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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Geschichte als Rummelplatz

    Geschichte als Rummelplatz

    Der von Deutschland ausgelöste Krieg forderte schätzungsweise 25 bis 42 Millionen sowjetische Todesopfer. Die offizielle russische Geschichtspolitik zelebriere einen regelrechten „Kult um den Sieg“, meint Sergej Medwedew, eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Dabei verwandle sich das Erinnern zunehmend in einen Marketing-Gag, die dunklen Epochen der russischen Geschichte würden übertüncht.

    Auf republic.ru analysiert Medwedew, inwiefern das Tragische des Krieges zunehmend als spielerische Farce inszeniert wird.

    Nachrichten aus der Welt des Schönen: Einen Monat vor dem Tag des Sieges kam heraus, dass sich Russen nun eine Hitlerfrisur schneiden lassen können.

    Die Facebook-Userin Olga Makarowa hatte die Preisliste eines Kinderfriseurs in einem Moskauer Einkaufszentrum gepostet, wo Kunden das „Modell Hitlerjugend in zwei Stylingvarianten“ angeboten wird.

    In den sozialen Netzwerken herrschte Aufregung, die Friseurin entschuldigte sich und ließ die strittige Bezeichnung verschwinden. Aber im Zuge der Diskussion wurde klar, dass „Hitlerjugend“ in Friseur-Fachkreisen ein allgemein gebräuchlicher Terminus ist und dieser Haarschnitt in Salons und Barbershops russlandweit angeboten wird.

    Wieso denn immer gleich Hitler?

    Das könnte man kurios finden, für ungeschicktes Naming und eine unerfreuliche Ausnahme halten, aber das Problem liegt viel tiefer. In den letzten Jahren ist in Russland eine ganze Schicht von Wörtern und Begriffen rund um den Zweiten Weltkrieg enttabuisiert worden.

    So wurde etwa das Wort „Faschist“ zu einer derart gängigen Beleidigung, dass es seine Bedeutung komplett verloren hat.

    „Faschismus“ wird heute jegliche für den Sprecher unangenehme Erscheinung genannt: Faschismus findet man in Kiew und im Kreml, in den Reden von Marine Le Pen und Alexander Dugin, bei den Donezker Separatisten und den estnischen Nationalisten. Seit Beginn des Krieges mit der Ukraine hat sich das Wort bis zum endgültigen Bedeutungsverlust abgenutzt.

    Ebenso armselig sind die jüngsten Versuche des Staates, Nawalny mithilfe eines anonymen Videos zu diskreditieren, in dem er mit Hitler verglichen wird – die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens sah man sogar im Kreml ein.

    Hitler ist mittlerweile zum Internet-Mem geworden: Im Netz kursiert ein Demotivator, wo der beleidigte Führer aus einem Zugfenster heraus fragt: „Wieso denn immer gleich Hitler?“    

    Als Ergebnis dieser Wort-Inflation taucht der Haarschnitt Hitlerjugend auf, der gewitzte Unternehmer in Nowosibirsk nennt seine Banja Abwehr und versieht sie mit dem Slogan Mal so richtig Auschwitz-en1, und die Schwestern Karatygin, zwei Studentinnen aus Moskau, antworten im TV-Quiz auf die Frage „Was ist der Holocaust?“ „Ein Tapetenkleister“.

    Wozu denn so an Worten kleben?  

    Ähnliche Fragen warf der Eistanz von Tatjana Nawka und Andrej Burkowski in Auschwitz-Lagerkluft auf. Sie tauften ihn Tanz mit Sternen, da auf den Hemden gelbe Judensterne aufgenäht waren. Und obwohl damit nur das Sujet des Films Das Leben ist schön von Roberto Benigni künstlerisch umgesetzt wurde, war ein so unbeschwerter Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust – in Form einer Unterhaltungsshow, mit applaudierendem Publikum und lächelnden Tänzern – nur durch diese Wertminderung der Wörter und Begriffe möglich, durch die Umwandlung der Katastrophe vom tragischen Symbol in eine choreografische Komposition mit historischem Thema und sicherem Sieg.

    Will man manchen Leuten erklären, warum Frisuren wie Hitlerjugend moralische Konventionen sprengen, stößt man auf offenes Unverständnis: Ist doch ein stylischer Haarschnitt! Wozu denn so an Worten kleben?   

    Dieselbe Abnutzung von Wörtern und Bedeutungen findet sich beim Thema der Stalinschen Säuberungen. Ende letzten Jahres wurde in Moskau in der Uliza Ostoshenka das Restaurant NKWD eröffnet, und obwohl das Schild ein paar Tage später verschwand und man im Restaurant beteuert, die Abkürzung stehe für „Nationale Küchen der Großmacht“, prangen auf der Speisekarte Portraits von Stalin und Dsershinski, im Saal hängt ein großes Portrait des sowjetischen Führers, und die Kellner tragen die Militärhemden aus der Stalinzeit.

    In Tjumen gibt es eine Security-Firma namens Tschekist, die Kindergärten bewacht, in Sotschi die Firma Stalinism, in Barnaul gab es mal einen Erdbaubetrieb namens Gulag und in Wolgograd die OOO Berija. Ihre Besitzer sind wohl kaum überzeugte Verfechter der Säuberungen (auch wenn man das nicht ausschließen kann). Wahrscheinlich wollen sie provozieren und finden, diese Namen hätten Witz und Schärfe, und moralische Bedenken kennen sie nicht.

    Zwei Arten von historischem Gedächtnis

    Hier muss man einräumen, dass im modernen Russland zwei Arten von historischem Gedächtnis existieren: das traumatisierte und das spielerische.

    Zunächst zum traumatisierten: Das entstammt der Erinnerungskultur der Nachkriegsgenerationen, basiert auf dem Trauma des Krieges, der Liste von Verlusten, auf der Idee, der Krieg sei eine fundamentale Katastrophe gewesen und ein Opfer, das die Nation gebracht habe.

    Der sowjetische Diskurs über den Krieg war abgesteckt von moralischen Markern und Tabus, von inneren Beschränkungen und stilistischen Vorgaben. Es war nicht üblich, laut von Heldentaten und Siegen zu sprechen, der Kameraden gedachte man schweigend, ohne mit den Gläsern anzustoßen, ja, und sogar der Tag des Sieges hatte noch 30 Jahre nach dem Krieg, als die Mehrheit der Veteranen noch lebte, den Charakter eines Gedenkrituals, eines frühlingshaften, weltlichen Osterfestes: Ein Fest, begangen mit Augen voll Tränen trifft es am besten.

    Faschisten gab es in der Propaganda, aber nicht im Alltag

    Das Wort „Faschist“ trug eine ernsthafte moralische Ladung, vor allem für die Generation, die den Krieg miterlebt hatte.

    Genauso war der Name „Hitler“ ein mystischer Fluch, den man nicht achtlos aussprechen durfte, da er beim Sprecher blanken Hass auslöste. So erzählte mir meine Mutter, wie sie sich als Kind nachts grausame Hinrichtungen für ihn ausgedacht hatte.

    Und dann gibt es noch ein anderes Kriegsgedenken: das Spiel. Kinder haben es immer gespielt: Als Schuljungen konnten wir einander als „Faschisten“ und Hitler beschimpfen, doch den Erwachsenen war das verboten.

    Außerdem kamen Faschisten in der Propaganda vor, aber nicht im Alltag.

    Ins normale Leben hielten die Faschisten in den 1990ern Einzug. Dieser Wendepunkt ist in Brat 2 von Alexej Balabanow deutlich markiert (zusammen mit Brat 1 eine bis heute gültige Enzyklopädie des russischen Unbewussten): Danila wird zum Waffenkauf in einen Keller geführt, die Figur des Verkäufers trägt den Namen „Faschist“ und eine Wehrmachtsjacke. Danila, mit seinem moralischen Bewusstsein, sagt verblüfft: „Also, mein Opa ist im Krieg gefallen“, worauf Faschist phlegmatisch meint: „Soll vorkommen.“

    Und das war’s dann – das Ende der normativen Kultur, der Beginn der Spiel-Realität, in der Danilas Augen beim Anblick der Schatzkammer voller Waffentrophäen zu glänzen beginnen („Hör mal, woher ist das alles?“ – „Ein Echo des Krieges.“).

    Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit

    In den 2000er Jahren drang die spielerisch-kindliche Vorstellung vom Krieg in die offizielle Ideologie und ins Massenbewusstsein durch – der Krieg wurde als harmloses Soldatenspiel betrachtet, die Erinnerung mythologisiert und kommerzialisiert, sie wurde zur gefragten Ware auf dem Markt der Ideologien und Identitäten. Die Epoche der historischen Rekonstruktion und politischen Restauration hatte begonnen.

    Anhänger des zweiten spielerischen Erinnerungstyps sind ebenfalls erfüllt von moralischem Bewusstsein, aber hier ist es bereits Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit, von Hochmut und Selbstisolierung.

    Die Opfer sind Anlass zum Stolz, nicht aber zur Trauer. Während das traumatische Gedenken wie eine Beschwörung wiederholt „bloß kein Krieg mehr“, verkündet die spielerische Erinnerung großmäulig: „Wir können das auch wiederholen!“

    Pyrotechnik ersetzt Patriotismus

    In diesen Maitagen läuft in Russland wieder das Festival der Wiederholer, und an den Autos tauchen widerliche Sticker auf, auf denen unter eben diesem Motto Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. Das Land versenkt sich in ein endloses Sarniza-Spiel, in dem der Krieg inszeniert und rekonstruiert und Patriotismus durch Pyrotechnik ersetzt wird – von Alexander Saldostanows Biker-Pride auf der Krim bis zur heiteren Stürmung des Sperrholz-Reichstags im Freizeitpark Patriot.

    Extra zu erwähnen ist die Live-Rekonstruktion des Zweiten Weltkriegs im Donbass mit Hilfe von militärhistorischen Klubs: Die Schlacht um Awdijiwka verwies direkt auf Gefechte des Großen Vaterländischen Kriegs, ukrainische Kriegsgefangene wurden durch Donezk getrieben wie deutsche 1944 durch Moskau. Und Strelkow erschoss Plünderer und Marodeure auf Grundlage einer Verordnung Stalins von 1941.

    Die Grenze zwischen Tragödie und Trolling verschiebt sich

    Für das spielerische Erinnern ist charakteristisch, dass Menschen zu Spielzeugsoldaten werden, zu Hieroglyphen auf einem Plakat, zu den Steinen eines Brettspiels. Die Inflation von Erinnerung und Trauer führt dazu, dass Personen und Dinge, die wir uns nicht getrauten, beim Namen zu nennen, jetzt zu Memes, Werbegags, Markennamen werden – und dann gibt es eben Hitlerjugend-Haarschnitte und Holocaust-Tänze. Vor unseren Augen verschiebt sich die Grenze zwischen Tragödie und Trolling, Schmerz und Witz, Traumata werden enttabuisiert und bereinigt.

    Das ist wahrscheinlich der Zeitgeist, die Postmoderne. An die Stelle der Generationen, die mit Kriegs- und Lagerprosa aufwuchsen, tritt eine Generation, die mit Fjodor Bondartschuks Stalingrad und Sachar Prilepins Obitel aufgewachsen ist, mit Memes, Videogames, bunten Kriegsfilmen und einer Light-Version der Geschichte.

    Auch der Staat macht gern auf postmodern, veranstaltet Reenactments und Paraden, betäubt die Erinnerung an Tragödien und verstärkt den Kult um den Sieg und die Erfolge der UdSSR.

    Spiel statt Trauma, Anästhesie statt Schmerz, Cosplay statt Katharsis: Vor unseren Augen ist das neue, ungetrübte Bewusstsein der 2000er Jahre geboren, das sich ohne Zögern das Georgsband anheftet, die Kinder in Tschekistenkostüme steckt und mit derselben Leichtigkeit beim Friseur oder in der Propaganda den Namen Hitlers dekliniert – die Geschichte ist ein Rummelplatz geworden, auf dem alles tanzt.


    1.Der Slogan aus dem russischen Original – Освенцим отдыхает (Oswenzim otdychajet, wörtl.: „Auschwitz erholt sich“) – verwendet eine weitverbreitete Redewendung aus der Umgangssprache, in der das Verb „sich erholen“ im Sinne von „ist nichts dagegen“, „kann einpacken“ gebraucht wird. Ein direktes deutsches Äquivalent dafür gibt es nicht. In einer ersten Übersetzungsvariante hatten wir uns für die wörtliche Version entschieden („Auschwitz erholt sich“) – ein Teil der Bedeutungsaspekte des Originals muss hier ja in jedem Fall geopfert werden. Nachdem uns ein Leser auf die entstehenden Verständnisschwierigkeiten hingewiesen hat, haben wir nun mit der Konstruktion eines neuen Slogans, der dem russischen in Sinn und Duktus weitgehend analog ist, eine, wie wir finden, gute Alternativlösung gefunden.

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  • „Bolotnaja wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen“

    „Bolotnaja wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen“

    Am 6. Mai sind es fünf Jahre, dass der Marsch der Millionen auf dem Bolotnaja-Platz mit heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten endete. Doch Bolotnoje Delo, der Fall Bolotnaja, ist noch nicht vorbei: Aktivisten der sogenannten Bolotnaja-Bewegung, die damals festgenommen wurden, wird bis heute der Prozess gemacht. Diese Verfahren werden von Medien und Gesellschaft kaum beachtet, dabei sind sie nach russischem Recht öffentlich.

    Zum Jahrestag sprach The Village mit Leuten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Prozesse zu besuchen – wie sie zuvor mitunter auch die Prozesse gegen Pussy Riot oder Chodorkowski besucht hatten.

    Foto © Polina Kibaltschitsch
    Foto © Polina Kibaltschitsch

    Polina Kibaltschitsch
    22 Jahre, Kunsthistorikerin
    Hat über 100 Verhandlungen besucht

    Ich habe schon als Kind politische Nachrichten verfolgt und erinnere mich noch gut an Fernsehreportagen über Protestaktionen zum Fall Chodorkowski. In der Schule habe ich die Bücher von Soja Swetowa und Vera Wassiljewa gelesen. Damals wurde mir klar: Du musst zu Gerichtsverhandlungen gehen, wenn du gegen das System bist.

    Zum ersten Mal bin ich im Frühling 2012 zum Gericht gegangen, zum Prozess gegen Pussy Riot, aber da wurde niemand reingelassen, wir mussten draußen bleiben. Im Herbst desselben Jahren war ich dann zum ersten Mal bei einer Verhandlung. Da wurden im Zuge der Bolotnaja-Prozesse vor dem Basmanny-Amtsgericht die Haftstrafen von Artjom Sawjolow und Denis Luzkewitsch verlängert. Ich war am 6. Mai auf dem Bolotnaja-Platz gewesen und hatte gesehen, wie unfair das alles zuging, deswegen beschloss ich, die Leute zu unterstützen.       

    Viele Justizwachtmeister kennen mich bereits. Manche denken, ich bekomme Geld dafür, dass ich zu den Verhandlungen gehe. Ich weiß jetzt alles über Gerichte: die Verfahrensordnung, wie man mit Justizbeamten richtig umgeht, was man mitnehmen darf und was nicht. Wenn die Wachtmeister etwa Flugblätter oder Buttons in einer Tasche entdecken, lassen sie einen nicht hinein. Einmal haben sie bei mir eine stumpfe Nadel gefunden und wollten mich nicht durchlassen, außerdem hatte ich eine Schere dabei, die sie bei der Kontrolle nicht bemerkten. 

    Du musst zu Gerichtsverhandlungen, wenn du gegen das System bist

    Und einmal haben sie vor dem Moskauer Stadtgericht einem Mann ein T-Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für Ildar Dadin“ ausgezogen, und er ist mit nacktem Oberkörper in das Gebäude hineingegangen. Wenn dem Wachtmeister nicht gefällt, wie du aussiehst, kommst du nicht in den Saal. 
      
    Die Justizwachtmeister wenden oft körperliche Gewalt an, nach Ende der Sitzung werfen sie die Leute buchstäblich hinaus. Im Basmanny-Gericht haben sie schon mal jemanden die Treppe hinuntergestoßen oder auf die Straße hinaus. Einmal bekam ein Mann dadurch einen Herzinfarkt und musste vom Rettungswagen abgeholt werden.

    In vier Jahren war ich bei über 100 Verhandlungen

    Das System ändert sich nicht von allein, man muss den Staatsapparat austauschen, die Vetternwirtschaft hält ja alles zusammen. Natürlich packt mich manchmal ein Gefühl der Ohnmacht, aber ich gehe weiterhin ins Gericht. Hauptsächlich zu Verhandlungen der Bolotnaja-Prozesse – in vier Jahren war ich bei über 100 davon.

    Zuletzt war ich im Februar bei einer Sitzung im Fall Maxim Panfilow. Zu seiner Unterstützung kamen nur Maxims Verwandte, ich war die einzige, die ihn nicht persönlich kannte – nicht mal Journalisten waren da. Obwohl zu Beginn der Bolotnaja-Prozesse pro Versammlung noch bis zu zehn Freiwillige gekommen waren. 

    Die Leute wollen sich nicht belasten. Wenn sie auf dem Weg ins Café oder ins Kino keinem Polizisten über den Weg laufen, dann denken sie, es sei gar nicht so schlimm mit dem Polizeiregime, alles ok. Aber in Wahrheit liegt alles im Argen, und das sehe ich vor allem bei Gericht.

    Verwandte von Angeklagten sagen, die Anwesenheit von Freiwilligen helfe ihnen sehr, deswegen gehe ich weiter zu Verhandlungen. Mit meiner Gegenwart vor Gericht signalisiere ich dem System, dass die Gesellschaft über die Willkür im Land Bescheid weiß. 


    Foto © Jelena Sacharowa/Facebbok
    Foto © Jelena Sacharowa/Facebbok

    Jelena Sacharowa
    68 Jahre, Konzertmeisterin
    Hat über 70 Verhandlungen besucht

    An meine ersten Verhandlungen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Das war 2013, am Nikulinski-Gericht, der Saal knallvoll. Acht Leute wurden gebracht – darunter Luzkewitsch, Barabanow und Kriwow. Den Prozess leitete eine kalt dreinblickende Richterin namens Nikischina. 

    Plötzlich sackte Kriwow, der zu dem Zeitpunkt seit etwa 40 Tagen im Hungerstreik war, zusammen und sank bewusstlos auf die Bank. Verteidiger Makarow rief sofort nach Ärzten. Die eilten schnell herbei, doch die Richterin verweigerte ihnen den Einlass – die Ärzte verschwanden unverrichteter Dinge. Kriwow kam nicht wieder zu sich, also rief Makarow erneut Rettungsleute. Nikischina wies die Justizwachtmeister an, die Türen zu versperren. Die Sanitäter verstanden nicht, was los war, und bummerten gegen die Tür. Die Situation spitzte sich zu: Vor unseren Augen stirbt ein Mensch, und wir können nichts dagegen tun. 

    Die Hälfte des Saales sprang auf, die Leute fingen an zu schreien, die Justizwachtmeister fischten mich und ein paar weitere Personen aus der Menge und zerrten uns zur Tür raus, einen Mann stießen sie die Treppe hinunter. Nie im Leben hatte ich so eine Angst wie damals. Klar, danach besuchte ich alle Sitzungen zum Bolotnaja-Fall – bis zur Urteilsverkündung. 

    Manche Anwälte fühlen sich wie auf einer Großdemo, andere ziehen eine Ein-Mann-Show ab

    Ich habe solche und solche Anwälte und Verteidiger erlebt. Die einen fühlen sich wie auf einer Großdemo, die anderen ziehen eine Ein-Mann-Show ab. Mein letzter Anwalt war so ein zugeknöpfter Lord: Seiner Meinung nach muss man gezielt durch die erste Instanz, dann Berufung einlegen und dann eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen. 

    Ich wurde 14 Mal festgenommen, meistens wegen Artikel 19.3 („Ungehorsam gegen die behördliche Anordnung eines Polizeibeamten“ – Anm. The Village), aber lange wurde ich nie auf dem Revier behalten. Meistens war das wegen Einzelprotestaktionen gegen den Krieg in der Ukraine, die ich unter anderem mit Ildar Dadin unternommen hatte. Ein paarmal wurde ich von der SERB provoziert, die haben mich sogar mit schwarzer Farbe übergossen. 

    Manche Leute können sich Aktionen nicht erlauben. Zum Beispiel, weil sie ohnehin schon mal durch Zutun der Extremismuszentren ihre Arbeit verloren haben, oder weil ihre Kinder noch klein sind, oder weil sie schon so viele Verwaltungsdelikte haben, dass ihnen das nächste Mal eine strafrechtliche Anzeige droht. Das sind die Leute, die dann zu Verhandlungen gehen. Und mein Mann geht zum Beispiel nur zu großen Demonstrationen, wo es nicht gefährlich ist.    

    Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe

    Ich glaube, die meisten Silowiki waren nicht besonders gut in der Schule und sind dann in der Polizeifachschule gelandet. Denen hat niemand Bücher vorgelesen, vielleicht wurden sie zu Hause sogar geschlagen. Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe. Einmal habe ich in einem Gefängnistransporter einen Polizisten gefragt: „Was würden Sie tun, wenn Sie auf Demonstranten schießen müssten? Die neuen Gesetze erlauben das ja.“ Er sagte: „Ich gehe in zwei Jahren in Rente – ich hoffe, bis dahin bekomme ich keinen solchen Befehl.“
     
    Das Personal der obersten Behörden muss ausgetauscht werden, auch die Richter: Das sind gebrochene Individuen. Als Richter Kaweschnikow das Urteil über Wanja Nepomnjaschtschich verlas (er wurde im Bolotnaja-Fall zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt – Anm. The Village), stand ich im Saal, sah dem Richter in die Augen und stellte ihm in Gedanken die Frage: „Was geht in deinem Kopf vor, wenn du einen völlig unschuldigen Menschen einsperren lässt?“

    Im Januar dieses Jahres war Kaweschnikow mein Richter bei einem Verwaltungsdelikt. Ich kam in einem T-Shirt mit einem Portrait von Nepomnjaschtschich zur Verhandlung und legte ein Foto von ihm in meine Passhülle. Den habe ich Kaweschnikow direkt in die Hand gedrückt – sein Gesicht zeigte null Reaktion. 

    Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein

    Gerichtsanhörungen sind für mich kein Vergnügen, sondern unliebsame Notwendigkeit. Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein. In letzter Zeit „koordiniere“ ich die Angeklagten draußen auf dem Korridor. Nach der Demonstration am 26. März fanden am Twerskoj-Gericht fast jeden Tag Verhandlungen statt. Massen wunderbarer junger Leute kamen herein. Die meisten hatten vor Nawalnys Film noch nie was von Korruption gehört. Sie wurden zum ersten Mal vor Gericht zitiert, kannten sich überhaupt nicht aus, einen Anwalt hatte kaum jemand. Ich fing sie an der Tür ab, fragte: „Sie sind wegen dem 26. hier, haben Sie einen Anwalt, welcher Paragraph?“, und empfahl ihnen einen Verteidiger. 

    Ich glaube, der Bolotnaja-Fall wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen. Irgendwo sitzt jetzt ein ganzer Trupp von Ermittlungsbeamten, die alle Videoaufzeichnungen von der Aktion am 26. März durchsehen und Material für neue Anklagen sammeln.  


    Foto © Natalja Mawlewitsch/Facebook
    Foto © Natalja Mawlewitsch/Facebook

    Natalja Mawlewitsch
    66 Jahre, Übersetzerin
    Hat über 20 Verhandlungen besucht

    Bis 1987 habe ich in der inneren Emigration gelebt, das war die Zeit meines passiven Widerstands gegen das System. Als in den 1990ern eine neue Zeit anbrach, wurde mir bewusst, dass ich das Leben hier verbessern kann: Dieses Land ist meines, die Stadt gehört mir. Mit Putins Machtantritt gab es aber immer weniger Freiheit, und es hat sich gezeigt, dass viele sie auch gar nicht brauchen. Das war eine bittere Erkenntnis, aber ich habe mich nicht in mein Schneckenhaus verkrochen.   

    Zum ersten Mal war ich bei Gericht, als der Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew lief. Die Sitzung fand am Basmanny-Gericht statt, niemand wurde hineingelassen, die protestierende Menge stand auf der Straße. Während dem ersten YUKOS-Prozess hatte ich noch Zweifel, was die Schuld der Angeklagten anging, aber die wurden mit Beginn des zweiten komplett hinfällig. Der Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd.

    Der YUKOS-Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd

    Das bedeutendste Gerichts-Ereignis der letzten Jahre ist natürlich der Bolotnaja-Fall. Mir ist eine Sitzung im Gedächtnis geblieben, bei der es um den geschädigten OMON-Mann German Litwinow ging, dem angeblich in den Finger geschnitten worden war. Litwinow änderte im Laufe des Prozesses seine Meinung: Von ihm hing nämlich das Schicksal von zwölf Menschen ab – und im Endeffekt sagte er, er betrachte sich nicht als Geschädigten, und wechselte in den Zeugenstand. Ich fuhr danach mit ihm im Lift und sagte irgendwas Pathetisches über Ehrlichkeit, und er antwortete: „Ja, ehrlich bin ich, aber wo soll ich jetzt arbeiten?“ Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.    

    Man trifft bei Gericht immer dieselben 20 Leute

    Normalerweise trifft man bei Gericht immer dieselben 20 Leute, die am sechsten jedes Monats Einzelwachen abhalten und auf der Nemzow-Brücke stehen. Es sind wenige, sie haben es schwer, und deshalb macht es mich traurig, dass manche sie „Großstadtirre“ nennen. 

    Früher war die politische Willkür im Land wie eine Straße, auf der immer mal eine Glasscherbe liegt: Wenn du drauftrittst, tut es weh. Aber jetzt ist es, als würdest du auf Schmirgelpapier laufen – der Schmerz ist dumpf und zur Gewohnheit geworden.

    Politische Gerichtsprozesse gibt es mittlerweile so viele, dass ich, würde ich zu allen hingehen, nicht mehr zum Arbeiten kommen würde. Das letzte Mal war ich vor ein paar Jahren bei Gericht, auf einer Verhandlung zum Bolotnaja-Fall. Aber ich verfolge die Prozesse immer noch – und werde auch wieder hingehen.   


    Foto © Karina Starostina/Facebook
    Foto © Karina Starostina/Facebook

    Karina Starostina
    52 Jahre, Bibliothekarin
    hat über 40 Sitzungen besucht

    Ich habe mein Leben lang in der Gebrüder-Grimm-Kinderbibliothek gearbeitet. Meine Vorgesetzten wussten immer, dass ich politisch aktiv bin, und verbaten während meiner Arbeitszeit Gespräche über Politik. Trotzdem ließen sie mich in Ruhe – ich war eine hochgeschätzte Mitarbeiterin, in bibliothekarischen Kreisen bekannt. Jetzt werde ich woanders arbeiten. Wie es dort wird, weiß ich nicht. Für alle Fälle habe ich in sozialen Netzwerken meinen Nachnamen geändert.  

    Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Zu Prozessen von Nationalisten gehe ich nicht

    Meine erste Bolotnaja-Verhandlung war die gegen Mischa Kossenko vor dem Samoskworezki-Gericht am 8. Oktober 2013 – der wurde damals für unzurechnungsfähig erklärt. An sich bin ich feige, aber an diesem Tag waren die Umstände günstig: Ich hatte früher Feierabend, und außerdem interessiere ich mich für Psychiatrie. Ich wurde damals nicht in den Saal gelassen und stand im Endeffekt mit einer Gruppe von Unterstützern im Hof.

    Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig

    Ich habe eine ganz einfache Motivation: Die Leute des Bolotnaja-Falls haben für uns alle gesessen. Deswegen muss, wer kann, zu diesen Prozessen gehen. Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Viele Liberale gehen auch zu Prozessen von Nationalisten. Ich gehe da nicht hin.

    Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig. Wobei es unmöglich ist, den Ausgang eines Falles vorherzusagen, egal, was rundherum passiert und wie gut die Anwälte sind. 

    Ich gehe kein Risiko ein, gebe acht, nicht im Polizeitransporter zu landen. Ich wurde viermal festgenommen, aber es wurde nie ein Protokoll aufgenommen. Meistens war das bei Mahnwachen auf der Nemzow-Brücke.    

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    Boris Grebenschtschikow ist lebende Musiklegende Russlands: Seine Rockband Aquarium gehört zum Soundtrack von Perestroika und Glasnost, ist bis heute Kult und füllt ganze Hallen. Am liebsten aber tritt Grebenschtschikow nach wie vor auf der Straße auf. Alexandra Zhitinskaya traf ihn für Takie Dela in seinem Petersburger Studio, voller Bilder, Ikonen, einem Teetisch und „vorrevolutionärem“ Radio. Hier, in der Puschkinskaja 10, ist seine Kreativität „schon seit 1991 nicht zu stoppen“, wie er sagt.

    Boris Grebenschtschikow: „Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall.“ / Foto © Alexej Abanin/Kommersant
    Boris Grebenschtschikow: „Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall.“ / Foto © Alexej Abanin/Kommersant

    Alexandra Shitinskaja: Die Frage ist ein bisschen bescheuert, aber ziemlich grundlegend: Warum spielt ihr auf der Straße?

    Boris Grebenschtschikow: Die Antwort ist bescheuert und nicht weniger grundlegend: zum Spaß. Musik habe ich immer schon zum Spaß gemacht, von Anfang an. 

    Sie haben also den Drive, gratis zu spielen, einfach so für sich …

    Nicht für mich. Für die Menschen. Wenn du für die Menschen spielst, macht es dir Spaß. Wir spielen, weil es uns freut und weil es die Leute freut, so wie vor 40 Jahren auch. Früher wurden wir deswegen allerdings manchmal mit zur Polizeistation genommen.  

     

    Aber auf der Bühne spielen Sie ja auch für die Menschen.

    Bei den Konzerten zahlen die Leute. Das ist eine ernste Sache dort. Aber hier spielen wir, wo die Leute das nicht erwarten. Die Leute rechnen nicht mit dir, und so gibt es auch keine vorgefertigte Reaktion …

    Ich kann mir schwer vorstellen, dass Sie auf der Straße jemand nicht erkennen würde.

    Du bist einfach gut erzogen. Glaub mir: Der Großteil der Leute guckt angestrengt und schlägt sich mit der Frage rum: „Hm, kommt mir irgendwie bekannt vor, ist das nicht … Schewtschuk? Nein, Schewtschuk nicht.“ Als ich aus dem Dom Kino in Moskau kam, sagte einer zu mir: „Ah! Sie sind Juri! Juri Zoi von Maschina Wremeni!“ Der hat das vollkommen ernst gemeint. 

    Das heißt, Sie gehen raus und spielen, ohne das Gefühl, ein berühmter Musiker zu sein?

    Ich gehe einfach raus und spiele, ohne irgendein Gefühl.

     

    Was spielen Sie auf der Straße?

    Alles, was mir einfällt. Lieder, Improvisationen …

    Und wer spielt mit?

    Das sind alles Musiker aus der Band Aquarium.

    Aber in der Gruppe spielen ja ganz unterschiedliche Musiker, auch aus dem Ausland?

    Da möchte ich gleich was klarstellen: In dem Wort „Ausland“ schwingt etwas mir sehr Fremdes mit: „Hier sind unsere Leute in unserem Dorf, und draußen, jenseits der Grenzen, das sind wohl eher Feinde.“ 

    Geografisch gesehen – spielen Sie nur in Städten in Russland, oder spielen Sie auf den Straßen der ganzen Welt?

    Ganz einfach: Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall. In Paris, in London, in Berlin haben wir schon gespielt …

    Wo finden Sie es am interessantesten?

    Ach, es ist überall schön!

    Was halten Sie denn selbst von Straßenmusikanten?

    Manchmal trifft man auf interessante, dann bleibe ich stehen, höre zu. Bei ungewöhnlichen Instrumenten zum Beispiel, da horch ich auf. Kürzlich habe ich in Tallinn einen Straßenmusikanten gesehen, der Hang spielte. Bei den Erinnerungen, wie der erste Hang-Spieler, Manu Delago, an unserem Album Belaja Lotschtschad (dt. Weißes Pferd) mitgewirkt hat, luden wir diesen jungen Mann ein, bei unserem Konzert mitzuspielen. Der kannte uns zwar nicht, war aber dabei.

     

    Geben Sie Straßenmusikanten oder einfach Leuten, die auf der Straße betteln, Geld? Haben Sie da keine Vorbehalte?

    Was für Vorbehalte soll ich denn haben?

    Es gibt die Meinung, dass das nicht wirklich arme Leute sind, illegale Geschäfte …

    Turgenjew oder Dostojewski, einer der beiden hat geschrieben: „Gott bittet euch um eine Gabe. Nicht um ein Urteil.“ Was der Mensch mit diesem Geld macht – das ist seine Beziehung zu Gott. Aber das Geben, das ist eure Beziehung zu ihm.   

    Hatten Sie [wegen der Straßenmusik – dek] nie Konflikte mit Behörden?

    Wieso denn?

    Na ja, immerhin sind das irgendwie Aktionen, die Behörden kriegen es ja mit der Angst zu tun, wenn sich ein paar Leute mehr auf der Straße versammeln … 

    Dann sind sie wohl selber nicht so ganz … wenn sie sich fürchten.

    Wie lange dauern Ihre Auftritte auf der Straße?

    Nicht lang. 20 Minuten, eine halbe Stunde maximal. Man darf das Publikum nicht überfordern. Mehr packen die Leute nicht, so auf der Straße.  

    Das glaube ich nicht. Die müssten Sie doch eher nicht mehr gehen lassen. Und schreien: „Halt, dageblieben, Zugabe!“

    Ja, das stimmt.

    Und ergeben sich nach den Auftritten manchmal Gespräche?

    Die Gespräche bestehen hauptsächlich darin, dass die Leute zu drängeln beginnen und sich um ein Autogramm reißen, für sich oder ihren Schatz, noch dazu ohne Kugelschreiber. Das ist recht unangenehm. 

    Wo würden Sie wirklich gern spielen in nächster Zeit ?

    In New York. Im Central Park. Da kommen viele gute Leute aus aller Welt zusammen, die ich sehr gern mag – Schüler des indischen Gurus und Philosophen Sri Chinmoy. Er war selbst ein hervorragender Musiker, hat alle Instrumente gespielt. Und einmal im Jahr versammeln sich seine Schüler und Freunde. Vielleicht können wir mit dem einen oder anderen von ihnen im Freien zusammen Musik machen. 

    Text: Alexandra Zhitinskaya
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 26.04.2017

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    Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

    Musyka: Lucidvox

  • „Schau mich gefälligst an!“

    „Schau mich gefälligst an!“

    „Schau mich gefälligst an!“ Rüde und duzend fuhr der russische stellvertretende UN-Botschafter Wladimir Safronkow seinen britischen Kollegen Mitte April an, als es im UN-Sicherheitsrat um den Giftgasangriff auf die syrische Stadt Chan Scheichun ging.

    Andrej Archangelski nimmt diese jüngste Verbalattacke zum Anlass, um auf Colta.ru den Umgangston mit dem Westen genauer anzuschauen. 

     
    „Wage nicht, Russland weiter zu beleidigen! // Ihr tut alles dafür, dass ein Zusammenwirken (zwischen Russland und den USA) // untergraben wird. Grade deshalb … Schau mich gefälligst an! // Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen! // … Genau deswegen hast du heute nichts gesagt über den politischen // Prozess. Hast absichtlich beim Vortrag von Mistura nicht hingehört … “ (0:17 bis 0:52)

    „Schau mich gefälligst an! Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen!“ Das ist also die besagte „neue Aufrichtigkeit“, die Russland der internationalen Gemeinschaft anbietet. Bei der Übersetzung ins Englische oder Deutsche geht die Intonation verloren – übrig bleibt nur ein „Wir haben recht und ihr unrecht, weil ihr immer unrecht habt“.

    Das Argumentationsschema ist auch schon lange bekannt: „Wenn ihr dürft – dann dürfen wir erst recht.“ Und deswegen war das externe Publikum (internationale Agenturen und Medien) nicht sonderlich erstaunt über diesen Auftritt, der eigentlich nur eine Wiederholung aller vorangegangenen ist.

    Warum reden die so?

    In Russland wird Safronkows Rede von der Mehrheit aufgefasst als „er hat’s ihnen gezeigt“, „hat ihnen eins reingedrückt“, sie „bestraft“.
    Russland putzt alle runter und macht sich über alle lustig, herrlich! Dass das der Intelligenzija aufstößt, umso besser: Dann kriegen die auch gleich eins rein.
    Nun denn, diese Ausdrucksweise zeigt in verschiedenen Milieus unterschiedliche Wirkung – und erzielt überall den gewünschten Effekt. 

    Die Antwort auf die Frage „Warum reden die so?“ ist: Weil es sich lohnt und leicht geht. Kulturelle Normen – was soll’s, man wird’s überleben, und der Kreml gibt mit seinem Lob für Safronkow zu verstehen, Normen seien jetzt nicht so wichtig, es gehe vor allem darum, „die Interessen Russlands zu behaupten“. Bleibt nur die Frage: Warum gefällt das ihnen, den Diplomaten? Wie rechtfertigen sie das vor sich selbst, außer dass es „fürs Vaterland“ ist? Was für eine „neue Denkart“ steht dahinter? Was für ein Weltbild?

    Ein solches Gebaren ist heute die Norm, die sozialen Erfolg garantiert

    Oleg Kaschin hat die Psychologie der neuen Eliten wohl am besten beschrieben – nämlich, dass weder eine Maria Sacharowa noch, sagen wir, der Abgeordnete Degtjarjow schon immer so waren. Sie haben nur begriffen, dass ein solches Gebaren heute die Norm ist, die sozialen Erfolg garantiert. Du fällst sofort auf und wirst als ranghoch vermerkt.   

    Diese neue Stilistik entspringt aber weder einem Gossenjargon noch einer „Verhörsprache“, wie viele annehmen. Der Autor geht vielmehr davon aus, dass das eine relativ junge Sprache ist, entstanden an den sonnigen Stränden der 2000er Jahre – damals hatten Reisen von Russen in den Westen Hochkonjunktur. Und da entwickelte sich auch eine seltsame Tradition: Nach der Rückkehr wurde über alles geschimpft. Es ist dreckig, die Leute sind bösartig, zu viele Migranten, da fahren wir nicht mehr hin, und das soll euer hochgelobter Westen sein.

    Ablehnung dieses „überzogenen Lächelns“

    Leute, die zehn bis 15 Jahre davor von so einem Urlaub nicht mal hatten träumen können, taten so, als hätten sie ihre ganze Kindheit in Miami Beach verbracht – warum? Meine Hypothese: Die Leute nahmen viel Geld mit – der Ölpreis war gerade am Zenit – und dachten, wie es in der sowjetischen Zeitschrift Krokodil hieß, „im Westen kann man für Geld alles kaufen“. Und waren auf einmal damit konfrontiert, dass man, um sich wohl zu fühlen, noch etwas anderes mitbringen muss als Geld. Diese oftmals verlachte westliche „Fähigkeit zu lächeln“ bedeutet in Wirklichkeit einfach, für Kommunikation und eine freundliche Atmosphäre zu sorgen.

    Damit diese Kommunikation gelingt, muss man andere Menschen und Verschiedenheit an sich wenigstens ein bisschen mögen. Das gehörte aber erstens nicht in die Psychologie der neuen Herren, und zweitens galt es als demütigend, sich „anzupassen“. 

    Aus diesem Schock heraus entstand ein Abwehrmechanismus: das aggressive Auslachen und eine Ablehnung dieses „überzogenen Lächelns“. Zur Selbstberuhigung braucht man diese Welt nur als scheinheilig und verlogen zu bezeichnen: Die sind deshalb höflich, weil sie Weicheier und Gauner sind. Diese Erklärung macht aus der eigenen Grobheit eine spezielle Art Anstand.   

    Wir haben recht, weil wir recht haben

    Dann bekam diese Position einen existenziellen Stützpfeiler in Form von Stolz auf die Siege Russlands. Die patriotische Propaganda prägte uns schnell ein, wir seien die Besten, die ganze Welt sei uns verpflichtet. Dadurch erlangen wir das eigentümliche Recht, im Namen absoluter Legitimität zu sprechen.

    Die Strandphilosophie hatte plötzlich eine moralische Grundlage, und jeder Kampf um eine freie Liege wurde zum Kampf um die Wahrheit auf Erden. Als psychologischen Schutz legte man sich diese verächtlich-spöttische Intonation zu, die sich dann endgültig im propagandistischen Diskurs etablierte. 

    Ein Sprechen im Namen absoluter Legitimität bedarf keiner Beweise: Wir haben recht, weil wir recht haben. Diese Idee wurde schon in den Filmen Brat und Brat-2 formuliert, mit der Formel „in der Wahrheit liegt die Macht“, bei der unklar bleibt, was zuerst da ist: Die Wahrheit oder die Macht? Und genau diese Unklarheit birgt die versteckte Drohung „Wir können das wiederholen“ in sich, die eben allen recht ist. 

    Wichtig ist, dass diese Sprache jegliche Komplexität leugnet und die Welt ignoriert. Das Gegenteil dieser gewaltsamen Sprache ist der Dialog.  

    Bei den Begriffen „Dialog“ und „Kommunikation“ denkt der gebildete Mensch sofort an das Zauberwort „Habermas“.

    In den frühen 2000er Jahren war der deutsche Philosoph bei uns vorübergehend ein Star. Bezeichnend ist, dass im Endeffekt nur ein verdrehtes, unanständiges Sprichwort über sexuelle Orientierung im kollektiven Gedächtnis hängengeblieben ist. Das Hauptwerk von Habermas, die Theorie des kommunikativen Handelns, ist bis dato nicht ins Russische übersetzt. 

    Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann

    Sehr vereinfacht besagt diese Theorie: Der Dialog ist nicht das Reden, nicht das Mund-Aufmachen, sondern vor allem die Bereitschaft, den anderen wahrzunehmen, oder sich auf den anderen einzulassen, wie der Philosoph Paul Ricœur meinte. 

    Die Bereitschaft zum Dialog selbst ist wichtiger als das Sprechen; es geht darum, „die Welt anzunehmen“, sich auf die Welt einzustellen.
    Genau das ist Kommunikation: Der einzige Weg, den unvermeidbaren kulturellen Graben zwischen den Menschen wenigstens irgendwie zu überbrücken.

    Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann; man soll nicht darauf fokussieren, den Streit zu gewinnen, sondern darauf, das Gespräch selbst zu erhalten, die Gesprächspartner.

    Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis

    Unser Dialog ist die Abkehr vom anderen, und dass man ihm diese Abkehr auf jede erdenkliche Art und Weise vorführt, vor allem im Unterton. „Ich hör dich nicht, ich huste dir was, du bist ein Niemand“, das ist die Kurzform unserer Antwort auf Habermas.

    Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis. Wir werden uns wehren bis zum Letzten, aber geben dem anderen nicht die geringste Chance. Dieses „Schau mich gefälligst an!“ ist eine symbolische Ausformung dieser „Kultur der Dialogverweigerung“. 

    Im Gefolge ihres Obersten Befehlshabers verweigern sie (unsere Diplomaten) bewusst die Sprache des Dialogs. Das bedeutet zugleich eine Lossagung von menschlicher Selbstbeherrschung, von der gesamten modernen Kultur, ein Ausscheiden aus der Welt. Diese Lossagung wird sofort über die Kapillaren auf die ganze Gesellschaft übertragen – und von ihr als Norm verinnerlicht.

    Wir beobachten das bereits am Beispiel skurriler Dialoge zwischen Lehrern und Schülern, die nach dem 26. März im Netz auftauchten – so etwas kann man schon als umfassenden „Disconnect“ bezeichnen. Abwärts geht immer leichter als aufwärts, und wundern muss einen dieser beschleunigte Fall nicht.

    Der wunde Punkt: die Moral  

    Aber es gibt bei dieser Begebenheit am 12. April vor der UNO noch einen Aspekt. Was hatte Großbritanniens UN-Vertreter, Matthew Rycroft, denn eigentlich gesagt, was hat unserem Vertreter so zugesetzt? Er hatte das Gespräch auf eine universelle Ebene gebracht, es in die Sprache der Ethik übersetzt – die Handlungen Assads moralisch bewertet und den Gegenüber dazu aufgefordert, sich auf dieselbe Ebene zu begeben. Das ist unerträglich, hier hat Rycroft einen wunden Punkt getroffen.  

    Im aktuellen Russland wurde die Moral nicht erdacht, nicht durchdacht, nicht durchformt. Jedes Mal, wenn du unsere Vertreter hörst, willst du fragen: Welche universellen Werte vertreten Sie? Aus welcher menschlichen Position heraus? Wie auch immer man die sowjetische Diplomatie dreht und wendet, sie appellierte an universelle Werte – an Ideen des Internationalismus oder die Solidarität der Werktätigen. Doch der aktuellen Ideologie Russlands fehlt dafür der Begriffsapparat; für die Artikulation einer moralischen Position gibt es dort schlicht keine Wörter.    

    Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan

    Und deswegen kommt die Phrase „vom moralischen Standpunkt aus sprechen“ als Beleidigung an, als Schlag in die Magengrube. Zwecks Abwehr greift man dann zu dem Postulat, Moral sei bloß Druckmittel, Spekulation, PR. „In der Welt betrügt jeder jeden, und Moral ist nur ein Wort.“ Diese negative Ethik ist uns auch wohlbekannt.

    „Guck her! Schau mich gefälligst an!“, ist auch eine Sprache der Moral, aber auf einem anderen Niveau. Das ist die Position einer apriorischen Schuld des Gegenübers.

    Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan – aber so weit wird es hoffentlich nicht kommen.

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  • Niedriglöhne – das kleinere Übel?

    Niedriglöhne – das kleinere Übel?

    In Russland liegt der Mindestlohn noch unter dem Existenzminimum. Die Niedriglöhne gehen oft mit geringer Arbeitsproduktivität einher – darin sehen viele Experten den Kern der russischen Wirtschaftsprobleme. Im Februar hat die Duma bereits über eine Angleichung beraten, voraussichtlich im August soll eine Arbeitsgruppe dazu eine Entscheidung vorlegen.

    Auf Vedomosti erklärt Maria Podzerob, weshalb allerdings nicht nur Arbeitgeber, sondern auch viele Arbeitnehmer in Russland Niedriglöhne als einen Vorteil begreifen.

    Veraltete Transformatoren, die oft repariert werden müssen – darüber läuft die Stromversorgung der Stadt Kineschma in der Oblast Iwanowo. Laut Sergej Sirotkin, Generaldirektor des örtlichen Stromversorgers, würden eine neue Technik und eine Modernisierung der Anlagen 125 Millionen Rubel [ca. 2 Millionen Euro] kosten. Da das Unternehmen über solche Mittel nicht verfügt, stellt es für die Reparaturen 130 Handwerker ein, denen es 20.000 Rubel [ca. 333 Euro] im Monat zahlt. Im Jahr machen diese Gehälter 31,2 Millionen Rubel [ca. 520.000 Euro] aus – deutlich günstiger als eine technische Umrüstung. Auch die regionalen Behörden seien zufrieden: Sie wollen nicht, dass aufgrund von Automatisierung Mitarbeiter entlassen werden – die seien auf dem Arbeitsmarkt in Kineschma nicht wieder vermittelbar, sagt Sirotkin. 

    Vizeministerpräsidentin Olga Golodez gab kürzlich bekannt, dass 4,9 Millionen Beschäftigte im Land unter der Armutsgrenze leben. Daten von Rosstat zufolge lag im Vorjahr bei 10,4 Prozent der Beschäftigten der Verdienst unter dem Existenzminimum.

     

     
    Nach Angabe der Statistikbehörde Rosstat waren 2015 rund 72 Millionen Personen mit Wohnort in Russland erwerbstätig, etwa vier Millionen Menschen galten als arbeitslos. Die amtliche Statistik über Verdienste erfasst allerdings nur rund 29 Millionen Beschäftigte. Auf diese krasse Differenz machte Olga Golodez schon 2013 aufmerksam: Der Staat wisse überhaupt nicht, was diese Menschen eigentlich machen – darüber habe man keinerlei Daten. Quelle: Rosstat.

    In Russland habe sich eine große Klasse von Working Poor herausgebildet, heißt es in einem kürzlich erschienenen Bericht des Zentrums für strategische Entwicklung (ZSR), der zusammen mit der Moskauer Higher School of Economics erstellt wurde. Tatsächlich ist es aber nicht nur für Unternehmen lohnend, Working Poor anzustellen – auch Arbeitnehmer profitieren davon, für ein paar Kopeken zu arbeiten.

    Spezielles Arbeitsmarkt-Modell

    Laut ZSR-Bericht ist in Russland ein spezielles Arbeitsmarkt-Modell entstanden: Wirtschaftskrisen werden demnach nicht mittels wachsender Arbeitslosenzahlen gemeistert, sondern dank sinkender Löhne. Letztere können Unternehmen fast ungehindert senken, da ja das obligatorische Minimum – der Mindestlohn – sehr niedrig sei, so der Bericht. Derzeit beträgt der Mindestlohn 7500 Rubel [ca. 125 Euro]. 

    Der Staat sei daran interessiert, dass die Betriebe möglichst wenigen Mitarbeitern kündigen. Auch jetzt üben regionale Regierungen weiterhin Druck auf Großbetriebe mit mehr als 500 Mitarbeitern aus, um Kürzungen und Arbeitslosigkeit nicht zuzulassen, so Alexander Safonow, Vizerektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation.

    Laut Sergej Sokolow, ehemaliger GR-Manager bei Nike, kommen sich Behörden und wichtige Arbeitgeber dabei gegenseitig entgegen: Die Regionalverwaltung erteilt den Betrieben etwa die Erlaubnis, einigen wenigen Personen zu kündigen, jedoch dürfe das die Arbeitslosenzahlen in der Region nicht erhöhen, weswegen sich der Betrieb wiederum verpflichtet, Umschulungskurse zu organisieren oder Umzug und Arbeitsaufnahme in einer anderen Region zu finanzieren. Im Gegenzug berücksichtigt die Behörde etwa stärker, wenn ein Unternehmer vorankommen möchte und um Unterstützung seiner Investitionspläne bittet. 

    Den Rest gibt’s im Briefumschlag

    Alexander Masljuk, Senior Consultant der Korn Ferry Hay Group, erläutert, ein offizielles Gehalt in Höhe des Mindestlohns würden vor allem große staatliche Infrastrukturunternehmen zahlen. Für die sei eine verdeckte Arbeitslosigkeit charakteristisch, bei der die Leute zwar im Personalbestand erfasst sind, aber nur minimale Aufgaben erfüllen. 

    Private Unternehmen, die offiziell Gehälter in Höhe des Mindestlohns zahlen, händigen ihren Mitarbeitern in Wahrheit den Rest im Briefumschlag aus, sagt Masljuk. Laut Rosstat sind die Beschäftigtenzahlen im Schattensektor von 2010 bis 2014 von 15,2 Millionen auf 16,4  Millionen gestiegen.  

    Angestellte, die monatlich 8000 bis 9000 Rubel [etwa 125 bis 150 Euro] bekommen, seien nicht daran interessiert, sich großartig abzumühen, und würden versuchen, die Situation für sich zu nutzen, meint Dimitri Koschnew, Koordinator der interregionalen Gewerkschaft Rabotschaja assoziazija [Arbeitsassoziation – dek], die zur Arbeitskonföderation Russlands gehört. 

    Er hat selbst drei Jahre in einer Fabrik gearbeitet, in der Drehgestelle für Schienenfahrzeuge produziert wurden. Und er erinnere sich noch, wie ein Drittel der Werkstatt auf Sauftour ging und der Chef nicht wirklich eingriff: Was soll man denn verlangen von jemandem, der 5000 Rubel [knapp 85 Euro] im Monat verdient? In der Fabrik seien ständig Bauteile und Werkzeuge weggekommen, erinnert sich Koschnew. 

    Was soll man denn verlangen von jemandem, der 5000 Rubel im Monat verdient?

    Geklaut wird auf Schritt und Tritt, stimmt der Top-Manager eines mächtigen Energiekonzerns zu. In Energieunternehmen, sagt er, lassen die Angestellten oft Stromkabel mitgehen, um sie weiterzuverkaufen. 

    Die niedrigen Löhne würden außerdem dazu führen, dass die Leute in zwei oder drei Jobs gleichzeitig arbeiten – wovor die Arbeitgeber eher die Augen verschließen, so Safonow. 
    Die Kehrseite der niedrigen Gehälter ist eine geringe Produktivität, konstatieren die Experten des ZSR. In Branchen der New Economy (Einzelhandel, Onlineverkauf, Banken, Autoindustrie) kämpfe man ernsthaft um die Produktivität des Personals.  

    Höhere Löhne senken Konkurrenzfähigkeit 

    Für die Arbeitgeber sei es günstiger, niedrige Löhne zu zahlen, als in eine Automatisierung der Produktion und Umstrukturierung der Organisation zu investieren, meint Sergej Lossinski, Regionalentwicklungschef am Zentrum für infrastrukturelle Ökonomie.   

    Sergej Sirenko, Generaldirektor einer Schnurfabrik in Tscheljabinsk, hat Zeiten erlebt, in denen es vom Umsatz her möglich gewesen wäre, einem neu angestellten Arbeiter 40.000 Rubel [etwa 670 Euro] im Monat zu zahlen. Doch das habe er nicht gemacht, weil in der Region ein vergleichbarer Fachmann nicht mehr als 30.000 Rubel [etwa 500 Euro] verdiente. Wenn man den Leuten mehr zahle als andere Betriebe, sinke die Konkurrenzfähigkeit der Produktion, zur Verringerung der Herstellungskosten müsse man automatisieren, wofür aber wiederum das Geld nicht reiche, überlegt Sirenko.  
        
    Daten aus dem Bericht des ZSR zufolge geben Verarbeitungsbetriebe für Löhne derzeit ungefähr 30 Prozent weniger aus als zu Beginn der 2000er Jahre.

    Niedrige Einkommen, also keine Nachfrage, also keine Modernisierung, also keine anständigen Gehälter 

    Safonow gibt zu bedenken, dass die Voraussetzung für die technische Umrüstung eines Betriebs die ausreichende Nachfrage sei. In einer einkommensschwachen Bevölkerung entstehe aber keine hohe Nachfrage. Ohne Nachfrage keine Modernisierung, also auch keine anständigen Gehälter. 

    Wer sich für die Modernisierung entscheide, gewinne langfristig an Perspektive, meint Dimitri Teplow, Generaldirektor des Reparatur- und Montagewerks Krasnokamsk (Region Perm), der seine Produktionstechnik 2013 erneuert hat. Seine Fabrik stellt Landwirtschaftsmaschinen her und ist im Lieferantenverzeichnis von Rossagrolising gelistet. Nach Angaben von SPARK-Interfax stiegen ihre Erträge zwischen 2012 und 2015 um 27 Prozent auf 311 Millionen Rubel [gut 5 Millionen Euro], die Aktiva um 43 Prozent auf 201,4 Millionen Rubel [rund 3,4 Millionen Euro].  

    Im Februar beriet die Duma, den Mindestlohn auf das Existenzminimum anzuheben. Eine solche Anhebung könne die Betriebe zwar zu einer kleinen Lohnerhöhung bewegen, meint Safonow, ändere aber noch nichts am ökonomischen Modell. Das man aber, den Autoren des ZSR-Berichts zufolge, auch gar nicht ändern soll: Dieses Arbeitsmarktmodell habe Krisensicherheit bewiesen. Eine große Armee von Working Poor sei eben der Preis für die niedrige Arbeitslosenrate. 

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  • „So eine Hetzjagd auf Schwule gab es noch nie“

    „So eine Hetzjagd auf Schwule gab es noch nie“

    Am 1. April veröffentlichte die unabhängige Novaya Gazeta einen Bericht darüber, dass in der russischen Teilrepublik Tschetschenien mehr als hundert Männer festgenommen worden seien. Viele davon seien misshandelt worden, der Zeitung seien außerdem die Namen von drei Todesopfern bekannt. Der Grund für die landesweiten Festnahmen sei die „nicht-traditionelle sexuelle Orientierung“ der Männer gewesen: ihre Homosexualität oder einfach der bloße Verdacht, sie seien homosexuell.

    Die Massenfestnahmen seien auf einen Befehl zur „prophylaktischen Säuberung“ zurückzuführen, meint Elena Milashina, Investigativ-Reporterin der Novaya Gazeta. Sie betont, dass in Tschetschenien generell eine feindliche, geradezu aggressive Haltung gegenüber Homosexuellen herrsche, das offene Bekenntnis käme einem „Todesurteil“ gleich. 

    Reaktionen

    Diese Haltung spiegeln schließlich auch Reaktionen von offizieller Seite:

    Alwi Karimow etwa, Sprecher des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, bezeichnete den Artikel als „Lüge“ und „Desinformation“: „Man kann keine Leute verhaften oder unterdrücken, die es in der Republik gar nicht gibt.“ 

    Jekaterina Sokirjanskaja von der NGO International Crisis Group, aber auch andere internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch machten darauf aufmerksam, dass sich in Tschetschenien nur dann etwas ändere, wenn Moskau ein Machtwort spreche, Aufklärung fordere und zugleich den Informanten Schutz gewähre. Auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates gab eine Pressemitteilung heraus, in der sie die unmittelbare Aufnahme von Ermittlungen fordert, gleiches forderte unter anderem auch ein Sprecher des US-Außenministeriums.

    Derzeit halten sich Russlands oberste Behörden allerdings zurück. Kreml-Sprecher Peskow empfahl den Betroffenen, vor Gericht zu gehen. Unmittelbar nach der Veröffentlichung hatte die tschetschenische Menschenrechtsbeauftragte Cheda Saratowa in einem Moskauer Radiosender gesagt, Homosexualität entspreche nicht der Tradition und den Werten Tschetscheniens. Ein Ermittlungsgesuch wegen einer solchen Tat würden sie gar nicht erst annehmen. Später nahm sie diese Aussage zurück: Sie habe nicht klar denken können, da sie „schockiert“ gewesen sei, angesichts der Tatsache, dass es Homosexuelle in Tschetschenien gebe.

    In einem zweiten Artikel zum Thema veröffentlichen Elena Milashina und ihre Kollegin Irina Gordienko nun weitere Recherchen sowie einzelne Augenzeugenberichte und Protokolle von Betroffenen und Informanten.

    Der Sender Radio Svoboda nahm die Artikel zum Anlass für eigene Recherchen zum Thema. Diese bestätigen die Berichte der Novaya Gazeta und weisen außerdem auf eine weitere Repressionswelle bereits Ende vergangenen Jahres hin.

    Die Investigativ-Journalistinnen Elena Milashina und Irina Gordienko recherchieren beide seit Jahren im Nordkaukasus, werden dabei immer wieder massiv bedroht. Elena Milashina wurde 2012 nahe ihrer Wohnung in Moskau auf der Straße brutal zusammengeschlagen. Die Täter wurden allerdings nie gefunden.

    Im vergangenen Jahr erhielt Elena Milashina für ihre investigative Arbeit den Free Media Award der Zeit-Stiftung und der norwegischen Stiftung Fritt Ord.

    [Update vom 17. Januar 2019: Die Novaya Gazeta berichtet unter Berufung auf die NGO Russische LGBT-Netz von einer weiteren Verfolgungswelle gegen LGBT in Tschetschenien. Die genauen Umstände würden noch geprüft, ersten Anzeichen nach handelt es sich diesmal allerdings um Aktionen einzelner Polizisten, die nicht auf eine Initiative der obersten Staatsebene zurückgehen.]

     

    Unser Artikel Ehrenmord, in dem wir über Massenverhaftungen und Tötungen von Tschetschenen berichteten, die der Homosexualität beschuldigt oder auch nur verdächtigt werden, stieß auf starke Resonanz.

    Offizielle Vertreter der Republik Tschetschenien sprechen wie gewohnt von „Diffamierung“ und Verbreitung von „Gerüchten“. Der Pressesekretär des tschetschenischen Innenministeriums meinte, es handele sich um  einen „schlechten Aprilscherz“.

    Der Berater Ramsan Kadyrows in religiösen Fragen, Adam Schachidow, beschuldigte die Novaya Gazeta der „Verleumdung einer ganzen Nation“, und der tschetschenische Journalistenverband schlug vor, „die Mitarbeiter der Novaya Gazeta von nun an nicht mehr Journalisten zu nennen“.

    Wobei alle, tschetschenische Beamte wie Parlamentsabgeordnete und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, einhellig die bloße Tatsache bestritten, dass es in der Bevölkerung Homosexuelle gebe. Und – gleichzeitig – feststellten: Für solche Leute sei Tschetschenien der falsche Ort. Überhaupt hätten sie kein Recht auf Leben. 

    Hotline des LGBT-Netzwerks

    Zu dieser Zeit trafen unter der Adresse kavkaz[at]lgbtnet.org die ersten E-Mails ein; sie war vom russischen LGBT-Netzwerk in Kooperation mit der Novaya Gazeta und Rechtsanwälten aus Russland eingerichtet und am Tag vor der Publikation [des ersten Artikels Ehrenmorddek] in Sozialen Netzwerken verbreitet worden. Menschen, die in Tschetschenien aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden, suchten über verschiedene Kanäle Kontakt [die Organisation veröffentlichte auch eine Telefonnummer – dek].

    Manch einer konnte sich auf eigene Faust nach Europa absetzen und sammelt jetzt Informationen seiner Freunde, die in Tschetschenien geblieben sind. Ein anderer hat die Teilrepublik verlassen, hält sich in Russland auf und setzte sich von dort aus mit uns in Verbindung. Wieder ein anderer befindet sich in Tschetschenien und versteckt sich.

    Zusammen mit Aktivisten des russischen LGBT-Netzwerks sind wir so an drei Zeugenberichte von Tschetschenen gekommen, die uns im direkten Gespräch erzählt haben, was mit ihnen passiert ist. Derzeit sind alle drei und auch ihre Familien in Sicherheit, außerhalb Russlands. Uns erreichten außerdem drei weitere Geschichten, deren Protagonisten entweder umgekommen sind oder sich in Tschetschenien verstecken (die Redaktion verfügt über Sprachmitteilungen eines der Untergetauchten – Elena Milashina).

    Alle diese Berichte sind zu unterschiedlichen Zeiten eingetroffen, von verschiedenen Leuten, die in verschiedenen Regionen Tschetscheniens wohnten, aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommen und untereinander nicht bekannt sind. Trotzdem gibt es in allen Berichten wiederkehrende Momente, die eine Chronik massenhafter Repressionen gegen Tschetschenen durchscheinen lassen, die der Homosexualität verdächtigt werden.

    In dem vorigen Artikel [Ehrenmord, siehe oben – dek] stützten wir uns auf Aussagen unserer Informanten aus dem UFSB und dem Innenministerium in Tschetschenien. Sie brachten die Massenrepressionen gegen die tschetschenische LGBT-Community damit in Verbindung, dass Gay-Pride-Paraden in vier Städten des Kaukasus angemeldet worden waren. Die Anträge hatten Aktivisten des Online-Projekts GayRussia.ru Anfang März gestellt. Diese Anträge, die im Kaukasus sehr negativ aufgenommen wurden, provozierten allerdings die zweite Repressionswelle.

    Es hatte nämlich schon eine erste gegeben.

    Die begann für Tschetschenien ganz „traditionell“. Ende Februar wurde ein Mann festgenommen, der, nach Informationslage der Novaya Gazeta, unter Drogeneinfluss stand. Man muss wissen, dass in Tschetschenien nicht nur bei der Bekämpfung von Terroristen, Salafisten und Homosexuellen, sondern auch bei Drogensüchtigen und sogar Verkehrssündern die gleichen Methoden eingesetzt werden: Zuerst durchsuchen die Polizisten die Mobiltelefone.

    Auf dem Handy des festgenommenen Drogenkonsumenten fand man Fotos und Videos freizügigen Inhalts sowie Dutzende Kontakte ortsansässiger Homosexueller. Diese Datensammlung war es, die die erste Welle von Festnahmen und Gewalt auslöste. Zu der Zeit, als der Projektleiter von GayRussia.ru, Nikolaj Alexejew, beschloss, den Kaukasus in seine russlandweite Aktion miteinzubeziehen, gab es in Tschetschenien schon Todesopfer. Doch die Welle war am Abflauen. Zumindest hatte man aus einer der geheimen Haftanstalten, die wirklich alle von uns Befragten erwähnten, jene Häftlinge bereits entlassen, die wegen Verdachts auf Homosexualität saßen, als der provokante Antrag der GayRussia-Aktivisten eintraf. Und jetzt – ist das Gefängnis wieder voll.

    Geheimgefängnis in Argun

    Von dem geheimen Gefängnis in der Stadt Argun hatten wir schon vor eineinhalb Wochen aus behördlichen Quellen erfahren. Das Gefängnis besteht aus mehreren Gebäuden, die offiziell leerstehen. In den 2000er Jahren befand sich dort eine Militärkommandantur, danach die Abteilung des Innenministeriums für den Bezirk Argun. Diese Abteilung ist jetzt woanders untergebracht, und die ehemalige Militärkommandantur (Adresse: Uliza Kadyrowa 99 b, Argun) wurde zu einer der vielen Stätten in Tschetschenien, wo Menschen im Geheimen festgehalten werden. 

    Zudem schickte uns ein Informant der Novaya Gazeta, der sich derzeit in Europa aufhält, ein Foto mit Polizisten darauf, dazu folgenden Kommentar: „Diese beiden (gemeint sind die Personen im Vordergrund – Red. Novaya Gazeta) begannen in Argun als erste, Männer mit nichttraditioneller Orientierung zu vernichten“.  [im Original mit gravierenden orthographischen Fehlern – dek].

    Dieses Foto fand die Novaya Gazeta dann auf dem Instagram-Account von Ajub Katajew, dem Chef des OMWD der Stadt Argun. Vor einer Gruppe tschetschenischer Polizisten sind zwei Männer gut erkennbar: Der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow (besser bekannt unter seinem Spitznamen Lord), und der Chef des OMWD Argun Ajub Katajew. Das Foto wurde am 7. März auf Instagram gepostet.

    Unseren Informanten zufolge, auch derer, die in Argun inhaftiert waren, war eben dieser Lord bei der Entlassung von Häftlingen und bei deren Aushändigung an Verwandte dabei. 

    Uliza Kadyrowa 99b in Argun – ein Geheimgefängnis? / Foto © Novaya Gazeta
    Uliza Kadyrowa 99b in Argun – ein Geheimgefängnis? / Foto © Novaya Gazeta

    Es lässt sich leicht feststellen, dass der tschetschenische Parlamentssprecher im Februar und März die ehemalige Militärkommandantur regelmäßig aufsuchte. Eine der einfachsten Methoden (aber lange nicht die einzige) ist es, Verbindungen von Daudows Handy mit Mobilfunkmasten aufzuzeichnen, unter deren Radius die Adresse Uliza Kadyrowa 99 b fällt. Dabei ist nicht zu vergessen: Das OMWD Argun befindet sich jetzt an einer anderen Adresse, dort wird von ganz anderen Mobilfunkmasten aus gesendet. Welchen Grund hatte Daudow, immer wieder an die alte Adresse zu fahren? 

    Unter den Festgenommenen waren viele ‚zufällige Opfer‘

    Aus den Zeugenberichten, die der Novaya Gazeta und den Aktivisten des russischen LGBT-Netzwerks vorliegen, geht außerdem hervor, dass unter den Festgenommenen viele „zufällige Opfer“ waren. Die Handys der Verhafteten wurden absichtlich nicht ausgeschaltet: So gerieten alle Männer, die anriefen (auch mit komplett unschuldigen Anliegen), sofort in das Spinnennetz dieser Massenkampagne für die sexuelle Reinheit Tschetscheniens.

    Auch sie wurden illegal verhaftet, geprügelt, mit Strom gefoltert, bestenfalls gegen enorme Summen freigelassen. Wir wissen von Situationen, in denen Verwandte im Schnellverfahren Wohnung und Besitz verkaufen mussten, um ihre Angehörigen zu retten. 

    Leider konnten nicht alle gerettet werden.

    Zum aktuellen Zeitpunkt weiß die Novaya Gazeta von drei Todesfällen

    Zum aktuellen Zeitpunkt weiß die Novaya Gazeta von drei Todesfällen. Diese sind von etlichen Zeugen gut dokumentiert und bestätigt worden (sowohl von Augenzeugen als auch von Informanten der Novaya Gazeta in den Strafverfolgungsbehörden Tschetscheniens).

    Es gibt außerdem Hinweise auf ein mögliches viertes Todesopfer. Ob dieser Mensch noch am Leben ist, kann nur das russische Ermittlungskomitee feststellen. Doch über all die Jahre, in denen wir dem Ermittlungskomitee Verbrechen melden, haben wir eine traurige Tendenz festgestellt: Jede Meldung eines Verbrechens (als die laut Mediengesetz automatisch jede Publikation gilt, insbesondere wenn sie über einen gewaltsamen Tod informiert) registriert das Komitee als Hinweis und nimmt keinerlei Überprüfung vor.

    Angesichts dieses Umstands beabsichtigen wir, uns an die Generalstaatsanwaltschaft Russlands zu wenden mit der Forderung, den Präsidenten des Ermittlungskomitees, Bastrykin, zu verpflichten [im Original gefettet – dek], auf Basis unserer Publikationen eine Überprüfung gemäß Artikel 144–145 der russischen Strafprozessordnung vorzunehmen. Wenn der Generalstaatsanwalt Tschaika einer solchen Forderung nachkommt, hat das Ermittlungskomitee keine Möglichkeit mehr, das Gesetz zu umgehen. Wenn aber der Staatsanwalt die Forderung ablehnt, dann haben wir einen Anlass, ihn wegen Unterlassung zur Verantwortung zu ziehen.

    In den vergangenen zwei Jahren – genau seit dem Mord an Boris Nemzow, bei dem die Auftraggeber offensichtlich straflos davonkamen – sind Massenverfolgungen in Tschetschenien zu einer üblen Tradition geworden. Und mit jedem Mal werden die Ausmaße der Repressionen katastrophaler und die Anlässe immer absurder.

    Das ist das klassische Prinzip der Omertà

    Das Ausbleiben einer adäquaten juristischen Reaktion durch die föderalen Strafverfolgungsbehörden führt zur Rechtsimmunität der tschetschenischen Silowiki. Das ist das klassische Prinzip der Omertà.

    Andererseits werden die Massenverfolgungen zweifellos auch durch das Schweigen der tschetschenischen Bevölkerung begünstigt. 

    Allerdings birgt die Kampagne gegen die örtliche LGBT-Community Chancen, dem tschetschenischen Schweigen ein Ende zu setzen. In den letzten Tagen haben wir nicht nur eine Menge E-Mails bekommen. Wir haben auch gesehen, wie Menschen ihre Angst überwinden, weil sie erzählen wollen, was ihnen widerfahren ist.

    Dafür gibt es möglicherweise eine Erklärung. Die Vertreter der LGBT-Community unterscheiden sich nämlich von allen anderen Aktivisten und Menschenrechtlern. Man kann aufhören, sich für Menschenrechte einzusetzen, man kann seine politischen Ansichten ändern, man kann sogar den Glauben wechseln. Doch was man nicht ändern kann, ist die Hautfarbe oder die Sexualität. Genau deswegen wurden LGBT-Aktivisten und Schwarze in Amerika zum Motor der Menschenrechtsbewegung. Genau deswegen brechen in Tschetschenien die verfolgten Homosexuellen das Schweigen. 

    Und noch etwas: In Tschetschenien hat jeder Gefangene, für welche Vergehen auch immer er sitzt, eine Überlebenschance. Alle – nur nicht Schwule. Kaum wird seine besondere sexuelle Orientierung publik, spricht  die tschetschenische Gesellschaft ihm das Recht auf Leben ab. Und Menschen, die in die Ecke gedrängt werden, verlieren die Angst. 

     

    Text: Elena Milashina

    Zeuge 1

    Jahrelang hatten mich die Beamten der Strafverfolgungsbehörde in der Mangel. Sie erpressten mich, ich zahlte der Polizei Geld: monatlich mehrere zehntausend Rubel. Schweigegeld. Sie hatten ein mit dem Handy aufgenommenes Video, auf dem ich zu sehen war.

    Die Bullen haben Spitzel, meist sind das Drogensüchtige, die sie erwischt haben. Im Tausch gegen Freiheit und Geheimhaltung kooperieren sie und locken Leute in die Falle – immer neue Klienten, die man erpressen kann. Das ist für die Polizei im Land ein lukratives Geschäft. Viele Bullen haben so eine Klientel, deren Namen würden sie nicht mal ihren Vorgesetzten nennen – dann wäre ja das Geld aus.    

    Trotz der Zahlungen holten sie mich regelmäßig aufs Revier, prügelten mich, folterten mich mit Strom, verhöhnten und erniedrigten mich. Wollten, dass ich andere Schwule verrate.

    Nach den Prügeln erholte ich mich ein, zwei Tage bei Freunden, bis die blauen Flecken ein wenig zurückgingen, erst dann ging ich nach Hause – meiner Familie sagte ich, das sei von einer Schlägerei. So ging das zwei Jahre. 

    Sie holten mich regelmäßig aufs Revier, prügelten mich, folterten mich mit Strom, verhöhnten und erniedrigten mich. Wollten, dass ich andere Schwule verrate

    Ich komme aus einer normalen Familie, mit vielen Verwandten. Lange Zeit wollte ich mich nicht damit abfinden, dass ich schwul bin, dachte, das sei eine Krankheit, die man bekämpfen und überwinden kann. Ich wollte eine Familie. Habe geheiratet. Ich war sicher, dass das mit der Zeit vergeht. Das Land verlassen (um ein freies Leben zu führen – Anm. Novaya Gazeta) wollte ich nicht – ich hatte Angst um meine Angehörigen. Wenn das bekannt wird, trifft die Schande nämlich sie. 

    Aber irgendwann hielt ich die Misshandlungen nicht mehr aus, ließ alles stehen und liegen und floh nach Moskau. Dachte, ein neues Leben anzufangen. Um mich wenigstens irgendwie zu schützen, machte ich eine Eingabe beim Innenministerium und der Staatsanwaltschaft, dass mich die Polizei in Tschetschenien verfolgt, systematisch prügelt und erpresst. In Moskau nahm man meine Eingabe nicht mal entgegen – es hieß: „Macht das dort unter euch aus. Wir mischen uns nicht ein.“ 

    Ein paar Monate nach meiner Flucht fanden sie mich in Moskau. Schlugen mich. Forderten wieder Geld. Ich wollte mich umbringen. Und hab mich nur deswegen nicht aufgehängt, weil ich Leute gefunden habe, die mir halfen, das Land zu verlassen. Jetzt gehe ich zu einem Psychologen und denke, das hätte ich schon viel früher tun sollen. 

    Lange Zeit wollte ich mich nicht damit abfinden, dass ich schwul bin, dachte, das sei eine Krankheit, die man bekämpfen und überwinden kann

    So eine Hetzjagd auf Schwule, wie derzeit in meinem Land, gab es noch nie. Begonnen hat es nach dem 20. Februar. Da nahmen Polizisten einen Typen fest, der unter Lyrica stand (ein krampflösendes Medikament auf Pregabalin-Basis. Wirkt euphorisierend, beliebt bei Drogensüchtigen. – Irina Gordienko), durchstöberten sein Handy und fanden Pornobilder, Videos, eine Menge Kontakte, Chats mit anderen Schwulen. Das ging alles hinauf bis zum Lord, der drehte durch. Mit den Kontaktdaten begannen massenhafte Festnahmen. Die Leute wurden bei der Arbeit festgenommen, zu Hause, sogar, wenn die Person einfach nur das Pech hatte, in diesem Telefonbuch gelandet zu sein. Es begann eine Kettenreaktion. 

    So eine Hetzjagd auf Schwule, wie derzeit in Tschetschenien, gab es noch nie

    Die Verhafteten wurden gefoltert, auf Flaschen gesetzt, mit Strom gequält. Manche wurden halbtot geprügelt und den Verwandten wie ein Sack voll Knochen übergeben. Konkret weiß ich von zwei Todesfällen …

    Wenn sie dich kriegen, gibt es drei Wege da raus: Entweder du zahlst Riesensummen – ich hab von einer halben Million [Rubel – dek] gehört – oder du verpfeifst andere. Oder sie verpfeifen dich bei deinen Verwandten. Mit den Worten „regelt das selber“. Die meisten, die entkommen sind, flüchten und verstecken sich.

    Zeuge 2

    Das Gelände, wo sie mich hinbrachten, sieht verlassen aus, ist es aber nicht. Es ist eher sowas wie ein geheimes Gefängnis, von dessen Existenz offiziell niemand weiß. Im Nebenraum saßen Syrer – junge Männer, die verdächtigt werden, Kontakt zu Syrienkämpfern zu haben, oder deren Verwandte, oder solche, die aus Dummheit nach Syrien gefahren sind, enttäuscht wurden und nach Hause geflüchtet sind. Die sitzen da Jahre.

    Außerdem sitzen welche, die auf Drogen erwischt wurden. Verschiedene Drogen, aber vor allem das Psychopharmakon Lyrica, für dessen Konsum man in der Republik hart bestraft wird.    

    Wir waren ein paar Dutzend Leute, die Zahl änderte sich ständig, manchmal wurde einer frei gelassen, dann brachten sie neue. In einem großen Raum wurde uns eine kleine Ecke zugeteilt, etwa zwei mal drei Meter, deren Grenze wir nicht übertreten durften. Wir saßen dort tagelang, wochenlang, manche monatelang. Dreimal pro Tag wurden wir raus auf die Toilette geführt, ein Extra-Gebäude.

    Außerdem wurden wir mehrmals am Tag rausgeholt und geprügelt – das hieß Verhör, Prophylaxe, Bearbeitung, wie auch immer. Ihr Hauptanliegen war: an deine Kontakte heranzukommen. Wenn du auf Verdacht festgenommen wirst, denken sie, dass automatisch dein ganzer Bekanntenkreis schwul ist. 
    Deswegen wurden unsere Handys, nachdem sie sie einkassiert hatten, nicht ausgeschaltet: Sie warteten, dass jemand schrieb oder anrief. Jeder Mann, der anruft oder schreibt, ist der nächste Fang. Meistens riefen sie diese Leute zurück und lockten sie unter irgendeinem Vorwand zu einem Treffen.  

    Unsere Handys wurden nicht ausgeschaltet. Jeder Mann, der anruft oder schreibt, ist der nächste Fang

    Die befestigten die Kabel von Elektroschockern an unseren Händen und drehten den Regler auf, sodass Strom floss. Das tut weh. Erst hab ich ausgehalten, dann verlor ich das Bewusstsein und fiel um. Wenn der Strom fließt und dein Körper zu zittern beginnt, setzt irgendwann dein Kopf aus und du beginnst zu schreien. Die ganze Zeit sitzt du da und hörst die Schreie der Menschen, die sie foltern.    

    Die Folter beginnt, sobald einer auf dem Gelände ankommt. Strom, Prügel mit Polypropylen-Rohren. Man schlug uns immer nur unter der Gürtellinie – auf die Beine, die Schenkel, das Gesäß, das Kreuz. Sie sagten, wir seien „Hunde, die keine Lebensberechtigung“ hätten.

    Die anderen Häftlinge zwangen sie dazu, uns niederzumachen. Die sitzen dort jahrelang, die meisten haben die Hoffnung auf Freiheit aufgegeben. Die haben nicht wirklich eine Wahl. Wir verstanden das.  

    Man schlug uns immer nur unter der Gürtellinie – auf die Beine, die Schenkel, das Gesäß, das Kreuz. Sie sagten, wir seien ‚Hunde, die keine Lebensberechtigung‘ hätten

    Sie schlugen uns auch mit Stöcken, stellten uns in zwei Reihen einander gegenüber auf, mehrere Dutzend Leute. Sie teilten Stöcke aus, ähnlich wie Baseballschläger. Und jeder musste durch dieses Spalier. Drei, vier Schläge sind schwer zu ertragen, es tut irre weh, aber wenn du durch zwanzig musst – das halten ganz viele nicht aus.

    Ich wusste nicht, was tun mit diesem Schmerz, obwohl ich immer dachte, ich hätte eine hohe Schmerztoleranz. Um dem Schmerz etwas entgegenzuhalten, begann ich, meine Finger blutig zu beißen. Das half.  

    Manche schlugen sie mit besonderer Vorliebe. Einen, den quälten sie besonders, er saß dort schon länger als wir, den hatten sie schon völlig kleingekriegt, schlugen ihn so, dass er offene Wunden hatte. Dann übergaben sie ihn seinen Verwandten und etwas später hieß es, er sei schon unter der Erde.   

    Ich wusste nicht, was tun mit diesem Schmerz, obwohl ich immer dachte, ich hätte eine hohe Schmerztoleranz

    Abgesehen von der physischen Folter, machten sie uns nieder und quälten uns psychisch: beleidigten uns, ließen uns das Gelände putzen, ins Gesicht gespuckt zu kriegen, war nichts Ungewöhnliches. Und die ganze Zeit betonten sie: Ihr habt keine Wohnung mehr, alle lassen euch im Stich, ihr kommt hier nie raus! Täglich brachten sie mehr Leute – die Verhöre und arglosen Anrufe führten zu immer neuen Verhaftungen. 

    Nach mehreren Wochen, wenn die Menschen sich nur mehr wie Tiere vorkamen, riefen sie die Verwandten. Wer sich entschloss, zu kommen, wurde erst ebenfalls gedemütigt, dann händigten sie die Person aus.“

     

    Aufgezeichnet von Irina Gordienko   


    Mitteilungen an die Hotline 29.03.2017 bis 02.04.2017

    Nachrichten, die bei der Hotline des russischen LGBT-Netzwerks eingingen unter kavkaz[at]lgbtnet.org, eingerichtet für Bewohner Tschetscheniens. Die Nachrichten sind zwischen dem 29. März und dem 2. April eingegangen. Alle Geschichten werden mit Zustimmung der Informanten veröffentlicht.  

    1. „Den Sicherheitskräften zufolge war der Befehl zur Festnahme von der Regierung ausgegangen“

    Ein junger Mann aus Grosny, schwul. Kam vor ein paar Monaten nach NN (Name der Stadt zum Schutz der Auskunftsperson anonymisiert – Anm. d. Novaya Gazeta). Wollte sich hier niederlassen, fand aber keine Arbeit und wollte Mitte März zurück nach Tschetschenien. Versuchte, einen Freund zu erreichen, der meldete sich aber nicht. Er meldete sich erst nach einer Woche und sagte, er sei gerade von (tschetschenischen – Anm. d. Novaya Gazeta) Sicherheitskräften freigelassen worden. Sie hatten ihn wegen Verdachts auf Homosexualität festgenommen.

    Um ein Geständnis zu erzwingen, hatten sie ihn mit einem Schlauch geschlagen und mit Strom gefoltert (an seinen Handgelenken wurden Kabel festgeklemmt – Anm. d. Novaya Gazeta). Er sagte, zusammen mit ihm seien an die 30 Leute im selben Raum gefangengehalten worden.

    Den Sicherheitskräften zufolge war der Befehl zur Festnahme von der Regierung ausgegangen. Die Gefangenen wurden gezwungen, die Daten anderer Schwuler herauszugeben. Und je mehr einer erzählte, desto länger wurde er festgehalten. 

     

    2. „Dem Vater kündigten sie an, seinen Sohn im Lokalfernsehen zu blamieren“

    Ein weiterer Mann, der sich mit der Bitte um Hilfe an die Hotline wandte, erzählte, sein Bekannter (die Daten, die eine genaue Identifikation dieser Person erlauben, werden zu Ermittlungszwecken weitergeleitet – Anm. d. Novaya Gazeta) sei ebenfalls wegen Verdachts auf homosexuelle Orientierung festgenommen worden. Anlass dazu sei ein Chat auf VKontakte gewesen. Spätabends sei vor seinem Haus ein schwarzer Toyota Camry ohne Nummernschild vorgefahren.

    Männer in Uniformen des Sondereinsatzkommandos Terek setzten den jungen Mann ins Auto und fuhren an einen unbekannten Ort, ohne seine Familie über den Grund der Festnahme aufzuklären. Er wurde mehrere Tage festgehalten, gefoltert.

    Seine Verwandten konnten den Ort der illegalen Verwahrung ihres Angehörigen ausfindig machen. Dem Vater kündigten sie an, seinen Sohn im Lokalfernsehen zu blamieren und dann freizulassen.

    Der Mann wurde tatsächlich freigelassen, zu welchen Bedingungen, ist unbekannt. Ebenfalls unbekannt ist sein weiteres Schicksal. Bekannt ist nur, dass er Tschetschenien nicht verlassen hat.    

     

    3. „Die Verwandten legten ihm Handschellen an und fuhren mit ihm an einen unbekannten Ort“

    Eine anonymer Informant teilte der Hotline mit, wie er festgenommen wurde. Auf der  Kommandantur wurde er in einer verlassenen Betonbaracke in der Nähe von Argun Zeuge, wie der Homosexualität verdächtigte Männer massenhaft gefoltert wurden.

    Er selbst wurde am 28. Februar gefangengenommen. Zusammen mit ihm befanden sich noch 15 Männer in der Baracke, darunter ein in Tschetschenien bekannter Friseur und ein Fernsehmoderator.

    Die Gefangenen wurden geschlagen und mit Strom gefoltert. Auf den Fotos, die der Informant übermittelte, sind großflächige Hämatome auf Beinen und dem unterem Rücken zu sehen.

    Die Gefangenen bekamen so gut wie nichts zu essen. Sie wurden oft geschlagen, manche starben dabei. Am 5. März wurde ein junger Mann namens NN (die persönlichen Daten sind bekannt und werden zu Ermittlungszwecken weitergeleitet – Anm. d. Novaya Gazeta) von seinem Vater und seinem Bruder aus der Kommandantur abgeholt.    
    Seine Verwandten legten ihm Handschellen an und fuhren mit ihm in einem weißen Auto an einen unbekannten Ort. Er ist nicht nach Hause zurückgekehrt.

    Zu den anderen Gefangenen wurde gesagt: „Wenn ihr Männer in der Familie habt, dann töten sie euch auch wie NN.“

    Der anonyme Informant selbst wurde am 7. März entlassen (die Umstände seiner Entlassung gab er nicht bekannt, er sagte nur, dass er in Tschetschenien offiziell als tot gelte). Er konnte zusammen mit seiner Familie Tschetschenien verlassen. Im Moment hält er sich außerhalb Russlands auf.  

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  • Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Sie heißen Dar, Gradislawa und FSKI (Stiftung für sozial-kulturelle Initiativen). Und diese wohltätigen Stiftungen haben die Menschen am vergangenen Wochenende landesweit auf die Straßen gebracht. Zumindest indirekt. 
    In seinem Korruptionsbericht über Premier Dimitri Medwedew deckt der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ein ganzes Netz vermeintlich wohltätiger Stiftungen auf, über die der Premier heimlich Reichtümer anhäufe, etwa eine Luxus-Datscha, aber auch Weingüter und Yachten.

    Solche Stiftungen müssen ihre Jahresberichte öffentlich machen – auch um sicherzustellen, dass sie nicht unter das NGO-Agentengesetz fallen. Insofern müssten ihre Tätigkeiten leicht nachzuvollziehen sein – Anna Baidakowa von der Novaya Gazeta wurde allerdings eines Besseren belehrt. 

    Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube
    Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

    Dar [dt. Gabe/Geschenk] – so heißt die Stiftung, der das Gut Milowka in Pljos gehörte. Dort wurde Dimitri Medwedew im Urlaub ausgemacht. Wir sandten der Stiftung eine Anfrage, eine Sekretärin bestätigte den Eingang telefonisch. 
    Doch als sich die Korrespondentin der Novaya Gazeta auf die Suche nach dem Dar-Büro macht, stellt sich heraus, dass sich an der Meldeadresse, 2. Spassonaliwkowski Pereulok 6, eine Baustelle befindet, die Firma Codest International S. r. L. errichtet hier einen Wohnhauskomplex. 
    Die Sekretärin lehnte ab, der Korrespondentin am Telefon die tatsächliche Büroadresse zu nennen (wenn es sie denn gibt), und bat um eine schriftliche Anfrage.

    Null Rubel für Hilfsaktionen

    Einzige Informationsquelle darüber, wie die mit Medwedew in Zusammenhang gebrachten Stiftungen ihre Mittel verwenden, sind Datenbanken wie SPARK, wo man unter anderem Berichte über den zweckgebundenen Einsatz der Mittel findet. Dort kann man etwa erfahren, dass die Stiftung für regionale gemeinnützige Projekte Dar im Jahr 2015 1,4 Milliarden Rubel [knapp 19.000.000 Euro] in Form von Spenden erhielt und 454,6 Millionen [rund 6.069.000 Euro] für zweckgebundene Maßnahmen ausgab.

    Doch waren das keine sozialen und wohltätigen Hilfsaktionen, Konferenzen oder Seminare – für diese Posten wurden 0 Rubel verwendet. Sondern es waren allesamt „sonstige Maßnahmen“. Wobei für Gehälter, Dienstreisen und Instandhaltung von Autos und Gebäuden 224,7 Millionen [rund 2.991.000 Euro] ausgewiesen wurden und weitere 574 Millionen [rund 7.640.000 Euro] für „Grundausstattung, Inventar und andere Besitztümer“.

    Leider ist so einem Bericht nicht zu entnehmen, welche „sonstigen Maßnahmen“ gemeint sind. Für einige Jahre gibt es gar keine Berichte, und da, wo es welche gibt, bleiben jedes Mal am Jahresende 6 bis 8 Milliarden [rund 1 bis 1,3 Millionen Euro] ungenutzt liegen.

    Oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche

    Zu manchen Ausgaben der Stiftung Dar kann man in der Kartothek des Schiedsgerichts etwas finden. Dass Dar zum Beispiel im Jahr 2010 der Firma OOO Rikko-Stil in Krasnodar 603,4 Millionen Rubel gezahlt hat für den Bau eines „nicht für Wohnzwecke bestimmten Gebäudes mit Sportschwimmbecken an der Adresse: RF, Oblast Iwanowo, Rajon Priwolschsk, Dorf Milowka, Tschernew-Gut (Gut Milowka)“, lässt sich aus Dokumenten zu einem Prozess herleiten: Dar hatte von Rikko-Stil eine Vorauszahlung für Arbeiten zurückgefordert, die Rikko-Stil nicht erfüllt hat – den Großteil der bezahlten Summe.

    Die Jahresberichte anderer Stiftungen in der allgemein zugänglichen Datenbank geben ebenso spärlich Auskunft, oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche.

    Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube
    Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

    Nach Erkenntnissen des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) hatte Gradislawa, eine Stiftung zum Erhalt von historischem und kulturellem Erbe, das Gut in Milowka von Dar als Spende erhalten. Über Gradislawa erfährt man zum Beispiel nur, dass die Stiftung im Jahr 2013 mit irgendeiner unternehmerischen Tätigkeit Einnahmen in Höhe von 531.000 Rubel [rund 8.770 Euro] erzielte und aus einer ungenannten Quelle weitere 749 Millionen [rund 12.365.000 Euro] bezog, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden.

    Von allen Stiftungen rund um Dimitri Medwedew ist die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) die transparenteste. Zwar figurierte sie in den Ermittlungen auch nicht als Rechtsträger von Immobilien, doch steht sie mit Dar in Verbindung: Deren Tochtergesellschaft Verwaltungsteam der Stiftung Dar ist unter derselben Adresse gemeldet wie die Stiftung FSKI.

    Büroräume in einer Villa aus dem 19. Jahrhundert

    Die FSKI selbst befindet sich aber nicht in irgendeinem Business-Center, wo dutzende Firmen ihre Büroräume mieten, sondern in einem ebenerdigen Haus aus dem 19. Jahrhundert, auf der Bolschaja-Ordynka-Straße 70. Die Vorstellung, dass sich eine Organisation, als deren Präsidentin Swetlana Medwedewa auftritt, eine kleine alte Villa mit irgendeiner fremden Organisation teilt, fällt schwer.

    Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Die FSKI ist in der ganzen Liste die einzige Stiftung mit funktionierender Website. Darauf sind die Projekte der Stiftung beschrieben. Doch Antworten auf die Fragen, von wem sie die Spendengelder bekam, und wie und wofür sie diese ausgab, sucht man dort vergebens.

    749 Millionen aus einer ungenannten Quelle, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden

    Die Korrespondentin der Novaya Gazeta versuchte also, die Jahresberichte direkt bei den Stiftungen zu bekommen. Am Telefon der FSKI meldete sich ein Mädchen namens Kristiana, die ihre Funktion und ihren vollen Namen nicht nennen wollte. Sie erklärte, die Stiftung veröffentliche ihre Berichte „auf diversen anderen Websites“, es fiel ihr aber schwer zu sagen, auf welchen konkret.
    Nach Rücksprache mit der Leitung rief sie zurück und sagte, die Berichte würden auf der Website des Justizministeriums nur ein Jahr lang gespeichert, dort seien sie einsehbar gewesen, der Bericht für 2016 erscheine allerdings erst am 15. April.

    Allerdings stimmt das nicht: Auf dem Portal des Justizministeriums findet man Berichte gemeinnütziger Organisationen ab dem Jahr 2014. Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden.

    Trotzdem schickte die Stiftung der Redaktion ein Paket: Eine Mappe mit Broschüren über die Gefahr von HIV, ein Buch zum Gedenken an Leute, die bei Bränden Tapferkeit bewiesen haben, Titel „Brennendes Herz“, und noch einen Stapel Druckwerk über Programme, die die Stiftung auf ihrer Website auflistet (danke dafür – Anmerkung der Redaktion Novaya Gazeta). Offenbar ist das eben der FSKI-Tätigkeitsbericht.

    Ein greifbares Projekt der FSKI sind immerhin die Diagnosezentren Weiße Rose, in denen Frauen kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen angeboten werden. Der zahlreichen Erwähnungen im Netz nach zu schließen gibt es diese Zentren wirklich, im Jahr 2014 berichtete die Weiße Rose den Erhalt von 90,7 Millionen Rubel [rund 1.480.000 Euro], für Gehälter habe sie 303.000 Rubel [rund 4.930 Euro] aufgewendet, für 18 Millionen [rund 293.000 Euro] Vermögenswerte gekauft.

    Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden

    Die Stiftung Gradislawa ist nicht besonders offen für Pressegespräche. Die Telefonnummer, die bei der Registrierung angegeben wurde, ist die von Generaldirektor Iwan Karabinski. Während des Gesprächs mit der Novaya-Korrespondentin wollte er keine Email-Adresse oder Faxnummer angeben, meinte: „Ich kann Sie ja nicht als Journalistin identifizieren“, und schlug vor, eine Anfrage im Büro vorbeizubringen.

    Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    An der Kotelnitscheskaja-Nabereshnaja 25, Gebäude 1, steht ein Bürohaus, aber es gibt kein Schild von Gradislawa. Die Security an der Pforte teilt mit, dass Iwan Igorewitsch Karabinski persönlich nicht hier sitze, sondern hier sitze Roman Kalistratowitsch Kostezki. Auf einen Anruf des Security-Mitarbeiters hin kommt der heraus, ein großer Mann im Jackett, das Haar graumeliert. Er stellt sich als stellvertretender Direktor vor und nimmt die Anfrage entgegen.

    Wir versuchten unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka

    Den Anruf der Novaya-Korrespondentin bei Sozgosprojekt nahm eine Frau entgegen. Auf die Frage, wo man die Rechnungslegung der Stiftung einsehen könne und ob es eine offizielle Website gebe, antwortete sie: „Nein, wir haben keine Website“, und legte auf. Also versuchten wir, unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka.

    Die Stiftung ist registriert unter der Adresse Uliza Rossolimo 17, Gebäude 2 – das ist das Business-Center Rossolimo. In der Eingangshalle hängt eine Liste der Organisationen, die dort ihren Sitz haben, auch Sozgosprojekt ist angegeben, mit Telefonnummer – dieselbe, die in den Gründungsunterlagen steht: 8 495 287-45-61. Als die Novaya-Korrespondentin jedoch dort anrief, sich vorstellte und um Entgegennahme ihrer Anfrage bat, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung: „Falsch verbunden“ … und legte auf.

    Dann versuchten unter derselben Nummer die Leute vom Sicherheitsdienst des Business-Centers zum Sozgosprojekt durchzukommen – vergeblich, niemand hob ab.

    Indessen waren aber die Stiftungsmitarbeiter offenbar sehr wohl an ihrem Platz: Die Korrespondentin der Novaya setzte sich mit der Administration von Rossolimo in Verbindung und erfuhr, dass man dort gerade während des Gesprächs einen Vertreter des Sozgosprojekt „in der Leitung“ habe. Trotzdem wollte man nach diesem Telefonat die „richtige“ Nummer nicht herausgeben, teilte mit, eine diesbezügliche Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort.

    Die Stiftung teilte mit, eine Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort

    Die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten hat ihren Sitz in einem Gebäude an der Kadaschewskaja-Uferstraße 6/1/2 (das Gebäude ist von zwei Straßen und der Uferpromenade aus zugänglich, daher die Adresse mit zwei Schrägstrichen). Der Eingang zu den Büros liegt im Hof, man muss ein Tor passieren, das der Wachmann auf ein Klingeln hin öffnet. Ein Schild gibt es nicht am Eingang.

    Als die Korrespondentin sagt, sie suche die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten, diskutieren die Wachmänner zuerst einmal lang und breit, ob es eine solche Stiftung hier überhaupt gibt. Auch der Chauffeur, der am Fuß der Außentreppe sein Auto warmlaufen lässt, hat noch nie davon gehört. Schließlich gibt es die Stiftung aber doch, und die Security-Mitarbeiter schlagen vor, die Anfrage bei ihnen zu deponieren.

    Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Unsere Anfragen haben wir am 20. und 21. März abgeschickt, wir warten auf Antwort. Bisher haben wir nur Briefe von FSKI, Gradislawa und Dar bekommen: Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben.

    Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben

    Zum Beispiel so: „Der Bericht zur Tätigkeit der Stiftung geht in gesetzlich vorgeschriebener Form an jene Behörden, die mit der Kontrolle der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen beauftragt sind. Wir wünschen der Redaktion der Zeitung neue kreative Erfolge, gute Nachrichten, zuverlässiges und objektives Material, ausgewogene Bewertung und, am wichtigsten – das Vertrauen der Leser!“ So heißt es in einem Brief von Dar. Deren Mitarbeiter ließen der Novaya Gazeta ihre Antwort per Email in einem Word-File ohne Briefkopf zukommen.

    Mit der Bitte, der Redaktion Einblick in die Jahresberichte der Stiftungen zu gewähren, wandten wir uns schließlich an das Justizministerium. Die Antwort: „Die Erfordernisse des Föderalen [Gesetzes] Über gemeinnützige Organisationen hinsichtlich der Vorlage der Rechnungslegung sind seitens der angegebenen gemeinnützigen Organisationen erfüllt. Bezüglich der Einsicht in die Rechnungslegung wenden Sie sich bitte direkt an die betreffenden Stiftungen.“

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    „Patrioten gibt’s bei euch also keine?“

    Maxim Lossew ist ein Schüler aus der Oblast Brjansk, rund 380 Kilometer südwestlich von Moskau. Kurz nachdem Oppositionspolitiker Nawalny einen Korruptionsbericht über Premier Medwedew vorgelegt hatte, rief Maxim über Vkontakte dazu auf, an einer Unterstützer-Demo für Nawalny teilzunehmen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch Lossew wurde daraufhin von der Polizei zur Unterredung abgeholt – aus dem Klassenzimmer heraus. Die Schuldirektorin Kira Petrowna Gribanowskaja und eine Lehrerin, die ganz zu Beginn als „Raissa Alexandrowna“ angesprochen wird, diskutierten mit den Schülern darüber – und kommen dabei auch auf Themen wie den Krieg in der Ukraine, Patriotismus und die politische Opposition. Dabei zeigen die Schüler großes Selbstbewusstsein gegenüber den regierungsloyalen Lehrkräften.

    Ein Handy-Mitschnitt der Diskussion landete im Internet, Nawalnys Wahlkampfteam verbreitete das Video über Vkontakte. Es wurde bislang bereits über eine Millionen Mal angesehen, die Schüler wurden zu „neuen Helden des russischen Internets“. dekoder bringt die Mitschrift in deutscher Übersetzung. Da die Aufnahme oftmals kein Bild, sondern nur Ton liefert, ist nicht immer einfach zuzuordnen, wer gerade spricht. 

     

    Direktorin [Kira Petrowna]:  Raissa Alexandrowna, darf ich? Für die, die sich für Nawalnys Aktivitäten interessieren: Gut, er fordert die Absetzung unserer aktuellen Regierung, ein „Nein zu Korruption“ und so weiter. Welche konkreten Maßnahmen schlägt er denn vor? An Kundgebungen teilzunehmen? Zu sagen, was der für ein Fiesling ist?     
    Ein Schüler: Er will einfach Antworten hören. Er hat ein Video zu Medwedew gemacht, und jetzt will er Antworten von der Staatsmacht.
    Direktorin: Und?
    Ein Schüler: Die schweigt.
    Direktorin: Moment mal. Nehmen wir an, ihr macht ein Video über Kira Petrowna, schreibt, die ist so und so, kümmert sich nicht um was weiß ich, bei der in der Schule ist der Teufel los; ihr versammelt euch und fordert eine Antwort. Was glaubt ihr, geh ich da hin und rede mit euch?  
    Ein Schüler: Nein.
    Direktorin [aufgeregt]: Eben, er auch nicht! Das ist doch lächerlich! Ein politisches Programm – das wären konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft, die Ausarbeitung von Plänen. Das, was der macht, ist reinste Provokation. Versteht ihr? Ihr versteht das noch nicht. Die Wirtschaftslage ist bei uns derzeit sehr instabil, das sage ich geradeheraus. Ein ökonomisches Loch. [Ihre Stimme beruhigt sich wieder etwas] Und was ist die Ursache? Ihr hattet das doch in Sozialkunde und so weiter. Ihr wisst ja, dass es im Grunde im Land eine Wirtschaftsblockade gibt. Na, dann möchte ich mal hören, was ihr wisst: Was erleben wir derzeit? 
    Ein Schüler: Eine Krise.
    Direktorin: Und was hat die Krise ausgelöst?

    [Unverständlich]

    Ein Schüler: Die Sanktionen, die Europäische Union, diese ganze Blockade.  
    Direktorin: Nochmal bitte, wer? Die Europäische Union, richtig? Das heißt, wir haben jetzt eine sehr konsequente und sehr stramme Politik unseres Leaders. Er hat international ein sehr hohes Ansehen. Warum? Wegen seiner Außenpolitik. Die Innenpolitik, klar, die schwächelt. Warum? Ja, weil kein Geld da ist. Und das spüren wir jetzt, vor allem …   
    Ein Schüler: Aber was für eine Außenpolitik wird denn bei uns bitteschön gemacht? Amerika ist gegen uns, Europa ist gegen uns. 
    Direktorin: Und woran liegt das, hm? Weswegen?
    Ein Schüler: Wegen der Krim, weil wir die einkassiert haben quasi.
    Direktorin: Und das findest du schlecht?
    Lehrerin: Haben wir sie denn einkassiert? 
    Ein Schüler: Na, wir sind quasi in eine Krise eingetreten.
    Lehrerin: Es gab ein Referendum

    [Unverständlich]

    Direktorin: Gut, erzähl mir mal, was da aus deiner Sicht passiert ist! Da bin ich jetzt gespannt! Erzähl mir das, vielleicht kenne ich ja irgendeine Sichtweise noch nicht. 
    Ein Schüler: Na, warum haben sie denn gegen uns Sanktionen verhängt?! 
    Direktorin: Das hattest du gerade schon selbst beantwortet.
    Lehrerin: Wegen der Demonstration von Stärke. Weil wir Stärke gezeigt haben. 
    Ein Schüler: Wegen der Krim.
    Direktorin: Weißt du, warum … Ja, warum hat denn der Krieg in der Ukraine überhaupt angefangen?
    Ein Schüler: Na, wegen der Revolution …
    Direktorin: Weswegen?
    Ein Schüler: Wegen dem Machtwechsel.
    Direktorin: Ach, mein Junge, du liest nichts und weißt nichts. Dein Wissen ist sehr oberflächlich. Wie ist dieser ganze Konflikt überhaupt entstanden? Warum hat sich da Amerika eingemischt?
    Ein Schüler: Hat es sich ja gar nicht offiziell.

    [Unverständlich]

    Direktorin: Und wofür hat sich die Krim dann entschieden? Und wie hat Amerika das bewertet?
    Ein Schüler: Haben Sie dort amerikanische Truppen gesehen, in der Ukraine?
    Direktorin: Hast du denn russische Truppen gesehen in der Ukraine?
    Ein Schüler: Ja. [Lachen] 
    Da gibt’s Videos, das können Sie sich gar nicht vorstellen.
    Direktorin: Videos – die sind meistens gestellt.
    Lehrerin: Man darf denen nicht glauben …

    [Unverständlich]

    Ein Schüler: Ich habe etliche Informationen gehört, dass die Freunde von irgendwelchen Leuten …
    Direktorin: Leute! Ich seh schon, ihr betrachtet dieses Problem einseitig. Und euch fehlt der politische Überblick. Das Problem ist ganz klar umrissen: Ihr habt Nawalny gesehen, habt seine Videos angeguckt, das war’s. Und schon denkt ihr so. Eine eigene Meinung dazu habt ihr nicht, nur das, was man euch aufdrückt. Und dann benutzt ihr auch noch manchmal ungeprüfte Quellen oder sogar, wenn man so will, Quellen, die zur Provokation dienen.
    Lehrerin: Wie Marionetten …


    Ein Schüler: Und wenn wir einfach der gleichen Meinung sind wie er?
    Direktorin: Habt ihr denn eine Meinung? Lest erst mal ein bisschen. Ich sag euch das, schaut euch nicht nur diese … Wenn jemand behauptet, dass es hier so schlecht ist, dann seht euch mal andere Quellen an. Warum glaubt ihr nur einer Quelle?  
    Lehrerin: Jeder Fakt gehört dem Zweifel unterzogen! 
    Ein Schüler: Wir betrachten ja nicht nur eine Quelle.
    Direktorin: Na, ihr schaut offenbar nur in eine Richtung.
    Ein Schüler: Unser Fernsehen zeigt ja nur, was dem Staat zuträglich ist …
    Direktorin: Hört ihr nicht Voice of America?

    [Unverständlich]

    Direktorin: Ich sehe schon, die staatsbürgerliche Haltung haben wir euch nicht richtig beigebracht. Was das staatsbürgerliche Bewusstsein betrifft, zeigt ihr große Defizite. Patrioten gibt es bei euch in der Klasse also keine?
    (Einwurf Schüler: Was ist denn ein Patriot? Einer, der die Regierung unterstützt?)
    Direktorin: Ich habe mit Nikita gesprochen … Nikita, willst du ein Patriot sein?
    Lehrerin [unterbricht]: Entschuldigung. Bitte, organisiere doch einfach eine Gruppe und mach einen Subbotnik in deiner Straße.  
    Direktorin: Leute, hebt mal die Hand, wer von euch engagiert sich in einer Freiwilligen-Bewegung?

    [Stille]

    Direktorin: Wozu wurde denn die Freiwilligenarbeit eingeführt? Da haben wir eure staatsbürgerliche Haltung! Ihr braucht euch gar nicht mit Putin und Medwedew da oben zu beschäftigen. Seht euch unseren Bezirk an!
    Ein Schüler: Aber die Freiwilligenarbeit wird doch von Einiges Russland organisiert, oder? Und unterstützt?
    Direktorin: Ja.
    Ein Schüler: Eben, und wir sind gegen Einiges Russland.

    [Gelächter]

    Ein Schüler: Verstehen Sie?
    Lehrerin: Warum sprichst du in der Mehrzahl und redest von „wir“?
    Ein Schüler: Hebt doch bitte mal die Hand, wer gegen Einiges Russland ist.
    Weiterer Schüler: Ich!

    [Gelächter, unverständlich]

    Ein Schüler: Wir sind gegen Einiges Russland.
    Direktorin: Und wofür seid ihr?
    Ein Schüler: Für Gerechtigkeit.
    Weibliche Stimme: Und was ist Gerechtigkeit?
    Weibliche Stimme: Das, was es bei uns nicht gibt.

    [Unverständlich]

    Ein Schüler: Gerechtigkeit ist, wenn sich die Regierung um die Menschen kümmert, nicht nur um sich selbst, … um die einfachen Bürger, nicht um ihre Millionen. Viele Menschen wollen ja in einem freien Staat leben, in einem freien Land …
    Direktorin: Ihr glaubt also, dass sich mit Putin und Medwedew das Leben im Land verschlechtert hat?
    Weiterer Schüler: Ja.
    Ein Schüler: Nein, sie kleben aber an ihren Sesseln. Sie sitzen da schon zu lange.
    Direktorin: Hast du mal in einer anderen Zeit gelebt, anscheinend hab ich da was verpasst? Unter welcher Regierung hast du gut gelebt? 
    Ein Schüler: Ich?
    Direktorin: Unter Putin und Medwedew ist es für dich also schlechter geworden?
    Ein Schüler: Wir kennen unsere Geschichte.
    Direktorin: Allerdings.
    Schüler: Eben …
    Direktorin: Was – eben? Ich frage dich: Konkret du, unter welchem Regierenden hast du gut gelebt?
    Schüler: Wir hatten ja im Grunde nur einen.
    Direktorin [aufgeregt]: Du hast gesagt, es ist schlechter geworden. Dabei habt ihr die wilden 1990er Jahre gar nicht erlebt! Damals hatte jeder, Verzeihung, eine Handwaffe oder Feuerwaffe! Chaos und Willkür im ganzen Land! Ich war damals Studentin! Dass man sich abends nach acht nicht mehr raus auf die Straße traute. Das habt ihr nie erlebt!
    Schüler: Wollen Sie, dass es wieder so wird?
    Lehrerin: Ihr wollt das!
    Schüler: Gerade jetzt wurde ein Mensch wegen nichts eingesperrt. Einfach von der Polizei mitgenommen.
    Direktorin: Das ist Bürgerkrieg.
    Schüler: Das ist Willkür.
    Direktorin: Richtig, Willkür, denn wohin führt jede Demonstration und jede Spaltung der Macht?
    Lehrerin: Zu einer politischen Krise und weiter zum Bürgerkrieg.
    Direktorin: Und weiter zum Bürgerkrieg. Brudermord.
    Lehrerin: Wollt ihr es wie in der Ukraine, so wie es bei uns 1918 war?
    Schüler: Wir wollen diese Regierung nicht.
    Weiterer Schüler: Nein, wir wollen … unsere eigene Sicht der Dinge.
    Eine der Lehrkräfte: Ihr werdet Euer eigenes 1918 erleben …
    Lehrerin: Sagt mal: Könnt ihr das wirklich jetzt erreichen? Und wie?
    Ein Schüler: Na, sich einfach zusammentun.
    Lehrerin: Und dann?
    Schüler: Dann werden wir eine Masse.

    [Stimmengewirr]

    Weiterer Schüler: Eine ordentliche Masse!
    Lehrerin: Eine Masse. Und dann, was dann?
    Ein Schüler: Dann sehen es die Leute wenigstens. Dann sehen sie, dass es Bürger gibt.

    [Unverständlich]

    Lehrerin: Bürger – das ist eine Handvoll Leute, die angeführt werden von Erwachsenen, die sozusagen nichts zu verlieren haben.
    Direktorin: Leute, wir haben zumindest versucht, euch ein wenig zu ermahnen und zu warnen. Was jetzt beginnt, das ist Polemik, und die ist sinnlos. Ihr müsst jetzt ohnehin – ich rate euch, ich bestehe nicht darauf, aber ich rate euch – zu Herzen nehmen, was wir gesagt haben, und entsprechende Schlüsse ziehen. Und ich denke dabei vor allem an eure Zukunft.  
    Lehrerin: Vergesst nicht, das ist entscheidend.
    Direktorin: Ich habe mich bei diesen Regierungsvertretern beschwert. Ich habe versucht, Maxim zu verteidigen. Habe gesagt, dass das nur so eine völlig unnötige jugendliche Dummheit gewesen ist.
    Glaubt mir, der hat es gerade nicht gut. Gar nicht gut. Ich möchte nicht, dass auch nur einer von euch in so eine Lage gerät. Aber jetzt ist es an euch. Alles, was ihr hier sagt, im Klassenzimmer, sind leere Worte. [Unverständlich] Ich sag’s nochmal, werdet anständige Leute und erreicht etwas. Das ist das Richtige.
    Lehrerin [leise]: Aber das hier, das ist kindisch. Leute, ich bitte euch nochmal. Denkt nach, denkt mit … So, Leute, womit fangen wir jetzt an? Mit den Zensuren oder mit den Hausaufgaben …

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  • Alexander Lukaschenko

    Alexander Lukaschenko

    Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

    Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

    Der Weg zur Macht 

    Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
     

    „Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

    Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

    Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

    Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

    Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

    Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

    Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

     

    Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

    Machthunger und Gewaltenteilung 

    Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

    Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

    Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

    An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

    Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

    Die Ideologie des Systems 

    Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

    Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

    Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

    Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

    Gründe für die lange Herrschaft 

    Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

    Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

    Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

    Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

    Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

    Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

    Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

    Der Ego-Kult 

    Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

    Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

    Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

    Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Das Jahr des Umbruchs  

    Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

    Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

    Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
     

    Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

    Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


    1. Imja, 6. November 1997 ↩︎
    2. Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 ↩︎
    3. Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 ↩︎
    4. Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 ↩︎
    5. Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 ↩︎
    6. Femida, 22. Januar 1996 ↩︎
    7. Swaboda, 12. November 1996 ↩︎
    8. https://news.tut.by/economics/695690.htm ↩︎
    9. Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram ↩︎
    10. Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 ↩︎
    11. Femida, 1995, Nr. 3 ↩︎
    12. Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 ↩︎
    13. Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 ↩︎
    14. Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 ↩︎
    15. Fernsehauftritt am 17. September 2002 ↩︎
    16. Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 ↩︎

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    Zunächst sieht man den Wolkenkratzer nur von unten, dann Zoom auf die Stern-Skulptur auf der Spitze des Gebäudes. Zwei winzige Figuren sind da zu erkennen, sie kraxeln entlang der Stahlverstrebungen, um sie herum das Nichts, der Himmel über Moskau. 

    Roofing heißt dieser Trend, das Erklettern von Hochhäusern und Kränen, eigentlich von allem, was schwindelerregend hoch ist. Fotos und Videos vor allem russischer Roofer schwemmen das Netz. Was als Subkultur begann, ist inzwischen längst zum Trend geworden. 

    Mindestens genauso gefährlich ist das so genannte Sazepping, außerhalb Russlands auch Trainsurfing genannt: Das „Surfen“ zwischen fahrenden Waggons oder auf Zugdächern. Es sind erschreckend viele Minderjährige, die dieses gefährliche Hobby betreiben, manche erst zwölf Jahre alt.
    Verbreiten konnten sich Roofing und Trainsurfing in Russland auch deswegen, weil lange Zeit kaum rechtliche Konsequenzen zu befürchten waren. Das änderte sich erst, als immer mehr Minderjährige dabei ums Leben kamen.

    Julia Reprinzewa von der Novaya Gazeta hat sich in der russischen Roofing– und Sazepping-Community umgehört – und traf auf eine Szene im Wandel.

    Shenja und ich laufen langsam die abendliche Uferstraße an den Sperlingsbergen entlang. Er hat eine schwarze Jacke und unter einer Kapuze versteckte schwarze Locken, fast wie ein Kinoheld. Er erzählt, dass er „ganz jung damit angefangen hat”. Erst Surfen, dann Roofen. 

    „Hast du gehört, was in Tuschino los war? Nein? Merkwürdig. War sogar in den Nachrichten. Gib auf YouTube ein: Trainsurfing Tuschino. Da ist ein Typ zuerst über das Dach einer Elektritschka gerannt, dann auf den nächsten Zug gesprungen, weggerannt, wurde geschnappt, es gab eine Schlägerei – richtig Action. Jedenfalls – das war ich.“

     

    Der „Typ“ ist 16. Über  die Zeit damals (vor zwei Jahren) sagt er: „War geil, aber ich war ein Idiot. Jeden Tag bin ich auf dem Dach einer Elektritschka oder zwischen den Waggons zur Schule gefahren – hin und zurück. Hab mich von der Elektritschka bis zum Sapsan vorgearbeitet. Ist wie eine Droge. Ich konnte nicht aufhören. Hab’s einfach nicht gepeilt. Wie in einem Sog.“ 

    Die Mutter hatte immer einen Verdacht: Shenjas Kleidung war immer schmutzig, in den Taschen flogen Handschuhe und Waggonschlüssel rum. Aber dass ihr Sohn auf Elektritschkas surft, erfuhr sie zufällig – aus dem Internet: „Sie hat auf YouTube Trainsurfing eingegeben – und mich gefunden.“ „Und, wie hat sie reagiert?“ „Sie hat gesagt: ,Du Trottel‘.“ 

    Shenja wollte gerade zum letzten Mal auf dem Sapsan mitfahren, um ein „okayes Video“ zu drehen und auf YouTube einzustellen. Kurz vor der Fahrt erfuhr er, dass sein Freund tödlich verunglückt war. Er war betrunken auf einen Zug geklettert und heruntergefallen. 

    Seitdem fährt Shenja nicht mehr auf Dächern der Elektritschka: „Für mich war das ein Zeichen.“

    Geplante Aktion

    Ende letzten Jahres gab das Ermittlungskomitee an, es sei aktiv mit der Ausarbeitung von möglichen Ergänzungen zum Paragraphen Anstiftung zum Selbstmord im Strafgesetzbuch beschäftigt. Wie ein Vertreter der Behörde, Sergej Wasjulin, erklärte, geht es dabei um die Strafbarkeit der Anstiftung Jugendlicher zu Extremdisziplinen wie  „Trainsurfing“ (dem Mitfahren auf Zugdächern oder zwischen Waggons) und „Roofing“ (dem Spazieren auf Gebäudedächern). Wasjulin insistierte, diese beiden Trends seien eine „von außen motivierte Aktion“. Genaueres – motiviert von wem? wozu? – sagte er nicht.  

    „Roofing ist keine schmale Subkultur mehr“ – Foto © Max Frolov/Flickr unter CC BY 2.0
    „Roofing ist keine schmale Subkultur mehr“ – Foto © Max Frolov/Flickr unter CC BY 2.0

    Am 19. November, einen Monat nach dieser Äußerung des Ermittlungskomitees, stürzte in Murmansk ein 13-jähriges Mädchen vom Dach eines neunstöckigen Hauses. Das Ermittlungskommitee leitete ein Verfahren ein wegen „Verleitung zum Selbstmord“, und auf der Website der Staatsanwaltschaft erschien eine Mitteilung, dass „die Zugehörigkeit des Mädchens zur sogenannten Roofing-Bewegung“ geprüft werde. 

    2012 erlitten in Moskau 17 minderjährige Trainsurfer Verletzungen, 2013 waren es 29, 2014 – 48 und 2015 – 25 (davon endeten 13 Fälle tödlich). In den ersten neun Monaten des Jahres 2016 wurden von der Moskauer Polizei 1167 Minderjährige gefasst wegen Aufenthalts auf nicht für Passagiere vorgesehenen Transportmitteln. 

    „Festzustellen, ob jemand die Kleine  zum Selbstmord angestachelt hat, ist richtig und wichtig“, sagt Ilja Kremer, der Gründer einer der beliebtesten Roofing-Gruppen auf Vkontakte, Wysokije kryschi Moskwy [kurz WKM, dt. „Die hohen Dächer Moskaus“ – dek]. „Nur, dass Roofer so etwas ganz sicher nicht tun würden. Die Fotos, die wir machen, sind voller positiver Emotionen, sie zeigen dir, wie schön deine Stadt ist. Solche Hetzer suchen sich ihre Opfer bestimmt in anderen Kreisen, in solchen mit ausgesprochen negativer Thematik.“

    Die Romantik ist dahin – alles abgerooft

    Die Roofer kamen als wahrnehmbare soziale Gruppe unter Jugendlichen vor etwa sieben Jahren auf. „Am Anfang waren die Leute fasziniert vom Fotografieren. Überlegten, wie sie noch höher klettern und noch bessere Perspektiven kriegen könnten“, erzählt Pascha, einer der Gründer der Roofing-Gruppe auf VKontakte. „Mittlerweile treibt sie nur noch Gier nach Anerkennung und Selbstdarstellung an. Das ist keine schmale Subkultur mehr. Ich mag die Bewegung nicht mehr besonders – sie ist zu breit geworden“, meint der einstige Roofer Marat Djupri.

     

    „Früher hat sich keiner an den Rand eines Daches gehängt“, stimmt Pascha zu. „Die Leute, die geklettert sind und fotografiert haben, wussten, was sie tun, und haben versucht, möglichst wenig Spuren auf dem Dach zu hinterlassen. Sie haben sich nicht nackt ausgezogen und alles angeschmiert. Roofing ist schon lang nicht mehr das, was es mal war: Es ist ein chaotischer Trend geworden, die Romantik ist dahin – alles abgerooft.“

    Manche haben aus dem Roofing einen Job gemacht: Sie organisieren Touren und romantische Dates auf dem Dach. Dafür, sagt Pascha, haben sie von Anfang an Geld verlangt. 

    Er selbst hat seiner Freundin den Heiratsantrag auf dem Dach gemacht … Stundenlang kann Pascha von den unterschiedlichen Bauweisen der Moskauer Häuser erzählen, von Methoden, reinzukommen, von Vielfalt und  Funktionsweisen der Alarmanlagen, und – was man der Polizei erzählen muss, um nicht bestraft zu werden. Verwaltungs- und Strafrecht kann er auswendig zitieren. 

    Pascha ist ein Roofer, der nicht fotografieren kann und … Höhenangst hat. „Wieso kletterst du dann?“, frage ich. „Das ist eine Technik, seine Gedanken zu ordnen, zu sich zu kommen. Manche Menschen gehen in die Kirche, manche – so wie ich – aufs Dach“, antwortet er.

    Die Stars unter den Roofern: Interviews nur gegen Bezahlung

    Roofing betreiben vor allem Schüler und Studenten, aber es gibt auch ältere unter ihnen. In Gruppen auf VKontakte tauschen sie Fotos und nützliche Informationen aus: Zum Beispiel, wie man ein Dachbodenschloss knackt. Jede der Gruppen hat ihre eigenen Regeln. So darf man bei WKM nicht nach Adressen offener Dächer fragen – dafür kann man sogar einen Monat gesperrt werden. Und man darf sich nicht niemanden aufdrängen, der ein neues Dach klarmachen.

    Es gibt viele Roofing-Gruppen. Die älteste und bekannteste ist WKM, sie hat mehr als 30.000 Mitglieder. In der Gruppe Rufery sind es über 33.000.

    „Sehr oft werden Mitglieder solcher Gruppen von Firmen kontaktiert, die Fotos kaufen wollen. Das ist für Roofer ein perfekter Zuverdienst“, sagt Pascha. 

    https://www.youtube.com/watch?v=6ta-BmmSDbw


    Einer der ersten, die weithin bekannt wurden, war Witali Raskalow. Und zwar, nachdem er zusammen mit ein paar anderen in Moskau auf das Dach des noch im Bau befindlichen Komplexes Moskwa City geklettert war. Er wurde dann im Sicherheitsdienst des Gebäudes angestellt … Jetzt reist er um die Welt, und die Liste der Höhen, die er erklommen hat, lässt jeden Roofer vor Neid erblassen.    

    Fotos von bekannten Roofern werden aktiv von internationalen Medien gekauft. Daily Mirror, Guardian, Independent, Der Spiegel und National Geographic zahlen für gute Aufnahmen bis zu 200 Euro pro Stück. Auch Interviews sind für manche Roofer eine Einnahmequelle. Angela Nikolau etwa schrieb mir: „Interviews nur gegen Bezahlung.“ Was die Reichweite der eigenen Websites betrifft, sind die Roofer nahe an den Medien dran, die erwähnte Angela hat auf Instagram 400.000 Follower. 

    Trainsurfer Jelzin

    Während Roofing eine Spielart der Urban Exploration ist, meint Trainsurfing das Mitfahren mit Transportmitteln, allerdings nicht drinnen, sondern außen dran – meistens an Zügen, manchmal Straßenbahnen oder Autobussen. Wie die Roofer stellen auch die Surfer nach ihren Heldentaten Fotos oder Videos ins die Sozialen Netze. 

    Dass man außen am Zug mitfährt, ist keine neue Erfindung – das gibt es seit Aufkommen des Schienenverkehrs. Bekannt ist auch, dass der spätere Präsident Russlands Boris Jelzin in den 1950er-Jahren vor Antritt seines Studiums das Land ansehen wollte und zwei Monate lang auf Dächern und Trittbrettern von Waggons mitfuhr – beim Kartenspielen hätte er damals fast sein Leben verloren. Er hatte auf einem Zugdach mit Verbrechern gespielt … Heutige Surfer können von so etwas nur träumen. 

    Laut Sergej, einem alten Hasen unter den Surfern, ist Trainsurfing in den Oblasts Moskau und Leningrad  am weitesten entwickelt. Allein Richtung Jaroslawl springen täglich rund 1000 Leute auf. 

    „Auf unserer Strecke fahren die Leute schon seit zehn Jahren so. Die meisten wissen, glaube ich, gar nicht, dass das Trainsurfing ist“, sagt Roman Gromow, der selbst seit zehn Jahren surft. 

    Unerwünschte Nebenwirkung

    Gromow teilt die Surfer in zwei Kategorien: Die einen fahren zweckgebunden (um ans Ziel zu kommen), die anderen, um neue Erfahrungen zu machen. Schüler sind bei ihm eine eigene Kategorie. 

    „Die machen gefährliche Sachen, aus Drang zur Selbstdarstellung. Ich verjage sie immer“, sagt Gromow. „Ich kenne in Mytischtschi ein paar Bullen. Wenn ich Schüler sehe, rufe ich die. Dann holen sie sie runter. Mich lassen sie in Ruhe, mich kennen sie. Erwachsene lassen sie überhaupt meistens in Ruhe. Das ist eben deine Art zu fahren – was geht’s die anderen an? Aber die Schüler, die dauernd verunglücken – das ist eine Nebenwirkung unserer Bewegung und die gehört ausgemerzt.“

    „Als ich die ersten Treffs organisierte, haben wir erstmal alles rausgefunden“, setzt er fort. „Am Anfang haben wir uns einfach hinten angehängt, mit der Zeit dann gelernt, auf dem Dach zu fahren, dann vorne, dann unter dem Waggon, seitlich und so weiter … Dann stellten wir Rekorde auf: Wer sich als erster an den Sapsan hängt, wer in einem Jahr am meisten damit fährt, wer das größte Massensurfing veranstaltet. Das kann man endlos weiterspinnen. Das gibt der Sache den Drive.“

    Den Sapsan zu surfen gilt als besonders schwierig – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0
    Den Sapsan zu surfen gilt als besonders schwierig – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0

    Den Sapsan zu surfen gilt übrigens als am schwierigsten. „Früher dachte ich, den Sapsan zu surfen geht gar nicht, das ist eine eigene Wissenschaft“, sagt Gromow, „und jetzt fahre ich 20 Mal im Jahr so nach Piter. Jede Fahrt schreibe ich in ein Notizbuch – für die Chronik. Ich habe schon 60 Fahrten. Sapsan-Surfen ist total geil.“ 
    „Die Schüler sterben wegen der Medien“, ist Roman überzeugt. „In den Nachrichten zeigen sie ständig Trainsurfing als Extremhobby, und die Schüler denken, das ist gefährlich und deswegen cool. Das stimmt aber nicht. Es ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen.“ 

    Die Leute rundherum sterben, das bin ich schon gewöhnt

    Derzeit sind fast alle Trainsurfer-Gruppen auf VKontakte auf Beschluss der Strafverfolgungsbehörde gesperrt. Allein im Jahr 2015 haben die Staatsanwälte der Moskauer interregionalen Verkehrsstaatsanwaltschaft die Schließung von 101 Gruppen erwirkt. 

    Im Vergleich zu den Roofer-Gruppen sind die Gruppen der Trainsurfer klein: von 69 bis 2500 Mitglieder. In den Gruppen tauscht man Erfahrungen aus und informiert einander über Sicherheitsbestimmungen. „Wir erinnern daran, dass Trainsurfing auf dem Gebiet der Russischen Föderation eine Übertretung gemäß Paragraph 11,17 Nr. 1 des Russischen Ordnungswidrigkeitsgesetzbuchs ist“, heißt es in den Regeln der Jugendbewegung Trainsurfing. „Die Gruppe ist für Leute gedacht, die auf die eine oder andere Art mit Trainsurfing zu tun haben. Kommunikation zum Thema Trainsurfing und der Austausch von Material dazu ist nicht gesetzlich verboten.“

    Hang zum Risiko 

    „Wissen Sie noch, was Sie als Kind im Hof gespielt haben? Für eine normale Entwicklung muss jeder Junge gewisse Risikostufen durchlaufen“, erklärt auf der Website der Russischen Eisenbahnen der Arzt und Psychotherapeut Prof. Dr. Andrej Schiljaew, Lehrstuhlleiter für Klinische, Neuro- und Pathopsychologie am Wygotski-Institut für Psychologie. „Jahrhundertelang sind Jungs auf Bäume geklettert, haben allerlei riskante Spiele gespielt. Die Lust daran, sich an der Grenze des Möglichen zu erfahren, entspricht dem Wesen des heranwachsenden Mannes. Jetzt, wo die Hinterhofkultur praktisch gänzlich aus dem Erziehungssystem verschwunden ist, leben diese Jungen ihren Hang zum Risiko in extremer Form aus.“

    „Es geht nicht um das Risiko“, widerspricht Gromow. „Es ist einfach bequem so [zu fahren, Anm. Ju. R.]. Viele glauben, wir drehen Videos, um zu zeigen, wie cool wir sind, aber das stimmt nicht. Wir filmen, um zu sehen, woran man sich festhalten kann, wie der Zug gebaut ist, also um irgendwelche technischen Aspekte zu besprechen. Und diese Videos tauschen wir dann untereinander aus.“

    Erst am Ende des Interviews erzählte Gromow, dass viele seiner Bekannten verunglückt sind, nicht nur beim Trainsurfing: Einer stürzte tatsächlich vom Sapsan, ein anderer wurde vom Zug überfahren, der nächste hatte beim Fallschirmspringen „Pech“ … „Die Menschen um mich herum sterben, das bin ich schon gewöhnt. Wenn ein Mensch kein Gespür für Gefahr hat, kann es ihn überall erwischen.“

    Strafen verschärfen die Situation nur

    Alle „renommierten“ Roofer und Trainsurfer wissen über Initiativen der Strafverfolgungsbehörde und der Staatsduma Bescheid, aber das lässt sie ziemlich kalt. „Das geht schon seit Jahren so. Irgendwann haben die uns bestimmt vergessen. Letztes Jahr haben sie auch gezetert – und nichts ist passiert. Wenn die Onkels da oben wirklich den Roofern zusetzen wollten, wäre schon vor Jahren ein Gesetz rausgekommen“, meint Pascha. „Dieses Gesetz soll schon seit zehn Jahren kommen“, stimmt ihm Gromow zu. „Durchziehen werden sie das kaum. Vielleicht heben sie die Strafen für Schüler an, und damit hat sich’s.“

    „Das ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen“ – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0
    „Das ist einfach eine Art der Fortbewegung – wie Trampen“ – Foto © ZCP4/Wikimedia Commons unter CC BY-SA 3.0

    Bekämpfen muss man Trainsurfing schon, findet Pascha, aber nicht nur so pro forma, wie das jetzt der Fall sei, sondern radikal: „Sie sperren Gruppen, andere wachsen nach, sie sperren sie wieder – und immer so weiter. Die Strafen verschärfen nur die Situation: Es entstehen Korruption und total durchschaubare Pseudo-Erfolgsberichte. Man sollte die Ursachen rausfinden und sich die vornehmen – aber Druck auf die Folgen dieser Ursache auszuüben ist zwecklos.“      

    „Ich bin einerseits für die Schließung der Gruppen, weil dort viele Schüler sind“, sagt Gromow. „Andererseits bin ich dagegen, weil wir nützliche Informationen für Leute veröffentlichen, für die Trainsurfing ganz neu ist: Sicherheitstechniken, Regeln, Fortschritte. Wir bemühen uns, die Bewegung unter Kontrolle zu halten, damit nicht alles aus dem Ruder läuft und die Schüler nicht allein surfen und dann verunglücken.“ 

    Psychologe Schiljaew meint allerdings, man müsse den Kindern eine Alternative bieten („Ermahnungen führen zu nichts“), jedoch gebe es „derzeit kaum Alternativen“. Sportvereine, ist er überzeugt, könnten schon allein deshalb keine Alternative zu Trainsurfing sein, weil „dort ein anderes Prinzip herrscht – das Konkurrenzprinzip“, es gehe dort nur um das Ergebnis. „Für ein Kind ist das Mitmachen viel wichtiger als das Ergebnis. Ein Kind, das auf einen Zug klettert, denkt nicht daran, wo der Zug hinfährt – es hat einfach Vergnügen an dem Prozess“, erklärt der Arzt. 

    Mitte November gab es in den Nachrichten eine Meldung aus  Finnland: Man hatte sich zur Bekämpfung von Trainsurfing etwas Neues überlegt. Im Warteraum eines Bahnhofes wurde eine Kletterwand für Kinder aufgestellt. 

    Elf Tage später lautete eine Meldung aus Russland dagegen: In Belgorod hatte die Verkehrsstaatsanwaltschaft Studenten von den Nürnberger Prozessen erzählt. Man wollte sie patriotisch bilden. Am Ende der Veranstaltung habe der Assistent des Verkehrsstaatsanwaltes dann auch noch kurz auf die Gefahren von Trainsurfing hingewiesen.

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