Danila Tkachenko, geboren 1989 in Moskau, ist einer der wichtigsten russischen Fotografen seiner Generation. Seine Ausbildung machte er an der renommierten Rodchenko School of Photography and Multimedia in Moskau; schon früh gewann er internationale Preise: Escape heißt sein Projekt, für das er Einsiedler in russischen Wäldern fotografierte und 2014 mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet wurde. Seine neue Serie heißt Родина – Motherland. Sie ist wahrscheinlich seine radikalste. Tkachenko hat dafür alte Holzhäuser in Brand gesteckt. Außenrum Dunkel. Die Serie hat in Russland für viel Aufsehen gesorgt, und nicht nur positive Resonanz gefunden. Denkmalschützer drohen gar, den Fotografen anzuzeigen. Dabei waren die Häuser unbewohnt und verfallen. Der Politologe und Historiker Sergej Medwedew mischt sich auf Facebook in die aufgebrachte Diskussion ein. In Berlin ist Danila Tkachenkos Serie Родина – Motherland noch bis zum 3. Februar 2018 in der Kehrer Galerie zu sehen.
Dieser Tkachenko ist einfach genial. Seit Malewitsch hat niemand mehr so meisterhaft mit dem russischen Raum zu arbeiten vermocht. Tkachenkos Inbrandsetzung eines Dorfes ist ein enorm tiefsitzender Archetypus: von Brandrodung bis zum Brand von Moskau 1812, von Pugatschow bis Chowanski, von Nikolai Polisskis Land Art bis zu den letzten Aktionen Pjotr Pawlenskis – doch der direkte Vergleich ist für mich das Schwarze Quadrat.
Es genügt nicht, die Leere zu erkennen, man muss sie markieren, benennen – und genau das tut Tkachenko. Es ist eine sehr drastische Aktion (und juristisch offenbar nicht lupenrein), aber sie ist nicht schmerzhafter als der langsame Tod der Dörfer, die es auf der Landkarte gar nicht mehr gibt.
Der Sterbeprozess dauert bereits ein halbes Jahrhundert, und irgendjemand musste ihn dokumentieren – nicht als ewige Klage der Jaroslawna, von der Dorfprosa der 1960er bis zu den heutigen Rodisten und Ökodörfern, sondern in Form einer künstlerischen Geste: Das Tote tot nennen und den Teufelskreis der Nostalgie durchbrechen. Bei uns weinen sie gern aus dem Autofenster raus der russischen Welt nach (ich nehme mich da nicht aus), betrauern das verlorene Kitesh, ach was, Atlantis gar, und leben im Zustand einer unaufhörlichen Apokalypse. Tkachenko schlägt hier einen klaren postapokalyptischen Ton an: Genug geweint, wir müssen weiterleben, wie unsere Vorfahren, die Wälder niederbrannten, Steppen und Dörfer, Einsiedeleien (manchmal sich selbst gleich mit) und Gutshöfe – und weiterzogen auf das nächste Stück Land.
Und nicht zufällig passiert das alles im Jahr des zerknitterten 100-jährigen Revolutionsjubiläums. Mitten im Zerfall des Imperiums der Kultur 2, den Auflösungserscheinungen des späten Putinismus kommt Tkachenko (wie vor ihm Pawlenski) mit der revolutionären Botschaft der Kultur 1, der Kultur des Feuers und der Selbstzerstörung, vor der die Gesellschaft instinktiv Angst hat. Bemerkenswert, wie Denkmalschützer aus Krochino die niedergebrannten Häuser kurzerhand zum „Kulturerbe“ erklärten – genauso wie die Tür der Lubjanka zum Kulturerbe erklärt wurde, weil dort Babel und Meyerhold gefoltert wurden: Anscheinend werden bei uns die Dinge genau dann zum Kulturerbe, wenn man sie anzündet.
100 Jahre Revolution: In Deutschland widmen sich dieser Tage und Wochen Zeitungen, Radio, TV und Kulturinstitute dem Jahrestag – das Jubiläum der Oktoberrevolution findet einen adäquaten Programm-Platz. Und in Russland? Wird die Oktoberrevolution behandelt wie ein „Stiefkind“.
Auf Republiczeigt Sergej Schelin den komplexen gesellschaftlichen Hintergrund dieser Leerstelle auf.
Der Oktober dieses Jahres wird uns nicht als kollektives Besinnen auf die große Revolution in Erinnerung bleiben, die vor 100 Jahren die Geschichte des Landes umgewälzt hat. Einverstanden? In Erinnerung bleiben wird der Skandal um das Melodrama Matilda. Der kostümierte Schwank aus dem Leben des Thronfolgers und der Ballerina interessiert Russland im 21. Jahrhundert offenbar weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren.
Die Revolution wird, einer intellektuellen Pflicht Gehorsam leistend, von der Intelligenz diskutiert, obwohl die sich eigentlich mehr um das Heute sorgt. Die russisch-orthodoxe Kirche verflucht die Revolution, denn nicht erst der Mord, sondern schon die Entthronung des heiliggesprochenen Zaren war ein Sakrileg. Die Staatsführung gemahnt unterschwellig boshaft, dass das Jubiläum ein hervorragender Anlass zur nationalen Versöhnung sei – und fügt auf jeden Fall hinzu, dass einem nicht sanktionierten Machtwechsel stets eine Verschwörung äußerer und innerer Feinde vorausgeht.
Ein Kostümschwank interessiert Russland weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren
Doch in den Köpfen der normalen Menschen hat die Revolution von 1917 keinen Platz. Und das liegt nicht nur daran, dass sie lang her ist und keine Augenzeugen mehr am Leben sind.
Parteien, die auf jene zurückgehen, die einander 1917 oder im Vorfeld bekämpften, gibt es bei uns nicht. Lebendige Parteien gibt es bei uns heute eigentlich sowieso nicht. Aber auch in den 1990er Jahren, als es sie gab – war etwa damals auch nur eine Partei von Konstitutionellen Demokraten wie Miljukow und Nabokow inspiriert, oder meinetwegen von Sozialrevolutionären wie Tschernow oder Spiridonowa? Die postsowjetischen Politiker hatten mit den präsowjetischen absolut nichts zu tun. Dieses Erbe wollte keiner, nicht mal geschenkt. Und das war kein Zufall.
Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren?
Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren? Ich vermute, wenige würden diese Frage bejahen. Dabei war die Partei der Sozialrevolutionäre 1917 die stimmenstärkste Partei. Mit ihrer legendären Vergangenheit in der Narodnaja Wolja, mit einer Million Aktivisten (ein Vielfaches der Bolschewiki) und mit massenhafter Unterstützung der bäuerlichen Wählerschaft erhielten die Sozialrevolutionäre die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung und hätten rein rechtlich das Land regieren müssen. Doch die Verfassunggebende Versammlung wurde zunächst von den Bolschewiki gesprengt, ihre Überreste ein Jahr später von General Koltschak.
Die ersten zwei Jahrzehnte wurden die Sozialrevolutionäre von der Sowjetmacht systematisch verfolgt – zuerst die im Untergrund, dann die, die sich aus der Politik zurückgezogen hatten, und schließlich die, die sich zu den Bolschewiki gesellt hatten.
Ebenso gründlich wurden ehemalige Weiße, ehemalige vorrevolutionäre und revolutionäre Bürgeraktivisten jeglicher nicht-bolschewistischer Couleur und überhaupt alle beseitigt, die nicht beweisen konnten, dass sie mit Leib und Seele auf die Seite der Sieger gewechselt waren.
Der Terror tötete. In der ihn begleitenden Revolution qua Lebenslauf der 1920er und 1930er Jahre wurden massenhaft Biografien umgeschrieben. Eltern verbargen ihre Vergangenheit vor den eigenen Kindern, lebendiges Familiengedenken, das die Menschen mit der Geschichte viel stärker verbindet als jedes Lehrbuch, wurde fast gänzlich ausgelöscht.
Da ist schon lange niemand mehr, mit dem wir uns versöhnen könnten
Seit Ende der 1980er Jahre bis zum heutigen Tag erklären sich findige Leute gern zu Adeligen, die kühnsten gar zu titelgeschmückten Aristokraten. Tatsächlich besteht das heutige Russland fast zu hundert Prozent aus Nachfahren von Roten und solchen, denen es gelang, mit ihnen zu verschmelzen. Echte Nachfahren von Weißen dagegen oder einfach Antibolschewiki, die sich die Erinnerung an ihr Weißsein und den Antibolschewismus über Generationen hinweg bewahrt haben, gibt es sehr wenige.
Die „Versöhnung“, von dem die staatlichen Stimmen sprechen, ist eine fade und geistlose Show, die von zwei Mannschaften aus Clowns derselben Herkunft gespielt wird – die eine trägt rote, die andere weiße Kostüme. Natürlich gewinnt da die entzückende Matilda den Kampf ums Publikum. Die ist wenigstens unterhaltsam.
Zum echten Versöhnen gibt es also schon lange niemanden mehr. Aber das ist nur einer der Gründe, warum das Jahr 1917 dem Russland des 21. Jahrhunderts so unverständlich und so egal ist.
Geschätzt werden bei uns vor allem siegreiche Regime und die Bedrohung durch Feinde von außen
Auf der Champs-Élysées findet am Morgen des 14. Juli immer eine Parade statt, danach löst ein Vergnügen das andere ab, und am Abend werden die vom Feiern erschöpften Besucher mit einem Feuerwerk beglückt. Der Tag des Sturms auf die Bastille wurde erst Ende der 1870er Jahre, 90 Jahre nach dem historischen Ereignis, endgültig zum großen Feiertag gemacht – als die Dritte Republik ausgerufen wurde und sich ihres Ursprungs besann, wobei sie vieles darin korrigierte und umschrieb.
Der Kult der Französischen Revolution lebt, weil man darin zu Recht ein Ereignis sieht, das die Welt verändert hat, und zudem einen überwältigenden Ausdruck des französischen Nationalbewusstseins. Den halbverrückten Text der Marseillaise muss man ja nicht unbedingt ergründen. Das Wichtige ist, sie gemeinsam anzustimmen.
In ähnlichem Stil unsere Revolution und die daraus erwachsene frühbolschewistische Ordnung darzustellen, das ist weitaus schwieriger. Zuviel Vernichtung und zweifelhafte Siege über die Mitbürger hat es von 1917 bis Anfang der 1920er Jahre gegeben.
Ganz zu schweigen davon, dass fast alle bolschewistischen Helden, Kommandanten und Heerführer aus der Geschichte gelöscht wurden, zuerst als Trotzkisten, dann als Volksfeinde aller Art. Die nachträgliche Rehabilitation hat sie nicht zurück in Schlüsselpositionen gebracht.
Was die Weißen angeht, waren Denikin, Koltschak und Wrangel von Anfang an nicht beliebt beim Volk und werden das auch nie sein. Das sind Vertreter fremder Klassen, die ihren Krieg verloren haben, dessen Ziele die einfachen Leute gar nicht verstanden haben.
Die Revolution von 1917 ist zu unserem historischen Stiefkind geworden
Eine kohärente Vorstellung von den Geschehnissen 1917 hat der heutige Bürger Russlands nicht, und er hat auch kein Verlangen, sich eine zuzulegen. Das war sieben Jahrzehnte lang anders. Ein Volksfest zum 7. November im französischen Stil – nicht nur als Tag der Grundlegung von Regime und Staat, sondern auch als Ereignis, das die Welt veränderte – fand bis zum Jahr 1990 statt. Damals marschierte die letzte Revolutionsparade über den Roten Platz. Das Tempo, mit dem die Menschen diesen Feiertag vergaßen, sobald er kein offizieller mehr war, zeugt davon, dass er in ihren Köpfen längst nicht mehr verankert war. Der Zauber der Russischen Revolution entpuppte sich als bei weitem nicht so stabil wie jener der Französischen, obwohl eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht zu leugnen ist.
Noch in den 1990er Jahren wurde zunehmend der 9. Mai als Tag der Staatsgründung begriffen, und dementsprechend Stalin als Gründervater. Das siegreiche Jahr 1945 wird in der Ära Putin zudem präsentiert als fortwährender Triumph des gegenwärtigen Regimes, das sich als Sieger eines Krieges darstellt, den es ja gar nicht gewonnen hat.
Doch die grandiose Revolution, die von den ersten Monaten 1917 bis zum Ende des Bürgerkriegs dauerte, ist quasi aus dem willkommenen Lauf der Dinge gestrichen und zu unserem historischen Stiefkind geworden.
Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand
Die Schwierigkeit besteht allein darin, dass gigantische Massen derer, die 1917 und in den Folgejahren sozial begünstigt waren, in den 1930er Jahren Opfer des Regimes wurden. Bauern, die sich im Sommer 1917 die Ländereien der Gutsherren teilen durften, wurden kollektiviert, entkulakisiert und tödlichen Hungersnöten ausgesetzt. Die revolutionäre Beamtenschaft, die hunderttausende frei gewordene Führungspositionen eingenommen hatte, wurde niedergemetzelt. In Beschuss geriet damals auch eine beachtliche Menge an Fachleuten, die ihre Spezialisierung dem Zugang zu Bildung verdankte, den die Revolution für die Massen ermöglicht hatte.
Gegen Ende der Sowjetzeit gab es bei uns in verschiedenen Schichten relativ viele Menschen, die mit ihrer Lebenssituation durchaus zufrieden waren. Doch führten sie ihr Wohlergehen keineswegs auf die Taten ihrer Vorfahren im Revolutionsjahr 1917 zurück.
Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand. Von der gibt es wenige, aber es werden mehr. Und weil unser aktuelles Regime absolut alle seine ideologischen Ressourcen in die Konterrevolution steckt, wird die Zahl der 1917-Sympathisanten nicht nur von Trotzki-Sympathisanten aufgestockt werden, sondern noch von vielen anderen, die gegen dieses Regime sind.
Eine längst vergangene, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern
Eine längst vergangene, man sollte meinen, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern. Das haben wir kürzlich in den USA beim Konflikt um die Denkmäler für Südstaaten-Generäle beobachtet. Derzeit befindet sich die Russische Revolution sozusagen im Alter ihrer geringsten ideellen Attraktivität. Doch nach historisch kurzer Zeit kann sie wieder Teil des nationalen Mythos werden.
Wo die Revolution nun Jubiläum hat, sollten wir über ihre Lehren sprechen. Das ist so üblich, auch wenn man aus der Geschichte bekanntlich keine Lehren ziehen kann. Trotzdem ist es ein netter Brauch.
Man kann zum Beispiel daran erinnern, dass der Zarismus als Regime verurteilt war, und es ist klar, warum. In seinem letzten Jahrzehnt hatte er keine Chance mehr. An einer linken Revolution führte in Russland kein Weg mehr vorbei. Aber sie hätte nicht unbedingt so sein müssen, wie sie war. Das bei allen revolutionären Umschwüngen siegende Prinzip The Winner takes it all führte innerhalb weniger Jahre, schon gegen Ende 1918, zu einer totalitären Diktatur. Und der rückhaltlose Glaube der Sieger, dass die Geschichte auf ihrer Seite steht und bleiben würde, lockte sie in die historische Falle.
In der Geschichte Russlands, die jetzt neu geschrieben und immer wieder umgeschrieben wird, gesteht man diesen Ereignissen einfach keinen Platz zu. In unserem heutigen Klima ist das logisch und nachvollziehbar. Morgen oder übermorgen wird man sich sehr darüber wundern.
Er habe ein Bubigesicht wie Justin Bieber und eine Schwermut wie Kurt Cobain – das sagen Kritiker über den Rapper Pharaoh. Der tut alles, was im Grunde verboten ist: kifft, säuft und schimpft Mat gegen jedes System. So viel Anarchie kommt an bei der Generation Z, und dank Youtube ist Pharaoh ein Star, dessen Musikclips Millionen sehen.
Julia Gussarowa von Snob traf den Jungstar, der 1996 geboren ist und mit bürgerlichem Namen Gleb heißt, im Moskauer Nobel-Restaurant Turandot – beim Modeshooting für das Magazin.
Pharaohs Auftauchen in der Hip-Hop-Szene war so seltsam, dass niemand recht wusste, was man von ihm halten sollte. Teenager ahmten seinen Kleidungsstil nach, junge Studenten erstellten Listen amerikanischer Rapper, von denen Gleb abkupfert (als würden diese Rapper nicht voneinander abkupfern), und unser damaliger Kulturredakteur wollte googeln, was der Satz bedeutet: „Ja podshigaju dshoint, on osweschtschajet put v Konochu“ [dt. „Ich zünde einen Joint an, er leuchtet den Weg nach Konoha“].
Es war sinnlos, ihm zu erklären, dass die Musikstile Trillwave und Cloud Rap in ihren Liedtexten weder Logik noch Narrativ verlangen. Statt einer Botschaft ein Sammelsurium an Bildern, die Stimmung der Hörenden entsteht über Imaginationen, die vor dem inneren Auge entstehen. So ungefähr werden die Kulturwissenschaftler in 20 Jahren Trillwave beschreiben.
PR-Leute hatte er nie, auch jetzt nicht
Vor zwei Jahren habe ich mich zum ersten Mal mit Gleb unterhalten. Ich hatte den Auftrag, ein Wörterbuch des russischen Trillwave zu erstellen. Aufgrund der oben genannten Besonderheiten des Genres hätte ein solches Verzeichnis überhaupt keinen Sinn ergeben, daher plauderten wir einfach an die zwei Stunden darüber, was er mag, was er nicht mag, was er sich anguckt und was er liest.
Kaum hatten wir uns verabschiedet, begann ich, seine Biografie weiterzuspinnen: Bald wird er zwanzig, und ein anderer Typ wird ihn ausbooten, einer, der härter ist, authentischer, absurder, und Fara, wie ihn seine Fans nennen, wird in der Masse untergehen – ohne systematische PR ist es heute unmöglich, die Aufmerksamkeit der Leute langfristig zu halten. Und PR-Leute hatte er nie, auch jetzt nicht – wozu sollte ein Internet-Star wie er das auch brauchen.
Inzwischen sind noch zwei Dutzend junger Leute aufgetaucht, die mit Auto-Tune auf Band krächzen, was sie sich wünschen: kiffen oder verrecken. Und Beatmaker (Komponisten für Hip-Hop-Artists) sind aus dem Boden geschossen wie Hochzeitsfotografen. Und zu Glebs Millionen Views auf YouTube sind noch ein paar Millionen mehr dazugekommen, der Song Pjat minut nasad [dt. Vor fünf Minuten], für dessen Ruhm zur Hälfte der aus Ufa stammende Boulevard Depo verantwortlich ist, wurde auf Firmenfeiern von Kreativagenturen zum Hit. Den Text dieses Erfolgshits können sogar glatzköpfige Musikkritiker mitsingen, die seelisch und geistig in den 1990ern steckengeblieben sind.
„Was finden die alle an ihm“ fragt keiner mehr
Die Frage „Was finden die alle an ihm?“ stellt keiner mehr, doch der Prozess der Akzeptanz ist noch im Gang und nimmt bisweilen kuriose Formen an: In einem Käseblatt wurde der Song Diko, naprimer [dt. Wild, oder so] als Sommerhit bezeichnet. Obwohl ein Sommerhit ein ganz bestimmtes, bescheuertes Genre des frühen Glamours ist. Solche Lieder werden in speziellen Fabriken hergestellt, in der namenlose Arbeiter mechanisch „Blick“ auf „Glück“ reimen, und die Statisten im Clip heiße Klubnächte auf Ibiza mimen. Lustigerweise trägt Pharaoh im Video zu dem angeblichen Sommerhit einen schweren Pelzmantel, der wie ein ungehobelter Sarg wirkt, geht durch einen Wald, in dem noch der letzte Schnee liegt, und rappt einen Text darüber, dass wir irgendwann sterben werden.
Der Bühnenbildner baut im Palais-Restaurant Turandot-Barrikaden aus Stühlen, der Pelzsarg aus dem letzten Video baumelt an einem Kleiderhaken in einer improvisierten Künstlergarderobe. Auf meine sarkastische Bemerkung, er und seine Jungs hätten sich für das Video zurechtgemacht wie dunkelhäutige Zuhälter, reagiert Gleb gelassen: „Ich habe mir ausgemalt, wie wir in der Zeit vor der Revolution gefeiert hätten. Ich denke manchmal darüber nach, wie wir leben würden, wenn die Kultur und Ästhetik des zaristischen Russland nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki nicht erstickt worden wären.“
Die neuen Musiker, nicht nur Rapper, besingen ein Bild der postsowjetischen Heimat, das aus Landschaften mit Plattenbauten, rohem Kapitalismus, Gefängniskultur und Gopniki-Elementen modelliert ist. Eine Liebe zu Russland, die stellenweise an das Stockholm-Syndrom erinnert, ist stark in Mode. „Dieser Hang zum Post-Sowok, der jetzt zum ästhetischen Mainstream geworden ist, ist eine sehr bequeme Pose für mediale Persönlichkeiten. Eine Geschmacklosigkeit und Vergewaltigung des Gehirns, das wird bald vorbei sein. Das ist nichts für die Ewigkeit“, sagt Gleb, dessen Blick über die bronzenen Kandelaber irrt. Er ist fasziniert von der rissigen imperialen Vergoldung und dem französierten Asien. Das Logo seiner Band Dead Dynasty wurde geändert – jetzt ist es ein Skelett eines doppelköpfigen Adlers. Den Bandnamen selbst assoziiert man zufällig mit der Zarenfamilie. Oder auch gar nicht so zufällig.
Rapper als Topmodels des Streetstyle
Er wird abgeholt, um für ein weiteres Video gestylt zu werden. Heutzutage kleiden Hochglanzmagazine niemanden so leidenschaftlich ein wie Rapper. Das Wachstum auf dem Markt für Männermode in den letzten zwei Jahren ist nicht zuletzt ihnen zu verdanken. Rapper sind die Hauptfiguren des Streetstyles, gern gesehene Gäste bei Modenschauen, und sie haben auf Instagram mehr Follower als die Redakteure von Modezeitschriften.
Auch Pharaoh wird von Redakteuren umschwärmt. Tatler fotografierte ihn mit seiner Geliebten, dem Model Alessja Kafelnikowa im Stil rich & beautiful. Viele Bürschchen aus reichen Familien haben sich ihre Mäuler zerfetzt. „In unbekanntem Gewässer unterwegs zu sein, war stressig, aber spannend“, erinnert sich Gleb. „Die Tür zur Glamour-Welt war einen Spalt breit aufgegangen, und ich dachte: Das kann interessant werden. Mit den Leuten in Kontakt zu sein, war dann ziemlich unangenehm, weil die meisten mich von oben herab behandelten. Das hat mich gewurmt, aber auch motiviert, mehr zu arbeiten.“
Er hätte das Zeug dazu, ein Influencer auf Instagram zu werden, wie viele internationale Rapper – doch er kann mit diesem ganzen Schnickschnack überhaupt nichts anfangen. Sobald der Fotograf das Schlusszeichen gibt, schlüpft er blitzartig in seine ausgelatschten Chucks.
„Von mir kommt bald was Neues raus“, sagt er und verwuschelt sich energisch die gestylten Haare. „Nur weiß ich nicht recht, wie ich das am besten nennen soll. Ich hab’s! Schreib, das wird eine Art Glam-Rock des Hip-Hop.“
Übersetzung (gekürzt): Ruth Altenhofer Veröffentlicht am 26.09.2017
Da kopulieren ein Stalin-Klon und Chruschtschow, ein Bojar wird hingerichtet, es folgt die Gruppenvergewaltigung seiner Witwe, auch die Sprache ist voller Gewalt und Sex: Vladimir Sorokin verstößt in seinen Werken gezielt gegen Tabus und gilt als enfant terrible der russischen Literatur. Seine umstrittenen Werke sind zu lesen als Parabeln auf das post-sowjetische Russland und seine imperialen Vorläufer. Während die kremlnahe JugendorganisationIduschtschije Wmeste 2002 Sorokins Werke öffentlichkeitswirksam in einer Toilettenattrappe versenkte, feiern Sorokins Anhänger seine Bücher als geradezu prophetische Meisterwerke.
Seine Werke erschienen erst nach der Perestroika auch in Russland, heute lebt Sorokin in der Nähe von Moskau und in Berlin. Zu seinem 60. Geburtstag im Jahr 2015 hatte ihn Andrej Archangelski, bekannter Feuilletonist und Kultur-Redakteur bei Kommersant-Ogonjok, getroffen. Im Interview nimmt Sorokin die zeitgenössische russische Literatur, Politik und Gesellschaft auseinander. Es bleibt nicht viel übrig. Zu Sorokins 62. Geburtstag im August 2017 veröffentlichte Ogonjok das Interview erneut.
Kommersant-Ogonjok: Wenn die Leute hören, wie alt der Schriftsteller Vladimir Sorokin ist, ist die Verwunderung groß: „Wie ist das möglich?!“ Wundern Sie sich auch selbst?
Vladimir Sorokin: Nein. Ganz ehrlich, auch wenn das ein wenig anstößig klingt, ich bin innerlich in meiner Studentenzeit steckengeblieben. Hoffnungslos. Im Inneren bin ich ein ewiger Student. Da kann ich gar nichts gegen tun. Ich bin einfach nie erwachsen geworden.
Sie gelten noch immer, sagen wir mal, schon die letzten 30 Jahre als das wichtigste literarische Ereignis Russlands. Ich möchte Ihnen damit jetzt gar nicht unbedingt ein Kompliment machen – das ist ja eher ein Problem. Sie sind nicht mal ein Produkt der 1990er, sondern der unzensierten Kunst der Sowjetunion. Das heißt, seitdem gab es in der russischen Literatur nichts grundsätzlich Neues. Da stimmt was nicht.
Andrej, kein Kommentar … Reden wir lieber über andere Autoren. Ich frage meine Bekannten in verschiedenen europäischen Ländern: Was lest ihr von der zeitgenössischen russischen Literatur? Diese Frage habe ich auch einem alten Freund gestellt, dem deutschen Slawisten Igor Smirnow – ein knallharter Fachmann. Er sagte lakonisch: „Ich kann die postsowjetische Prosa nicht lesen. Sie ist einfallslos.“ Dem kann ich mich nur anschließen. Denn die postsowjetische Prosa ist gleichsam aus den Scherben vorheriger Errungenschaften zusammengesetzt. Und das ist ein Problem.
Ich kann die postsowjetische Prosa nicht lesen. Sie ist einfallslos
Mir geht es genauso, ich schlage einen neuen Roman auf, lese fünf Seiten und lege ihn weg. Völlig überraschungsfrei. Gibt es also keine Schriftsteller? Aber die Leute schreiben doch, veröffentlichen, werden gelesen.
Ich habe dem legendären Verleger Sascha Iwanow, der den Finger immer am literarischen Puls der Zeit hat, dieselbe Frage gestellt: „Wo sind die neuen Sterne am Literaturhimmel?“ Er sagt: „Weißt du, Volodja, da geht es nicht um einzelne Sterne, sondern um den Sternenhimmel.“
Er liegt damit tatsächlich absolut richtig: Von der Literatur erwartet niemand mehr existenzielle Offenbarungen, Erschütterungen. Man erwartet von ihr entweder Behaglichkeit oder euphorisches Vergessen. Was im Prinzip ein und dasselbe ist.
Wollen Sie damit sagen, dass die Literatur am Ende ist? … Dass es keine objektiven Umstände für ihr Entstehen gibt? Ist es das Ende der Literatur an sich? Oder ist gerade einfach nicht die Zeit dafür? …
Hm, was das Ende angeht, weiß ich nicht – solange es noch einen einzigen Leser gibt, ist die Literatur nicht tot. Man möchte glauben, dass das nur eine Phase ist … Aber was danach kommt, weiß niemand. Weil die Welt der digitalen und visuellen Technologien den Menschen immer wieder auf seine Robustheit hin testet. Der Mensch ist so ein formbares Tier – der zerbricht nicht, sondern verbiegt sich. Bis er schließlich in diesem gekrümmten Zustand sich selbst zuwiderhandeln kann. Wenn das Visuelle dann alle wieder langweilt, dann ist vielleicht wieder Platz für wortgebundene Phantasie. Wenn der Mensch zu sich zurückkehren will. Oder klingt das utopisch?
Was vor 50 oder 40 Jahren noch Merkmal einer bestimmten literarischen Strömung war, des Konzeptualismus, ist jetzt zur Regel geworden. Nun hat sich aber das System der schriftstellerischen Tätigkeit insgesamt sehr wohl verändert. Der Autor setzt sich wieder unter’n Apfelbaum und denkt, jetzt schreib ich wie Turgenjew. Oder wie Schukschin.
Da haben Sie recht. Aber was meiner Ansicht nach den meisten zeitgenössischen Autoren fehlt, sind eigene Welten. Sie benutzen quasi fremde Möbel, wollen keine eigenen erfinden, drechseln, zusammenbauen. Du schlägst ein Buch von Prilepin auf und merkst sofort, diese Eichenholzstühle kennst du schon aus der sowjetischen Prosa, nur hat er sie so modisch glänzend lackiert und bunt gepolstert. Aber wir suchen in der Literatur doch das Einmalige. Platonow, Charms, Bulgakow, Schalamow, Sascha Sokolow, Mamlejew, die waren einmalig.
Zeitgenössische Autoren benutzen fremde Möbel, wollen keine eigenen erfinden, drechseln, zusammenbauen
Obwohl es Leute gibt, die gern immer die gleichen Romane lesen. Aber das ist schon eine Art literarisches Fitnesstraining. Jedes Jahr lässt der Autor einen erwarteten und vorhersagbaren Roman vom Fließband plumpsen. Das Fließband der Pop-Literatur läuft ohne Unterlass. Nein, ich bin bei der Literatur für die Einzelanfertigung.
Auch wenn das im Hinblick auf Ihre Prosa absurd klingt, aber früher hat Sie doch eigentlich der Mensch interessiert. Alles drehte sich um das Individuum, auch wenn es ein grauenhaftes Ungeheuer war. Sie haben versucht, damit zu arbeiten. Und dann haben Sie den Menschen irgendwie fallengelassen. Ich würde sagen, Sie sind enttäuscht vom Individuum.
Ich kann dazu wenig sagen. Ich verlasse mich schon mein Leben lang auf meine Intuition und wenn ich arbeite, dann funktioniere ich im Grunde wie ein Medium. Deswegen analysiere ich nie während der Arbeit. Ich löse einfach gewisse Konstruktionsaufgaben. Das ist ein komplexer Prozess, den man schwer erklären, formulieren kann.
Aber wenn Sie schon so eine Frage stellen, (lacht) so eine anthropologische! Ja, ich würde sagen, dass ich vom postsowjetischen Menschen mehr enttäuscht bin als vom sowjetischen. Weil im sowjetischen Menschen eine gewisse Hoffnung lag – dass er früher oder später Sowjetisches, Allzusowjetisches in sich überwinden kann, dass das zusammen mit der Struktur verschwindet.
Der postsowjetische Mensch ist nicht fähig, um sich herum eine normale Gesellschaft aufzubauen. Er erzeugt absurdes Theater
Jetzt ist klar geworden, dass es im 20. Jahrhundert zu derartigen Mutationen kam, begleitet vom Massenterror, dass das genetische Opfer dieser furchtbaren Selektion eigentlich darin besteht, dass der postsowjetische Mensch nicht nur nicht gewillt ist, den sowjetischen Eiter aus sich herauszudrücken, sondern ihn, im Gegenteil, auch noch als frisches Blut wahrnimmt. Aber mit solchem Blut wird er zum Zombie. Er ist nicht fähig, um sich herum eine normale Gesellschaft aufzubauen. Er erzeugt absurdes Theater.
Es ist mittlerweile banal zu sagen, dass wir seit ein paar Jahren in der von Ihnen im Roman Telluriaerdachten Welt leben: Wir haben von protosowjetischen, irgendwie rekonstruierten „Volksrepubliken“ gelesen, in denen Touristen Extremurlaub suchen – ein Wochenendtrip in die alte UdSSR. Das las sich alles als Utopie – genau bis 2014. Und dann wurde das, genauso wie alles andere, was Sie erfunden, was Sie, wie sich herausstellte vorhergesehen haben, zum Gemeinplatz. Macht Ihnen das nicht Angst, dass Sie das alles erfunden haben?
Diese letzte Frage, Andrej, ist mittlerweile auch schon banal, sorry. Nein, Angst macht mir das nicht … Das Leben ist härter als die Literatur. Ja, tellurische Züge sind in den aktuellen Entwicklungen bereits offensichtlich.
Mir kommt es vor, als führen wir mit einem riesigen Schiff, dessen Deck ins Wanken kommt
Mir kommt es vor, als führen wir mit einem riesigen Schiff, dessen Deck ins Wanken kommt und in Schieflage gerät. Und damit meine ich nicht nur das Schiff Russland. Auf der Europa fangen die Möbel genauso an zu rutschen, auch wenn die Leute hübsch an Deck flanieren, tanzen und an der Bar sitzen.
Alle Ihre Bücher der 1980er und 1990er handeln, wenn ich das richtig verstehe, von der Grausamkeit, die jeder von uns in sich trägt. Die Lektüre Ihrer Werke hat dann den richtigen Effekt, wenn man beginnt, vor sich selbst auf der Hut zu sein. In jedem von uns schläft die Hölle, die muss man niederhalten. Seit 2014 ist so ein gesellschaftliches Phänomen aufgetaucht, das alles verschlungen hat – eine völlig unmotivierte Grausamkeit ist zum Vorschein gekommen. Die nicht einmal physisch ist, sondern moralisch.
Sie ist ontologisch. Die russische Grausamkeit hat eine lange Geschichte, über viele Jahrhunderte. Die aktuelle, postsowjetische, ist eine Variation auf dasselbe Thema. Das spüren wir alle auf energetischer Ebene, da geht es gar nicht mal um Fernsehen, Politik oder Kriegshandlungen. Sondern darum, wie sich die Menschen auf der Straße verhalten, in der Metro, am Steuer … Und ich finde, das ist auch ein Symptom dessen, dass die Gesellschaft nicht einfach die Stabilität verliert, sondern den Glauben an die Zukunft.
Es herrscht ein Gefühl, dass da etwas auf uns zu kommt. Das habe nicht nur ich
Das hat nichts zu tun mit der neuen Reichsidee von wegen „wir sind die Besten“, wir sind von Feinden umzingelt, das geht tiefer. Das hängt eben mit der Schieflage des Decks zusammen. Wenn ein Erdbeben losgeht, versetzt das alle Tiere in Angst und Schrecken. Die einen jaulen verzweifelt, die anderen schnappen zu. Insofern … herrscht ein Gefühl, dass da etwas auf uns zu kommt. Das habe nicht nur ich.
In Telluria gibt es viele Typen von Zukunft, aber es gibt keinen, der uns die Realität beschert hätte und den ich als Katastrophentyp bezeichnen würde: Ein Mensch, der der ganzen Welt den Zusammenbruch wünscht – als Strafe für irgendwelche Sünden. Woher kommt eine solche Reaktion nach Jahren voller neuer, nie dagewesener Möglichkeiten – in denen sich der Bewohner Russlands so viel leisten konnte wie nie zuvor?
Nochmal, die Menschen haben nicht das Gefühl, dass uns glückliche Zeiten bevorstehen. Man muss schon ein Idiot sein, um den Ernst der Lage nicht zu erkennen, in die Russland nach der Krim geraten ist. Von jungen Leuten höre ich ständig: „Ich habe hier keine Zukunft.“ Gespräche über Emigration sind zur Normalität geworden. Die Gesellschaft zittert in unheilvoller Vorahnung.
Man muss schon ein Idiot sein, um den Ernst der Lage nicht zu erkennen, in die Russland nach der Krim geraten ist
Wofür kann sich der postsowjetische Mensch verachten? Dafür, dass er es nicht geschafft hat, frei zu werden, das Prinzip der Staatsmacht zu verändern. Die Staatsmacht war schon immer ein Vampir, und sie ist es auch geblieben.
Reden wir darüber, was diesem Bösen entgegentreten soll. Es hat sich gezeigt, dass wir überhaupt keine Friedensethik haben, keine friedliche Tradition, kein Konzept des friedlichen Zusammenlebens. Nach all den Sowjet-Plakaten mit Tauben und durchgestrichenen Atombomben drauf hat sich herausgestellt, dass dieses Friedensprogramm komplett hohl und inhaltsleer war.
So wie es auch keine Freundschaft gab, im Grunde. Ich meine dieses sowjetische Seit an Seit … Das war ein grandioser, von der Staatsmacht geförderter Selbstbetrug. In der Kommunalka ist die Freundschaft immer eine erzwungene. Ich glaube, wir haben noch immer eine der am meisten atomisierten und isolierten Gesellschaften. Im Grunde, Andrej, je weiter ich mich zeitlich von der Sowjetzeit entferne, desto hässlicher und fürchterlicher erscheint sie mir. Das war wirklich ein Reich des Bösen. Was war das für ein Weltfrieden, wenn der Krieg der Staatsmacht gegen das Volk unaufhörlich im Gang war – verstecke sich wer kann.
Die sowjetische Vergangenheit wurde nicht begraben, und so ist sie in mutierter und gleichzeitig halbverwester Form wieder auferstanden. Und wir müssen jetzt mit diesem Monster leben
Viele Dinge, die heute passieren, sind nicht verarbeitete Komplexe aus der sowjetischen Vergangenheit, und da schlage ich wieder in meine Lieblingskerbe: Die sowjetische Vergangenheit wurde nicht zur rechten Zeit begraben, also in den 1990er Jahren. Sie wurde nicht begraben, und so ist sie in mutierter und gleichzeitig halbverwester Form wieder auferstanden. Und wir müssen jetzt mit diesem Monster leben. Das diejenigen sehr geschickt erweckt haben, die ganz genau wussten, wie es aussah, wo seine Nervenzentren liegen. Dort haben sie die jeweiligen Nadeln gesetzt. So ist das mit dem vaterländischen Voodoo. Ich fürchte, die Folgen dieses Experiments werden katastrophal sein.
Und diese neue Sprache des Hasses – erforschen Sie die? Das ist doch Ihr Element.
Was die Sprache des Hasses angeht, war unser Land schon immer reich. Es genügte schon, in der Stoßzeit im sowjetischen Bus zu fahren. Eine Fundgrube! Da braucht es eigentlich keine besondere Aufmerksamkeit, ich habe feine Ohren. Doch der heutige, neoimperiale, sozusagen offizielle Hass … in dieser Sprache liegt trotz all ihrer Grimmigkeit und Vulgarität etwas Hysterisches, eine gewisse Schwachheit. Man kriegt so ein Gefühl, die Leute würden kapieren, dass sie das jetzt hinausschreien müssen, weil es morgen vielleicht nichts mehr zu schreien und niemanden mehr anzuschreien gibt.Man spürt in alldem eine gewisse Agonie. Wenn man das mit der Rhetorik des alten totalitären Regimes vergleicht, dann wurde damals mit großem Vertrauen in den morgigen Tag gesprochen. Der Massenterror half dabei. Sie wussten, solange es den Eisernen Vorhang gibt, gehört die Zukunft ihnen. Und das spürte man in jeder Zeile der Prawda.
Aber wenn jetzt der Fernsehmoderator sagt: „Wir können die USA jederzeit in radioaktive Asche verwandeln“, dann glaub ich ihm das nicht. Der glaubt sich ja selbst nicht.
Im Grunde leben wir in einer üüüberaus spannenden Zeit! Das ist schon lange nicht mehr Gogol, sondern Charms …
Ist so etwas wie Reue möglich, ein Eingeständnis eigener Fehler, eigener Schuld – als Form der endgültigen Einschläferung dieses Zombies, dieses Monsters?
Reue kann es erst nach der Katastrophe geben. Das ist keine Arznei, die man verabreichen kann. Ich glaube, freiwillig wird es hier keine Reue geben. Um zu bereuen, muss man erst ordentlich hinfallen, sich den Kopf anschlagen und, während man sich die Beule reibt, fragen: Was hab ich falsch gemacht? Für die Reue muss man sich selbst von der Seite sehen, als Ganzes und ohne Beschönigung.
Die Geschichte insgesamt hat auch die absolute Schwäche der zeitgenössischen Kultur aufgezeigt. Ist das nicht ihr grandioses Scheitern?
Die Kultur ist eine zarte Dame, keine Junge Frau mit Ruder. Für sie war das Déjà-vu mit dem Sowok zu viel des Guten. Sie braucht Zeit, um wieder zu sich zu kommen. Setzt sich erstmal ein Weilchen auf die Chaiselongue und verschnauft.
Der Nordkaukasus ist in der Wahrnehmung, auch in der Literatur und Kultur oft Russlands „Anderer”. Als „inneres Ausland” empfinden viele diese ethnisch vielfältige Bergregion im Süden Russlands, in der vorwiegend Muslime leben. Sie reicht von Dagestan im Südosten, über Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien bis Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien.
Das Gebiet fiel erst im 19. Jahrhundert, nach dem Kaukasuskrieg von 1817 bis 1864 an Russland. Die Separatismus-Bestrebungen, die in die beiden Tschetschenienkriege mündeten, die Geiselnahme von Beslan – auch in jüngster Zeit gibt es viele für die russische Gesellschaft traumatische Ereignisse, die mit dem Nordkaukasus verbunden sind.
Denis Sokolow, Soziologe an der Hochschule RANCHiGS und Nordkaukasus-Experte, bricht im Interview mit Rosbalt einige Mythen auf: Er macht viele Gemeinsamkeiten und Parallelen zu anderen russischen Regionen aus und betont, wie unterschiedlich der Nordkaukasus vor allem in sich selbst ist. Separatismus-Ängste hält er heute für aufgeblasen – und warnt stattdessen vor ganz anderen Entwicklungen.
Tschetschenien wird manchmal als Russlands „inneres Ausland“ bezeichnet. In Dagestan und Inguschetien entwickeln sich die Dinge, wie uns scheint, nach demselben Szenario?
Heute kann man fast jede Region Russlands als „inneres Ausland“ bezeichnen. Institutionell gibt es im Land keinen Zusammenhalt mehr. Es gibt nur den Homo sovieticus, der die letzten Jahre seines Lebens mit der Elite der Putingeneration verbringt, und eine bröckelnde Vertikale, die sich vor allem auf Geld und Gewalt stützt. Aber Institutionen, die den Staat festigen würden, gibt es eben praktisch keine mehr. Höchstens den FSB – aber das ist eher ein oligopolistisches Netz, das Kontrolle über Gewalt und Geldströme ausübt …
Inwiefern ist das Fehlen institutioneller Klammern gefährlich für den Nordkaukasus?
Gerade diese Region gilt als separatistisch gestimmt. Nach 1991 blieb fast keine (russische) Kolonialbevölkerung im östlichen Nordkaukasus.
Insofern ist hinsichtlich seiner Bewohner der Nordkaukasus, besonders der östliche, schon so gut wie entrussifiziert. Zudem werden die demografischen Prozesse von einer aktiven Re-Islamisierung, einem Import und Wiederaufbau islamischer Institutionen, begleitet.
Die Gruppen, die irgendeinem separatistischen Projekt die Stange halten, sind aufgrund eines Mangels an Geld, Ressourcen, politischer Organisation und Unterstützern nicht in der Lage, es umzusetzen
Aber gleichzeitig hat die regionale politische Elite kein eigenes Programm. Die Gruppen, die irgendeinem separatistischen Projekt die Stange halten, sind aufgrund eines Mangels an Geld, Ressourcen, politischer Organisation und Unterstützern nicht in der Lage, es umzusetzen.
Sind Befürchtungen, die Republiken des Nordkaukasus könnte den russischen Staat als ganzen auf die Probe stellen, also unbegründet?
Die werden aufgeblasen, weil sie für die, die dort leben, und für die, die der Region das Budget zuteilen, Vorteile haben. Man muss dabei auch bedenken, dass im Fall einer Schwächung des Staates alles anders werden kann.
Es ist so, dass es in der Region erstens keine richtige politische Elite gibt. Jede ihrer Generationen wurde gesäubert – zuerst vom Russischen Reich, dann von der Sowjetunion und jetzt vom neuen Russland. Menschen, die diese Elite sein könnten, werden entweder in die Moskauer Elite hineingezogen, oder aus dem Bereich des Politischen hinausgedrängt.
In der Region gibt es keine richtige politische Elite. Jede ihrer Generationen wurde gesäubert – zuerst vom Russischen Reich, dann von der Sowjetunion und jetzt vom neuen Russland
Eine weitere Zeitbombe sind die vielen strittigen territorialen Fragen. Zweifellos werden außenpolitische Faktoren eine große Rolle spielen – das Verhalten der Nachbarländer, der Türkei, des Irans, Westeuropas etc. Die Chancen auf eine unblutige Lösung denkbarer Konflikte stehen allerdings nicht sehr hoch. Wenn der Staat schwächer wird, müssen wir mit großer Wahrscheinlichkeit durch einen Krieg aller gegen alle durch.
Die Situation ist also sehr eigenartig. Der Status quo verhindert die Ausformung einer politischen Elite und die Einrichtung von Institutionen in der Region. Doch die Aufhebung dieses Status quo würde Blutvergießen bedeuten.
Die Chancen auf eine unblutige Lösung denkbarer Konflikte stehen nicht sehr hoch
Was zuerst eintreten wird – ob einer bestimmten Gruppe, die von Moskau-gestützten Eliten ausgebeutet wird, der Geduldsfaden reißt, oder ob das System schwächer wird und all diese Konflikte wie in den letzten 100 Jahren gelegte Minen ganze Völker gegeneinander aufhetzen werden? Man wird sehen.
Wäre es möglich zu versuchen, die Beziehungen zu den nordkaukasischen Republiken nach einem anderen Modell zu gestalten, um eine Verschärfung der Lage zu vermeiden?
Das politische System, das sich jetzt in Russland etabliert hat, hat die Entwicklung von Institutionen und politischen Eliten im ganzen Land gehemmt. Das soziale Gefüge liegt darnieder. Diesbezüglich würde ich zwischen dem Nordkaukasus und allen anderen Regionen gar keinen Unterschied machen. Vielmehr gibt es im Nordkaukasus immerhin ein Grundgerüst, von dem ausgehend man sich arrangieren kann. Es gibt wenigstens gewisse informelle Eliten – Autoritäten verschiedener ethnischer Gruppen. In anderen Regionen gibt es nicht einmal das.
Das soziale Gefüge liegt darnieder. Diesbezüglich würde ich zwischen dem Nordkaukasus und allen anderen Regionen gar keinen Unterschied machen
Glauben Sie mir, wenn dem Kaukasus gute Institutionen angeboten werden, nimmt er sie an. Selbst kann er, wie alle anderen Regionen Russlands auch, keine Alternativen hervorbringen.
Also sind alle derzeit vorgeschlagenen Angebote zur Entwicklung des Nordkaukasus nur eine Bekämpfung von Symptomen, nicht aber der Krankheit selbst …
Damit lösen einfach schlaue einflussreiche Köpfe ihre eigenen Probleme. Die einen wollen Minister werden, die anderen zu Geld kommen, die nächsten ihren Platz in der Expertenszene behaupten. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass ihnen das nicht klar wäre.
Glauben Sie mir, wenn dem Kaukasus gute Institutionen angeboten werden, nimmt er sie an
Das Problem ist, dass es aus der gegebenen Situation keinen einfachen Ausweg gibt. Niemand hat Lust, unlösbare Probleme zu lösen.
Tschetschenien ist eine besondere Region, in der das Leben nach eigenen Gesetzen abläuft – zu dieser Auffassung ist man in den vergangenen Jahren gelangt. Kann man den ganzen Nordkaukasus als eine solche „besondere Region“ bezeichnen?
Zweifellos ist der Nordkaukasus als Ganzes anders als der Rest Russlands. Gleichzeitig besteht er aber aus mindestens zwei Teilen. Aus dem westlichen Nordkaukasus und dem Nordkaukasus östlich der Georgischen Heerstraße und der Darialschlucht – also Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan. Sie sind sehr unterschiedlich.
Zweifellos ist der Nordkaukasus als Ganzes anders als der Rest Russlands. Gleichzeitig besteht er aber aus mindestens zwei Teilen
In den Republiken des westlichen Nordkaukasus, zum Beispiel, besucht nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung konstant Moscheen und Kirchen. In Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien dagegen fühlt sich fast jeder Einwohner auf die eine oder andere Weise irgendeiner religiösen Gemeinschaft zugehörig.
Das liegt daran, dass der westliche Nordkaukasus seinerzeit viel stärker sowjetisiert war. Der östliche Nordkaukasus dagegen wurde in weit geringerem Ausmaß kolonialisiert. Natürlich wurden im Russischen Kaiserreich und dann auch in der Sowjetzeit die regionalen Dschamaas transformiert. Doch gleich die erste postsowjetische Generation stellte die dörfliche und städtische Kultur wieder her, und in den 1990ern begann die islamische Wiedergeburt.
Für die Bewohner des östlichen Nordkaukasus sind die Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft im Grunde wichtiger als Wahlen
Außerdem wurde in den letzten Jahren der UdSSR wieder das Waqf–Eigentum eingeführt (eine Art Stiftung einer Religionsgemeinschaft), und der Grundbesitz von Familien fiel als zum Hof gehöriges Land wieder an die früheren Hausherren. Das war nicht schwierig – im Kaukasus weiß jeder, wo die Steine seines Clans liegen.
Für die Bewohner der östlichen Republiken des Nordkaukasus sind die Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft im Grunde wichtiger als Wahlen, politische Intrigen oder die Konkurrenz verschiedener islamischer Richtungen.
Kann man überhaupt sagen, dass Dagestan und Inguschetien Teil des russischen Rechtsraumes sind?
War denn etwa dieKuschtschowka Teil davon? Eigentlich geht es da doch gar nicht so sehr um den Nordkaukasus als solchen.
Aber konkreter zu Ihrer Frage: In Dagestan haben sich zum Beispiel zwei parallele Rechtssphären herausgebildet. Eine davon betrifft kleine und zum Teil mittlere Unternehmen. In diesem Bereich hat sich ein System etabliert, das irgendwo zwischen Gewohnheitsrecht und Scharia liegt. Wobei man nicht sagen kann, dass sich dort allgemein eine Rechtsprechung nach der Scharia entwickelt hat. Das ist gewissermaßen ein Modell von Leuten, die sich ihren eigenen Rechtsraum geschaffen haben – weil es kein staatliches Gerichtssystem gibt oder dieses nicht zugänglich ist, weil zu teuer: Dort gewinnt, wer Geld und Einfluss hat.
Während man in den meisten Regionen Russlands so tut, als gäbe es ein Gerichtsverfahren, zahlt man in Dagestan gleich Schmiergeld
Dann gibt es noch die Rechtssphäre der Bankiers, Beamten und Großunternehmer, die mit dem Staat gekoppelt ist. Sie kooperiert mit Strafverfolgungsbehörden und Gerichten – und ist genauso strukturiert wie in allen anderen Regionen Russlands auch. Nur geschieht hier alles unverhüllt. Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um. Oder während man in den meisten Regionen Russlands so tut, als gäbe es ein Gerichtsverfahren, zahlt man in Dagestan gleich Schmiergeld.
Doch das Verständnis dessen, was ein Rechtsstaat ist, ist in ganz Russland ungefähr dasselbe. Es gibt nur kulturelle Unterschiede.
Also ist das einfach eine Reaktion auf das nicht funktionierende Rechtssystem in ganz Russland?
Ja. Der Nordkaukasus ist in vielem extremer: Der Prozentsatz der an der informellen Wirtschaft Beteiligten macht landesweit nur 10 Prozent aus, in Dagestan dagegen liegt er allein offiziell bei über 50 Prozent. Und all diese Unternehmer brauchen ein Gerichtssystem.
Warum ist der Schattensektor gerade im Nordkaukasus so explodiert?
Ein sehr großer Teil der einheimischen Bevölkerung befand sich von Anfang an außerhalb der offiziellen Wirtschaft. In den 1990er-Jahren wurden viele Betriebe geschlossen, die in der Sowjetzeit aufgebaut wurden, und fast alle, die dort gearbeitet hatten, zogen weg. Deswegen verblieben in den nordkaukasischen Republiken praktisch keine Finanz- und Verwaltungsinstitutionen, die die Grundlage der formellen Wirtschaft bilden.
Welche Rolle spielt die föderale Staatsmacht in dieser Struktur?
Sie tritt vor allem als Instrument der neuen regionalen Elite auf, zur Abrechnung mit politischen Gegnern.
Das Verständnis dessen, was ein Rechtsstaat ist, ist in ganz Russland ungefähr dasselbe. Es gibt nur kulturelle Unterschiede
Im östlichen Nordkaukasus ist eine Art Machthybrid entstanden. Zum einen gehören dazu Vertreter der alten Nomenklatur dazu, auf der Ebene der Sekretäre des Bezirkskomitees, also Leute, die die Kontrolle über Bodenressourcen und Finanzströme behalten haben. Da sie nicht genügend operative Kapazitäten hatten, waren sie gezwungen, sich auf Kriminelle einzulassen. Dann kamen zu diesem Tandem die Silowiki dazu – und im Nordkaukasus sind die Grenzen zwischen Polizei, FSB und Kriminalität eigentlich nicht sehr klar. Dieses Hybrid hat eigene, für Moskau komplett undurchschaubare Spielregeln entwickelt.
Letztlich nutzen die Repräsentanten der Zentralmacht die regionale „Aufgliederung“ zu eigenen Polit- und Karriere-Zwecken – und als Quelle der Bereicherung durch Korruption.
Angeblich geht es um den Schutz der Jugend: Kurz vor der Sommerpause hat die Staatsduma in den vergangenen Wochen mehrere Gesetzesentwürfe verabschiedet, die eine erhebliche Zensur vor allem Sozialer Netzwerke vorsehen.
So sollen etwa Betreiber sozialer Netzwerke mit mehr als zwei Millionen Nutzern Formulare zur Verfügung stellen, in denen „rechtswidrige Inhalte“ gemeldet werden können. Die betroffenen Seiten müssen dann binnen 24 Stunden gelöscht werden. Welche Inhalte genau gemeint sind, ist im Gesetzesentwurf allerdings sehr allgemein definiert. Nun muss nur noch der Föderationsrat zustimmen und der Präsident unterzeichnen, dann tritt das Gesetz zum 1. Januar 2018 in Kraft.
Kritiker warnen, dass es sich dabei um ähnliche „Gummiparagraphen“ handele, wie etwa beim sogenannten Jarowaja-Gesetzespaket oder beim Paragraphen 282: Die einzelnen Passagen sind so schwammig formuliert, dass sie auf fast jedes Verhalten angewendet werden könnten.
Im russischen Belgorod, unweit der ukrainischen Grenze, sorgt eine Gruppe Freiwilliger nun auch ohne solche Gesetze für Ordnung im Netz. Während sie sagen, sie würden „helfen“, bezeichnen andere sie als „Denunzianten“. Nikita Aronow hat der Gruppe für Ogonjok einen Besuch abgestattet.
„So etwas heißt bei uns fertiges Material“, Alexander Melnikow präsentiert auf dem Bildschirm einen Ordner mit einem Dokument und zwei Bildern. In dem Dokument ist ein Link auf das VKontakte-Profil von Alexander L. aus Belgorod, die Bilder sind Screenshots von aufwieglerischen Beiträgen auf seiner Pinnwand. In dem einen werde Unmut über den Präsidenten geäußert, im anderen Einiges Russland beleidigt. Das „fertige Material“ hat Melnikow heute an die Regionalverwaltung des Innenministeriums für die Oblast Belgorod geschickt.
Alexander Melnikow – korpulent, gründlich, weißes Hemd – ist Vorsitzender des Belgoroder Vereins Stadtjugend und jetzt auch noch wichtigstes Cyberwehr-Mitglied der Stadt. Seine Schützlinge machen quasi das gleiche wie andere offizielle Jugendaktivisten im ganzen Land: Sie veranstalten Flashmobs, Konzerte, Subbotniks, Veteranenhilfe und suchen in Läden nach abgelaufener Ware. Manche gehen sogar zusammen mit der Polizei in der Stadt auf Patrouille. Doch jetzt brauchen die Ordnungshüter auch im virtuellen Raum Hilfe.
Eine Bürgerwehr für den virtuellen Raum
Der Kampf gegen Unrat im Netz ist keine lustige Tätigkeit. Täglich sehen Alexander und seine Kollegen systematisch, eine nach der anderen, die Timelines der jungen Belgoroder durch. Da es hier 44.000 Jugendliche gibt, die Cyberwehr aber nur aus sechs Leuten besteht, und die Social-Media-Pinnwände noch dazu ständig aktualisiert werden, erinnert die Arbeit stark an Wasserschöpfen mit einem Sieb.
Sein Dienstzimmer im Stadtamt für Jugendpolitik teilt Alexander Melnikow mit dem Leiter des Jugendverbandes der Stadt Belgorod, Sergej Selischtschew. Der gehört ebenfalls der Cyberwehr an, doch in besonderer Funktion – im Internet bekämpft er Extremismus, ohne sich von halbwüchsigen Selbstmördern, Drogenhandel und sonstigem Online-Übel ablenken zu lassen.
Bewerber als Provokateure und potenzielle Spione abgewiesen
Insgesamt hat er sieben Cyberwehrleute, laut Kommandeur sowohl männliche als auch weibliche. Manche sind IT-Studenten, aber auch ein angehender Sportlehrer ist dabei. Fast alle sind Aktivisten, die Sergej schon lange persönlich kennt. „Wir haben hier ein geschlossenes Projekt“, erklärt er. In fünf Monaten Einsatz der Cyberwehr wurde nur eine Person von außen aufgenommen. Alle anderen hat Sergej wachsam als Provokateure und potenzielle Spione abgewiesen.
Mit konspirativer Arbeit im Netz hatte Sergej bereits Erfahrung. 2013 arbeitete er als Koordinator der Mediengarde in Belgorod – ein Projekt der Jungen Garde von Einiges Russland zur Bekämpfung feindlicher Propaganda im Internet. Dort ging es noch konspirativer zu.
„Den Kurator der regionalen Mediengarde kennen nur drei Leute: der Moskauer Kurator, der Leiter der Regionalstelle und sein Stellvertreter“, sagt Sergej ernsthaft.
Er fühlt sich an vorderster Front
„Unser Gebiet ist ein Grenzgebiet. Und in unseren Belgoroder Communitys sind etwa 500 ukrainische Accounts registriert. Die können jederzeit aktiv werden. Wenn sie die Accounts meiner Mitarbeiter und der Leute der Mediengarde kennen, können sie einfach alle unsere Profile gleichzeitig ausradieren, weil bei VKontakte 50 Beschwerden über einen Account genügen, um ihn automatisch für 24 Stunden stillzulegen. Diese 24 Stunden reichen aus, extremistische Aufrufe zu posten, Gleichgesinnte zu suchen und mit ihnen in privaten Telegram–Kanälen zu verschwinden, wo wir sie nicht mehr überwachen können“, beschreibt Sergej den Ablauf einer möglichen Cyberattacke.
Gut gerüstet gegen den Feind
Doch tritt er dem Feind gut gerüstet entgegen. Jeden Tag kontrolliert er alle Belgoroder Postings mit den Hashtags #Revolution und #NiedermitderRegierung. Die letzten drei Tage gab es allerdings oft Fehlalarm – ein Händler bewarb in sozialen Netzwerken Nahrungsergänzungsmittel als eine weitere „Revolution der gesunden Ernährung“.
Auf Sergejs Konto gehen etliche Entlarvungen von Extremisten. Zum Beispiel einer jungen Frau, die sich in einer Kirche an einer Kerze eine Zigarette angezündet und davon ein Foto ins Netz gestellt hatte. Sergej hat geholfen (er sagt wirklich „geholfen“), ein Verfahren wegen Verletzung religiöser Gefühle einzuleiten. Im Mai wurde die Rechtsbrecherin verurteilt, doch angesichts ihres neugeborenen Kindes ließ man Gnade walten und beließ es bei einer Geldstrafe. Aber der Nationalist, der dazu aufrief, aufseiten der Ukraine im Donbass zu kämpfen, sitzt Sergej zufolge schon.
Alle, die zur Verantwortung gezogen werden konnten, waren auf VKontakte aktiv. Dessen Administration, bemerkt der Belgoroder Kommandeur, kooperiert am besten mit Aktivisten und Strafverfolgungsbehörden. Instagram hingegen blockiert, wie er sagt, nur Aufrufe zum Selbstmord.
Facebook reagiert kaum auf Hinweise
Noch geringer ist die Resonanz auf Hinweise auf Facebook: „Dort antworten sie uns normalerweise, ihr Gerichtsstand sei in den USA, und die Gesetzgebung Russlands zu Extremismus und Terrorismus betreffe sie nicht“, ärgert sich der Cyberwehrmann. Und fügt noch hinzu, dass sich auch die Strafverfolgungsbehörden ein wenig mehr anstrengen könnten.
„Ende Februar schickten wir an Roskomnadsor eine Liste mit 1354 Publikationen, die gerichtlich als extremistisch anerkanntes Material enthielten. Ihre Antwort war, dass sie nur 570 Übertretungen feststellen konnten“, grollt Sergej. „Und ihre Kollegen im Extremismuszentrum des Innenministeriums fanden in derselben Liste überhaupt keine einzige Rechtsverletzung!“
Es begann, wie immer, mit dem Schutz von Kindern
Alles begann in der Oblast Belgorod, wie immer, mit dem Schutz von Kindern vor schädlichen Informationen. Diese Initiative startete bereits letzten Sommer ein höhersemestriger Student und Programmierer aus Stary Oskol, der, nebenbei bemerkt, auch Mitglied einer normalen Bürgerwehr war und mit roter Armbinde auf Patrouillen ging. Name und Statuten schaute man sich von der Liga der Internetsicherheit ab – einer Organisation des russisch-orthodoxen Milliardärs Konstantin Malofejew (seine Cyberwehren schnappen schon seit 2011 landesweit Extremisten), und dann ging man „ins Feld“ – machte sich an die Durchforstung des Internets nach „Kinder- und Teenagercontent“.
„Sehen Sie, ich suche Gruppen, wo Boten-Jobs angeboten werden mit Monatsgehältern von 40.000 Rubel [etwa 580 Euro – dek] bei zwei bis drei Stunden Arbeit täglich. Das sind Inserate von Drogendealern, sie suchen auf diese Art minderjährige Kuriere (beim Onlinehandel mit illegalen Dingen ist es üblich, dass der Verkäufer die Waren hinterlegt, das heißt er versteckt die Ware an einem bestimmten Ort und schickt dem Käufer Fotos, anhand derer dieser den Ort findet. – Ogonjok). Finden wir das Profil eines solchen Inserenten, dann reichen wir auf der Website von Roskomnadsor Beschwerde ein“, erklärt Cyberwehrmann Sergej Misyntschuk die Vorgangsweise.
Schon als Schüler sorgte Sergej für Ordnung im Netz
Sergej Misyntschuk hat soeben das erste Studienjahr an der Fakultät für Automatisierung und Informationstechnologien des hiesigen Ablegers der Nationalen Technologie- und Forschungsuniversität MISiS abgeschlossen. Er träumt davon, an eine profilierte Fakultät zu wechseln und später in den Reihen der Staatsorgane gegen Cyberkriminalität zu kämpfen. Denn im Netz für Ordnung gesorgt hat Sergej schon als Schüler.
„Einmal stieß ich auf eine Gruppe Wie man krank wird und nicht in die Schule muss. Dort waren 1200 Kinder, die sich absichtlich Extremitäten brachen und sich anderen Schaden zufügten, um dem Unterricht zu entkommen. Ich fand das Profil eines Mädchens, das ein Foto postete, wie sie sich das Bein bricht. Ich suchte ihre Angehörigen und schrieb ihnen“, erinnert sich Sergej an seine erste Erfahrung.
Als so genannte Todesgruppen auftauchten und sie auf VKontakte noch nicht automatisch blockiert wurden, suchten die Belgoroder Bürgerwehren Kinder, die sich auf das suizidale Spiel eingelassen hatten, und kontaktierten sie und ihre Angehörigen.
Der dritte Themenbereich nach Drogen und Selbstmord ist kindliche Nacktheit. Moderne Teenager stellen nicht selten Fotos von sich online, auf denen sie nur Unterwäsche tragen – oder nicht mal die. Und dann werden sie zum Ziel von Mobbing oder Erpressung. Die lokale Community, in der solche Fotos regelmäßig landen, haben die Aktivisten bereits mehrmals geschlossen.
Blockierst du eine Gruppe, entstehen zwei neue
„Die steht immer wieder auf wie eine Hydra! Blockierst du eine Gruppe, entstehen zwei neue. In der aktuellen Version gibt es eine Warnung: Zugang für Kinder, schwangere Frauen und Cyberwehren verboten“, erzählt Sergej.
Kürzlich eingebrachte Initiativen von Abgeordneten, die Internetzugang nur mit Pass und ein Verbot sozialer Netzwerke für Minderjährige fordern, finden die Wehrleute von Oskol gar nicht gut. Das Internet gehört nach Ansicht der Aktivisten nicht gesperrt, sondern aufgeräumt.
Das Kommando von Oskol war ab letzten Sommer als Experiment im Einsatz. Dann beschloss man, den Versuch auf die ganze Oblast auszuweiten.
Die aktivsten und effektivsten Mitglieder werden belohnt
Am 22. Mai unterschrieb der Gouverneur der Oblast Belgorod die erste Verordnung des Landes zur Zusammenarbeit mit Cyberwehren. Den Bezirksverwaltungen und Bildungseinrichtungen wird nun empfohlen, Cyberwehren zu gründen und auszubauen und Aktivisten zu fördern.
„Anhand der Jahresbilanz werden wir die aktivsten und effektivsten Mitglieder belohnen“, sagt der Verwaltungschef für Jugendpolitik in der Oblast Belgorod, Maxim Tschesnokow. „Wahrscheinlich mit Tablets oder Smartphones – was brauchen Cyberwehrleute heutzutage sonst?“
Im ersten Stock des staatlich finanzierten Zentrums für Jugendinitiativen befindet sich das Informationszentrum der Cyberwehren. Hier sitzen Lew, Inna und Nastja an ihren Laptops. Lew kommt gerade vom Wehrdienst zurück, Inna aus dem Mutterschutz, und Nastja hat vor kurzem noch diverse Veranstaltungen für Jugendliche kuratiert. Alle drei sind erst zwei Wochen in der neuen Unterabteilung tätig, doch Fotos zu machen oder ihre Nachnamen zu nennen verweigern sie bereits kategorisch.
Unsere Leute wurden auch schon als Pawlik Morosow und Denunzianten bezeichnet
„Wissen Sie, es gibt verschiedene Meinungen zu dem Projekt, unsere Leute wurden auch schon als Pawlik Morosow und Denunzianten bezeichnet“, erklärt Pawel Maximow, der alle Bürgerwehren betreut und Maxim Tschesnokow vertritt.
Alle sind bei der Sache. Nastja, ein Mädchen mit grellrotem Nagellack und dicht tätowierten Händen, hat auf dem Monitor ein Memo kleben „Bezirke durchsehen nicht vergessen“. Und Nastja vergisst es nicht. Im Moment nimmt sie die Bewohner der Kreisstadt Weidelewka unter die Lupe. Das ist eine Siedlung städtischen Typs mit 6412 Einwohnern. Nastja stellt auf VKontakte ein: Wohnort – Weidelewka, Alter – bis 18 Jahre. Und blättert systematisch alle verdächtigen Profile durch.
„Dieses Mädchen da hat die Hand vor den Augen. Vielleicht hat das nichts zu bedeuten, solche Fotos sind jetzt modern. Aber für alle Fälle prüfen wir das“, kommentiert Nastja. Die Zeit vergeht. Um ein Uhr stehen die Mädchen auf und gehen: „Entschuldigen Sie, wir haben Mittagspause.“ Aber das macht nichts, nach dem Essen kommen sie wieder und machen weiter. Und jeden Tag wird Nastja die Pinnwände von Schülern und Schülerinnen der Oblast Belgorod durchlesen. Acht Stunden am Tag, dazwischen Mittagspause. Fünf Tage die Woche. Das ist jetzt Nastjas Job …
Am 5. April 1977 rollte der erste Lada Niva vom Fließband. „Er war für die ländliche Bevölkerung der Sowjetunion entwickelt worden, doch der Niva-Kult breitete sich rasch weit über die Grenzen der UdSSR hinweg aus. Über eine halbe Million Autos wurden in alle Welt exportiert: nach Europa, Lateinamerika, Afrika und Australien. Das Auto hatte ein paar technische Vorteile, eine komfortable Ganzmetallkarosserie und eine Einzelradaufhängung an der Vorderachse – und im internationalen Vergleich war es nicht teuer“, schreibt Roman Koroljow auf Zapovednik.
Nach so viel Theorie hat es ihm der Lada Niva auch in der Praxis angetan: Kurz nach dem Niva-Geburtstag besuchte Koroljow im April eine Niva-Ralley nahe Moskau – bitte anschnallen, und ab geht’s durch Schlamm, Pfützen und Gestrüpp!
Mit dem Niva wurden Weltrekorde aufgestellt: Man fuhr damit auf den Mount Everest (auf eine Höhe von 5200 m) und ins tibetische Hochland im Himalaya (5726 m), man warf ihn mit einem Fallschirm über dem Nordpol ab, fuhr damit auf der sowjetischen Antarktis-Station Bellingshausen herum. Überall zeigte sich der sowjetische Offroader als absolut unkaputtbar. Heute gibt es Niva-Fanclubs in Japan, Kanada, Island und Russland.
Der Klub Leschi, der schon seit sechs Jahren Orientierungsrennen im Gelände veranstaltet, führte vergangenes Jahr Teilnahme-Beschränkungen ein: Zum Turnier sind jetzt nur noch heimische Autos zugelassen. In diesem Jahr, dem Jubiläumsjahr des Niva, ausschließlich Nivas.
Das Rennen findet zwei Kilometer vom Dorf Makarowo entfernt statt, nahe dem Flughafen Tschernogolowka. Der Ort wurde speziell für Leute ausgesucht, die meinen, russische Feldwege seien gut befahrbar und „easy“.
Der Barde Igor Rasterjajew besingt die Romantik des Mähdrescherfahrers
Auf Holzkohlegrills brutzeln Schaschliks, aus Lautsprechern dröhnen Lieder über richtige Männer. „Die haben keine teure Garnitur / machen sich nichts aus Emo-Kultur / hängen nicht rum auf VKontakte, online / die hauen auf ihren Mähdreschern rein“, besingt der Barde Igor Rasterjajew die Romantik des Mähdrescherfahrers.
Denis Basanow, ebenfalls Organisator des Wettbewerbs, gibt den Teilnehmern der Runde ein letztes Wort mit auf den Weg und warnt sie ausdrücklich davor, auf das Gelände des Flugplatzes Tschernogolowka zu geraten: „Wer auf die Startbahn hinauslenkt, muss das selber mit dem Sicherheitsdienst regeln!“
Am Start stehen zwanzig Nivas. Jeder mit einer Crew aus zwei Personen: dem Fahrer und dem Co-Pilot. Die erste Etappe sind Rundstreckenrennen. Bei jeder Runde kommen drei Teilnehmer dran, und Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht.
In der Mitte des Kreises sind ein paar Hügel, von denen aus die Fans zusehen. Sobald einer der Organisatoren mit wehender Fahne das Signal zum Start gibt, rasen die Autos mit Geheule und unter den Rädern hervorspritzenden Matschklumpen los. Die Runden dauern ein paar Minuten, und bald fallen die ersten deutlich zurück. Ein Auto, aus dem dicker Rauch qualmt, wird mit einem Seil abgeschleppt.
Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht
Im zweiten Teil des Wettbewerbs geht es um Orientierung. Die Organisatoren sind im Umkreis von fünf Kilometern den Wald abgefahren und haben an Bäumen, Baumstümpfen und sonstigen Wegemarken mit grüner Farbe die Zahlen 1 bis 31 aufgemalt und diese Stellen mit GPS-Koordinaten versehen. Wer es schafft, innerhalb der für diese Etappe vorgesehenen vier Stunden die meisten dieser Stationen abzufahren, hat gewonnen.
Der Niva ist das Günstigste, was man kaufen und ummodeln kann
In der zweiten Etappe ist es besonders wichtig, dass Fahrer und Beifahrer gut aufeinander eingespielt sind: Indem er mit dem GPS-Navigator die Punkte sucht, hat der Beifahrer die Rolle des Steuermanns.
„Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren.“
„Ich heiße Sergej, der Beifahrer ist Dimitri“, stellt sich mir ein junger Mann mit magerem Gesicht und weißem Helm vor, in einem eigentlich weißen, aber jetzt mit einer Dreckschicht überzogenen Wagen. „Bei mir hat dieser Sport damit angefangen, dass Freunde ein Auto gekauft und Denis Basanow kennengelernt haben. Sie sind gefahren und haben mich zum Zuschauen eingeladen. Ich habe mir das angeguckt und musste sofort auch so ein Auto haben, es präparieren, Offroadsport machen. Meine Finanzen gaben die Wahl des Autos vor: Der Niva ist das Günstigste, was man kaufen und ummodeln kann. Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren. Das Herrichten nimmt viel Zeit in Anspruch – den Motor auszutauschen hat den ganzen Winter gedauert. In einer Werkstatt geht es natürlich schneller.“
Das Gespräch wird vom Startsignal zur zweiten Etappe unterbrochen. Der Großteil der Autos ist bald nicht mehr zu sehen. Wer heute „ohne Pferd“ gekommen ist, hat zwei Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben: Die zu verspotten, die Pech hatten, oder ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Zwei Fahrzeuge bleiben schon nach wenigen hundert Metern im Morast stecken, die Reifen drehen durch.
Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren
„Der Sieg hängt von vielen Faktoren ab: vom Auto natürlich am meisten, und sonst – vom Piloten genauso wie vom Steuermann. Manchmal sind nach den Wettkämpfen nur Kleinigkeiten kaputt, manchmal muss man das Auto komplett neu zusammensetzen. Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren, zumindest keinen Preis zu gewinnen. Dann wieder sieht einer, dass es etwas zu holen gibt, und tritt das Gaspedal durch“, erzählt mir der Rennfahrer Denis, dessen Eisengaul jetzt zerlegt in der Garage steht, weswegen er nicht am Rennen teilnehmen kann.
Im Grunde kommen die Leute vor allem hierher, um sich auszutoben
„In der Stadt ist es langweilig. Im Grunde kommen die Leute vor allem hierher, um sich auszutoben, im Matsch zu wühlen, etwas zu erleben, um danach etwas zu erzählen zu haben”, so Denis weiter. „Geld kann man ohne Ende reinstecken: immer wieder Stoßstangen, Seilwinden, Luftbälge. Ein Auto ist wie eine Datscha, du kannst einfach damit leben oder reinbuttern und reinbuttern. Wenn es um die praktische Anwendung geht, sind das Ausflüge, Jagd und Angeln. Mit dem Niva kommst du überall hin.“
Wenn am 21. Juni 2016 nicht das Verbot von Fahrzeugtuning beschlossen worden wäre, würden zehnmal so viele Leute zu Rennen kommen, ist Denis überzeugt. Das Verbot hat alle eigenmächtigen, über die Erstausstattung hinausgehenden Modifizierungen von Fahrzeugen praktisch unzulässig gemacht – also die zentrale Leidenschaft, die die hier Versammelten miteinander verbindet.
Der Autobesitzer ist verpflichtet, die vorgenommenen Veränderungen abzumontieren oder in einem speziellen Zertifizierungszentrum zu legitimieren, doch solche Einrichtungen gibt es nur in Moskau und St. Petersburg, und für ihre Dienste zahlt man stattliche Summen.
Furchen voller Schlammsuppe
Der große, korpulente, rundgesichtige Oleg und sein Freund Anton, mit Brille und kurz geschorenem Haar, versorgen ein Team, das mit den Vorderrädern endgültig in einer Furche voller Schlammsuppe feststeckt, mit nützlichen Tipps. Der Fahrer heißt Alexej und ist 37, seine Frau Vera ist drei Jahre jünger und navigiert. Am Anfang stand sie dem Hobby ihres Mannes skeptisch gegenüber, aber vor einem Jahr fuhr sie zum ersten Mal mit auf einen Wettkampf und fing Feuer. Unter all den Männern in schmutzabweisender Tarnkleidung und Trainingsanzügen wirkt Vera in ihrem hell leuchtenden Kurzmantel im wahrsten Sinn des Wortes wie eine „weiße Krähe“. Ihr Mantel ist voller Dreckspritzer, aber das scheint sie nicht zu stören.
Die Rettung des Autos dauert eineinhalb Stunden
Anton sagt, bei Rennen hänge 40 Prozent des Erfolgs vom Intellekt ab, alles andere sei Können. Jetzt brauche es Intelligenz, um das Fahrzeug aus dem Sumpf zu ziehen. Bei den Wettkämpfen hilft jeder jedem und einer der Teilnehmer bindet ein Seil an die Stoßstange. Doch ob dieser Bemühungen versinkt der Niva von Vera und Alexej nur noch tiefer im Schlamm. „Na, der hat aber geholfen!“, sinniert Oleg laut. „Wenn der zu jedem hinfahren und ihm so unter die Arme greifen würde: siehst du, wieder ein Konkurrent weniger. Für so eine Hilfe sollte man dem eine reinhauen!“
„Mit dem Niva kommst du überall hin“
Alexej hebt schnaufend vor Anstrengung die Seiten des Niva abwechselnd mit einer Seilwinde hoch. Motorwinden sind beim Wettbewerb heute verboten – ein eingesunkenes Auto darf man nur mit eigener Muskelkraft herausziehen. Nach dem ebenfalls hier veranstalteten Motocross liegen überall auf den Hügeln Reifen verstreut: Alexej und Vera rollen welche zum Auto und legen sie unter die Räder. Der Niva sinkt trotzdem ein, und Alexej ist schon drauf und dran aufzugeben, doch Oleg macht ihm klar, dass noch nicht alles verloren ist. Wenn man ruckartig aufs Gas steigt, würden die Hinterräder auf die Reifen hüpfen und der Wagen aus dem Loch gehoben.
Man muss selbst von oben bis unten verdreckt sein – nur so kriegt man ein Gespür für die Philosophie dieses Sports
Das funktioniert plötzlich. Die Rettung des Autos hat eineinhalb Stunden gedauert, es hat gerade mal fünf Punkte gesammelt, bevor es steckengeblieben ist. Oleg redet auf die Crew ein, das Rennen nicht auf halbem Weg aufzugeben. Wenn man bedenkt, wie viele Teilnehmer wegen verspäteter Ankunft im Lager disqualifiziert werden, hat das Paar mit seinen fünf Punkten durchaus noch eine Chance auf den Sieg.
„Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer
„So ein Rennen muss man selbst erlebt haben“, sagt Anton zu mir. „Selber fahren, selber fiebern. Man muss selbst von oben bis unten verdreckt sein – nur so kriegt man ein Gespür für die Philosophie dieses Sports. Den Mantel können Sie halt dann in die Tonne werfen.“
„Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer. Noch öfter als vom Dreck sprechen sie nur von den Autos selbst.
Öfter als vom Dreck sprechen sie nur von den Autos selbst
Ich darf als Teil der Crew auf dem Rücksitz Platz nehmen. Alexej drückt das Gaspedal durch, und wir düsen durch den Wald, mit scharfen Kurven und hohen Sprüngen über Schlaglöcher. Zweige schlagen gegen das Autodach, Matschklumpen spritzen an die Seitenscheiben. Das Gespräch wird ständig unterbrochen, weil Alexej alle fünf Minuten Halt macht und aus dem Auto springt, damit Vera sein lachendes Gesicht an jeder nächsten erreichten Station knipsen kann.
Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter
Das Auto, mit dem wir jetzt fahren, hat drei Jahre herrenlos im Gebüsch gestanden und vor sich hin gerostet, alle Kabel waren durch. Seine Instandsetzung hat Alexej ein halbes Jahr gekostet. Während wir reden, stirbt der Motor nochmal ab, und erfolglose Startversuche nehmen etwa weitere zwanzig Minuten in Anspruch. Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter.
„Ich weiß gar nicht, woher ich diese Begeisterung habe. Aber schon als Kind hat mir genau das gefallen – querfeldein fahren, einfach so. Ich gehe nicht mal jagen oder angeln – nein, das reizt mich überhaupt nicht. Das Wichtigste für mich – lasst mich durch den Dreck ackern! Offroad-Rennen sind wirklich lustig. Wirklich lustig und wirklich teuer“, fasst Alexej Vor- und Nachteile seines Hobby zusammen.
Nach diesen Worten rammt das Hinterteil des Autos mit voller Wucht gegen einen auf der Erde liegenden Baumstamm. Schön langsam packt mich der sportliche Eifer, doch das Paar beschließt, mit seinen 15 gesammelten Punkten ins Lager zurückzukehren. Sie hinterlassen, wie die anderen Teilnehmer auch, geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder.
Sie hinterlassen geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder
„Von diesem Abend“, so sagt Kirill Serebrennikow, Leiter des Moskauer Gogol Centers, „werden wir noch unseren Enkeln erzählen.“ Zu Gast ist Swetlana Alexijewitsch. Es ist ihr erster öffentlicher Auftritt in Moskau, seit sie 2015 den Literaturnobelpreis erhielt.
Die Belarussin, die in der Ukraine geboren ist und auf Russisch schreibt scheint selbst ein homo (post-)sovieticus, dem sie in ihren Büchern nachgeht. In ihren „Stimmen-Collagen“ behandelt sie die großen Themen, wie den Großen Vaterländischen Krieg, den Afghanistan-Krieg oder den Alltag während und nach den wilden 1990ern. Die Geschichten, die ihre Protagonisten erzählen, wirken dabei wie eine Gegenerzählung zur offiziellen Propaganda, zu sowjetischen Mythen und „Heldengeschichten“.
Bis heute positioniert sich Alexijewitsch politisch, kritisiert das Regime Alexander Lukaschenkos in Belarus oder den Krieg in der Ostukraine. Das macht ihr nicht nur Freunde. Unlängst erschien auf Regnum ein Interview mit der Schriftstellerin, das diese abgebrochen und dessen Veröffentlichung sie untersagt hatte. Während des Gesprächs ist der Journalist Sergej Gurkin die Schriftstellerin immer wieder für ihre Positionen angegangen. Als Alexijewitsch beispielsweise Verständnis für „den ukrainischen Kampf gegen die russische Sprache“ – wie es Gurkin ausdrückte – äußerte, unterstellte er ihr, den Leuten verbieten zu wollen, in der Sprache zu sprechen, in der sie denken. Gurkin führte das Interview ursprünglich für das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg, das sich jedoch gegen den Abdruck entschied. Schließlich publizierte er den Text bei der Nachrichtenagentur Regnum, die für ihre kremlfreundlichen Positionen bekannt ist. Auf Social Media waren sowohl das Interview selbst als auch die Vorgehensweise des Journalisten heftig diskutiert worden. Gurkin wurde von Delowoi Peterburg entlassen.
An dem Abend im Gogol-Zentrum jedoch blieben ähnliche Zwischenfälle aus. Die Novaya Gazeta druckt die Rede von Swetlana Alexijewitsch ab: Sie ist ein bedingungsloses Plädoyer für den Frieden.
Ich glaube, das, was ich heute sagen will, kann man nicht als Vortrag bezeichnen: Ein Vortrag braucht Distanz. Bei dem Thema Ich will nicht über den Krieg schreiben habe ich die nicht – es ist das Thema, das mich in den 40 Jahren meiner Tätigkeit am meisten bewegt hat.
Als ich in Afghanistan war, sah ich einen unserer Soldaten. Gerade noch hatte er unsere Dokumente kontrolliert – und als wir den Generalstab verließen, lag er tot da. Getötet nicht von Naturgewalten, sondern von einem anderen Menschen. Ich bin absolute Pazifistin. Niemand wird mich überzeugen, dass das menschliche Leben mit irgendetwas aufzuwiegen ist – es ist ein Gottesgeschenk, und wir haben es nicht bekommen, um im Donbass oder in Syrien zu sterben. Die Absage an den Krieg muss jeder selbst beschließen, aus diesem System aussteigen und nicht daran teilnehmen. Ich glaube, unsere Nachkommen werden uns für Barbaren halten, weil wir so mit dem menschlichen Leben umgehen.
Die Absage an den Krieg muss jeder selbst beschließen
Die Köchinnen, die am Zweiten Weltkrieg teilnahmen, erzählten, sie hatten riesige Kessel. Darin kochten sie Brei und Suppe für 400 bis 500 Menschen, aus der Schlacht kamen dann aber nur zehn zurück. Sie kamen völlig verändert wieder, wussten nicht, wer sie waren, konnten den anderen nicht in die Augen sehen. Die Grenze zwischen Tier und Mensch war praktisch ausgelöscht. Ich glaube, das ist uns in der Verherrlichung des Sieges entglitten. Das ist ein Sieg, der sich kaum von einer Niederlage unterscheidet.
Man kann sagen, dass wir Kriegsmenschen sind, und jedes Unglück wirft uns zurück. Jetzt sind wir fast bis ins Mittelalter zurückgeworfen. Als ich durch Moskau fuhr, sah ich unglaublich viele Menschen, die irgendeiner religiösen Zeremonie beiwohnten. Das ist eine Form der Flucht vor dem, was derzeit passiert. Eines Tages sind wir von dem rechten Weg abgekommen, den wir scheinbar eingeschlagen hatten, aber auf dem wir doch nie ins 21. Jahrhundert geschritten sind.
Die Grenze zwischen Tier und Mensch war praktisch ausgelöscht
Als ich im Jahr 2000 in Europa war, freuten die sich für uns, sagten: „Endlich gehört ihr zu uns.“ Die Angst vor dem Atomkrieg hatte die Welt gelähmt. Wir müssen verstehen, wie wir wieder zu Kriegsmenschen wurden, warum wir vergessen haben, was uns die Väter erzählten.
Für mein Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht erzählte mir eine Frau: Bei Verkündung des Kriegsendes verschossen sie und ihre Kameraden die gesamte Munition aus dem Waffenarsenal – Granaten, Patronen – hintereinander weg. Am nächsten Tag kam eine Kommission in diese Einheit und wollte die Schuldigen finden – und alle waren aufrichtig erstaunt: Wieso denn? Die Leute dachten, nach all den Tränen, all dem Leid könne es nie wieder Krieg geben. Doch im russischen Fernsehen werden wieder Drohungen laut – „zu radioaktiver Asche“ soll da jemand werden.
Die Leute dachten es könne nie wieder Krieg geben. Doch im russischen Fernsehen werden wieder Drohungen laut
Mir scheint, Frauen und Kinder verfügen über ein Wissen um den menschlichen Irrsinn, der sich auf welche Weise auch immer in unserer Natur festgesetzt hat. Eine meiner Heldinnen sagte: „Ich erzähle Ihnen von einem solchen Krieg, bei dem sogar ein General kotzen muss“ – das ist eine der besten Geschichten in dem Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Sie erzählte: Wenn der Nahkampf beginnt und die Leute ganz dicht voreinander stehen, verschwindet der Mensch und es bleibt nur mehr Biomasse. Wenn sie einander in Augen und Bäuche stechen, wenn sie nicht schreien, sondern brüllen, wenn einzig der Instinkt funktioniert – dann zeigt sich, dass wir eigentlich nur hauchzart mit Kultur bestäubt sind.
Viele Frauen, die den Krieg erlebt haben, sagten, man müsse nicht über den Sieg reden und sich daran erinnern. Erinnern müsse man sich an die Erfahrung, ein Mensch zu bleiben, nicht zu töten. Neulich habe ich im Fernsehen gesehen, wie Soldaten von Blasmusik begleitet in den Donbass geschickt werden. Aber ich finde, heute ist der ein Held, der nicht schießt.
Wenn der Nahkampf beginnt, dann verschwindet der Mensch und es bleibt nur ein biologisches Wesen
Dostojewski hat in seinen Tagebüchern davon geschrieben, wie viel Mensch im Menschen steckt. Es sind gar nicht so viele, die darüber nachdenken und persönliche Verantwortung für das Weltgeschehen übernehmen. Nicht einmal die heutige Religiosität hat dazu geführt. Sondern sie hat alle zu einer Art Volkskörper gruppiert, der bekanntlich fühlt, aber nicht denkt.
In meinen Büchern will ich Versionen von Menschen zeigen, die aus verschiedenen Perspektiven auf ein bestimmtes Ereignis blicken. Eine Pilotin hat den einen Krieg erlebt, eine Frau, die im Nahkampf war, einen anderen, und eine MG-Schützin einen dritten. Aber alle sagten hinterher: Hauptsache, man sieht dem, auf den man schießt, nicht in die Augen. Denn Krieg verlangt Dumpfheit, nur so kann man töten.
Strelkow sagte, im Donbass sei es in der ersten Woche am schwierigsten gewesen, die Leute dazu zu bringen, aufeinander zu schießen. Weil man dafür aus Friedenszeiten heraustreten muss an einen Ort, wo man für etwas, wofür man normalerweise eingesperrt wird, Medaillen bekommt. Und am Anfang haben die Leute das ungern gemacht, gezwungenermaßen.
Als ich im Krieg war, wurde mir klar, dass ein Mensch, der eine Maschinenpistole in die Hand nimmt, ein anderer wird und nicht mehr der ist, den die Mama zum Beispiel in die Ballettschule gebracht hat. Als ob sich ein Dämon einnisten würde, ernährt von Kriegskultur, die unsere Gesellschaft durchdringt und bedingungslos beherrscht.
Ein Mensch, der eine Maschinenpistole in die Hand nimmt, ist nicht mehr der, den die Mama einst zum Ballett gebracht hat
Das Böse ist besser trainiert als das Gute. Die Kunst hat übrigens eine dunkle Seite, die vom Bösen inspiriert ist.
Im Krieg habe ich gesehen, wie viel Schönheit es da gibt, dass Tod und Schönheit immer nahe beieinander liegen – wenn Geschosse im Nachthimmel fliegen, wenn die Kameraden abends singen, jeder in seiner Sprache. Im Angesicht des Todes offenbaren die Menschen das, was sehr tief in ihnen verborgen liegt. In den ersten Wochen meiner Zeit in Afghanistan stieß ich auf eine Ausstellung moderner Waffen. Der Mensch hat sehr viel Zeit dafür aufgewendet, das Böse schön zu machen.
In Zukunft erwarten uns noch schrecklichere Kriege – nicht mehr Mensch gegen Mensch, sondern Mensch gegen Natur. Sie wird uns auf die Probe stellen, wie bei Fukushima. Ein starker Taifun kann die Zivilisation in einen Haufen Müll verwandeln.
Im Krieg habe ich gesehen, dass Tod und Schönheit immer nahe beieinander liegen
Ich war in Tschernobyl, als die Leute von dort evakuiert wurden. Ein Soldat sagte, eine Frau dort bekämen sie nicht einmal gewaltsam aus ihrem Haus gezerrt. Als ich hinkam, sah sie mich, allein unter Männern, und sagte: „Kindchen, ist das denn Krieg? Schau, die Vögel fliegen, sogar eine Maus hab ich heut früh gesehen, unsere Soldaten sind hier – und ich soll diesen Grund und Boden verlassen?“ Die Welt ringsum ist unverändert – der Himmel, die Blumen, die Erde scheinbar so, wie wir sie kennen. Doch auf die Erde darf man sich nicht setzen, die Blumen darf man nicht pflücken, die Früchte nicht essen. Das neue Böse hat keinen Geruch. Du hörst es nicht und spürst es nicht, weißt nicht, auf wen du schießen sollst. Tschernobyl hat die Menschen von einer Realität in die andere geworfen. Als ich durch diese Zone fuhr, fühlte ich mich weder als Russin noch als Belarussin noch als Französin, sondern als Vertreterin einer biologischen Art, die vernichtet werden kann. Wir haben sehr in die Zukunft geschaut, aber tun so, als wäre nichts geschehen.
Tschernobyl hat alles verändert. Was bedeutet „nah“ und „fern“, wenn am vierten Tag die radioaktiven Wolken über Afrika schweben? Was heißt „unsere“ und „fremde“: Wir haben in Belarus keine eigenen Atomkraftwerke, aber der Wind wehte ein paar Tage von der Ukraine in den Norden, und Tschernobyl wurde auch unser Problem.
Was wir heute Krieg nennen, sieht nicht mehr so aus wie früher. Das Böse hat viele neue Gesichter, die wir oft nicht auseinanderhalten können. Für die Zukunft sind wir überhaupt nicht bereit.
In Belarus findet man kaum jemanden, der noch nie von Kupalle gehört hat. Das Mittsommerfest wird zwischen dem 21. Juni und dem 7. Juli gefeiert.1 Das belarussische Wort für den Feiertag betont die Heiligkeit, die sakrale Bedeutung und nicht etwa einen arbeitsfreien Urlaubstag. Der Reichtum an Liedern, Bräuchen, Überlieferungen und Legenden rund um Kupalle könnte einen ganzen Jahreskreis füllen. Ausgehend von einem einheitlichen Kern finden sich über ganz Belarus verteilt viele Varianten – ein weiteres Indiz für die tiefreichende Archaik dieses Festes. Zur selben Zeit feiern auch alle Nachbarländer von Belarus die Sommersonnenwende, die in Litauen und Lettland sogar ein staatlicher Feiertag ist. Doch nun hinein in die wundersame Welt der Hexen und Zauberer, der magischen Feuer und Kräuter: Kupalle.2
Der längste Tag, hellstrahlende Sonne und die kürzeste Nacht, die nach der Sonnenwende sekündlich und minütlich das Tageslicht wieder schluckt. Dieses augenfällige astronomische Phänomen inspirierte die archaischen Gesellschaften zu einer ganzen Reihe ritueller Handlungen, durchaus durchdacht. In allen, ausnahmslos allen Sonnenkalendern der Welt sind die Sonnenwenden vermerkt. Und die meisten Feiertage des Christentums basieren auf dem Sonnenkalender. Zur Wintersonnenwende, wenn die Tage wieder länger werden, wird die Geburt Jesu Christi gefeiert. Genau ein halbes Jahr später, ungefähr zur Sommersonnenwende, wenn die Tage wieder kürzer werden, feiert man die Geburt von Johannes dem Täufer, der Gottes Sohn mit einem Bad (baden = belaruss. kupazza > Kupalle) im Jordan getauft hat. In der Heiligen Schrift schreibt Johannes der Täufer über sich und Jesus sogar: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Johannes 3:30).
Johannes der Täufer als christlicher Pate von Kupalle
Dabei ist es unverzichtbar, den christlichen Strang dieses anscheinend völlig vorchristlichen Ritus zu verfolgen. In der Iwan-, Jan-, Johann-Linie erkennen wir eine logische Fortsetzung ritueller Aspekte. Diese machen die traditionelle Weltanschauung der Belarussen deutlich, nämlich das Volkschristentum: Hier fügen sich neue Figuren und Ideen organisch in alte Schemata ein und ergänzen das „unzulässige Heidentum“, das sie somit auch sozial legitimieren. Gerade die Verbindung zum heiligen Johannes und dem Motiv der Taufe sorgte gewissermaßen dafür, dass das Fest über die Jahrhunderte bewahrt und weiterentwickelt wurde.
Die archaischen Wurzeln bestehen bis zum heutigen Tag, man findet sie in nahezu jedem Brauch dieser wundersamen Nacht. Das zentrale Element dabei ist das Kupalle-Feuer – es kann ein Lagerfeuer sein oder ein brennendes Rad. „Gott selbst hat das Feuer entfacht“, heißt es in einem Kupalle-Lied. Der Text hebt das irdische Fest gewissermaßen auf eine überirdische Ebene. So wird das Kupalle-Feuer zum Symbol für das heilige kosmische Urfeuer, jenen ursprünglichen Eros, der in der mythologischen Entstehungsgeschichte Himmel und Erde in leidenschaftlicher Umarmung vereinte. Auch heute noch wird das „lebendige“ Feuer für die Kupalle-Mysterien auf althergebrachte Art mithilfe von Zündstein und Schlageisen oder gar durch Aneinanderreiben zweier Holzstücke – wie zwei Leiber – entfacht. Auf dass die Flamme des kosmischen Begehrens die verblühende Welt in neue Bahnen transformiere. Auf dem Höhepunkt von Entwicklung, Vereinigung und Harmonie verschmelzen die vier Elemente (Feuer und Luft – männlich, Wasser und Erde – weiblich) zu einem Ganzen.
Wenn Kupalka in der Nacht auf Besuch geht
Kindern erklärt man das auf einer Stange entzündete Rad gern als Symbol der Sonne. Doch zugrunde liegt ein tieferer, ebenso anschaulicher Sinn. Die Geometrie des Rades symbolisiert das weibliche Prinzip und die Idee der Vollkommenheit der Welt, während der brennende Baumstamm oder der Stab für das männliche Prinzip steht. So finden wir in dieser brennenden Achse eine erstaunliche Konsistenz von Idee und Bild und folglich die Interpretation des Kupalle-Festes als Vereinigung von Mann und Frau, Himmel und Erde, Feuer und Wasser. Erst wenn wir dieses Ereignis als Verschmelzung der beiden Prinzipien zu einem Androgyn begreifen, verstehen wir die Lieder, in denen Kupalka mal bei dem Mädchen Auginka oder Axinka schläft, mal bei dem Jungen Maximka oder Zjareschka. Oder sogar bei Iwan selbst: „Die Leute standen da und staunten, dass Iwan und Kupalka verliebt waren.“ Der erotische Aspekt der Kupalle-Bräuche wird dann fortgesetzt, mit rituellen Vorwürfen an die unverheiratete Jugend, wenn Pärchen dann paarweise übers Feuer springen, und Wahrsagerinnen den Mädchen über ihren zukünftigen Bräutigam Auskunft geben.
Rund um Kupalle finden wir ein noch rätselhafteres und unglaublicheres Liebesmotiv. Balladen erzählen von einer wundersamen Begebenheit: Eine Witwe bringt zwei Söhne zur Welt, die sie in Windeln wickelt und „auf die Donau schickt“; es vergehen 17 Jahre, und eines Tages legt ein Schiff mit zwei jungen Männern an; die Zwillingsbrüder werben um ihre Mutter und ihre jüngere Schwester. Wissenschaftler haben versucht, diese Ballade in dem Kontext zu deuten, dass Kupalle in der Zeit gefeiert wird, in der die Sonne im Sternbild der Zwillinge steht (20. Juni bis 20. Juli). Erstaunt stellten sie direkte Parallelen zur hethitischen Legende der Königin von Kaneš fest, denn auch da werden von einer Witwe geborene Zwillinge ins Wasser ausgesetzt, kehren zurück, werden nicht wiedererkannt und heiraten ihre Mutter/Schwester, um eine neue Dynastie zu gründen. Doch zwischen der Beschriftung der Tafeln mit dem hethitischen Mythos und den ersten Spuren des belarussischen Narrativs liegen viertausend Jahre!
Solche Übereinstimmungen zeugen von der Beständigkeit traditionellen Kulturguts und davon, dass viele seiner für uns nicht mehr ganz verständlichen Bilder und Handlungen kein Zufall sind. Nur mehr Kupalle-Blumen wie der Wachtelweizen und das Ackerveilchen erinnern an die Zeit, als Zwillinge eine kulturelle Rolle spielten.
Kupalle als Fest der Blumen und Kräuter
In einem nicht minder populären Balladenzyklus findet der Bruder keine Bessere als seine Schwester, aber sie zieht einer Hochzeit den Tod vor. Kein Wunder, war doch eine neue Zeit angebrochen, in der Inzest tabu war. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in Pflanzen zu verwandeln. Oder Bruder und Schwester werden als Kinder getrennt, erkennen einander nicht, entdecken ihre Blutsverwandtschaft und werden zu einem blau-gelben Blümchen:
Die Mädchen werden beim Blumenpflücken an Schwester und Bruder denken: Diese blühenden Kräuter waren einst Brüderchen und Schwesterchen.
Kupalle wird häufig als Fest der Blumen und Kräuter bezeichnet, weil es in die Zeit fällt, in der Pflanzen für medizinische und rituelle Zwecke gesammelt werden. Tatsächlich ist zur Sommersonnenwende die Vegetation am Höhepunkt ihres Grünens und Blühens, allerdings hat der Zeitpunkt der Ernte in der Morgendämmerung des Festtags keinen nachweisbaren Einfluss, wie jeder Botaniker bestätigt. Es geht um etwas anderes, nämlich ihre Verbindung zu den Gottheiten. Auch später, in der christlichen Geschichte, werden Pflanzen mit Heiligen assoziiert, etwa in der Legende vom Johanniskraut, das auf Belarussisch swjatajannik heißt, also ebenfalls nach dem heiligen Johannes benannt ist: Angeblich wächst es an Stellen, wo sein Blut versickert ist. Nicht zu vergessen auch, dass die Kupalle-Kräuter am Johannes-Tag in der Kirche geweiht und im Herrgottswinkel aufbewahrt werden, um sie in kritischen Situationen griffbereit zu haben.
Vom heiligen Johanniskraut zum Zauber der Farnblüte
In einer weiteren Pflanze laufen die Fäden verschiedener Kupalle-Mythen zusammen: in der Farnblüte. Es heißt, der Farn blühe um Mitternacht und nur für einen Augenblick, dafür leuchtend hell wie Feuer. Er werde von Geistern, Teufeln und sonstigen Sagenwesen bewacht. Wem es gelinge, diese Blüte zu pflücken, dem werde ein ganz besonderes Glück zuteil. Doch gerade dieses vielversprechende Wort „Glück“ gibt uns Rätsel auf. Oft ist damit Reichtum gemeint, denn in manchen Versionen eröffnen sich dem Eroberer der Blume unterirdische Schatzkammern. In den volkstümlichen Überlieferungen jedoch verleiht die Blume ein ansonsten unzugängliches Wissen. Man beginnt, die Sprache der Tiere zu verstehen, das Flüstern der Bäume und Gräser. Man lernt die Heilkräfte der Pflanzen kennen, die dem gewöhnlichen Auge verborgen bleiben, und wird zu einem Heiler. Mit einem Wort, Welten tun sich auf.
Die Suche nach dem Kupalle-Wunder ist wie die Reise ins gelobte Land
Legenden ranken sich um die enormen Gefahren, die die Suchenden auf sich nehmen. Mal ragt eine grüne Schlange mit einem Hahnenkopf aus den Kletten, mal fliegt eine Hexe mit schwingendem Besen durch die Lüfte, gefolgt von geflügelten Katzen und allerlei Ausgeburten der Hölle. Oder Drachen. Der Weg der Farnblüte ist von grauenerregenden Heimsuchungen gesäumt. In den meisten Versionen kann die Blüte zufällig im Schuh eines armen Hirten landen, der daraufhin die Sprache der Natur versteht. Doch auch in diesem Fall begegnet dem Glückspilz eine „finstere Gestalt“, die ihn bedrängt, seine ramponierten Strohschuhe gegen neue Stiefel zu tauschen. Ist es nicht paradox? Den Schlüssel zum heiligen Wissen hat immer der Teufel … Und er will ihn keinem Menschen geben. Betrachten wir das mal von einer anderen Seite. Die Suche nach dem Kupalle-Wunder ist wie die Reise ins gelobte Land. Der Mensch weiß von den Möglichkeiten, die sich ihm eröffnen können, wenn er der Blume habhaft wird, in den Legenden kann er sogar einige Zeit an dem Wunder teilhaben, ohne davon zu wissen, doch nie kann er es ganz besitzen.
Möglicherweise ist die Moral der Farnblütenlegende, dass dem Menschen nur der Weg zu Glück und Erfolg gegeben ist, ein Festhalten daran für immer ihm jedoch verwehrt bleibt. Der Mensch trachtet mit seinem Streben, alle Geheimnisse und die Sprache des Weltgefüges zu verstehen, nach Ebenbürtigkeit mit Gott, dem Schöpfer. Doch das zerstört die ursprüngliche Hierarchie; die kosmische Ordnung, die zu Anbeginn der Welt festgelegt wurde, geht in die Brüche, und überall breitet sich Chaos aus. In solchen Farben wird eben auch das Pflücken der Blüte beschrieben – als kataklysmisches Ereignis. Allein durch ihre Existenz oder ihr Nicht-Blühen tritt die Farnblüte als Hüterin der Grenze zwischen den Welten auf.
Wahrsagerei mit sozialer Ausprägung
Das Verschwimmen dieser Grenze ist zentrales Thema der Kupalle-Zeit. Die Integrität des Kollektivs und die rituelle Bestrafung Abtrünniger (von ledig Gebliebenen bis zu Hexen und Zauberern) verweisen auf die wichtige Rolle, die Kupalle in der Regulierung des sozialen und kulturellen Raums spielt. Offene Grenzen zwischen den Welten verstärken den Wunsch, in die Zukunft zu spähen – es gibt eine Menge Wahrsagerei mit deutlicher sozialer Ausprägung: Wann wird geheiratet und wie viel bleibt noch an Lebenszeit. Heute staunen wir über die Bräuche unserer Ahnen, mit denen sie ihr Schicksal voraussagten: Wenn eine Blüte, die man gepflückt und zu Hause zwischen zwei Balken geklemmt hat, aufblüht, erwartet einen dieses Jahr Freude am Leben. Wenn nicht, dann …
Doch die Jugend ist jung, und es ist im Interesse des Kollektivs, an sie zu denken. Deswegen tun sich die Jungen zu Paaren zusammen, festigen ihre Verbindung beim Sprung übers Feuer, zeugen Kinder, feiern Hochzeit, wählen Zaren und Herrscher. Auf dass das Leben der Menschen und des Kollektivs weitergehe. Aufgrund dieser sozialen Funktion bleibt Kupalle auch in der modernen Gesellschaft fest verankert. Hier geht es nicht vorrangig um Ernte oder Nachwuchs (dafür gibt es andere Brauchtümer), hier geht es um die Fortsetzung der menschlichen Welt und die Beibehaltung ihrer Ordnung. Daher auch um das Abschütteln von Veraltetem, Abgetragenem (im Kupalle-Feuer wird ja auch Gerümpel verbrannt, das man aus dem ganzen Dorf zusammenträgt). Wie jeder „Grenz-Feiertag“ ist auch Kupalle ein Tag, an dem der Grat zwischen den Welten so dünn wird, dass die jeweiligen Bewohner hin- und herwandern, miteinander kommunizieren, ihre wahre Natur zum Vorschein bringen. An dem deutlich wird, dass die Trennung in irdischen und jenseitigen Raum nicht zwingend ist.
Geister, Dämonen, Kurzzeithexen und Wassernixen im Kornfeld
Obwohl auch von Geistern und Dämonen erzählt wird, räkeln sich zu Kupalle auch Wassernixen ungeniert in den reifenden Kornfeldern. Nein, die beiden Welten verfügen lediglich über eine mentale Grenze und bestehen problemlos nebeneinander. Denn die Dorfhexe ist einfach eine Nachbarin, deren besondere Fähigkeiten nur in dieser Nacht ihre Kraft entfalten: Sie sammelt, was auf fremden Feldern und in den Ställen der Nachbarn gedeiht, mit einer Milchseihe ein, bis aus dieser Milch zu tropfen beginnt, verwandelt sich in eine Kröte, geht aufrecht wie ein Mensch in die Scheune und saugt den Kühen die Milch aus. Was dann kommt, ist ein bisschen wie im Horrorfilm, obwohl solche Geschichten auch heute noch gern die Runde machen: Erwischt man so ein Scheusal und fügt ihm sichtbare Schäden zu, ohne es aber zu töten, so sieht man tags darauf bei jemandem aus dem Dorf gebrochene Arme, ein geschwollenes Auge und dergleichen. So funktioniert die Erziehung der Gesellschaft, indem man den Übeltäter öffentlich zur Schau stellt! Soll er sich doch schämen und bessern …
In manchen belarussischen Regionen steht die symbolische Reinigung des Kollektivs im Vordergrund, das Loswerden nicht nur von altem Zeug, das im Feuer verbrennt, sondern auch von potenziellen Übeltätern. Auch sie werden verbrannt, wie es früher in ganz Europa üblich war. Heute werden sie nur mehr symbolisch den Flammen übergeben, als Puppe – leider in Gestalt einer Frau mit einem Kopftuch … Sie heißt Mara oder Marena, manchmal auch Baba Jaga. Die Hexer des Dorfes können sich, so die Idee, auch selbst entlarven, indem sie nicht zum Kupalle-Feuer kommen oder indem sie versuchen, glühende Kohlen daraus zu entwenden. Auch deswegen wird bei den Feierlichkeiten so aufmerksam auf die Vollständigkeit des Kollektivs geachtet: Alle müssen hin, und wer sich weigert, der – so heißt es in einem Lied – „soll umfallen wie ein Baumstamm und seine Kinder wie Holzscheite“ … Die gesellschaftliche Einheit an diesem kosmischen Umbruch bestimmt eben auch den Zusammenhalt für das kommende Jahr – bis zum nächsten Kupalle.
In Belarus das beliebteste Fest des Jahres
Das Kupalle-Fest hatte historisch gesehen Glück. Mit seiner außergewöhnlichen Tiefe und der Verankerung durch christliche Allusionen blieb es auch in der Sowjetzeit lebendig und wurde von den Kulturfunktionären aktiv gepflegt. Nicht ohne ideologische Adaptionen allerdings: Erotik und Hexenglauben wurden abgemildert, der Akzent auf ein Sonnen- und Blumenfest gesetzt, und jegliche Assoziationen zur Taufe wurden getilgt. Doch noch spannender ist, was im postsowjetischen Belarus aus Kupalle wurde – nämlich das beliebteste und „belarussischste“ Fest des Jahres, das tatsächlich auch in jenen Gegenden Schwung aufnahm, in denen es vorher weniger Beachtung fand. Der moderne Belarusse kann sich mit dem Bäuerlichen, der Ernte, dem Dorf – lauter Themen, von denen die anderen Bräuche voll sind – nicht mehr so stark identifizieren. Die heutige Attraktivität von Kupalle liegt in dem Mysterium der kosmischen Ehe und der irdischen Liebe, die immer und für alle relevant sein wird. Wie auch am Etikett „das belarussischste“ Fest zu sein.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Die Ungenauigkeit im Datum hat mit der Kalenderreform von 1582 zu tun, als die katholische Kirche den neuen europäischen Gregorianischen Kalender übernahm, der den astronomischen Realien genauer entsprach. Die orthodoxe Kirche hingegen behielt den Julianischen Kalender bei. ↩︎
Dem belarussischen Kupalle ist umfangreiche wissenschaftliche Literatur gewidmet, vgl. Lis A.S. Kupalskija pesni. Minsk 1974; Tawlai G.W. Belorusskoje Kupalje. Obrjad, pesnja, Minsk 1986; Walodsina T., Kucharonak T. “adranoje shyta haspadara klitscha…”: kaljandarny hod u abradach i swytschajach, Minsk 2015 ↩︎
„Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst“ und schon stürzte am 22. Juni 1941 der deutsche Überfall auf die Sowjetunion das ganze Land in einen kollektiven Schock. Völlig unvorbereitet stemmte sich die UdSSR gegen die deutsche Übermacht, die auf ihrem Vormarsch Tod und Verwüstung hinterließ. Die genauen Opferzahlen sind nicht ermittelbar, nicht zuletzt deshalb, weil sie seit dem Kriegsende ständig zum Politikum gemacht werden: So sprechen neueste Schätzungen aus Russland von rund 42 Millionen sowjetischen Opfern des von Deutschland ausgelöstenGroßen Vaterländischen Krieges. Ein Politikum ist die Kriegsgeschichte selbst: Der Kreml monopolisiere die Geschichtsdeutung, so die Kritik zahlreicher Sozialwissenschaftler. Tatsächlich können abweichende Interpretationen seit 2014 sogar strafrechtlich geahndet werden – als sogenannter „Ausdruck von Respektlosigkeit“.
In einer Zeit, in der das abweichende Erfahrungsgedächtnis zusehends einer staatlich-verordneten Erinnerungskultur weicht, werden die Stimmen der Zeitzeugen umso wertvoller. Zu den gewichtigsten gehört Daniil Granin. Mit 22 Jahren kam er an die Front, jung, beherzt und naiv. Schnell eignete er sich eine Kriegslogik an. Nach dem Krieg verarbeitete er seine Erlebnisse in zahlreichen Publikationen, die zum Teil auch ins Deutsche übersetzt wurden.
Im Interview mit der Novaya Gazeta reflektiert und hinterfragt der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller nochmal das Vergangene sowie den heutigen Umgang damit. Und widerlegt vortrefflich das Klischee, dass „Zeitzeugen die größten Feinde des Historikers“ seien.
Daniil Granin: In den ersten Jahren nach dem Sieg verbot uns die Zensur zu erzählen, wie wir 1941 in den Krieg gezogen sind und gekämpft haben. Und auch wir selber erzählten lieber vom späteren Vormarsch. Wie wir in Berlin einmarschierten. Aber wie es am Anfang war, welche kolossalen Verluste wir erlitten hatten, den Rückzug angetreten hatten, getürmt waren, Stadt um Stadt ausgeliefert hatten – darüber wollten wir nicht sprechen.
Das war die tragischste Zeit – der Anfang des Krieges. Als unser Militärtransport im Juli 1941 an die Front fuhr, sangen alle Lieder. Wir waren glücklich, dass wir ins Volksheer gekommen waren. Ich war vom Wehrdienst freigestellt worden und arbeitete in einem Konstruktionsbüro für Panzer. Meine Aufnahme ins Volksheer hatte ich nur mit Mühe durchgesetzt. Ich dachte: Wie kann das sein? Es ist Krieg! Und ich soll nicht teilnehmen?! Das ist ein unbeschreibliches Gefühl …
Im Nachhinein kommt es einem irgendwie einfältig vor, dumm.
Novaya Gazeta: War das der Glaube an sich selbst oder an das Land?
Es war die allgemeine Stimmung, aber auch meine persönliche Überzeugung, dass wir bald siegreich zurückkehren würden. Wir hatten keine Ahnung vom Krieg.
Da war auch noch ein anderes Gefühl. Das hat uns in den ersten Kriegsmonaten zu schaffen gemacht: Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst und mit ihm angestoßen. Hatte Deutschland „unseren Freund“ genannt. Wir zogen in den Krieg, ohne mit Zorn gerüstet zu sein. In uns wuchs ein Gefühl von Befremden und Kränkung: Wie konnte das sein? Sie hatten uns ohne jegliche Vorwarnung angegriffen.
Nicht nur unsere Politiker waren den Deutschen auf den Leim gegangen, betrogen worden und in die Falle getappt, sondern auch wir: Wir waren im Wortsinn und moralisch unbewaffnet losgezogen.
Wir hatten keine Ahnung vom Krieg
Als der erste deutsche Pilot bei uns in Gefangenschaft geraten war, sprach der mit uns von oben herab, wie mit einer niederen Rasse, mit der Überlegenheit eines Ariers und Militärs. Er kündigte an: „Ihr seid dem Tode geweiht.“ Wir bemühten uns, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Thälmann, Karl Liebknecht, „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Das war ja überall präsent, in allen Zeitungen. Es dauerte tatsächlich ein paar Monate, bis wir genug Hass und Zorn beisammen hatten. Bis wir jedenfalls die freundschaftlichen Gefühle und Gesinnungen losgeworden waren.
Woher nahmen Sie den Hass?
Von den deutschen Soldaten. Die hinterließen nach ihren Angriffen niedergebrannte Dörfer, zerstörte Städte, Galgen. Aber die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?
Dieser Krieg war ja nicht dazu da, irgendwelche Gebiete zu erobern. Nein. Sie drangen Richtung Moskau vor, um Russland zu zerstören. Leningrad zu vernichten. Hitler sagte wörtlich: „dem Erdboden gleichzumachen“.
Die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?
Im ersten Kriegsjahr war vieles völlig unbegreiflich. Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Ich bekam kein Gewehr. Es wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt. Aber wo waren unsere Waffen? Wo unsere Flugzeuge? Warum bombardierten uns die Deutschen, und wir hatten überhaupt nichts zur Verteidigung auf unserem Frontabschnitt, zum Beispiel Jagdflugzeuge?
Völlig unerwartet trat plötzlich offen zu Tage, wie wenig unsere Armee auf den Krieg vorbereitet war. Es gab nicht mal topografische Karten. Das war entmutigend. Es hatte doch dauernd Militärparaden gegeben. Ständig hatten wir Heldenlieder über Woroschilow und Budjonny gesungen: „Keiner kann ihn uns nehmen, den zurückgelegten Weg, Rote Division, voran, voran, voran …“
Die Enttäuschung darüber, dass wir nicht kampfbereit waren, wuchs. Auch darüber, dass die Deutschen Stalin um den Finger gewickelt hatten. Sie hatten alles vorbereitet, wir nichts. Wir rannten vor ihnen weg. Das ist ein demütigendes Gefühl. Ein panisches Gefühl.
Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Also wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt
Es gibt eine Seite des Krieges, die sich erst Jahre später erschließt, und die den Historikern kaum zugänglich ist. Den Krieg, den ich erlebt habe, findet man nicht in Dokumenten. Auch was konkrete Ereignisse angeht, ist da nicht viel. Aber diese Seite trägt zum Begreifen eines Wunders bei:
Es ist die Geschichte der Brüderlichkeit unter Soldaten. Wie sich die Stimmung der Soldaten veränderte. Es ist wie ein EKG, das über vier Jahre abgeleitet wird und das sich dauernd ändert: zuerst Prahlerei, dann Hoffnung, dann Enttäuschung, Verzweiflung, ein Gefühl der Katastrophe. Dann – irgendeine Erfahrung und wieder ein Bruch: Dir wird klar, dass man doch auch einen Deutschen töten kann. Dieses EKG lässt sich sehr schwer aufzeichnen, aber genau das hat den Krieg beeinflusst und letztlich entschieden.
Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war.
Eine sehr große Rolle spielte für uns, dass die Deutschen es nicht schafften, Moskau einzunehmen, in Moskau einzumarschieren, sondern im September 1941 bereits bei Leningrad Halt machten. Außerdem machten sie dort nicht nur Halt, sondern waren gezwungen, den Rückzug anzutreten. Das war der erste spürbare Erfolg, und der markierte einen psychologischen Umschwung.
Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war
Kriegsgeschichte ist nicht nur Geschichte der Schlachten und Verluste, sondern auch die Geschichte darüber, wie sich die Psychologie der Soldaten veränderte. Dieser Teil der Kriegsgeschichte ist nur dürftig abgebildet, sie ist den Historikern nicht zugänglich, es sind nur Erinnerungen von Soldaten und Generälen.
Niemand konnte voraussagen, dass der Krieg vier Jahre dauern würde – weder die Kriegsherren, noch die Offiziere, noch die einfachen Soldaten. Hätte man mir während meiner Bemühungen um die Aufnahme in die Armee gesagt: „Du kommst, wenn du denn überlebst, in vier Jahren zurück“, hätte ich das nicht geglaubt oder mich nicht als Freiwilliger gemeldet.
In der Literatur der Nachkriegszeit davon zu erzählen, genierte man sich. Auch die Zensur hielt diese Enttäuschung unter Verschluss. Dieser Teil der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges wurde fast nicht ans Licht gebracht. Darüber durfte nicht gesprochen werden.
Dass die Zensur viele Jahre lang nicht erlaubte, die Wahrheit zu sagen, dass sie unrühmliche Momente vertuschte – unsere Niederlagen, den Mangel an Waffen – war es richtig, den Patriotismus der Menschen auf diese Art zu steigern? Wer die wahren Umstände nicht kannte, hielt Stalin wahrscheinlich nach wie vor für einen genialen Feldherren.
Das ist eine schwierige Frage. Zum Beispiel die Heldentat der Panfilowzy… Jetzt weiß ich, dass sie aufgebauscht wurde, doch damals war das hilfreich. Da gab es auch die Losung: „Mit der Brust werfen wir uns dem Feind entgegen“. Mit der Brust wirfst du dich gar niemandem entgegen. Aber ich weiß noch, dass sie halfen, sowohl die Panfilowzy genauso wie Matrossow belebten den Kampfgeist.
Es gab auch gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte: Wie real war das, wie viel Prozent Wahrheit steckten drin? Solche Dinge waren im Krieg von großer Bedeutung. Deswegen ist die Einstellung dazu äußerst komplex.
Es gab gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte
Es gab auch Momente, in denen uns sofort klar war: Das ist reinste Propaganda.
Stalin hielt gleich zu Beginn des Krieges, 1941, eine Rede und sprach davon, wie viele Millionen Deutsche wir vernichtet, getötet hätten. Er nannte eine so hohe Zahl, dass wir uns fragten: Warum stehen sie dann noch vor uns?!
Was, wenn man Ihnen die ganze Wahrheit gesagt hätte, dass wir nicht vorbereitet waren, keine Waffen hatten, dass die Mittel, die Kraft nicht ausreichen würde?
Das wäre sehr schwer gewesen. Was konnten uns die Kommissare schon sagen? Nicht nur die Hoffnung musste genährt werden, auch der Glaube an weitere Erfolge, und die fehlten die ganze Zeit. Monat um Monat erlebten wir Rückzug, Panik.
Mein Krieg überlagerte sich noch mit der Tragödie der Blockade. An der Leningrader Front hatten wir zusätzlich das Leid der Zivilbevölkerung vor Augen. An anderen Fronten war das weniger spürbar. Schlimm war es natürlich auch, aber Leningrad bekam es am heftigsten ab.
Stimmt es, dass die Isaakskathedrale und einige andere Petersburger Denkmäler und Gebäude während des Krieges für die Stadtbewohner Symbole waren, die ihnen Kraft gaben?
Ja, das stimmt. Wir sahen durch Feldstecher Brände in der Stadt, Rauchsäulen, die nach den Bombardements der Faschisten aufstiegen, und uns zerriss es das Herz. Weil da nicht nur eine Stadt brannte, da brannte der Stolz Russlands. Die Stadt, die man mit Peter dem Großen verband, mit den Dekabristen, mit Puschkin, Lermontow, Gogol, Dostojewski … Sie alle waren an der Verteidigung Leningrads beteiligt.
War die Stadt Leningrad in diesem Krieg wichtiger als Moskau?
Für Hitler noch früher als für uns. Er sah die Wurzeln des Bolschewismus in Leningrad und machte es im Plan Barbarossa zum wichtigsten Angriffsziel. Der Führer sah das so: Sobald Leningrad erobert ist, fällt der Widerstand.
Es gab in der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges zwei bedeutende Brennpunkte des Widerstands: Stalingrad und Leningrad. Stalingrad war militärischer Widerstand, Leningrad – mentaler: das Durchhaltevermögen sowohl der Armee als auch der Bevölkerung.
Damals wussten wir das nicht, aber nach dem Krieg wurde bekannt, dass Leningrad die Soldaten an anderen Fronten des Landes beflügelt hatte. Zu begreifen, dass die Menschen bis zum Tod standhaft blieben, trotz des Hungers, den sie überspielten, trotz Entbehrungen und Verlusten. 900 Tage! Keine andere Stadt hat in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs einer so langen Einkesselung standgehalten! Solche Dinge halfen natürlich.
Kürzlich wurden neue Verlustzahlen der UdSSR im Zweiten Weltkrieg genannt – 41.979.000 Menschen. Was denken Sie darüber?
Diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor. Hatten zumindest bisher Angst.
Begonnen hat die Zählung mit sieben Millionen und stieg dann bis 42. Schrittweise. Jahrzehnt um Jahrzehnt. Eine Zahl unter Stalin, bei Chruschtschow die nächste, bei Breshnew die dritte, bei Jelzin die vierte. Jeder neue Regierungschef hat mal mehr, mal weniger hinzugefügt. Und plötzlich steht diese entsetzliche Zahl vor uns. Aber auch das ist nicht alles.
42 Millionen Tote – diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor
Was sind 42 Millionen? Das ist keine Zahl. Für die, die am Leben geblieben sind, ist es Einsamkeit. Ich habe niemanden, mit dem ich den Tag des Sieges feiern kann. Von meinen Freunden aus Schul- und Studentenzeit, von meinen Kriegskameraden ist mir keiner geblieben. Nicht nur kraft der Natur, sondern auch, weil sie im Krieg umgekommen sind. Damit ist ein Teil meiner Jugend gefallen, meines Lebens, er ist zusammen mit ihnen verschwunden.
Es gab einen Umstand, der uns alle sehr traf. Stalin hat niemals (vielleicht irgendwann mal in privaten Gesprächen) einen Trinkspruch zum Gedenken der Todesopfer ausgebracht. Er wusste doch, dass das nicht nur sieben Millionen waren. Und beim Empfang nach dem Sieg hat er nichts über sie gesagt. Sie mit keinem Wort erwähnt. Kein Glas auf sie erhoben. Das ist unverzeihlich.
Was ist für Sie heute am schmerzhaftesten, wenn Sie an den Krieg denken?
Man hat uns den Sieg geraubt. Ich habe mich einmal mit Helmut Schmidt unterhalten. Ich fragte ihn: „Warum habt ihr den Krieg verloren?“ Er antwortete sofort (er hatte eine durchdachte Antwort parat, er ist ein guter Politiker, ein professioneller Historiker, hat selbst gekämpft, hat alles gesehen, weiß alles): „Weil die USA in den Krieg eingetreten sind“.
Dabei ist Amerika ganz spät eingetreten.
Man hat uns den Sieg geraubt. Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenhafter, als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf
Ich konnte nicht verstehen, woher diese Version stammte. Und dann wurde mir klar: Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenvoller als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf. Und jetzt ist das im Westen überall durchgedrungen, bis hinein in den Geschichtsunterricht. Das ist ungerecht, anstandslos. Die Menschheit ist uns für diesen Sieg verpflichtet, für die Zerschlagung des Faschismus.
Aber es stellt sich noch eine Frage: „Warum haben wir gewonnen?“ Für mich ist auch da vieles unklar.
Einmal wurde ich gebeten, mit Schülern über den Krieg zu sprechen. Plötzlich steht ein etwa achtjähriges Mädchen auf und fragt: „Daniil Alexandrowitsch, wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Da verstand ich, dass sie diesen Krieg heute völlig anders sehen. Dass es auch diese Seite des Krieges gibt, wo gefragt wird: „Wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Nicht Deutsche, nicht Feinde, sondern Menschen. Verstehst du? Wie viele Menschen haben Sie getötet? Ich antwortete: „Ich habe Feinde getötet.“