Und alle waren happy.

    Doch dann kam es irgendwie unbemerkt zu einem Aufwallen von Wut. Schnur ist allerdings bis dato überzeugt, dass sich der Shitstorm hauptsächlich auf das Internet beschränkt, während im echten Leben eigentlich alle ganz normal sind. Dass alle, wie Babel schrieb, nach wie vor nur daran denken, ein gutes Gläschen Wodka zu trinken, irgendwem eins auf die Schnauze zu geben, und an die eigenen Pferde – sonst nichts.   

    Nicht alle. Sonst hätte sein Song mit dem Refrain Ty wse Rossiju proslawljajesch, a lutsche b musor wynosil  (dt. Dauernd lobst und preist du Russland, bring doch lieber Müll runter) nicht so viele negative Gefühle hervorgerufen. Ja, sogar die völlig harmlosen Louboutins, die ein Publikum der Bevölkerungszahl Finnlands begeisterten, kamen auf einmal irgendwem sexistisch vor. Die Liberalen motzen: Im Land herrscht Totalitarismus, und er singt von Titten. Nichts anderes als ein Handlanger des Regimes. Und so weiter … Man braucht ja nur Nachrichten zu lesen, um sich ein Bild vom Ausmaß des Unheils zu machen, von der Zerrüttung in den Köpfen.  

    Nun gut, Schnur hatte ernsthaft gedacht, es sei unmöglich, die Latte niedriger zu hängen als er, aber die Gesellschaft hat sich ordentlich ins Zeug gelegt und das fertiggebracht. Und es ist erstaunlich: der Einzige, der dem entgegensteht, ist er. Er  behält seine Position bei, aufseiten der Normalität, und verteidigt diese Normalität nach Leibeskräften. Denn Punk sein bedeutet heute nicht, auf facebook über Russland zu schimpfen und Fotoausstellungen zu demolieren, sondern man selbst zu bleiben und sich nicht dem Irrsinn hinzugeben.  

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  • „Es war egal, ob ich was gestehe oder nicht“

    „Es war egal, ob ich was gestehe oder nicht“

    Dreieinhalb Jahre Haft lautete das Urteil. Alexej Gaskarow ist einer von mehr als 30 Menschen, die nach einer Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz vom 6. Mai 2012 in umstrittenen Prozessen vor Gericht gestellt wurden. Der Protestzug war durchs Moskauer Stadtzentrum zum Bolotnaja-Platz gezogen, dann kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizisten und Demonstranten, gefolgt von einer Verhaftungswelle.

    Nur einen Tag danach trat Präsident Putin seine neue Amtszeit an. Seitdem hat sich in Russland viel verändert. Gaskarow, linker Aktivist, jetzt 31 Jahre alt, saß die meiste Zeit davon hinter Gittern. Nun wurde er entlassen – und zum gefragten Gesprächspartner. Wie hier im Interview der Journalistin Olessja Gerassimenko für snob. In dem Gespräch, das sie per Du führt, fragt sie nach seiner persönlichen Geschichte dahinter: Wie blickt er auf die Ereignisse von damals? Wie war der Lageralltag? Und wie nimmt er die Veränderungen im Land wahr?

    War der Prozess gegen dich fair?

    Insgesamt bereue ich, dass wir der Teilnahme am Prozess zugestimmt haben. Wir hätten, wie die politischen Gefangenen der Sowjetunion, mit dem Rücken zu ihnen stehen und schweigen sollen. Und es nicht als Versuch betrachten, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aus der Zeit in Chimki war ich noch voller Illusionen, und auf mehreren Videos war klar zu sehen: Die Sequenzen, in denen ich vorkam, lagen vor dem Zeitpunkt, als den Ermittlern zufolge die [Bolotnaja- dek.] Unruhen begannen. Ich dachte, das ist ganz einfach, ich zeige ihnen die Videos, und alles ist in Ordnung.

    Im Endeffekt zählte ich Beweise auf, die Richterin nickte, aber es folgte keinerlei Reaktion. Überhaupt sah das ganze Verfahren so aus: Die Entscheidung ist schon gefallen, das Urteil geschrieben, lasst uns das hier alles möglichst schnell hinter uns bringen.      

    Du hast einen Polizisten geschubst und einen Soldaten aus der Absperrung gezerrt?

    Das habe ich ja nie geleugnet. Übrigens ist nach der Kundgebung am Bolotnaja-Platz erstmal ein Jahr vergangen, ich arbeitete gerade an einem wichtigen Projekt, hatte nur noch eine Woche Zeit, und es war uncool, verknackt zu werden. Auch an diesem Sonntag, an dem die Bullen mich abholen kamen, musste ich zur Arbeit. Ich bin zum Laden rausgegangen, um Katzenfutter zu kaufen, und da steht diese ganze Clownsmannschaft vor dem Haus – zwei Jeeps, ein Kleinbus. Da stiegen dann so junge Typen aus, gestylt wie rechte Skinheads, ich dachte, das ist die [gnose-3259]BORN[/gnose] und überlegte, was ich jetzt mache, da zückten sie schon ihre Dienstmarken.

    Warst du in diesem Moment erleichtert?

    Nein, im Gegenteil. Vor der BORN hätte man davonrennen oder sonst was machen können. Jedenfalls haben die mich festgenommen und mir lange nicht gesagt, weshalb. Mit dem Gesicht nach unten im Bus und so, dieser Stil. Ich konnte mir schon ein paar Gründe ausmalen, weshalb – wir haben damals die Wohnheime der Firma Mosschelk und den Zagowski-Wald verteidigt, kurz vor der Festnahme haben Leute, die jetzt im [gnose-2183]Bataillon Asow[/gnose] kämpfen, versucht, meine Frau und mich zu überfallen. Mit denen hab ich mich angelegt – und das wurde gefilmt.

    Also, es gab so einiges. An die Bolotnaja-Sache hatte ich überhaupt nicht gedacht. Und als sie mir dann sagten, dass ich angeklagt würde, sah ich mir das an – das war der reinste Stuss – und sagte, ok, ich werde alles gestehen: Wir liefen in der Menschenmenge, ein [gnose-2717]OMON-Mann[/gnose] griff dann einen Kerl an, es entstand ein Gerangel, man versuchte, sie auseinanderzubringen, und da hieß es, ich hätte einen Polizisten am Bein gezogen.

    Als Beweise dienten ein Video schlechter Qualität und ein Gutachten mit dem Ergebnis, dass ich das nicht war. Aber ich wusste ja, dass ich das war, und sagte gleich: Leute, jetzt mal ein bisschen vernünftig. Aber ihnen war egal, ob ich da was gestehe oder nicht. Hätte ich einen [gnose-3265]212-er[/gnose] gestanden oder gegen jemanden ausgesagt, das wäre wohl was anderes gewesen …   

    “Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten.”

    Wollten sie das von dir?

    Nix da. Wieso hätten sie mich auch nach der Organisation von Unruhen fragen sollen, wenn sie doch selber wissen, unter anderem aus eigenen Abhöraktivitäten, dass da niemand irgendwas geplant hat. Sie haben sich strikt auf die Sache mit dem Bein beschränkt. Später fanden sie noch etwas, was ich schon ganz vergessen hatte. Vor der Absperrung war ein Gedränge entstanden, manche fielen hin, und ich habe einen an der Schulter gezerrt, um Platz zu schaffen. In der Anklageschrift stand, ich hätte auf diese Weise die Absperrkette durchtrennt, damit alle durchkommen und die Massenunruhen losgehen können. Dabei war diese Absperrung auf der anderen Seite.     

    Erzähl von der Haft. Das wollen alle hören. Sowas wie Aufstehen um 6, Nachtruhe um 10.

    Mhm. Natürlich leben die Drogensüchtigen, die da auf Entzug sind, vor allem nachts. Wenn Schlafenszeit ist, fangen die einen an zu rauchen, die anderen kochen Tschifir. Das blendet man einfach aus, man hat einen geregelten Tagesablauf, und das ist im Prinzip gesund. Am Sport hindert dich niemand: Es gibt ein Reck, einen Barren, ein paar Gewichte. Hier in Freiheit hat man immer Arbeit oder irgendwas zu tun, aber dort war ich so durchtrainiert wie nie. Hauptsache, man sucht sich immer eine Beschäftigung, damit man bloß keine Freizeit hat.  

    Mit wem hast du gesessen?

    Die Hälfte der Zeit war ich in Untersuchungshaft, mit ganz verschiedenen Leuten. Typen mit [gnose-3217]Paragraph 228[/gnose] mit krassen Geschichten, etwa wie Teenagern Haschisch aus Holland mit der Post geschickt wurde, und die kriegen 15 Jahre dafür. Von meinem eigenen Fall zu erzählen, war mir sogar peinlich – allen um mich herum blühten mehr als 10 Jahre. Als die Verhandlung begann, saßen wir in der [gnose-3269]Butyrka[/gnose], dort waren Diebe, irgendwelche Psychos, Jugendliche, Straßenkinder, Dagestaner. Leute von Rosoboronexport, vom Asien-Pazifik-Forum und von der Olympiade, gegen die ermittelt wurde, hab ich auch kennengelernt, mit Jemeljanenko hab ich trainiert.    

    Im Straflager lebten im allgemeinen Vollzug 300 Männer, davon waren 80 Prozent Einheimische aus Tula, die im Suff irgendwen angefallen, Datschen ausgeraubt und kleinere Überfälle begangen haben. Aber was ist das Geile am Lager? An ein und demselben Ort sitzt sowohl der Obdachlose, der in einer fremden Datscha überwintert, deswegen eingesperrt wird und hier sogar besser lebt als in Freiheit, als auch der Unternehmer, der einen Milliardenschaden angerichtet hat und gerade noch draußen auf seiner Yacht umhergeschippert ist.

    Alexej Gaskarow / Foto © Tanya Hesso/Snob
    Alexej Gaskarow / Foto © Tanya Hesso/Snob

    Als du rauskamst, hast du gesagt, das Wichtigste war, mit der Realität in Verbindung und gesund zu bleiben. Wie bleibt man dort gesund? Ist das Essen ok?

    Da ich von draußen gut unterstützt wurde, war ich fast nie in der Kantine. Ich hatte dort eine Mikrowelle. Die Strafvollzugsbehörde hat jetzt so einen Ansatz, dass sie einen nicht daran hindern, sich das Leben angenehmer zu machen. Die müssen da irgendeine Strategie zur Verbesserung der Haftbedingungen erfüllen, das Budget wird aber immer gekürzt. Wenn man ankommt, ist alles übelst, es tropft von der Decke, überall Schimmel. Aber sie haben nichts dagegen, wenn du das selber angehst. Du erklärst das zur humanitären Hilfe, und bekommst Teekocher und Mikrowelle, sogar ein Beamer hing bei uns, mit dem wir Filme guckten.

    Soweit ich weiß, wolltest du dort eine Weiterbildung machen.

    Leider musste ich feststellen, dass an der Universität, die mit dem Straflager kooperiert, unter dem Deckmantel der Bildung einfach ein Verkauf von Diplomen stattfindet. Ich hab dort etwas anderes gemacht: Bei meiner Arbeit habe ich oft alle möglichen Grundlagen von Unternehmertum und Planung gelehrt, und mit mir saßen Leute im Knast, mit denen man interessante Gespräche führen konnte – Bankchefs, Leute aus Ministerien.

    Es gab da eine Abendschule, die nötigen Räumlichkeiten. Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten. Jeder soll sich ein Projekt ausdenken, und wir planen es innerhalb von 8 Monaten (da sollte ich entlassen werden) konkret durch, am Ende kommt ein Business-Plan heraus. Zuerst haben sie das kategorisch abgelehnt, von wegen, du sitzt doch wegen der Bolotnaja-Sache und willst da bestimmt nur politische Diskussionen führen. Doch dann kam ein neuer Chef, und der ist uns entgegengekommen. Das war wie ein Stück Freiheit.  

    Als ihr nacheinander verhaftet wurdet, sagten alle, das wird der Prozess des Jahrhunderts, alle werden sich wegen euch, für euch zusammenschließen, und im Endeffekt – du bist schon draußen, und der Bolotnaja-Prozess, obwohl er noch gar nicht ganz zu Ende ist, interessiert keinen mehr. Hast du nicht umsonst gesessen?

    Na ja, was heißt umsonst. Ich hatte ja keine Wahl. Was Bolotnaja betrifft … Die Entscheidung, bei dieser ganzen Bewegung mitzumachen, war bereits mit Risiken verbunden. Wenn man das mit der Ukraine vergleicht, obwohl das bei vielen nicht gern gesehen ist: Wären die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz weitergegangen, glaube ich nicht, dass die Leute vor Erschießungen Halt gemacht hätten.

    In Kiew sind ein Haufen Leute umgekommen, und wir hier sollen uns von irgendwelchen Haftstrafen abschrecken lassen. Die haben willkürlich ein paar Personen herausgegriffen und eingesperrt, die Logik ist klar: Wer auch immer du bist, wenn du dich gegen den Zaren stellst, wirst du leiden. Was kann die Antwort darauf sein? Wir müssen den Mythos der Wirksamkeit solcher Repressionen entlarven.  

    Aber das stimmte ja. Es sind wirklich alle vor einem Hieb mit dem Schlagstock zurückgeschreckt, vom Gefängnis ganz zu schweigen. Viele Oppositionelle sagen, der Kampf gegen diese Regierung sei keinen Zentimeter persönlichen Wohlbefindens wert. Du bist praktisch der einzige, der nicht so denkt. Fühlst du dich einsam?

    Die meisten Leute waren noch nie im Gefängnis, und sie glauben wirklich, das sei das Ende: Ich komme ins Lager – und das war’s. Ich hab das alles einfach relativ normal erlebt. Aber ich überlege mir das so: Wenn die Staatsmacht Andersdenkende mit Repressionen unterdrückt, schrauben die Menschen ihre Aktivität zurück, und ihr Bedürfnis, sich für irgendetwas einzusetzen, schwindet, und so gerät das System eher aus den Fugen, als dass es stabiler würde, wie sich die Regierung das vorstellt. Das Land wird weniger konkurrenzfähig.  

    Aber die Leute müssen wenigstens minimale Aktivität beibehalten. Es ist schlimm, dass so viele den passiven Weg einschlagen. Bei den Ressourcen, die da sind, könnten wir es besser haben, aber viele sind auch so zufrieden. Dadurch kann sich das System lange halten. Man muss nicht die direkte Konfrontation suchen. Das dachte ich auch schon auf dem Bolotnaja-Platz, wir wollten eigentlich schon weggehen, weil wir begriffen hatten, dass diese ganzen Sitzstreiks und dergleichen ja genau das sind, was die Regierung braucht. Es gibt auch andere Wege, man muss sich ja nicht auf Demonstrationen und Kundgebungen beschränken.

    “Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist.”

    Meinst du jetzt die Philosophie der kleinen Dinge?

    Unter anderem. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass viele, die am Bolotnaja-Platz aktiv waren, jetzt ehrenamtlich tätig sind. Und das ist ja wirklich nicht so schlecht. Hauptsache, die Energie bleibt erhalten. Oder was anderes: Der Kampf gegen Korruption, all diese Publikationen wirken sich auf das System aus, da kann man sagen was man will. Es gibt auch Leute in der linken Szene, die finden, es muss eine progressive Besteuerung geben, die können ja ihre Argumente vorbringen. Oder man gründet angesichts all dieser Konflikte irgendeine Friedensbewegung.   

    Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist. Dort kommen Leute zusammen, die keinen großen Hang zum Reden haben. Richtige Bauern. Alle nur erdenklichen Mythen haben sie im Kopf. Aber wenn du mit ihnen beisammen bist, brauchst du nicht mal groß zu streiten – einfach durch Gespräche und durch den Kontakt haben sich sogar die ärgsten Sturköpfe verändert. Insofern ist jede Arbeit, die die Verbreitung von Informationen und eine wenigstens minimale Aufklärung zum Ziel hat, wichtig.

    Und wovon hast du sie überzeugt?

    Von allem möglichen. Unter anderem was generell ihre Einstellung zur Opposition betrifft. Am Anfang war es sogar ganz angenehm für mich, von wegen, ach, auf dem Bolotnaja-Platz, das waren sowieso alles nur Junkies, die für Heroin auf die Straße gegangen sind – da haben sie mich in Ruhe gelassen. Aber mit der Zeit sehen die Leute ja, was du liest, welche Filme du auf dem Kultursender guckst, dass du beim Verfassen eines Berufungsantrags helfen kannst, … und sie merken, dass du kein Idiot bist, der für eine Dosis Heroin demonstrieren gehen würde. Es gab viele Konflikte über die Vorgänge in der Ukraine, vor allem weil viele einsaßen, die schon im [gnose-3273]Donezbecken[/gnose] gekämpft hatten, zurückkamen und verhaftet wurden.

    Weswegen?

    Rowdytum, Diebstahl, Plünderung, so typische Soldiers of Fortune. Und sogar über diese äußerst komplexe Frage ist es uns gelungen zu reden, die Wogen zu glätten.  

    Du bist in einem Land ins Gefängnis gekommen und in einem anderen wieder raus. Wie war es, über Nachrichten zu erfahren, dass draußen historische Ereignisse passieren? Tat es dir leid, dass du sie nur aus der Distanz sahst? Oder war das eher beruhigend?

    Ehrlich gesagt, zweiteres. Ich hatte oft Schwierigkeiten, mich zu positionieren. Als zum Beispiel massenweise Flüchtlinge aus der Ukraine zu uns kamen, kamen auch welche und arbeiteten hier im Lager. Man beginnt mit ihnen zu reden und versteht, da gibt es eine Ideologie, aber es gibt auch die Geschichten der Menschen, und sich festzulegen war schwierig. Ich hab mir echt gedacht, wie gut, dass das für mich nur im Hintergrund läuft.  

    Wie sieht es mit deiner Arbeit aus? Was willst du machen?

    An oberster Stelle stehen jetzt materielle Probleme. Viele fragen mich, ob ich in die Politik gehen werde, die haben alle so hohe Erwartungen, aber was ist das schon für eine Politik heute. Ohne eigene Mittel ist es unmöglich, politisch aktiv zu sein. Natürlich sage ich, dass man sich vor dem Knast nicht zu fürchten braucht, aber trotzdem ist das ein ernstzunehmender Verlust – dreieinhalb Jahre. Eine Menge nicht realisierter Möglichkeiten und angehäufter Probleme.    

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  • Zuhause im 8-Bett-Zimmer

    Zuhause im 8-Bett-Zimmer

    Backpacking, Kurzurlaub, Studi-Bude zum Semesterstart – ein Hostel ist für die meisten jungen Leute beliebter Anlaufpunkt auf Reisen oder wenn es mal kurzzeitig knapp wird mit Wohnraum. In Russland ist das Hostelleben ebenfalls bei jungen Leuten sehr beliebt. Für manche hat es in einer Millionenmetropole wie Moskau so viele Vorzüge, dass ein Schlafplatz im Achtbettzimmer besser erscheint als eine Wohnung. Manchmal über Monate oder sogar Jahre. Eine Kommunalka unter neuen Vorzeichen? Flucht vor einem Pendler-Leben am Stadtrand? Oder finanziell einfach eine Notwendigkeit?

    Das Webmagazin The Village stellt drei junge Männer vor, die aus ihrem Alltag berichten.

    Sergej, wohnt seit über zwei Monaten im Hostel Apricot

    Ich komme aus Magnitogorsk. Ich bin Akrobatik-Meister und studiere im zweiten Jahr Sport auf Lehramt. Hier in Moskau lebe ich seit über zwei Monaten in einem Achtbettzimmer. Die Leute wechseln ständig – sowohl Männer als auch Frauen schlafen hier. Meist sind wir zu viert oder zu fünft und im Hostel insgesamt über 30. Da ich schon lange in diesem Hostel lebe und alles weiß, bieten sie mir manchmal einen Nebenjob an der Rezeption an.

    Ich wohne hier, weil es viel teurer wäre, eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten. Hinzu kommt noch die Kaution, die man beim Einzug zahlen muss. Vor allem sind relativ günstige Wohnungen nur am Stadtrand zu finden. Und ich finde, wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum. Wenn ich etwa nach Chimki rausfahre und mich da umsehe, kommt es mir vor, als wäre ich wieder in meiner Heimatstadt in der Provinz gelandet: genau dasselbe eintönige Leben, dieselben Buden mit Obst und Gemüse. Wozu dann überhaupt wegziehen?  

    Keine Frage, das Leben im Hostel bedeutet, dass ich in Moskau nichts Eigenes habe – außer mein Bett. Das steht dafür mitten in der Hauptstadt. Am Abend spaziere ich zum Roten Platz und zurück – das ist schön. Daher habe ich vor, so lang wie möglich so zu leben. Also eigentlich bis ich heirate und Kinder bekomme. Sollte ich vorher schon ordentlich Geld verdienen, werde ich mir trotzdem keine Wohnung mieten – das wäre Unsinn. Dann leg ich das Geld lieber an.

    Sergej –  „Wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum.“ – Foto © Uwe Brodrecht/flickr.com
    Sergej – „Wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum.“ – Foto © Uwe Brodrecht/flickr.com

    In unserem Hostel bekommen wir gratis Tee, Kaffee und Zucker. Und es  gibt ein Schachspiel, ein Damespiel und eine Xbox. Am Abend schlage ich den anderen Bewohnern oft vor, einen Film zu gucken – dann sitzen wir alle auf dem Sofa im Aufenthaltsraum.    

    Manchmal kochen wir gemeinsam und essen zusammen zu Abend.

    Wenn du lange in einem Hostel wohnst, ist das untere Bett praktischer – also wenn es, wie bei uns, Stockbetten gibt. Ich stehe morgens auf, ziehe meinen Koffer unterm Bett hervor, ziehe mich an und gehe. Ja, hier gibt es keine Schränke, wie übrigens in den meisten Hostels. Aber ich komme auch ohne Schrank gut aus – meine Sachen liegen immer ordentlich im Koffer, ich muss nichts suchen.  

    Klar, manchmal würde ich echt gern allein sein. Im Hostel ist das schwierig – überall sind Leute. Deswegen frage ich manchmal an der Rezeption, ob ich für ein Stündchen in ein freies Zimmer kann, einfach nur, um da ein bisschen rumzusitzen.

    Ich kriege auch Besuch. Wir kochen gemeinsam, trinken Tee in der Küche, sehen im Aufenthaltsraum fern. Bis 23 Uhr ist das erlaubt.

    Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol

    Außerdem habe ich angefangen, auf eigene Faust Englisch zu lernen. Daher freue ich mich, dass oft Ausländer bei uns im Hostel sind: So kann ich üben. Würde ich eine Wohnung mieten, hätte ich diese Möglichkeit nicht.   

    An manche Eigenarten von Mitbewohnern gewöhnt man sich schwer. Bei uns wohnt zum Beispiel eine Vertreterin, die in einem Schneeballsystem arbeitet. Und sie will jeden Gesprächspartner da mit reinziehen. Anfangs schaffte ich es aus Höflichkeit nicht, ihr zu sagen, dass mich das alles nicht interessiert, und ich musste ihr immer wieder stundenlang zuhören.

    Dann hatten wir noch einen Gast, der immer gern trank. Er kam besoffen ins Hostel, setzte sich aufs Fensterbrett, rauchte, drehte Musik auf und sang dazu. Vor Kurzem wurde er rausgeschmissen.

    Und letztens lebte hier eine Familie aus Jakutien. Zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend aßen sie Fleisch. Sie waren mit einem riesigen Koffer angereist, in dem hauptsächlich Fleisch war – damit stopften sie den ganzen Kühlschrank voll. Jeder Morgen begann mit dem Kochen von Fleisch, noch dazu war das irgendein Wild, Hirsch oder so. Der Geruch hing in der ganzen Küche.

    Sie hatten auch kleine Kinder, die auf den Sofas herumhüpften, rumschrien, Zeichentrickfilme einschalteten, wenn ich Olympia sehen wollte, und einen beim Schlafen störten. Aber auch die sind ja nun wieder weg.

    Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol abgestiegen – die rümpfen wegen allem die Nase, mäkeln an allem herum.


    Nikolaj, wohnt seit anderthalb Jahren im Hostel Napoleon  

    Vor eineinhalb Jahren bin ich aus Rostow am Don nach Moskau gekommen. Der Ableger der Universität, an der ich in Rostow studierte, wurde geschlossen, und so musste ich nach Moskau wechseln. Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com, und dieses Hostel war das erste Suchergebnis. Es heißt Napoleon, weil der Legende nach Napoleon in diesem Haus eingekehrt sein soll. Mit der Uni hat das bei mir irgendwie nicht hingehauen, und ich hab dann eine Arbeit am Empfang eines georgischen Restaurants gefunden.

    Im Restaurant arbeite ich in Schichten, von 9 Uhr bis Mitternacht. Ich bekomme dann auch den Schlüssel und kann im Lokal übernachten – so läuft das ein paarmal die Woche. An diesen Tagen zahle ich im Hostel nichts, danach komme ich zurück und nehme irgendein freies Bett. Ich habe also keinen dauerhaften Platz, sondern wechsele immer.   

    Wie alle, die ständig im Hostel wohnen, kann auch ich hier im Waschsalon kostenlos Wäsche waschen und trocknen. Zucker, Salz, Waschpulver und Klopapier sind hier auch gratis. Das klingt jetzt nach Kleinigkeiten, aber glauben Sie mir, das Leben wird viel einfacher, wenn man nicht an diese Dinge denken muss. Dazu kommt noch, dass im Hostel die Zimmer geputzt werden, und ich muss nur mein Geschirr spülen.  

    Ich wohne in einem gemischten Achtbettzimmer – also mit Männern und Frauen. Abgesehen von den Sommermonaten wohnen hier meistens drei bis vier Personen, hauptsächlich Männer. Weil ich mit dem Personal befreundet bin, darf ich manchmal ein leerstehendes Zimmer allein bewohnen. Außerdem darf ich als Alteingesessener ein paar Tage später bezahlen, obwohl das normalerweise 50 Rubel Strafe pro Tag kostet.    

    Dieses Hostel gefällt mir wegen seiner Lage – direkt im Stadtzentrum. Ein Katzensprung bis zum Roten Platz, rundherum Clubs und ein Dixi-Supermarkt.

    Ein paarmal habe ich schon erlebt, wie sich unter Dauergästen Pärchen gebildet haben. Im Grunde war ihr Alltag nicht viel anders als bei Paaren, die zusammen leben: Sie kommen von der Arbeit, kochen was, sehen im Aufenthaltsraum fern und gehen schlafen. Nur dass das eben alles im Hostel geschieht und nicht zu Hause. Ich hatte auch schon eine Beziehung mit einem Mädchen aus dem Hostel. Wir kamen zusammen, als ich hier einzog – sie wohnte hier schon mit ihrer Mutter. Wir schliefen zusammen hinter einem Vorhang in einem gemischten Achtbettzimmer. Das ist erlaubt, wenn du für die zweite Person die Hälfte zahlst. Später habe ich dann erfahren, dass sie zusammen mit ihrer Mutter in Bars junge Männer abzockt. Naja, wir waren nicht lange zusammen.

    Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com

    Unser Hostel ist beliebt, weil hier eine Atmosphäre ist wie zu Hause – man kann sich mit anderen unterhalten, was trinken, gemeinsam rumhängen. Lärm machen wir dabei aber nicht viel – wir setzen uns in die Küche, trinken was und gehen dann aus. Wir lieben Kommunikation und Gemeinschaft: gemeinsam Filme gucken, Pokern oder Videospiele. Voriges Jahr waren viele Franzosen da, wir becherten ordentlich, hatten es lustig, sahen uns Filme an. In anderen Hostels ist alles viel strenger.      

    Ich hatte schon mal den Gedanken, in eine Wohnung zu ziehen, aber dann dachte ich: „Was werde ich da tun, allein in meinen vier Wänden?“ Wenn ich ins Hostel komme, schaue ich fern, quatsche ein bisschen mit den Leuten in der Küche, spiele mit irgendwem Videospiele. Also wird es nie langweilig. Es gibt Leute, die das Alleinsein unbedingt brauchen, Privatsphäre. Aber ich bin zufrieden so – ich verhänge mein Bett mit Tüchern, und was rundherum passiert, ist mir egal. Es gab eine Zeit, da wollte ich ausziehen – Frauen mit herzubringen ist schwierig. Die Betreiber des Hostels haben zwar nichts dagegen, aber bei den Frauen kommt das nicht gut an, die wollen das nicht.

    Vor einem halben Jahr hatte ich was mit einer Moskauerin am Laufen, die hat vielleicht fünf Mal bei mir im Achtbettzimmer übernachtet. Sie war nicht begeistert davon, dass hier alles gemeinschaftlich ist, sie mochte die Leute nicht. Auch wenn uns das nicht daran hinderte, das Bett mit einem Laken zu verhängen und Sex zu haben, mit allen Geräuschen. Und das, obwohl in dieser Nacht junge Sportler mit uns in einem Zimmer schliefen, Jungs und Mädchen von 13, 14 Jahren, die in Moskau ein Trainingslager hatten.

    Ein Doppelzimmer habe ich im Hostel nie gemietet. Wozu auch? Ich kann auch im Achtbettzimmer ungestört tun, was ich will.

    Manchmal geniere ich mich zu sagen, dass ich im Hostel lebe. Es kommt vor, dass ich Moskauerinnen kennenlerne, die anbeißen, weil ich attraktiv bin, aber wenn sie erfahren, dass ich im Hostel wohne, verduften sie schnell. Irgendwie hab ich es gut hier, aber manchmal belastet es mich, nichts Eigenes zu haben.


    Wladimir, wohnt seit über einem Monat in einem Schlafsaal mit 20 Betten in einem namenlosen Hostel

    Ich komme aus Asow. Von Beruf bin ich spezialisiert auf Videoüberwachung in Casinos. Ich habe einen Job im Nahen Ausland angeboten bekommen, aber als ich in die Hauptstadt kam, wurde das Angebot erstmal auf unbestimmte Zeit verschoben. Also beschloss ich, in Moskau zu bleiben, weil man mit dem Flugzeug von hier immer leicht wegkommt, hier ist meine Schnittstelle. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal zu einem Projekt bestellt werde, deswegen habe ich mir keine Wohnung gesucht, sondern bin ins Hostel gegangen. Da wohne ich nun schon seit über einem Monat und arbeite erstmal auf dem Bau.

    Für mich ist das Hostel eher kein Wohnheim, sondern eine Pension. Ich habe schon in verschiedenen Hostels gewohnt, und überall gibt es andere Regeln und Zustände. Zum Beispiel werden in manchen prinzipiell keine Staatsbürger aus dem Nahen Ausland genommen. In meinem vorigen Hostel stand ein klitzekleiner Fernseher, unmöglich, damit fernzusehen. Aber ich bin ein Sowjetbürger, ich bin mit Fernseher aufgewachsen, für mich ist es wichtig, am Abend kurz reinzugucken. Ja, das ist diese gute, alte Schizophrenie – durch die Kanäle zappen. Als ich also in dieses Hostel hier kam und auf einmal abends normal fernsehen konnte, das war mir schon sehr viel wert.  

    Die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu

    Hier bei uns wohnen viele, die in Moskau studieren, aber keinen Platz im Studentenheim bekommen haben, sowas in der Art. Oder junge Moskauer, die nicht mehr bei den Eltern wohnen wollen.  

    Am besten finde ich, dass am Abend immer jemand in der Küche ist, mit dem man reden kann. Man kann sich hinsetzen und über Politik, Religion, Sport oder das Leben austauschen. In der Küche darf über Gott und die Welt gestritten werden. Dort wird entschieden: Bist du ganz vorne dabei oder bist du Außenseiter? Und es wird gecheckt, bei wem es sich lohnt, zuzuhören. Man diskutiert, beharrt auf seiner Meinung, trennt sich fast als Feind  – und am nächsten Morgen wacht man auf und und raucht zusammen eine, weil man sich ja gestern in der Küche ausgesprochen hat. Der Streit ist vergessen, das war ja gestern.

    Wir hier im Hostel vergessen oft die Namen voneinander – es sind zu viele, die einen reisen ab, neue ziehen ein. Es kommt vor, dass ich dieselben Mitbewohner vier Mal im Monat kennenlerne. Aber die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich durch das Zusammenleben mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu, dass deine Gedanken und Gefühle irgendwen interessieren. Mir ist das wichtig.   

    Ich kann gar nicht sagen, wie viel Leute mit mir im Zimmer sind. Alle Betten sind mit Tüchern verhängt, und ich treffe die anderen nicht oft. Mädchen nehme ich nie mit hierher. Das Hostel eignet sich nicht dafür, Sex zu haben, und der einzige Ausweg wäre, sich in die Dusche zu verdrücken. Aber da muss man es schon sehr nötig haben, ein normaler Mensch wird kaum auf die Idee kommen, jemanden für Sex ins Hostel mitzubringen.

    Im Grunde ist Moskau eine gute Stadt, mit dem Hostel-Leben bin ich total zufrieden. Solang ich nicht woanders eine Arbeit angeboten bekomme, bleibe ich hier.  

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    „Der Point of no Return liegt hinter uns“

    Sergej Petrow ist Russlands größter Autoimporteur und war zuletzt neun Jahre lang Abgeordneter der Staatsduma. Nun will er nicht noch einmal zur Wahl antreten. Als Politiker wollte er etwas verändern, politischen Wettbewerb anregen – hat jedoch das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Mittlerweile sieht er das Parlament als Institution im Niedergang begriffen.

    Noch sitzt der Milliardär für die Partei Gerechtes Russland in der Duma, die jetzt am Sonntag neu gewählt wird. Aus Teilen dieser Fraktion gab es in der Vergangenheit zeitweise aufmüpfige Töne – auch wenn das selten größere Wirkung hatte. Petrow selbst stimmte gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz und das Jarowaja-Paket, bei der Angliederung der Krim enthielt er sich als einer von ganz wenigen Abgeordneten der Stimme. Petrow ist der Meinung, dass die Bürger gute Politik viel stärker einfordern müssten. Erst eine starke Krise, eine Erschütterung, wenn nicht gar ein Zusammenbruch des Systems könne einer liberalen oppositionellen Kraft dabei wirksame Unterstützung bringen.

    Im Interview mit dem liberalen Wirtschaftsblatt Vedomosti gibt der Geschäftsmann eine vielbeachtete Innenansicht aus dem russischen Parlament.

    Sergej Petrow saß neun Jahre lang in der Duma – nun wird er nicht mehr antreten /Foto © Sergej Kisselew/Kommersant
    Sergej Petrow saß neun Jahre lang in der Duma – nun wird er nicht mehr antreten /Foto © Sergej Kisselew/Kommersant

    Vedomosti: Sie haben früher oft in Interviews gesagt, dass Sie auf die große Krise im Land warten und nicht an die Möglichkeit einer schrittweisen Entwicklung glauben. Wann wird das Ihrer Meinung nach passieren?

    Sergej Petrow: Manchmal weiß man zwar, was passieren wird, kann aber nicht voraussagen, wann.

    Genau das ist jetzt der Fall. Ich weiß, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der höchstwahrscheinlich keinen evolutionären Ausweg mehr bietet, der Point of no Return liegt hinter uns, und das System wird voraussichtlich mit einem Riesenkrach in sich zusammenstürzen, wie alle festgefahrenen Strukturen.  

    Sie glauben also nach wie vor, dass sich in Russland eine Ineffizienz anhäuft, die letztlich zum Zusammenbruch führt?

    Missverhältnisse werden stärker, der Niedergang der Institutionen schreitet voran. Unter normal funktionierenden Institutionen verstehe ich zum Beispiel eine Polizei, die vor allem dem Gesetz folgt, und nicht den Anweisungen des Innenministers. Bei uns verstehen viele Leute unter Begriffen wie Konkurrenz und Institutionen das, womit sie aufgewachsen sind, also etwas ziemlich Exotisches.

    Glauben Sie, dass Reformen unmöglich sind?

    Wenn Sie historische Parallelen finden, wo ein System reformiert werden konnte, das ein solches Niveau des Niedergangs erreicht hat, ändere ich gern meine Meinung. Ich bin zwar kein Historiker, aber ich glaube nicht, dass es solche Beispiele gibt. Obwohl uns klar ist, dass es uns ohne Reformen langfristig schlechter geht, nehmen wir lieber die Katastrophe morgen in Kauf als den sanften Ausstieg heute. Hätten wir in der UdSSR in den 1970er Jahren mit Reformen begonnen, wäre sie 1991 vielleicht nicht zusammengebrochen.

    Duma-Diagnose

    Können Sie eine Diagnose zur Situation im Parlament stellen? Warum ist ein Gesetz wie das Jarowaja-Paket möglich, wo doch für jeden denkenden Menschen offensichtlich ist, welchen Schaden es anrichtet?

    Jede Struktur verkommt allmählich, wenn sie keine wirkliche Verantwortung trägt –  wenn der Glaube vorherrscht, die endgültige Verabschiedung eines Gesetzes hänge nicht von einem selbst ab, wenn man als Abgeordneter nicht den eigenen Namen unter das Jarowaja-Paket setzen muss und es auch nachher nicht gleich wieder selbst revidieren muss.

    Wenn die Dinge so stehen, schämt sich niemand für seine Unprofessionalität. Und schreibt dann solche Gesetzesentwürfe: „Ich möchte, dass alle in Frieden leben und gut zueinander sind.“ Wie das zu geschehen hat, ist Sache der Regierung. Im Gesetzestext folgen nur Verweise auf Rechtsnormen.

    Ein solches Niveau der Gesetzgebung wäre in einem normalen Parlament unmöglich – unserem erlaubt es, gut 500 Gesetze pro Jahr zu beschließen, ohne für ihre Qualität Verantwortung zu übernehmen. Klar ist es leichter, auf technische, aber für Wirtschaft und Bevölkerung notwendige Gesetze zu verzichten und lieber solche zu verabschieden, hinter denen die Fraktionen stehen.

    Die Kollegen in den Ausschüssen sehen sich dann an, wie gut das Gesetz durchgeht und wer es eingebracht hat. Der Präsident? Dann bloß nicht diskutieren. Die Regierung? Da kann man schon mal was sagen. Hör mal, heißt es dann, das ist doch dein Vorschlag, du profitierst sicher davon, komm, gib uns auch was ab. Bei uns gibt es kein Anti-Lobbyismus-Gesetz. Die Kollegen können nicht glauben, dass ein Gesetz zum Wohl eines ganzen Wirtschaftszweigs beschlossen werden soll, weil sie in einem Umfeld aufgewachsen sind, wo das nie jemand so gemacht hat. Du sagst ihnen: Die Amerikaner haben uns in den 1940er Jahren mit dem Lend-Lease-Act geholfen, und dann auch in den 1990ern, und sie sagen darauf: Was war das denn bitte für eine Hilfe, ihre alten Vorräte haben sie uns angedreht. Eine solche Wahrnehmung ist natürlich ein Riesenproblem in der Kommunikation.

    Wenn die Abgeordneten in schönster Eintracht dem Jarowaja-Gesetz zustimmen oder dem Gesetz zur Adoption russischer Waisenkinder durch Ausländer? Folgen sie damit ihren eigenen Interessen, oder wird Druck auf sie ausgeübt, gibt es da Abhängigkeiten?

    Die Debatten im Parlament sind eine Methode, Konflikte in einer reifen Gesellschaft zu lösen, und wir haben uns dafür als zu schwach erwiesen. Bevor man in Rechte und Linke einteilt, muss man zuerst einmal eine ausreichende Menge an Menschen mit einer eigenen Meinung haben.

    Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll

    Sogar unter den Anhängern von Jedinaja Rossija haben einige gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt, ohne auf den Fraktionszwang zu achten. Tatsache ist, dass solche Alleingänge zu keiner besonderen Entrüstung im Kreml führen, sie ärgern vielmehr die Kollegen [die Mehrheit, die dafür stimmt]: „Wollen die uns als Halunken hinstellen?“

    Als erstes müssen unsere Abgeordneten lernen, unabhängig zu sein. Das wird nur funktionieren, wenn die politischen Kräfte ausgewogen sind und die Unabhängigen sich auf jemanden stützen können. Bisher ist jeder einzeln unterwegs und denkt, jede Minderheit mit anderer Meinung sei die Opposition. 

    Sie waren einer von sieben, die gegen das Adoptionsverbot durch Ausländer gestimmt haben. Wie haben Ihre Kollegen reagiert?

    Die Kollegen haben geflüstert: „Was machst du denn da? Die werden dich und uns auffressen.“ Das ist diese Geschichte mit der doppelten Moral: Als Kind bringt dir deine Mutter bei, die Wahrheit zu sagen, aber spätestens in der zweiten Klasse weißt du, dass du in der Schule etwas anderes sagen musst als zu Hause in der Küche.

    Wovor haben die Abgeordneten Angst – ihren Sitz zu verlieren, ihre Privilegien?

    In den neun Jahren, die ich im Parlament verbracht habe, habe ich gesehen, wie sich binnen kürzester Zeit sogar Leute, die ihre Meinung äußern konnten, daran gewöhnten, dass es einfacher ist, das zu tun, worum man gebeten wird. Ihr genetisches Gedächtnis sagte ihnen, dass man sich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnt, wenn jemand Entscheidungen trifft und, wie Gaidar schreibt1, zu uneingeschränkter Gewalt bereit ist. Das ist eben jenes historische Gedächtnis: dass ganze Dörfer niedergebrannt wurden, weil ihr euch aufgelehnt habt – und niemand konnte euch schützen. Politische Gegengewichte wurden in Russland nicht geduldet, dafür gibt es Tausende Beispiele.

    Meinen Sie, dass bei den Abgeordneten sogar im Falle absolut ehrlicher Parlamentswahlen mit der Zeit ein moralischer Niedergang einsetzt – aufgrund der durch die Vorgeschichte bedingten Mentalität?

    Die Mentalität kann sich ändern. In Russland ist eine soziale Schicht entstanden – Umfragen zufolge ungefähr 14 Prozent der Bevölkerung – die ein westliches, differenzierteres Verständnis des Parlamentarismus fordert, eines, in dem Minderheiten geschützt werden. Derzeit gilt ja bei uns das einfachste Muster: Wir sind die Mehrheit, wir entscheiden. Ihr seid gegen die Mehrheit? Dann seid ihr gegen die Heimat!  

    Die Abgeordneten sehen für sich keinerlei Vorteil darin, unabhängig zu sein. Nicht mit Unabhängigkeit machen sie sich bei den Wählern beliebt, sondern damit, dass sie zum Beispiel für ihren Wahlkreis ein Stück mehr Territorium ergattern, aus einem anderen Wahlkreis – das ist eine Leistung. Der Sinn des Satzes „Widerspruch ist die höchste Form des Patriotismus“ ist für die Gesellschaft vorläufig nicht greifbar.

    ABSCHIED VOM PARLAMENT

    Wann haben Sie beschlossen, die Duma zu verlassen?

    Bereits im Herbst 2015. Für einen Unternehmer bringt der Abgeordnetenstatus sehr viele Einschränkungen mit sich: Man darf keine Konten im Ausland haben, keinen ausländischen Pass, man darf nicht Mitglied eines Verwaltungsrats sein. Man darf dies nicht, man darf jenes nicht. Das ist alles sehr belastend für eine Geschäftsleitung, für ein Unternehmen. Gleichzeitig konnte ich das, was ich in der Duma wollte, nicht erreichen: den politischen Wettbewerb anzuregen, wenigstens die Unabhängigkeit der Gerichte zu garantieren, für den Aufbau von Institutionen zu sorgen. Es gibt sehr viel Gegenwind.

    Gibt es denn etwas, das Sie erreicht haben?

    Ich sehe es so, dass sich die Situation kontinuierlich verschlechtert hat und ein einzelner Abgeordneter nicht viel ausrichten konnte. Das Einzige, was ich tun konnte, war: den anderen ein Beispiel für Unabhängigkeit sein. Aber die sagten: „Er hat irgendwelche Beziehungen zur Präsidialadministration, deswegen kann er sich das erlauben.“ Die Mehrheit nimmt die Botschaft, die sie aussenden, also sowieso nicht wahr, aber vielleicht folgt ja in der Zukunft jemand ihrem Beispiel.

    Aber das muss man alles vor dem Hintergrund der Ausgangssituation betrachten. Seit dem Beginn meiner Tätigkeit in der Duma ist alles viel schlechter geworden, wir haben nichts erreicht. Aber seit 1991 haben wir viel erreicht: Wir leben nicht mehr im Sozialismus und höchstwahrscheinlich führt kein Weg mehr zurück in die Planwirtschaft. Mittlerweile sind 14 Prozent der Bevölkerung oppositionell eingestellt – das sind nicht mehr die paar hundert Dissidenten, die wir in den 1970er Jahren hatten, die Hälfte davon in der Klappse und die andere Hälfte im Gefängnis. Dieser Zuwachs ist ein großartiges Ergebnis. Also von wo aus wollen wir die Situation betrachten?

    Sie hatten doch einen Plan, mit dem Sie in der Duma begonnen haben. Konnten Sie den umsetzen?

    Ich wollte, dass eine Fraktion entsteht, egal welche, die eine Konkurrenz zur Mehrheit bildet. Politische Konkurrenz ist das Wichtigste, denn dann muss im Parlament verhandelt werden. Meinetwegen auch mit den Kommunisten. Es ist schwer, ein Gleichgewicht zu erreichen, solange die Gesellschaft nicht sukzessive in eine neue Entwicklungsphase eintritt. Wir haben nach 1991 zu viel erreicht, sind über das eigentliche Niveau unserer politischen Bildung hinausgeschossen. Und nun rutschen wir Stück für Stück wieder ab und auf die nächste Krise zu. Die, wie ich hoffe, der Opposition als konkurrierender politischer Kraft eine Unterstützung von 30 bis 35 Prozent verschaffen wird.

    WAS DIE WÄHLER TUN KÖNNEN

    Michail Prochorow bekam bei den Präsidentschaftswahlen sieben Prozent. In absoluten Zahlen sind das sehr viele Menschen. Warum hat ihm das nicht geholfen? Ihn nicht geschützt?

    Sieben Prozent sind viel zu wenig für ein Kräftegleichgewicht. Selbst 49 Prozent würden nicht reichen, wenn die Opposition nicht weiß, wie sie die Energie der Proteste in Taten überführen soll, die eine Veränderung der politischen Landschaft bewirken. Es gibt in Russland keine Spaltung zwischen Konservativen und Labourpartei, oder Menschen, die höhere Steuern oder Sozialleistungen wollen. Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und überhaupt nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll. Sie hindert doch nur daran, die Amerikaner bei irgendetwas zu übertrumpfen oder jemandem ein Stück Land zu entreißen. Stellt unnötige Fragen. Die Idee des Fair Play ist uns Russen völlig fremd.

    Hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner

    Es ist sehr schlecht, dass man uns in den letzten zehn Jahren des politischen Lernzyklus beraubt hat, bei dem die Wähler zwar Fehler machen, einen Populisten oder Kommunisten wählen, dabei aber trotzdem vor allem eine ehrliche Stimmauszählung fordern. Bei dem sich die Opposition zusammentut und sagt: Bevor wir darüber reden, wer hier was möchte, nehmt erstmal die Filter aus dem System, die unfairen medialen Möglichkeiten und überhaupt die Möglichkeit, einfach so irgendetwas „abzuschaffen“. Wie [Alexander] Korshakow seinerzeit vorschlug: Lasst uns die Wahlen abschaffen! Woraufhin es hieß: Aber das Verfassungsgericht wird das anfechten. Und er wiederum sagte: Dann schaffen wir das Verfassungsgericht ab …

    Was sollen die von Ihnen genannten 14 Prozent Protestwähler tun, um ihre Position kundzutun?

    Ich würde ihnen natürlich raten, wählen zu gehen, wenn sie eine Entwicklung wollen. Wir alle sind berufstätige Menschen und wollen kein Chaos auf den Straßen, davon hat keiner etwas.

    Ich würde zu allen genehmigten Demonstrationen gehen, denn das war das Einzige, worauf die Regierung reagiert hat. Ich würde ihnen raten, selbst als Beobachter zu den Wahlen zu gehen, anstatt zu Hause zu sitzen und davon auszugehen, dass ein anderer alles für sie überprüft. Sie sollten sich vor Augen halten, dass jeder bis zum nächsten Wahlgang ein Dutzend Freunde und Bekannte rekrutieren kann.

    Glauben Sie denn, dass die Wirtschaftskrise den Liberalen mehr Anhänger bringen wird?
    Menschen, die plötzlich ohne Arbeit oder mit einem verringerten Lohn dastehen, stellen mehr Fragen. Solange alles gut ist, sind alle der Meinung, dass wir den Präsidenten und das Establishment grundlos [mit unserer Kritik – Anm. d. Red. Vedomosti] belästigen. Unter den Wählern gibt es natürlich auch die 30 Prozent, die nichts dagegen hätten, gleich morgen Kiew einzunehmen. Aber 45 Prozent sind ein Sumpf, der brodeln würde, sobald die Probleme größer werden. Dann würden sie höchstwahrscheinlich hinhören, was die Liberalen zu sagen haben. Wenn wir bis dahin allerdings keine Partei oder faire Auszählungen haben und als Konkurrenz Kriminelle und Nationalisten losgelassen werden, sind die gesellschaftlichen Spannungen nicht zu lösen. 

    Die Duma spielt ganz offensichtlich keine eigenständige politische Rolle, sondern setzt die Entscheidungen von Administration und Regierung technisch um. Gleichzeitig sehen wir, wie hinter den Kulissen Menschen aus Putins Umfeld zunehmend an Bedeutung gewinnen. Wie kommt das?

    Weil davon so wenig an die Öffentlichkeit dringt, tendieren wir dazu, deren Rolle manchmal überzubewerten … Aber hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner.

    Zudem wirkt sich die außenpolitische Situation auf die Lage im Inneren aus, genauso wie tausend andere Dinge. Glauben Sie mir, den Einfluss einer einzigen Gruppe gibt es nicht. Es findet vielmehr eine Art Maklergeschäft statt, bei dem die führenden Kräfte schauen und entscheiden – dem Stärksten muss man helfen und Entscheidungen zugunsten einer einflussreichen Gruppe treffen. Manchmal  bringen irgendwelche Gruppen auch Initiativen ein, ohne das Zentrum in Kenntnis gesetzt zu haben – einfach, um die Reaktionen zu sehen: Der eine bekommt eins auf den Deckel, der andere steht plötzlich in der Gunst. Und sie bekommen die Mehrheit, weil die Gesellschaft keine anderen Forderungen stellt. Das Szenario, dass in einer dieser Gruppen unser Lee Kuan Yew heranwächst, ist sogar in der Fantasy-Welt zu gewagt.

    PROGNOSE

    Was denken Sie über die Losung „Faire Wahlen“ und Ella Pamfilowa in der Zentralen Wahlkommission? Ist das alles nur zum Schein oder steckt dahinter tatsächlich der Wunsch, fair zu spielen?

    Das ist Stühlerücken auf der Titanic. Aber immerhin besser als Wahlbetrug.

    Glauben Sie, dass die Präsidialadministration bereit ist, ein saubereres Verfahren zuzulassen?

    Es sind ja nicht die Leute aus der Präsidialadministration, die die Wahlen fälschen. Das macht irgendeine Person vor Ort. Die regionalen Regierungen kennen sich damit aus.

    Was haben sie dann zu befürchten? Sogar wenn man saubere Wahlen zuließe, bestünde doch keine Gefahr für sie, weil das politische Feld geschützt ist.

    Im Augenblick schon. Aber wenn man saubere Wahlen zulässt, dann kann schnell eine Gefahr entstehen. Diese Leute lösen immerzu taktische Aufgaben und sind lausige Strategen. Sie arbeiten daran, das Land möglichst lange in einem durch sie lenkbaren Zustand zu halten, weil sie davon ausgehen, dass niemand besser regiert als sie. Ich kann sie verstehen, sie folgen ihrer eigenen Logik, aber mir passt diese Logik nicht. Deswegen muss man einfach schauen, wie viele Anhänger sie haben, wie viele wir, und das Verhältnis langsam zu unseren Gunsten verändern. Unsere 14 Prozent sind in der Regel selbstgenügsame Leute, die Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln. Ihr Einfluss wird sich jetzt vergrößern, weil die Wirtschaft langsam zum Erliegen kommt.

    Das heißt also, Sie halten die Selbstorganisation für eine Aufgabe der Wählerschaft und nicht der Politiker?

    Diese Aufgabe wird niemals von Politikern übernommen. Mir sagt folgende Aussage am ehesten zu: Je weniger Bedeutung wir der Rolle einzelner Persönlichkeiten in der Geschichte beimessen, desto näher kommen wir der Wahrheit. Politiker orientieren sich an den Forderungen der Wähler.

    Wer wird also in die Duma kommen? Menschen, die in noch größeren Abhängigkeiten stehen? Kann es noch schlimmer werden?

    Das kann es immer. Solange eine Gesellschaft ihre Minderheit und deren Standpunkt nicht schützt, wird sich das Parlament mit großer Wahrscheinlichkeit verschlechtern. Es braucht eine starke ökonomische oder irgendeine andere Erschütterung. Etwas muss passieren, damit die Menschen beginnen sich zu fragen: Wir verlassen uns doch immer auf die Regierung, warum ziehen wir dann immer den Kürzeren?


    1.Jegor Gaidar in Der Untergang eines Imperiums, 2006: „Die Überzeugung der Staatsmacht und der Gesellschaft davon, dass der Staat fähig ist, in uneingeschränktem Ausmaß Gewalt anzuwenden, um die Äußerung von Unzufriedenheit zu unterbinden, war absolut.“ – Anm. Vedomosti


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Sofa oder Wahlurne?

    Sofa oder Wahlurne?

    Wählen oder Nicht-Wählen, das ist die Frage, die sich angesichts der bevorstehenden Dumawahl den oppositionell eingestellten Bürgern stellt: Hauptargument gegen den Gang an die Wahlurne ist, dass Wahlen in einem autokratischen System nichts weiter seien als eine Farce, eine Imitation von Demokratie, und das Ergebnis sowieso schon feststehe. Wer wählen geht, erkläre sich damit einverstanden – und solle deswegen besser zuhause auf dem Sofa bleiben.

    Die Opponenten dieser sogenannten „Sofapartei“ jedoch appellieren, dass jedes Nicht-Handeln apolitisch sei und es durchaus gute Gründe für den Wahlgang gebe. Schließlich gehe es auch darum, die „demokratischen Muskeln zu trainieren“ und Weichen für die nächsten Wahlen zu stellen.

    Sofa oder Wahlurne? Slon.ru bat sieben renommierte Politik-Experten um ihren Ratschlag.

    Wählt, auf wen die Flasche zeigt

    In einem britischen Kinderbuch mit dem Titel Sie sind ein schlechter Mensch, Mr. Gum pflegt die Hauptperson und der Antiheld, also jener Mr. Gum, einen sehr unhygienischen Lebenswandel. Daraufhin siedeln sich in seinem Haus Insekten an, aber keine gewöhnlichen, sondern, wie der Autor schreibt, riesenhafte: mit Gesichtern, Namen und Dienstposten. So ein Gefühl bekomme ich bei dem Angebot an Parteien und Kandidaten. Wählt bitte, wen ihr lustiger findet, oder auf wen die Flasche zeigt, es spielt keine Rolle.

    Foto © cogita.ru
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    Grigori Golossow (geb. 1963) ist Politikwissenschaftler. Der Experte für Parteiensysteme forschte an renommierten internationalen Universitäten. Seit 2011 lehrt er an der Europäischen Universität Sankt Petersburg am Lehrstuhl für vergleichende Politikwissenschaft.

     

     

     

     

     


    Die wären nur froh, wenn ihr nicht hingeht

    Unter einer Vielzahl an Äußerungen zu den bevorstehenden Wahlen findet sich oft folgende: „Sie wollen, dass wir wählen gehen, also gehen wir nicht – und wer hingeht, der kooperiert mit ihnen und ist also ein Kollaborateur.“ Darauf basieren alle Ideen von Boykott und Delegitimierung des Regimes.

    Doch  im ersten Teil des Satzes ist ein Fehler: Sie wollen ja eigentlich überhaupt keine Wahlen. Und haben alle Wahlen abgeschafft, die man abschaffen kann, und den Rest reglementiert. Die Wahlen generell abschaffen können sie aber nicht, das wäre ein zu radikaler Schritt  – vorerst jedenfalls.    

    Insofern sind Wahlen für sie ein unangenehmes Prozedere, zu dem sie leider verpflichtet sind, obwohl sie, hätten sie die Freiheit, sie am liebsten abschaffen würden. In dieser Lage – man muss Wahlen durchführen, die man fürchtet – wäre es am besten, wenn die Leute gar nicht hingingen. Deswegen muss der Satz, mit dem ich diesen Text begonnen habe, anders lauten: „Sie haben Angst vor den Wahlen, können sie aber nicht abschaffen. Deswegen wären sie nur froh, wenn ihr nicht hingeht.“

    Foto © polit.ru
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    Ivan Kurilla (geb. 1967) ist Historiker und Amerikanist. Der Experte für Geschichtspolitik lehrt seit 2015 an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und leitet das Partnerprogramm der Universität.

     

     

     

     

     


    An der Türe rütteln!

    Bei diesen Wahlen spricht man nicht mehr von „Wählergruppen“ – die gibt es im herkömmlichen Sinne nicht – weder regierungstreue, noch liberale, noch linke. Die Wählergruppen der Zukunft schlummern innerhalb der Gruppe X – das sind die, die unschlüssig sind oder nicht einmal die Leute aus dem eigenen Lager wählen wollen. Je nach Quelle sind das 15 bis 30 Prozent.

    Die Abgeordneten der 7. Staatsduma werden in den kommenden zwei bis drei Jahren im Zentrum der Umbrüche stehen. Und dann werden wir alle wollen, dass es eine gute Duma ist. Umso wichtiger, dass auf dem Ochotny Rjad noch andere sein werden als die vier Kopfnicker-Parteien.

    Wen werden oppositionell gestimmte Bürger wählen? PARNAS, die Partei des Wachstums, Rodina oder Jabloko – egal. Aus der neuen Palette wird sich jeder was aussuchen. Wir wählen am 18. September nur für den Sand im Getriebe des Druckers. Sollten ein oder zwei neue Fraktionen in die Duma einziehen, knirscht es im Drucker, und dann kriegen sie ihn vielleicht nicht wieder in Gang.     

    Zur Wahl gehen in dem Wissen, dass man auf euch – genau auf euch – dort nicht wartet! Da haben wir ihn, den Einzelprotest, den man sich gefahrlos erlauben kann. Doch dieser seltene Einzelprotest birgt die Chance, ein schnelles Ergebnis zu bringen. Ohne den Versuch, die Wahlen zu politisieren, werden wir nie erfahren, wie weit die Gesellschaft politisiert ist. Einen Versuch ist es wert. Denn man kriegt die Tür nicht auf, wenn man nicht zumindest einmal dran gerüttelt hat.

    Foto © CC BY-SA 3.0
    Foto © CC BY-SA 3.0

    Gleb Pawlowski (geb. 1951) war Mitbegründer und Direktor der Stiftung für effektive Politik – eines Thinktanks, der sich 2011 auflöste. Für viele Beobachter galt Pawlowski als „Chef-Polittechnologe“ des Kreml, im Zuge der Schließung der Stiftung wandte sich Pawlowski weitgehend von Putin ab und gilt seitdem als ein Kritiker seines Regimes.

     

     

     

     


    Für die stimmen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen

    Fehlt eine maßgebliche, geeinte Opposition, dann ist ein Umschwung bei den Wahlen unmöglich. Selbst wenn die Regierungspartei deutlich an Popularität einbüßt, gibt es einfach keinen Ersatz – ein Alternativvorschlag steht nicht auf dem Stimmzettel.

    Man kann aber ein Parlament anstreben, das weniger monopolisiert ist und untereinander konkurriert – also eines, in dem die Mitglieder ständig miteinander verhandeln müssen, genau wie die Exekutive es mit ihnen allen tun muss. Niemand hat dann ein Mehrheitspaket an Stimmen (und damit die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, ohne mit den anderen zu kooperieren).

    Ein solches Szenario ist zwar auch bei einer inneren Spaltung der Regierungspartei denkbar. Effektiver aber wäre es , wenn mehrere unterschiedliche Fraktionen und Gruppen in die Duma einzögen, egal welche ideologische Ausrichtung sie haben. Deswegen sollten Protestwähler ihre Stimme vielleicht einfach irgendeiner Partei geben, die nicht im Parlament sitzt. Denn die im Parlament brauchen ihre Stimme ja nicht.  

    Dann beginnt ein recht spitzfindiges Spiel: Wenn die von den oppositionellen Wählern gewählten Parteien es nicht ins Parlament schaffen, dann kommen ihre Stimmen dem Sieger zu Gute – also einer Partei, die durchgekommen ist. Daher hoffen womöglich viele, jene zu unterstützen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen.

    Foto © Niece/livejournal.com
    Foto © Niece/livejournal.com
    Ekaterina Schulmann (geb. 1978) ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti, Grani.ru und Colta und gilt als Expertin für das Herrschaftssystem Russlands.

     

     

     

     

     


    Schaut genau hin!

    Das Problem der aktuellen Wahlen für den oppositionellen Wähler ist: So gut wie jedes Votum konserviert das bestehende System. Möglichkeiten des Protestwählens fehlen praktisch völlig. Es gibt keine Option „gegen alle“ zu sein, die Abstimmung mit den Füßen mehrt die Stimmen für die regierende Partei. Die Unterstützung der systemischen Opposition, die sich dem Kreml immer weiter annähert, führt zu keiner Veränderung der Kräfteverhältnisse.

    Für den oppositionellen Wähler bleibt nur eine für ihn relativ wirksame Taktik: Beobachtung statt Teilnahme. Das Sammeln von Informationen über Verstöße, die Verbreitung dieser Daten über zugängliche, legale Wege, die Analyse, wie das System mit all seinen Nuancen funktioniert und genaue Kenntnis über das Wahlrecht – das alles ist eine Art Ressource, die sich positiv auf das oppositionelle Umfeld und seinen Reifungsprozess auswirkt.  

    Geht ins Wahllokal, seht euch an, wie alles funktioniert, schaut, welche Wahlbeobachter anwesend sind, notiert die persönlichen Angaben jener, die die Exit-Polls durchführen und vergleicht danach deren Daten mit den offiziellen Ergebnissen aus eurem Wahlbezirk. Den Stimmzettel kann man nach eigenem Gutdünken verwenden.

    Foto © obsfr.ru
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    Tatjana Stanowaja (geb. 1978) ist Leiterin der Analyse-Abteilung im Zentrum für Politische Technologien. Ihre Analysen werden oft von wissenschaftlichen und unabhängigen Massenmedien veröffentlicht

     

     

     

     

     

     


    Wählen als Widerstand

    Ich glaube, bei den bevorstehenden Wahlen wird den Leuten, die dem Land Wohlergehen und Fortschritt wünschen, im Großen und Ganzen dasselbe geboten wie vor vier Jahren. Das, was man uns anbietet, sind keine Wahlen, sondern ein sorgfältig inszenierter Betrug. Diesmal ist der Fake so einstudiert, dass er auch ohne Wahlbeteiligung auskommt. Er hat jetzt die Stufe der Selbstgenügsamkeit erreicht. Er ruft die Passivität der Bürger hervor, ja, er fördert sie sogar.

    Und deswegen wäre es meiner Ansicht nach für diejenigen, die sich diesem Betrug widersetzen wollen, am sinnvollsten, einfach wählen zu gehen. Aber nicht mit der Vorstellung, jemanden zu wählen oder für jemanden zu stimmen. Es gibt keine Wahlen. Es gibt eine rechtswidrige Aneignung von Wahlverfahren und es gibt Widerstand dagegen. Das Ausmaß des geleisteten Widerstands wird sich auf den weiteren Kurvenverlauf der Ereignisse auswirken.

    © V. Shaposhnikov/Kommersant
    © V. Shaposhnikov/Kommersant

    Kirill Rogow (geb. 1966) ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war Mitbegründer und zwischen 1998 und 2002 Chefredakteur des Online-Mediums Polit.ru. Zwischen 2005 und 2007 war Rogow stellvertretender Chefredakteur der Zeitung Kommersant. Er schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti und Novaya Gazeta.

     

     

     

     


    Es gibt weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren

    Bei diesen Wahlen gibt es für den oppositionellen Wähler keine gute Strategie – ihr werdet nichts gewinnen, aber auch nichts verlieren, auch wenn ihr gar nicht hingeht.

    Diese Wahlen finden vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Niedergangs und einer tiefen Krise der liberalen Bewegung statt. Das Wahlergebnis – das Scheitern der alten liberalen Parteien – wird die Frage nach einer völlig neuen Etappe der Gesellschaft als ganzer aufwerfen. Der Kreml wird über die Einerwahlkreise eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in der neuen Duma bilden.

    Als nächstes stellt sich die Frage der Präsidentenwahl 2018. Und hier wird dann das gebraucht, was vor der Dumawahl nicht zustande gekommen ist: eine neue demokratische Koalition, die eine Strategie des Widerstands anzubieten hat gegen das heraufziehende Regime lebenslänglicher Macht.  

    Foto © CC BY-SA3.0
    Foto © CC BY-SA3.0
    Alexander Morosow (geb. 1959) ist Journalist und war bis 2015 Chefredakteur des Russischen Journals – eines Onlinemediums, das seit 1997 existiert. Zwischen 2008 und 2013 schrieb Morosow regelmäßig für die unabhängigen Medien Slon, Colta, Vedomosti und Grani.ru.

     

     

     


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

  • Totenwasser

    Totenwasser

    Es sollte ein Festtag werden. Stattdessen erschütterte ein schwerer Terroranschlag das südrussische Beslan am ersten Schultag nach den großen Ferien – in Russland traditionell der feierlich begangene 1. September. An diesem Tag im Jahr 2004 überfielen Terroristen die Schule Nr. 1 in der Kleinstadt in Nordossetien und nahmen mehr als Tausend Geiseln. Kinder, Eltern und Lehrer. Das Terrorkommando wollte den Abzug russischer Truppen aus der benachbarten russischen Teilrepublik Tschetschenien erzwingen – und versetzte dem Land mit einem drei Tage andauernden Geiseldrama einen Schock.

    Als Drahtzieher übernahm der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew die Verantwortung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion tobte in Tschetschenien bereits der zweite bewaffnete Konflikt um die Unabhängigkeit der Nordkaukasusrepublik von Russland. Moskau versuchte, eine Abspaltung zu verhindern. Das Geiseldrama trug diesen Krieg auf grausame Art und Weise ins alltägliche Leben. Es gab mehr als 300 Tote, ein Großteil waren Kinder.

    Bis heute gibt es dabei viele offene Fragen auch zum Einsatz der Sicherheitskräfte, zahlreiche betroffene Angehörige und auch Menschenrechtsorganisationen werfen offiziellen Stellen eine gezielte Politik der Desinformation und des Verschweigens vor. Am 12. Jahrestag 2016 protestierten fünf betroffene Mütter mit schweren Vorwürfen an die Adresse Wladimir Putins und wurden dafür verhaftet. Noch in der Nacht verurteilte sie ein Gericht teils zu Geldstrafen, teils zur Ableistung von Sozialstunden.

    Der renommierte Journalist Andrej Kolesnikow hat Beslan während der Tragödie besucht und seine Eindrücke in einer Reportage beschrieben. Sein eindringlicher Text, der am 6. September 2004 in der Tageszeitung Kommersant erschien, soll hier als Zeitdokument stehen.

    Stilles Gedenken: Blumen und geöffnete Wasserflaschen / Foto © ossetians.com

    Tag der offenen Tür

    Die Kämpfe in der Schule Nr. 1 setzten sich am Freitag bis in die Nacht hinein fort. Die Schule brannte. Löscharbeiten waren bereits im Gange. Die Feuerwehrautos fuhren in den Hof der benachbarten Schule Nr. 6, füllten ihre Wassertanks auf und kehrten wieder zurück. Bei einem der Autos stand an einen Baum gelehnt ein Ossete um die 30, in schmutziger Kleidung mit Brandlöchern.

    „Waren Sie drin?“, fragte ich.

    Er nickte: „Wir sind mit der ALPHA da rein, als die Explosionen losgingen.“

    Die Schule war im Sommer renoviert worden, und eine Wasserleitung, die in den Turnsaal führte, war noch nicht eingemauert. Rund um sie herum war nach wie vor eine relativ große Bresche in der Mauer. Dort hatten sich die Feuerwehrmänner mit Brecheisen und Vorschlaghämmern zu schaffen gemacht.

    „Hat es lang gedauert, bis die Mauer durchbrochen war?“

    „Nein, das ging schnell. Das Durchkriechen dauerte. Da war aber noch nicht der Turnsaal, in dem die Kinder festgehalten wurden, sondern so ein gewerblicher Fitnessraum für Krafttraining, glaube ich. In dem Turnsaal, wo sich die Leute befanden, war schon eine Bombe explodiert, und alles brannte. Wir sind rein, und da lagen haufenweise Frauen und Männer und Kinder. Die Kinder alle mit nackten Oberkörpern. Es war kaum möglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber wir mussten da durch. Also gingen wir.“  

    Er sagte, seine eigene Stimme höre sich seltsam für ihn an.
    „Sage das gerade alles ich?“, fragte er skeptisch.
    „Natürlich.“
    „Komisch. Anscheinend sind das meine Worte, und mir ist das passiert, aber ich höre mich selbst wie von außen, aus der Ferne. Gibt es so etwas?“
    „Natürlich“, beruhigte ich ihn.
    Er beruhigte sich wirklich.    

    „Wir haben ein paar Leute aus dem Turnsaal rausgezerrt. Vier habe ich geschleppt. Auf der anderen Seite hat die ALPHA welche rausgetragen. Die Leute lagen wie so Bündel da … Viele hatte die Druckwelle in die Ecken gedrückt. Oder sie sind selbst dorthin geflüchtet. Nur wenige lebten. Wir mussten herausfinden, wer, aber wie? Ich habe mich zweimal geirrt. Als ich gerade ein Mädchen rausgebracht hatte, krachte die zweite Explosion. Davor hatten uns zwei Mädchen aus dem Fenster zugerufen, mit einem Tuch gewunken, die eine etwas älter, die andere vielleicht sieben. Bei ihnen saßen zwei Duchi, die mit Unterlaufgranatwerfern die ALPHA unterstützten. Ich winkte den Mädchen zu und sagte: ‚Ich bin gleich da!‘, und sie haben gelacht, so glücklich waren sie! Dann die Detonation, und die Mädchen hab ich nie wieder gesehen. Ich werde sie in der Schule suchen, sie müssen doch noch drinnen sein.“ 

    Der Kommandant der Feuerwehr gab Anweisungen:

    „Los, Wassertanks auffüllen – und zur Schule! Löschen im ersten Stock! Marsch, alle! Die Rebellen sind tot! Dort ist niemand mehr! Was ist, will da jemand nicht? Los jetzt, alle! Was stehen wir hier noch rum?!“

    „Da sitzen noch drei im ersten Stock“, brummte der Ossete, der sich mir mittlerweile als Ansor vorgestellt hatte. „Die lassen noch nicht locker. Da war so ein eiserner MG-Schütze, der hat alle verblüfft. Den haben sie mit Raketenwaffen beschossen und sonst mit allem möglichen, und immer noch war er am Leben. Saß in diesem Zwischenraum zwischen Dach und erstem Stock … also, ja, auf dem Dachboden … Er hat, glaube ich, sogar Männer von der ALPHA runtergeschossen. Ein richtiger Profi, hat sich perfekt verteidigt. Und vom Nachbarhaus aus hat uns ein MP-Schütze nicht runtergelassen. Also die haben uns echt Probleme gemacht. Jetzt liegen sie unten. Ich hab sieben gesehen. Darunter einen Neger und einen Araber …“           

    Da donnerten ein paar heftige Explosionen.

    „Ach, du Scheiße!“, rief Ansor und horchte auf. „Die schießen aus Panzern auf sie. Offenbar gibt es größere Probleme. Aber unsere Leute müssen ja rein, den Brand löschen. Einen der Rebellen haben sie halbtot rausgezerrt, er war verletzt, sie schleppten ihn auf die Dienststelle, ein Wunder, dass die Leute draußen ihn nicht zerfleischt haben, aber die haben sie abgewehrt. Ein anderer, heißt es, hat nicht überlebt. Ich finde auch, dass man die Leute abwimmeln muss, der soll ja der Gesellschaft noch wenigstens irgendeinen Nutzen bringen.“

     „Alle einsteigen!“, hörte ich das Feuerwehrkommando.

    „Dann muss ich wohl“, sagte Ansor. „Mal sehen, wie und was.“

    Ich ging zum Kulturhaus, dem Arbeitsort der Journalisten während dieser Tage. Es war halb drei in der Nacht. Explosionen gab es keine mehr. Nach einer Stunde kamen nach und nach die Feuerwehrautos zurück. Die Feuerwehrmänner berichteten, von Erdgeschoss und Turnsaal sei nichts mehr übrig, und den ersten Stock hätten sie ohne Zwischenfälle gelöscht: Die Rebellen seien tatsächlich alle weg.   

    Ich stoppte ein Auto (damals hielten sie auch auf das Handzeichen von Passanten an). Wir fuhren aus Beslan raus und waren schon Richtung Wladikawkas abgebogen, als uns eine lange Wagenkolonne entgegenkam. Lautlos drehten sich die Blaulichter, alle nur erdenklichen Scheinwerfer strahlten. Die Kolonne fuhr sehr langsam, ja, schwebte an uns vorüber. Sie bestand aus mindestens 15 Fahrzeugen. Bei der Einsatzzentrale hielt die Kolonne an. Rundherum wurde sofort abgesperrt. Wir mussten schon los. Wie ich später erfuhr, saß in einem der Autos der russische Präsident, der mit dem Flugzeug aus Moskau in Beslan gelandet war.

    Totengedenken       

    Früh am Morgen sah ich zu, wie das Gebiet rund um die Schule abgesichert wurde. Die äußerste Absperrung verlief an der Wand des Kulturhauses entlang. Nicht einmal in den ersten Tagen der Geiselnahme und während der Erstürmung hatte der Zaun so weit entfernt von der Schule gestanden. Die Osseten wussten nicht, was los war. Sie wollten zur Schule hingehen. Dort waren ihre Kinder. In ganz Beslan gab es, glaube ich, keine einzige Familie, die nicht von dieser Tragödie betroffen war. Sie wollten ihre Kinder sehen. Mir war klar: Eben darum lassen sie sie nicht rein.

    Keine einzige Familie, die nicht von dieser Tragödie betroffen war

    „Wissen Sie, was da vor sich geht?“, fragte mich eine Frau mittleren Alters und wies mit der Hand Richtung Schule. „Dort geht der Terror weiter, sonst hätten sie keine Absperrung aufgestellt.“  

    Sie und ihre Nachbarin konnten ihre Kinder nicht finden, die sechsjährige Madina Buchajewa, den 13-jährigen Soso Bigonaschwili und noch weitere – insgesamt sechs.

    „Wir haben überall gesucht, in der Leichenschau, in den Krankenhäusern, haben alles genau geprüft …“, sagte die Frau müde.
    „Ich habe geweint, dann kam ein Soldat raus und fragte, wen ich verloren habe, wie sie heißen, und ich sagte, vielleicht sind sie gar nicht tot. Und er ging weg.“
    „Agunda ist tot, Asa auch“, zählte die Frau tonlos auf, „was haben die uns nur angetan?“

    An einer anderen Stelle der Absperrung kam noch eine Frau auf mich zu:

    „Wissen Sie, was da im Keller los ist? Dort sitzen wieder Rebellen mit Geiseln“, sagte sie leise, „Gespräche sind im Gange, noch ohne Ergebnis. Sie wollen nicht verhandeln, stellen keine Forderungen. Dort sind unsere Kinder! Wir suchen sie überall, dabei sitzen sie da unten! Gott im Himmel, wann ist das endlich vorbei!“

    Ich versuchte sie zu beruhigen und sagte, dort seien keine Rebellen mehr, und Geiseln könne es auch keine mehr geben, die Absperrung sei nur deshalb da, weil alles vermint sei. Sie hörte mir begierig zu. Und ich ertappte mich dabei, wie ich ihr glaubte anstatt mir selbst. 

    Ich umrundete fast die gesamte Absperrung. An einer Stelle traf ich auf Männer, die völlig aufgebracht waren. Ansor Margijew vermisste seine zwölfjährige Nichte Elvira.

    „Sie war mit ihrer Mutter im Turnsaal, als bei einer Explosion der Boden einbrach“, erzählte er. „Ihre Mutter blieb unversehrt, aber die Kleine wurde so eingeklemmt, dass man sie nicht rausziehen konnte. Zumindest gelang es der Mutter nicht. Dann stürzte die Decke ein, sie packte einen anderen dreijährigen Jungen, einen fremden Jungen, also nicht fremd, natürlich, wir kennen uns ja alle, und rannte. Sehen Sie, dort sitzt Elviras Vater auf der Bank, den zweiten Tag infolge spricht er mit niemandem, alt ist er geworden. Und die Kleine liegt dort. Ich weiß genau, wo, ich finde sie, aber sie lassen uns nicht rein!“

    Die Kleine liegt dort. Ich weiß genau, wo, aber sie lassen uns nicht rein!

    Ich hielt einen Burschen auf und fragte ihn, wie ich so nah wie möglich an die Schule herankomme. Er zeigte es mir. Eigentlich war es einfach. Ein Hof, ein Zaun, ein Trampelpfad … Das nächste Hoftor führte direkt zum Haupteingang der Schule Nr. 1.

    Ich hatte gute Sicht auf die Vorgänge im Hof. Auf Tragen schafften die Rettungskräfte schwarze Plastiksäcke aus dem Turnsaal hinaus und reihten sie auf dem Asphalt auf, dort, wo vor drei Tagen der Appell zum Schulbeginn hätte stattfinden sollen. Auf denselben Tragen wurden die Trümmer aus dem Turnsaal gebracht. Der Schutt kam nach links, die Säcke nach rechts. Es waren viele Einsatzkräfte, und sie waren schnell. Pro Minute trugen sie ungefähr fünf Leichen raus. Sie waren schon über eine Stunde am Werk. Machten nur ein paar Raucherpausen.

    Am Eingang der Schule stand eine Kette aus ossetischen OMON-Milizen. Sie ließen niemanden hinein, außer die Ermittler der Staatsanwaltschaft und die Rettungskräfte.

    Die Schmach des Staatsanwalts

    Auf dem Platz vor dem Kulturhaus drängten sich Journalisten und Einwohner Beslans. Der Termin mit den Regierungsvertretern hätte schon vor einer Viertelstunde beginnen sollen.

    „Was ist, seid ihr da, um von uns Fotos zu machen?“, riefen die Osseten den Journalisten zu, die tatsächlich waghalsig von oben, von der Freitreppe aus, fotografierten.

    „Weg mit euren Kameras, oder wir schlagen sie kaputt, zum Teufel nochmal! Euretwegen sind die Rebellen durchgedreht! Weil ihr gemeldet habt, in der Schule seien 354 Leute!! Das waren doch mehr als tausend! Und dann hat’s geheißen, na gut, dann werden aus euch eben 354! Weg mit Euch!“  

    „Kommt denn keiner zu uns?“, sagte eine junge Ossetin leise. „Sind die noch bei Trost?“

    In der Hand hielt sie ein Schulheft, darin ein großes Foto ihrer zehnjährigen Tochter.

    Inzwischen war die Menge in Richtung Absperrung geschwappt. Eine Frau heulte auf, dann noch eine.

    „Jetzt haben sie jemanden zertrampelt!“ stöhnte es entsetzt rund um mich auf.

    Dicht an die Absperrung herangerückt, kam die Menge nicht vor und nicht zurück. Auf der Erde saß eine alte Ossetin, die Augen geschlossen, ihren Kopf umfasste sie mit den Händen. Sie stöhnte und wiegte sich hin und her. Ihr Gesicht war blass, ganz weiß, mit dicken Schweißtropfen.    

    „Drei ihrer Enkel sind in der Schule umgekommen“, sagten die Leute in der Menge. „Und einer ist verschwunden. Sie hat gewartet, dass man ihr sagt, wo er ist. Aber offenbar hat sie nicht mehr die Kraft, weiter zu warten.“

    Zwei weitere Frauen heulten auf, man trug sie auf Händen aus dem Getümmel und setzte sie auf hölzerne Kisten.

    Die Leute blieben, als hofften sie auf ein Wunder

    Immer noch trat keiner von denen, auf die man wartete, aus dem Gebäude. Die Leute blieben, als hofften sie auf ein Wunder. In den vergangenen drei Tagen hatten sie sich daran gewöhnt, auf diesem Platz auf Wunder zu hoffen. Und das Wunder geschah. Am Mittag des zweiten Tages erschien vor dem Kulturhaus der Staatsanwalt von Nordossetien Alexander Bigulow.

    „Derzeit wird der Ort des Geschehens inspiziert“, sagte er. „Die Ermittlungen werden fortgesetzt.“

    „Verpiss dich!“, schrie jemand aus der Menge. „Da drin sind unsere Kinder!“

    Er tat, als hätte er nichts gehört.

    „Verpiss dich!“, schrie jemand aus der Menge. „Da drin sind unsere Kinder!“

    „Das Betreten des Schulgeländes ist untersagt. Die Listen der Toten und Verletzten werden fortlaufend aktualisiert. Das ist alles, was in meinem Kompetenzbereich liegt und was ich euch sagen kann.“

    Er stieg von der Freitreppe herunter.

    „Dreckskerl!“, schrien sie von unten, wurden aber nicht handgreiflich.
    „Meine Tochter ist verschwunden!“, rief eine Frau. „Wie soll ich sie finden? Wie sollen wir sie alle finden?!“
    „Kommen Sie zu mir, um das zu besprechen“, antwortete er über die Schulter.
    „Und deine Nummer, du Drecksack?!“, sagte sie stöhnend zu seinem Rücken.

    Der Staatsanwalt löste sich aus der Menge, sah sich um und fragte bekümmert einen seiner Gehilfen: „Haben Sie Wasser? Aber kaltes.“
    „Kaltes glaube ich nicht“, antwortete der mit gedämpfter Stimme.
    „Schlecht“, der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, „stand da wie ein Vollidiot.“ 

    Informationen nach oben

    Ich kehrte über den bewährten Weg zur Schule zurück. Dort war bereits schwere Technik im Einsatz. Es waren jetzt immer mehr Leute im Hof. Ich sah, wie sich ein paar Menschen in Zivil auf den Eingang zu bewegten, schloss mich ihnen an (sie achteten gar nicht auf mich) und gelangte mühelos durch das Tor.

    Ein Bagger schaufelte den Schutt beiseite, den man aus dem Turnsaal getragen hatte. Im Turnsaal selbst war es relativ sauber. Der Saal kam mir sehr klein vor, erstaunlich klein. Ich konnte nicht fassen, wie hier drei Tage lang mehr als tausend Menschen gewesen sein sollten. 

    Viele der Säcke schienen viel zu groß und federleicht

    Der Gestank war schlicht unerträglich. Die Rettungskräfte arbeiteten bedächtig, räumten Aula und Speisesaal aus. Sie meinten, dass auch dort Menschen sein könnten. Wieder fuhr ein Kühlwagen in den Hof, der mit den Leichen beladen wurde, die immer noch auf dem Asphalt lagen. Viele der schwarzen Säcke schienen viel zu groß und federleicht. Darin waren die Leichen der Kinder.

    Etwa 40 Meter entfernt lagen hinter einem kleinen Nebengebäude, Richtung Eisenbahnschienen, die Leichen der Rebellen auf dem Asphalt. Dorthin führten Beamte der Staatsanwaltschaft zwei Männer. Einer war dünn und klein, in auffallend sauberen Jeans und T-Shirt; der andere war groß und trug einen schmutzigen und zerrissenen Trainingsanzug. Ihre Köpfe waren mit Unterhemden umwickelt, mit Schlitzen für die Augen. Polizisten hielten diese Männer am Arm.    

    Die Beamten der Staatsanwaltschaft begannen mit der Identifizierung. Die Beiden brummelten aufgeregt vor sich hin und deuteten dabei auf die Leichen. Sie benahmen sich irgendwie seltsam, flüsterten ihre Aussagen den Beamten ins Ohr, als fürchteten sie, dass noch jemand sie hören könnte.  

    „Überlasst sie uns!“, ertönte ein durchdringender Schrei aus der Menge, die auf dem Bahndamm hinter der Absperrung stand. Die Leute hatten mitbekommen, was da passierte. Der Ermittler sah auf die Gefangenen und schüttelte den Kopf; mit Bedauern, wie mir schien.

    „Gebt sie uns!“, schrie wieder jemand.

    Da rief der Ermittler laut: „Kann ich nicht!“

    Man brachte die Gefangenen weg.   

    Etwa zehn Meter weiter saßen ein paar Leute im Gras.

    224 plus 18, die aus dem Fenster geworfen wurden, die liegen extra, plus 79 gestern. Was macht das? 328? Und dann noch die vier Säcke mit Körperteilen

    „Na, zählen wir mal“, sagte einer. „Wir müssen Informationen nach oben liefern. Ganz nach oben.“

    „Na, und? Im Moment ist doch alles klar. 224 plus 18, die aus dem Fenster geworfen wurden, die liegen extra, plus 79 gestern. Was macht das? 328? Und dann noch die vier Säcke mit Körperteilen.“
    „Nein, 321. Aber dazu noch die Leichen, die im Spital liegen. Und 28 von diesen Scheißkerlen.“
    „Nein, von den Scheißkerlen 26. Aber die zählen nicht. Rausgeworfen wurden aber 21, nicht 18, glaub ich.“
    „Wie viele wurden aus dem Fenster geschmissen, findet das schnell raus! 18? Und bei den Rebellen, zählt ihr da die Weiber mit?“
    „Klar, die auch.“
    „Ok, das wär’s. Ruft oben an!“
    „Aber wir wissen doch nicht, wie viele in den Krankenhäusern in der Leichenschau liegen.“
    „Das geht ja uns nichts an. Los, ruf an!“

    Totenwasser

    Am nächsten Tag fanden in Beslan die ersten Begräbnisse statt. Am Nachmittag ging ich durch die Stadt, die mir wie ein Friedhof vorkam: So gut wie aus jedem Haus hörte man Schluchzen.

    In der Schule war es sehr still. Schon seit gestern war der Zugang gestattet. In der Mitte des Turnsaals standen auf Stühlen Kerzen und geöffnete Zwei-Liter-Plastikflaschen mit Mineralwasser, fünf Flaschen. Ein paar Plastikbecher waren ebenfalls mit Wasser gefüllt. Daneben lagen Blumen und ein Stofftier, ein gelber Plüschelefant mit erhobenem Rüssel. Überall waren Blumen: auf den Fensterbrettern, in den Klassenzimmern, auf den Korridoren. Auf den Fensterbrettern lagen außerdem unzählige Damenschuhe und Kindersandalen. Es herrschte einfach Totenstille. Ängstlich vermieden die Leute jegliches Geräusch.

    Die Leute hielten ihre Regenschirme über die Kerzen

    Der beginnende Regen wurde schnell zum Wolkenbruch, und ich dachte, die Kerzen im Turnsaal, der ja kein Dach mehr hatte, würden jetzt gleich erlöschen. Aber die Leute schützten sie bereits mit Regenschirmen, die sie über die Stühle hielten.

    Der Fitnessraum nebenan, der gewerbliche, von dem Ansor erzählt hatte, war erst recht winzig. Auf dem Boden lagen Gewichte, Hanteln und kaputte Geräte herum. In der Wand war, wie Ansor gesagt hatte, ein relativ kleines Loch. Ein Mensch konnte sich gerade durchzwängen. Die Wand war dick, fünf Ziegel.

    Daneben waren die Toiletten. Der Wasserhahn lief. Der Boden in der Dusche war schon komplett überschwemmt. Ich hätte den Hahn zudrehen können. Aber ich dachte, dass das jeder an meiner Stelle hätte tun können, wenn er gewollt hätte. Niemand wollte. Sie hatten den Wasserhahn aufgedreht und die Mineralwasserflaschen auf die Tische gestellt, beides aus dem gleichen Grund.

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  • „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    Yevgenia Markovna Albats gilt als eine der Grandes Dames des russischen Journalismus. Wohl auch deswegen ist die Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times regelmäßig beim Radiosender Echo Moskwy in der Sendung Ossoboje Mnenije (dt. „Besondere Meinung“)  zu Gast.

    Bei diesem interaktiven Format bekommen die Zuhörer Gelegenheit, eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Video-Livestream aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht.

    Im Gespräch mit Moderatorin Tatjana Felgengauer, der stellvertretenden Chefredakteurin von Echo Moskwy, spricht Albats über die bevorstehende Dumawahl und darüber, ob es sich überhaupt lohnt, wählen zu gehen.

    Yevgenia Albats – die Grande Dame des russischen Journalismus –  im Interview bei „Echo Moskwy“ / Foto © Anatoli Strunin/ITAR-TASS
    Yevgenia Albats – die Grande Dame des russischen Journalismus – im Interview bei „Echo Moskwy“ / Foto © Anatoli Strunin/ITAR-TASS

    Tatjana Felgengauer: Willkommen zu unserer Sendung Besondere Meinung. Mein Name ist Tatjana Felgengauer, und ich freue mich, die Chefredakteurin der Wochenzeitung The New Times im Studio zu begrüßen: Guten Tag, Yevgenia Markovna.

    Yevgenia Albats: Hallo allerseits.

    Die WGTRK sendet die ersten Wahlkampfdebatten, sechs Parteien, darunter PARNAS, Jabloko und die neue Partei des Wachstums, nehmen teil. Interessiert das überhaupt irgendjemanden?

    Nun ja, ich werde das gucken, aber ich bin ja ein klassischer Politikjunkie. Ich finde Politik spannend. Sogar in der Form, in der sie derzeit gemacht wird, interessiert sie mich immer noch.

    Irgendwelche Erwartungen, Vorlieben?

    Nein, gar nicht. Ich erwarte mir nichts. Dass die Partei Jabloko in ihrem Programm von der Annexion der Krim schreibt, macht mich neugierig. Eigentlich ist das die einzige politische Partei, die damit in die Wahlen geht. Das ist etwas Besonderes. Dass nämlich dieser Standpunkt, den eine bestimmte Anzahl der Einwohner Russlands vertritt, immerhin von einer Partei formuliert wird.

    Und abgesehen von Ihnen, was denken Sie, wie weit kann das überhaupt den Wähler interessieren?

    Ich glaube, dass das den Wähler durchaus interessieren kann, in geringem Ausmaß. Es wird ja eigentlich alles dafür getan, dass man möglichst wenig darüber spricht.

    Für mich ist ganz offensichtlich, dass sich die staatlichen Sender, die staatlichen Medien um eine Senkung der Wahlbeteiligung bemühen.

    Die Regierung will die Wahlbeteiligung möglichst niedrig halten, das ist nämlich gerade für ihre Partei sehr günstig, wenn man so sagen will.

    Na, und weiter werden wir schon sehen. Wozu jetzt herumrаten?

    Wir sehen aber, wie die Zentrale Wahlkommission (ZIK) unter ihrer neuen Leiterin Ella Pamfilowa agiert: In einer der Regionen hat sie sich für Jabloko eingesetzt. Macht das ein bisschen Hoffnung?

    Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Regierung aus den Ereignissen vom Herbst/Winter 2011 ein paar Lehren gezogen hat. Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt. Wenn man bedenkt, dass die Leute im Sommer entweder auf der Datscha sind oder irgendwo im Urlaub, weit weg von Moskau, dann bleiben vom ganzen Wahlkampf im September keine vier Wochen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren die Wahlen davor Anfang Dezember.

    In diesem Sinne tut die Regierung alles dafür, dass sich die Leute bloß nicht aufregen. Deswegen Pamfilowa. Hauptsache, nicht Tschurow, nicht wahr?

    Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt

    Sie ist kein Tschurow, ohne Frage. Und Ella ist eine, die in der Politik nicht neu ist, und sie nimmt ihren eigenen Ruf ernst. Daher setzt sie natürlich alles daran, dass es möglichst wenig Skandale gibt.   

    Wie weit sie es dann schafft, mit den territorialen Wahlkommissionen (TIK) zurechtzukommen … Wir wissen ja, wie das läuft, nicht? Die Leute wählen, dann wird das alles in den TIK zusammengeführt, und dort fangen sie an, mit den Zahlen zu tricksen. Aber ich glaube, die ganz exotischen Dinge wird die Regierung zu vermeiden versuchen. Vor allem in den Großstädten, wo es die meisten Protestwähler gibt, wird die Regierung alles tun, um große Skandale zu verhindern.

    Dass die sogenannte Liste Chodorkowski zugelassen wurde, 18 von 19 Personen, praktisch alle – war das auch, damit es möglichst ruhig bleibt?

    Die Losung einer namhaften amerikanischen Revolution war „no taxation without representation“. Die Leute wollen wenigstens von irgendwem repräsentiert werden. Wohl wissend, dass in den Städten ein erheblicher Prozentsatz von Protestwählern lebt (Demokraten, Liberale), lässt die Regierung deswegen jene, die bis zu einem gewissen Grad die Ansichten dieser Leute vertreten, immerhin kandidieren. Ich glaube, genau deswegen wurden die registriert, die für Offenes Russland antreten.

    Bemerkenswert ist der Fall von Mascha Baronowa, die Unterschriften sammeln musste, bei denen eine Fehlerquote von nur 2,5 Prozent festgestellt wurde. Das ist wirklich wenig. Aber wir wissen ja noch, wie das bei den letzten Regionalwahlen in Kostroma war, als Ilja Jaschin aufgestellt wurde, nicht? Die Aufgabenstellung war ja klar. Es ging ganz einfach darum, zu zeigen: Bitteschön, sie sind angetreten, und geschafft haben sie mickrige zwei Prozent.  

    Ist die Aufgabe jetzt eine andere?

    Ich glaube, es ist ungefähr dieselbe. Vergessen Sie außerdem nicht, dass in Zentralrussland, in Moskau, eben ein Kandidat von PARNAS, der Historiker Andrej Subow, gegen Maria Baronowa antritt, die für Michail Chodorkowski kandidiert.

    Die Demokraten haben immer noch eine komplett feudale Vorstellung von Politik     

    Wir haben sie übrigens bei uns in der Redaktion, bei den Debatten, schon gefragt, ob sie sich nicht zusammentun wollen. Und ich war absolut verblüfft, dass, obwohl es auch so schon keine Plattform zum Ankurbeln einer Kampagne und dergleichen gibt, einer der Kandidaten (ich sage nicht, wer) abgelehnt hat: „Nein, sicher nicht“.

    Ja, was soll denn das?! Das zeigt doch, dass die Demokraten immer noch komplett feudale Vorstellungen von Politik haben.     

    Genau, merkwürdigerweise lernt die Regierung dazu, denkt sich irgendwelche neuen Tricks aus. Während das demokratische Lager immer dasselbe macht, immer wieder dasselbe. So wie immer alle gestritten haben, so streiten sie auch weiterhin, unverändert.

    Nun, wahrscheinlich ist das eine Frage der politischen Kultur. Wahrscheinlich hängt das auch noch mit dieser starken Zerrissenheit der demokratischen Kräfte zusammen. Mit dem gegenseitigen Misstrauen. Wobei, sehen Sie mal, Dimitri Gudkow führt genau dieselbe Kampagne wie 2013 Alexej Nawalny. Er versucht, Leute zu treffen und mit ihnen zu reden.

    Ich nehme an, Dimitri hat von ihm gelernt und weiß, dass man auf jeden Fall, worum auch immer es geht, vor allem das Vertrauen der Wähler gewinnen muss. Das versucht er zu tun. Schauen wir mal, wie sich die übrigen Kandidaten des demokratischen Lagers verhalten werden. 

    Also, „no taxation without representation“, das ist ganz wichtig. Dieses Problem mit der Vertretung gab es ja schon in den Staatsdumas der Zarenzeit. Und einer der Gründe, warum die Revolution von 1917 stattfand, hing genau damit zusammen, dass die Staatsduma als Repräsentationsform die größte Klasse des Landes, die Bauern, und die zweitgrößte, die Arbeiterklasse, sehr schlecht vertrat. 

    Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist

    Und deswegen stellte die Duma dieser Legislaturperiode, die Gott sei Dank jetzt zu Ende ging, eine kolossale Bedrohung für die Stabilität und die Staatsmacht dar, weil sie überhaupt niemanden repräsentierte außer, was weiß ich, die Präsidialverwaltung oder den Sicherheitssausschuss, wie ihn Jarowaja mit all diesen bescheuerten Gesetzen und dergleichen vertritt.

    Das ist wichtig! Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist. Das liegt daran, dass bei uns in der Sowjetzeit die Politik hyperinstitutionalisiert war: Alles floss in einer gelenkten Bahn, die KPdSU hieß. KPdSU – das war eine Staatsform, aber es war auch eine Bahn, innerhalb derer verschiedene Interessengruppen erlaubt waren. Und außerhalb dieser Bahn gab es nichts. Deswegen hatten die Dissidenten eigentlich keinerlei Einfluss im Land.   

    Nun, damit antworten Sie schon auf die Frage unseres Hörers Ilja, der wissen möchte: „Was meinen Sie, falls die Opposition den Einzug in die Duma schafft, kann sie dann etwas ausrichten? Und warum sind Straßendemos als Form der Meinungsäußerung endgültig in Vergessenheit geraten?“ 

    Also erstens, ja, kann sie. Ich erinnere Sie nochmal daran, dass zum Beispiel Dimitri Gudkow der einzige Abgeordnete der Duma war, der immer wieder gegen diese Neandertaler-Gesetze protestierte, die von der Duma beschlossen wurden. Er war allein. Gudkow hat uns gezeigt, was einer allein alles erreichen kann. Insofern hat das tatsächlich Gewicht. Denken Sie nur an den berühmten Italienischen Streik, den die zwei Gudkows und Ilja Ponomarjow angеzettelt hatten.

    Den Menschen ist klar: auf die Straße heißt ins Gefängnis

    Die Erfahrung des Widerstands ist eine sehr wichtige Erfahrung. Und gerade in unserem Land, das viele Jahrhunderte hindurch unter strengen Regimen lebte (egal, ob im absolutistischen Zarenreich oder unter dem totalitären Sowjetregime), ist es sehr wichtig, sich dieses Erlebnis des Widerstands zu erarbeiten, bis der Widerstand zur Institution wird, zu einer Lebensregel, nicht? Bis es absolut normal wird, sich unredlichen Gesetzen, unredlicher Macht, unredlichen Entscheidungen und dergleichen zu widersetzen.

    Was die Straßendemos betrifft, sehen wir doch der Realität ins Auge. Die Regierung hat seit den Ereignissen vom Mai 2012 wirklich alles daran gesetzt, dass den Menschen klar ist: Auf die Straße heißt ins Gefängnis. Deswegen wurde ja auch Dadin inhaftiert, für seine Ein-Mann-Demos. Zweifellos ist die repressive Komponente des Regimes äußerst bedenklich angewachsen. Die Regierung verfügt über die repressivste Einrichtung der Sowjetunion, den KGB. Ältere Leute wie ich, wir wissen einfach ganz genau, was das ist. Und der Nachwuchs hat während der Bolotnaja-Prozesse eine gründliche Lektion erteilt bekommen.

    Man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen

    Soll man wählen gehen?        

    Wissen Sie, meine Meinung ist, man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Man soll nach den eigenen Regeln spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen.

    In unserem Fall, auch wenn die Parteien oder Kandidaten, die Ihre Interessen vertreten, nicht auf dem Stimmzettel stehen, sollte die Regel in Kraft treten „Für jede beliebige Partei außer …“. Dieses Motto, das von Alexej Nawalny stammt, und das Verfahren, das 2011 erfunden wurde, das hat recht gut funktioniert. Allerdings finde ich, also zumindest in Zentralrussland gibt es gewisse Auswahlmöglichkeiten, nicht? Und vor allem muss einem klar sein, dass sich die Regierung, dass sich Einiges Russland, eine niedrige Wahlbeteiligung wünscht. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen.

    Die Regierung wünscht sich eine niedrige Wahlbeteiligung. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen

    Wissen Sie, die Hauptsache ist … Also, die Griechen haben ja nicht zufällig jene, die außerhalb der Gesellschaft standen, idiotos genannt, nicht wahr? Idioten. Um aber von der Regierung etwas fordern zu können, muss man leider trotz allem mit ihr in Verhandlungen treten, sonst bleibt einem nur der Revolver. Wahlen sind so etwas wie Verhandlungen, sind gewaltfreie Gespräche mit dieser Regierung, die bei mir keinerlei positive Emotionen hervorruft. Und deswegen glaube ich, ja, man soll wählen gehen.  

    Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats.

    Danke.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Wandel und Handel

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    Quasi über Nacht brachen während der Perestroika alle bisherigen Werte und Normen zusammen. Und was dann kam in den 1990er Jahren an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, das ging ins russische kollektive Gedächtnis ein unter dem Schlagwort lichije 90-e (dt. „Wilde 1990er“).

    Plötzlich war alles anders: So gab es etwa in Russland vor 25 Jahren ein neues Gesetz über „Unternehmen und unternehmerische Tätigkeit“ und damit für die Russen überhaupt erstmals seit der Zarenzeit die Möglichkeit, private Unternehmen zu führen. Und weil kaum einer noch etwas hatte, von Lohn und Arbeit ganz zu schweigen, wurden Millionen zu Managern ihres eigenen Bisnes. Einige von ihnen verdienten im Lauf der Jahre Millionen, andere scheiterten an den kriminellen Methoden und der Korruption, die ständig zunahm.

    Olga Beschlej beschreibt auf dem Online-Wirtschaftsmagazin Sekret Firmy die notgeborenen Aufbruchsjahre der 1990er in ihrer Familie: mit Hühnern auf dem Balkon, Weckern mit Jelzin-Ziffernblatt und den typischen rot-weiß-blau-karierten Plastiktaschen, in denen alles transportiert wurde.

    Die typisch rot-weiß-blau-karierten Taschen – mit ihnen drangen Gerüche in den Korridor, nach Frost, Markt, Waschpulver / Foto © Kommersant, 1996
    Die typisch rot-weiß-blau-karierten Taschen – mit ihnen drangen Gerüche in den Korridor, nach Frost, Markt, Waschpulver / Foto © Kommersant, 1996

    In einem Roman von William Faulkner, dem Lieblingsschriftsteller meines Vaters, gab es einen Protagonisten, der Nähmaschinen verkaufte. Er nähte sich auch Jeanshemden, wusch sie selbst und trug nie etwas anderes.

    Die Handlung des Buches habe ich schon so gut wie vergessen, doch diese Figur ist mir aus zwei Gründen im Gedächtnis geblieben: Erstens, weil er Wladimir Kirillytsch Ratlif hieß. Zweitens, weil ich beim Lesen immer meinen Vater im Kopf hatte. Der trug auch immer Jeanshemden, die ebenfalls vom Waschen ausgeblichen waren. Aber Nähmaschinen – das ist wohl das Einzige, was er, soweit ich mich erinnere, nie verkauft hat.     

    Ich erinnere mich nur dunkel an die Zeit, als mein Vater als Ingenieur am physikalisch-energetischen Institut arbeitete. An eine Szene, wo Papa im Jackett im Korridor steht. Meine Mama trägt mich auf dem Arm, wir verabschieden uns, bevor er zur Arbeit geht. Es ist sehr früh, vor dem Fenster ist es noch stockfinster. In unserem Korridor liegt ein gefrorenes totes Schwein.

    Ein tiefgefrorenes totes Schwein im Korridor

    Jetzt ist mir klar, dass dieses Fleisch ein großer Segen war, weil mein Vater damals fast nie sein Gehalt bekam. Das war so ungefähr 1992. Um irgendwie zurechtzukommen, hatte mein Vater eine Baubrigade organisiert, mit der er in den umliegenden Dörfern Ställe und Schuppen baute. Am Institut, wo damals alle arm waren, schätzte man seinen Unternehmergeist nicht und legte ihm die Kündigung nahe.

    Meine Mutter arbeitete an einem anderen Institut – für Wissenschaft und Forschung. Sie nahm mich sogar ein paarmal mit auf die Arbeit, und ich sah dort einen Computer mit blauem Bildschirm hinter einer bauchigen Scheibe. Ich durfte die Leertaste drücken. Ich drückte, und über den Bildschirm liefen Ziffern. Das fand ich total langweilig, und ich bemitleidete meine Mama, die, wie ich dachte, tagelang die Leertaste drücken musste. Ihr Gehalt wurde immer mit Verzögerung ausgezahlt und dann gar nicht mehr.

    1993 wurde meinen Eltern gekündigt und sie fingen im Handel an. Sie waren ungefähr 35 oder 36. An der Hand zwei Kinder – meinen großen Bruder, der schon zur Schule ging, und mich. Wir wohnten in einer Kleinstadt im Gebiet Kaluga, 100 Kilometer von Moskau entfernt. Meine Eltern leben auch jetzt noch dort.

    1993 fingen meine Eltern im Handel an

    Neben unserem heißgeliebten Wohnort lag eine Versorgungsbasis für Lebensmittel. In der Sowjetzeit waren dort Lebensmittel hingebracht worden, die dann an die Läden in der Region ausgeliefert wurden.

    In den 1990ern wurden diese Basen zu wichtigen Handelsknotenpunkten: Hierhin wurden Waren aus Großstädten und dem Ausland transportiert, und Kaufleute und Tschelnoki (Kleinhändler, auch Meschotschniki genannt) sortierten sie „zum Vertrieb“.

    In Moskau bildeten sich solche Handelszentren, den Erzählungen meiner Eltern zufolge, oft in leerstehenden Kinos. Auf diese Basen brachten Chinesen, Koreaner und Vietnamesen allerlei Konsumgüter, für die man aus ganz Russland in die Hauptstadt strömte.

    Die Geschichte, wie meine Mutter zu ihrer ersten Ware kam, habe ich viele Male gehört, und noch immer finde ich sie unglaublich.

    Sie fuhr zu der Handelsbasis in der Nähe unserer Stadt, bemerkte irgendeinen Kerl, der polnische Säfte und Limonaden aus dem Auto auslud, ging zu ihm hin und bat ihn einfach um Waren „zum Vertrieb“. Geld hatte sie keines. Gar keines. Der Mann sah sie an, kratzte sich am Hinterkopf, dann rief er dem Fahrer zu: „Lad dieser Frau ab, soviel sie braucht.“

    Er und meine Mutter unterschrieben einen Warenschein. Auf diesem Papier, das man in zweifacher Ausfertigung unterschrieb, stand, wie viel Ware zu welchem Preis einer konkreten Person ausgehändigt worden war. Nach Ausweispapieren fragte bei der Erstellung des Warenscheins niemand. Tag und Ort, an dem meine Mutter das Geld für die Ware übergeben sollte, wurden mündlich vereinbart. Sie mietete vor Ort ein Auto (auf Kosten ihres zukünftigen Gewinns), lud die Kisten mit den Flaschen ein und verkaufte auf der Bahnüberführung noch am selben Tag alles. Gegen Abend lieferte sie das Geld ab und bekam die nächste Charge.

    Später übernahm meine Mutter von anderen Leuten genau auf dieselbe Art – ohne Geld und mündlich vereinbart –  „zum Vertrieb“ tiefgefrorenen Fisch und Hühnerkeulen.  

    „Na, überleg mal“,  erklärte mir meine Mutter, „wenn ich ihm diese Ware gestohlen hätte, hätte mir nächstes Mal niemand mehr was gegeben. Klar gab es auch welche, die klauten. Mir hat man später auch was geklaut. Aber ein zweites Mal wär‘ das nicht durchgegangen.“

    Geld fiel vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder

    Bei meinem Vater lief es ganz gut mit seiner Baubrigade, bis er beschloss zu expandieren und dafür bei einer Bank einen Kredit aufnahm – zu 300 Prozent Jahreszinsen, was, nebenbei bemerkt, nur halb so schlimm war. Geld fiel damals buchstäblich vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder, weswegen im Gewerbe die Idee vom plötzlichen Reichtum blühte.

    Ein Geschäftspartner überredete meinen Vater, den ganzen Kredit in einen Container amerikanischen Billigessens zu investieren und es auf diese Art sofort umzuschlagen. Also bei einem Zwischenhändler einen Container zu kaufen, die Ware abzusetzen und so viel Gewinn zu machen, dass der Kredit getilgt wäre und ihm selbst noch was bliebe. Von der Idee, etwas in Amerika einzukaufen, war mein Vater ganz angetan. Er zahlte das Geld ein.  

    Der Container kam nicht.

    Mein Vater zahlte der Bank ein paar Monate lang Zinsen, bis seine Firma pleiteging. Die Bank reichte Klage ein. In ihrer Verzweiflung wandten sich meine Eltern an die Betrüger, denen sie das Geld für den Container gegeben hatten. Die erbarmten sich und stellten ein Papier aus, laut dem der Container, für den das Geld der Bank gezahlt worden war, in einem US-Bundesstaat von Schmugglern entwendet worden war. „Mit Stempel vom Gouverneur des Bundesstaats! Und Unterschrift!“, erzählte meine Mutter verzückt. Der Schrieb wurde dem Gericht vorgelegt und mit großer Achtung und Ehrfurcht begutachtet. Mein Vater wurde zwar noch zwei Jahre durch alle Instanzen gejagt, doch im Endeffekt ließ man ihn in Ruhe.  

    Kopfüber in den Kleinhandel: Wecker mit Jelzin-Ziffernblatt

    Nachdem die Baufirma hopsgegangen war, stürzten sich meine Eltern kopfüber in den Kleinhandel. Verkauften Bücher, Putzmittel, Kosmetik. Vater erzählte, er habe auf dem Stary Arbat sogar Wecker mit Jelzin drauf verkauft. Es war Winter, kalt, niemand beachtete ihn, die Leute gingen vorbei, kauften woanders. Ein Typ, der daneben irgendeinen anderen doofen Kleinkram verkaufte, machte sich über Papas Wecker furchtbar lustig, bis der die Nase voll hatte. Fuchsteufelswild nahm mein Vater einen seiner Wecker, holte aus und warf ihn mit voller Wucht. Ein abscheulicher Klingelton schrillte durch die Straße, die Leute drehten sich danach um, kamen näher, bald umringten sie meinen Vater scharenweise und kauften fast alle Wecker auf. Den Rest drehte er seinem frechen Nachbarn an.

    Die Waren wurden bei uns zu Hause gelagert – in gestreiften und karierten Taschen, die aussahen wie aus Angelschnüren gewebt. Diese Taschen erschienen mir riesig und unmöglich anzuheben. Meine Eltern schleiften sie in den Korridor, und mit ihnen drangen Gerüche herein – nach Frost, Markt, Waschpulver. Ich kann mich noch gut an Mamas schreckliche Hände erinnern – rot und steifgefroren, und wie sie sich dann in der brennendheißen Badewanne aufwärmte.    

    Von allen Waren sind mir besonders die grimmigen Hennen in Erinnerung geblieben, die bei uns auf dem Balkon lebten und ihn ordentlich vollkackten. Mein Vater hatte sie zum Weiterverkauf aus irgendeinem Dorf geholt, und ein paar Tage wüteten sie vor dem Küchenfenster.

    Oh! Und das wunderbare Feuerwerk, das sie zu Neujahr sehr erfolgreich verkauften: Mit dem Gewinn konnten sie uns zum ersten Mal Kokosnüsse und eine Ananas kaufen, außerdem Hershey’s Schokolade – eine weiße, mit dunklen Stückchen. Ich aß sie gleich morgens am ersten Tag des Jahres 1996 auf.  

    Es herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr

    Einen festen Marktstand in einer Stadt im Gebiet Kaluga bekamen meine Eltern 1995, dort standen sie etwa zwei Jahre, bis die Bullen den Markt den ortsansässigen Banditen abpressten. Mutter erzählte, wie frappierend der Kontrast zwischen den alten und den neuen Inhabern war. „Nein, denk bloß nicht, dass mir diese kleinen Gauner gar so gefallen hätten“, rechtfertigte sich Mama, der die kleinen Gauner allem Anschein nach aber sehr wohl gefallen hatten. Sie beschrieb die kräftigen, durchtrainierten Burschen, die bei ihr und Vater das Schutzgeld abholten, als wortkarge und eigentlich sogar … höfliche Menschen: „Nie wurden sie mir gegenüber ausfällig und vulgär, die Summe war angemessen, fix, sie nahmen uns nicht aus. Nicht wie die danach …“

    Nach der Neuaufteilung herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr. Ein Uniformierter konnte jederzeit und jeden Tag auftauchen. Und zusätzlich zur Standmiete verlangen, was er wollte. Dem ging immer eine besondere Zeremonie voraus – sie beäugten die Ware, kontrollierten die Dokumente: „Und dann ging’s los: Der Stempel falsch, die Preislisten stimmen nicht, sie verbissen sich in den Zertifikaten“, erzählte Mama. Einmal wurde es meinem Vater zu bunt, und er sagte: „Wisst ihr was, erledigen wir doch die Formalitäten gleich auf der Wache. Ganz korrekt.“ Sie machten den Laden dicht, verpackten die Ware, fuhren auf die Dienststelle. Dort bearbeiteten sie stundenlang irgendwelche Akten, dann ließen sie es gut sein und entließen meine Eltern mitsamt ihrer Ware. „Denen ging es ja nicht um Recht und Ordnung, sondern ums Geld. Und wir kommen mit offiziellen Papieren“, erklärte Mama.

    Nach diesem Vorfall verließen sie den Markt. Sie mieteten sich in dem örtlichen Handelszentrum ein und begannen einen Großhandel mit Reinigungsmitteln. Wieder ein paar Jahre später konnten meine Eltern ein weiteres Geschäft in der Stadt aufmachen – diesmal einen Einzelhandel. Dann noch eines. Eine Zeit lang ging es uns recht gut.    

    Ihren letzten Laden haben meine Eltern ungefähr 2012 geschlossen. Meine Mutter redet viel und oft darüber, warum alles so gekommen ist. Und schimpft viel. Mein Vater sagt nichts. Steht einfach jeden Tag um fünf Uhr früh auf und geht zur Arbeit – ins physikalisch-energetische Institut.

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  • Krieg der Silowiki

    Krieg der Silowiki

    In Russlands Elite tobt ein Machtkampf. Am Donnerstag, 28. Juli, hat Wladimir Putin innerhalb eines Tages gleich mehrere Führungsposten umbesetzt: Bei dem heftigen Stühlerücken erhielten zwei FSB-Männer Gouverneursposten in Kaliningrad und Jaroslawl. Während der ehemalige Gouverneur der Oblast Kirow, der einst liberale Politiker Nikita Belych, in U-Haft sitzt, ging sein Amt nun an Igor Wassiljew über – einen ehemaligen KGB-Kollegen Putins. Das Zollamt bekam ebenfalls einen neuen Leiter: Wladimir Bulawin. Auch der war jahrzehntelang bei den Geheimdiensten tätig.

    Bei dieser Art von russischem Macht-Roulette wird durchaus auch Milde gewährt: Gegen den Gouverneur Sewastopols, das von Korruptionsskandalen erschüttert ist, wird nicht ermittelt. Sondern die Krim wurde als eigenständiger föderaler Kreis kurzerhand abgeschafft und der ehemalige Gouverneur empfiehlt sich nun als bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten – in Sibirien.

    Experten werten das für Außenstehende komplett undurchsichtige Ämterkarussell zwei Monate vor den Parlamentswahlen als geschickten Schachzug: um nämlich die Geheimdienste FSB und FSO zu stärken und die regionalen Machteliten so unter Kontrolle zu halten – und zwar schon im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2018.

    Ekaterina Schulmann warnt auf slon.ru jedoch vor allzu voreiligen Schlüssen und Vereinfachungen. Die These der renommierte Politologin dagegen lautet: Die Konkurrenz unter den Silowiki wächst – und das ist gut so.

    Weshalb sollte sich ein gewöhnlicher Bürger für Veränderungen in den Verwaltungsstrukturen und für den Kampf der Silowiki untereinander interessieren, wenn er selbst nicht in diesen Strukturen arbeitet und kein Silowik ist?

    Die Notwendigkeit, die FSB-Abteilung Innenrevision unterscheiden zu können von der Abteilung für Wirtschaftssicherheit ebendort, den speziellen Sicherheitsdienst des Präsidenten zu unterscheiden vom Föderalen Dienst für Bewachung (FSO) insgesamt, die Abkürzung GUEBiPK entschlüsseln zu können, sowie auf der Karte problemlos die Dörfer Jaschtscherowo, Akulinino, Sosny und Osero zu finden – das hat etwas ziemlich Überflüssiges und Entwürdigendes.    

    Viel vernünftiger erscheint das Aufspüren von „Tendenzen“ und „Trends“ in all den zusammengewürfelten Zufälligkeiten, die unsere Nachrichten täglich füllen. Versuchen wir mal, das Geschehen wenigstens ansatzweise zu verstehen. Ohne, dass man dafür irgendwelche komplexen Schemata wie „dieser und jener ist ein Mann XYs“ abspeichern muss, noch irgendwelche Namen zu kennen braucht.   

    Keine „Säuberung“, sondern der Lauf der Dinge

    Was wir hier sehen, ist keine koordinierte Kampagne, kein „Kampf gegen Korruption“, keine „Säuberung“, sondern der unvermeidliche Lauf der Dinge: Innerhalb der Elite verschärft sich die Konkurrenz, weil die Ressourcen knapper werden. Das ist die Hauptursache für das, was passiert. Es gibt ein paar zusätzliche Gründe, die zeitlich damit zusammenfallen:

    Der wichtigste davon ist der naturgegebene Generationenwechsel (die „ersten Begleiter“ des Präsidenten sind alt geworden, junge Silowiki sind in die Generalsränge hineingewachsen und haben nun einen Generalsappetit). Was ist also hier anders?

    Der Jäger kann schnell zum Gejagten werden

    Der Unterschied zwischen Korruptionsbekämpfung und Säuberung liegt eigentlich ausschließlich in der Haltung der Person, die diese Termini benutzt (Operation „Saubere Hände“ ist eher was Gutes, Ausrottung von Andersdenkenden – schlecht) – organisatorisch ist es praktisch dasselbe. Die weltweite Erfahrung mit Unternehmungen dieser Art zeigt: Charakteristisch für sie ist die Bildung spezieller Organe (Sonderausschüsse, eigene Unterabteilungen der Staatsanwaltschaft, Chambre Ardente etc.), manchmal auch die Einführung spezieller Gesetze.
    Es braucht außerdem eine ideologische Grundlage, die vorab deklariert wird (das Jahr des großen Umbruchs, Feuer auf das Hauptquartier, ethnische Säuberung), und keine nachträgliche mediale Ausschlachtung jedes weiteren „Opfers“.     

    In unserem Fall funktioniert die Jagd nach dem Motto „Jeder wie er will und kann“. Für erfolglose Teilnehmer gibt es keine Sicherheitsgarantie – der Spieß kann umgedreht und der Jäger zum Gejagten werden, wie der Fall Sugrobows zeigte.  

    In diesem neuen Krieg sinkt der Wert der „persönlichen Loyalität zum Präsidenten“. Alle sind ungefähr gleich loyal in dem Sinn, dass alle die gleichen Worte sagen. Eine Vielfalt von Ansichten und Meinungen bei wichtigen Fragen gibt es innerhalb der herrschenden Bürokratie schon ziemlich lange nicht mehr. Einfacher ausgedrückt: Wenn alle Patrioten und Staatsfreunde sind, wird der Wettbewerb, wer der glühendste Patriot und wer der überzeugteste Staatsfreund sei, gar nicht mehr durchgeführt.

    DEN EINEN KREML GIBT ES NICHT UND AUCH KEINE ANWEISUNGEN

    Schon lange ist empirisch nachgewiesen, dass es keinerlei formale „Anweisungen aus dem Kreml“ gibt. Genauso wie es nicht den einen Kreml gibt – sondern einen kollektiven Akteur. Erst recht ist der „direkte Erlass des Präsidenten“ ein apparativer Mythos – sofern er nicht in Form einer öffentlichen Erklärung oder eines Dekrets daherkommt. Einen fiktiven Kreml umringen Klans von Bürokraten, die ihm unterschiedlich nahe stehen. Und jeder von ihnen versucht zu erraten, was genau die Obrigkeit im Sinn hat, um entsprechend zu handeln.   

    Da um administrative und finanzielle Ressourcen gekämpft wird, muss man wissen, dass es sich bei den Gegnern aber eigentlich gar nicht um Klans, sondern vielmehr um Interessengruppen handelt. Eine solche Gruppe ist nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der Belegschaft einer Behörde. Deswegen ist es nicht ganz richtig, von einer Konfrontation zwischen FSB und FSO oder zwischen FSB und Innenministerium zu sprechen. Das ist wieder so ein Mythos wie die vor einigen Jahren beliebten „Kremltürme“. Denen hatte man sogar irgendwelche ideologischen Diskrepanzen zugeschrieben: in den einen säßen die „Liberalen“, in den anderen die „Hardliner“.

    Die Grenzen sind fließend

    So wird zum Beispiel die Abteilung Innenrevision eines jeden staatlichen Gewaltorgans um FSB-Kader aufgestockt. Innerhalb des FSB selbst wiederum steht diese Abteilung ebenfalls im Konflikt mit anderen Verwaltungsbereichen. Es ist nicht unüblich, dass die Stellvertreter eines Amtschefs verschiedene Gruppen repräsentieren, längst nicht alle von ihnen sind Strohmänner der Leitung.

    Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass Grenzen und Zusammensetzung dieser Gruppen fließend sind. So gerne man das Machtsystem Russlands auch mit der Mafia vergleicht, es ist dennoch anders strukturiert: Es besteht nicht aus Verbänden, die ihrem Patron bis in den Tod treu ergeben sind, sondern aus Opportunisten mit gewöhnlicherweise wachsendem Appetit. Es eint sie weder eine Ideologie noch Pläne zur Neustrukturierung Russlands noch die Liebe zum Chef, sondern einzig und allein die Hoffnung auf ihr Stück vom Ressourcenkuchen.

    Die scheinbar beständigen Parteien „alte Freunde Putins“ oder „Kollegen aus der DDR“ lösen sich auf, die „Datschenkooperative Osero“ wird vom Dorf Jaschtscherowo ersetzt.   

    Da wir es hier weder mit einer Anti-Korruptionskampagne noch mit einer Säuberung wie zu Sowjetzeiten zu tun haben, lohnt es sich, einige wichtige Merkmale des Geschehens hervorzuheben:

    Es gibt keine oberste Säuberungszentrale

    Erstens gibt es keine oberste Säuberungszentrale, kein Kampagnenkommando; jeder bemüht sich nach Maßgabe eigener Vorstellungen. Derzeit sieht der FSB wie der führende Vollstrecker und das „Richtschwert“ aus, doch innerhalb des Geheimdienstes ist eine Umgestaltung der Abteilung für Wirtschaftssicherheit  im Gange – vor dem Hintergrund dessen, dass die Abteilung Innenrevision gestärkt wird. Die Schwächung des Ermittlungskomitees kann eine Stärkung der Generalstaatsanwaltschaft bedeuten. Der Kampf um den Zoll – eine Quelle mächtiger Finanzströme – wird zum Objekt harter Konkurrenz werden, unter anderem auch abteilungsintern.  

    Es gibt keinen endgültigen Sieger

    Zweitens wird es keinen endgültigen Sieger geben. Damit das System in seiner aktuellen Form bestehen bleibt, muss es das labile Gleichgewicht zwischen den Schlüsselakteuren stützen – kein einziger von ihnen kann alle anderen besiegen. Ja, es können sich nicht einmal zwei führende Spieler herauskristallisieren, die gegeneinander antreten.

    Beispiele dafür, wie das System dieses Gleichgewicht aufrechterhält, konnten wir bei der Gründung der Nationalgarde sehen. Sie ist ein neues, starkes Organ, sowohl personalmäßig (vorgesehen sind darin bis zu 400.000 kampfbereite Mitarbeiter) als auch, was die Nähe seines Chefs zum Präsidenten betrifft. Zeitgleich mit der Auslagerung der gesamten bewaffneten Einheit aus dem Innenministerium stärkt man das Ministerium aber, indem man das Föderale Migrationsamt (FMS) und den Föderalen Dienst für Drogenkontrolle (FSKN) darin eingliedert. Dem neuen Gesetz zufolge gibt man der Nationalgarde keine Ermittlungs- und Fahndungsvollmachten, und ihr Leiter wird Mitglied des großen, nicht aber des kleinen Sicherheitsrates (kein ständiges Ratsmitglied).

    Zeitgleich mit der Einführung eines Gesetzespakets zur Gründung der Nationalgarde beginnt eine Umgestaltung und Verstärkung jener FSB-Unterabteilungen, die für Korruptionsbekämpfung und Wirtschaftssicherheit zuständig sind. Parallel dazu wiederum werden mehrere Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten zu Gouverneuren ernannt. So versucht das System, Schieflagen zu vermeiden.

    Die angeregten Strafverfahren verlaufen im Sand

    Drittens werden die angeregten Strafverfahren weder vertieft noch erweitert, wie das für Säuberungsprozesse eines Apparates von Fremdkörpern oder für großangelegte Kampagnen zur Korruptionsbekämpfung ansonsten üblich ist. Im einen wie im anderen Fall zieht jeder Beteiligte konzentrische Kreise von Kollegen und Bekannten hinter sich her, in schwierigen Fällen auch Verwandte, Nachbarn und sonst alle, deren Namen er sich beim Verhör entsinnen kann.

    In der jüngsten Geschichte Russlands entsprach allein der Fall YUKOS diesem Muster. Und der wurde, auch wenn er das gesellschaftliche Klima enorm beeinträchtigte und die Standards der Gerichts- und Rechtsschutz-Maschinerie sinken ließ, nicht zum Musterszenario für folgende Prozesse. Sondern er verkapselte sich als Einzelfall im Körper des Systems – weder abgestoßen noch integriert.

    Die gegenseitigen Angriffe der Silowiki untereinander sind jedoch eher punktuell. Es sind nicht so viele davon betroffen, und das Ziel ist oft nicht die Inhaftierung als solche, sondern eine Untersuchungshaft (wo man mit dem Opfer um einiges leichter darüber verhandeln kann, ob es Erwirtschaftetes und unter seiner Kontrolle Befindliches würdigeren Personen überlassen will) oder eine simple Amtsenthebung.

    Vergleichweise vegetarische Gepflogenheiten

    Natürlich ist das alles ein Entwicklungsprozess eines Systems – und hier ist das Fehlen von Intention und Drehbuch merkwürdigerweise dem Allgemeinwohl eher zuträglich. Das Ausbleiben von Massenverhaftungen und geräuschvoll beginnende, doch milde (außergerichtlich) verlaufende Verfahren gegen Staatsbedienstete lassen zwar den kollektiven Sinn für Gerechtigkeit unbefriedigt (Gerechtigkeit ist allem Anschein nach generell eins der aussterbenden Dinge des Jahrhunderts). Doch man muss auch zugeben, dass die Beibehaltung vergleichsweise vegetarischer, elitärer Gepflogenheiten gewissermaßen ein Szenario der Art abwendet, wie wir es in aller Pracht in der Türkei bewundern können.

    Die Silowiki kontrollieren sich gegenseitig

    Eine Situation, in der Silowiki in ständiger Ressourcenknappheit und permanenter Angst voreinander leben müssen, kann natürlich nur eine Parodie auf das System von Gewaltenteilung und gesellschaftlicher Kontrolle sein, das es in Demokratien gibt. Aber immer noch besser als allmächtige Silowiki, die vor Nichts und Niemanden Angst haben.  

    In so einem Krieg, wie wir ihn derzeit beobachten, sind die Beteiligten erstens dazu gezwungen, ein Minimum an Leistung zu zeigen (salopp gesagt, wenigstens durchblicken zu lassen, dass sie ihre Arbeit machen, darauf achten, dass die Elektritschkas fahren und die Zolleinnahmen steigen).

    Zweitens nutzen alle Konfliktparteien aktiv die Presse. Wir sind daran gewöhnt, das Leaks zu nennen und als irgendwie unehrenhaft für Journalisten und Medien zu erachten. Doch tatsächlich macht eine solche Öffentlichkeit die politischen Akteure selbst abhängig von der allgemeinen Meinung: Wenn deine Schuhschachteln und Fotos jederzeit in den Nachrichten gezeigt werden können, überlegst du dir unwillkürlich, ob du, solange du im Amt bist, nicht wenigstens nach außen hin lieber bescheidener lebst, und den Palast mit den hellblauen Türmchen erst im Ruhestand bauen lässt.      

    Das System braucht die Konkurrenz, zum Glück

    Doch diese positiven Effekte können nur dann eintreten, wenn der Krieg der Silowiki keinen eindeutigen Sieger hervorbringt. Wenn sich nicht eine neue Superstrafbehörde KGB 2.0 herausbildet, die alle anderen säubert und selbst vor niemandem Angst hat.

    Zum Glück fordern die Interessen einer Systemsicherheit (und nicht einer erdachten „Staatssicherheit“) eine Bewahrung des Gleichgewichts, die nur zu erreichen ist, wenn die Konkurrenzsituation bestehen bleibt. Es ist eben die Existenz eines Siegers und nicht der Krieg aller gegen alle, die zu dem führen kann, wonach Beobachter oft gefragt werden: zur Spaltung der Führungselite und zu Umsturzplänen.

    Einen Komplott zu schmieden hat dann Sinn, wenn das dadurch entstehende Risiko niedriger ist als das Risiko, das eine Niederlage im Wettstreit der Eliten mit sich bringt. Mit anderen Worten: Wenn es einen absoluten Sieger gibt und alle anderen sind Verlierer, werden sich diese Verlierer zusammenmauscheln – Schlimmeres kann ihnen ja nicht mehr passieren. Wenn aber niemand den Sieg davonträgt, keine Runde die letzte ist und alle Teilnehmer etwas zu verlieren haben, dann büßen Pläne zur gewaltsamen Machtergreifung ihren Reiz ein. Daher wird die oberste Staatsgewalt mit allen Mitteln dazu beitragen, dass der Kampf unentschieden bleibt.

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