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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Vorsicht vor dem ausländischen Touristen!

    Vorsicht vor dem ausländischen Touristen!

    Unmittelbar vor Beginn der Fußball-WM hat die Duma-Abgeordnete Tamara Pletnjowa russische Frauen gewarnt: Sie sollten sich während der WM nicht auf intime Beziehungen mit ausländischen Fans einlassen. Zumal nicht mit Fans einer anderen „Rasse“. Denn deren Kinder würden dann diskriminiert – eine Erfahrung, die Frauen und Kinder nach der Olympiade 1980 gemacht hätten, meint die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder.

    Im Massenblatt Moskowski Komsomolez schrieb Platon Bessedin von der WM als einem „Zeitalter der Nutten“ und prangerte das angeblich enthemmte Verhalten seiner Landsfrauen an. Der Blogger Anton Troizki spricht nicht vom russischen „Futbol“, sondern vom „Sexbol“.
    Wie viel diese Diskussion mit der Realität zu tun hat und nicht eher der (männlichen) Fantasie entspringt, auch das wird debattiert.

    Alexandra Archipowa vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Hochschule RANChiGS hat den historischen Wurzeln solcher und ähnlicher Debatten nachgespürt. In ihren Text auf Republic hat sie auch Umfrageergebnisse und Probanden-Interviews einer wissenschaftlichen Studie einfließen lassen. Ihr Blick in die Geschichte zeigt, dass mit der Angst vor dem ausländischen Touristen ein sowjetisches Propaganda-Phänomen wiederbelebt wird – das bis vor vier Jahren kaum noch Relevanz hatte.

    Auf den ersten Blick wenig gefährlich – ein britischer Fan bei der WM in Moskau / Foto © Pixabay
    Auf den ersten Blick wenig gefährlich – ein britischer Fan bei der WM in Moskau / Foto © Pixabay

    Im Vorfeld der Fußball-WM wurden die Russen von Parlamentsmitgliedern (und nicht nur von diesen) vor möglichen Gefahren gewarnt: Ausländer wollen unseren Kindern mit Drogen gespickte Zigaretten geben (so der Direktor einer Moskauer Schule), sie wollen unsere Leute mit gefährlichen Krankheiten anstecken und sorgen schließlich dafür, dass in unserem Land eine Menge Babys „einer anderen Rasse“ geboren werden (meint die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familien, Tamara Pletnjowa).
    Man kann sich natürlich wunderbar lustig machen über solche Meldungen und ihre Autoren, man kann aber auch versuchen zu verstehen, woher solche Ideen kommen.

    Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1957 waren die erste derartige Veranstaltung. Für die damalige Zeit war das etwas Außerordentliches: Nach Stalins Tod, den Repressionen, dem Hunger, der Angst kamen plötzlich „andere Menschen“ nach Moskau – zigtausende Ausländer, mit denen man Filme und Konzerte besuchen konnte und reden, reden, reden.

    Unkontrollierte Verbrüderung

    Die unkontrollierte Verbrüderung des sowjetischen Volkes mit Ausländern versetzte die Parteiführung natürlich in Unruhe (vielleicht sogar Panik). Unter den Studenten und Jugendlichen aus aller Welt sahen sie Saboteure und Spione, die unsere Leute ruchlos ermorden würden. Und deswegen warnte Jekaterina Furzewa, später omnipotente Kulturministerin der UdSSR, vor Beginn des Festivals ihre Moskauer Kollegen vor möglichen Provokationen der „Ausländer mit Spritze“. Ihre Aussagen spiegeln sich in Gerüchten, die uns aus sowjetischen Briefen von 1957 bekannt sind: „In Moskau werden alle gegen Pest geimpft, weil es (das glauben unsere Leute) unter den Festivalgästen welche geben wird, die Ampullen mit Pestbakterien mitbringen.“

    Das Bild des Ausländers, der den Sowjetbürger mit allerlei Krankheiten anstecken will, „noch dazu mit maximaler Hinterhältigkeit, unter dem Deckmantel der Freundschaft“, hat mit dem beginnenden Kalten Krieg zu tun. Die Frage ist, warum werden gerade Ampullen und Spritzen zur Waffe des Geheimagenten?

    1952, der Koreakrieg war in vollem Gang, berichtet die sowjetische Presse am laufenden Band von Opfern der Imperialisten: von Bomben, aus denen mit Pest infizierte Mücken fliegen, von als medizinische Hilfe getarnten Impfungen mit dem Typhus-Erreger. Der sowjetischen Propaganda zufolge führten die amerikanischen Truppen keinen traditionellen Kontaktkrieg, sondern einen Krieg, der noch schrecklicher war – sie töteten mit biologischen Waffen aus großer Distanz.

    Amerikanische Jeans, verseucht mit importierten Parasiten

    In der Ära Breshnew wurde das Bild des Ausländers, der unsere Bürger vergiftet, ebenfalls häufig bemüht, und zwar zu ganz verschiedenen Zwecken. Amerikanische Jeans, verseucht mit importierten Parasiten, galten bei Komsomolzenführern als Beispiel für ideologische Subversion. Vor den Olympischen Spielen 1980 stand dem Sowjetmenschen wieder, wie 1957, die Konfrontation mit einem Schwung ausländischer Gäste bevor und mit all diesen Dingen, die sie mitbringen. Damals zirkulierten verstärkt Texte über Amerikaner, die Kaugummi, Jeans und Süßigkeiten vergiften. Allerdings hatte sich deren Inhalt 1980 schon deutlich weiterentwickelt.

    Vor der Olympiade 1980 transformierte sich die vage Besorgnis vor dem Einfall der Fremdlinge endgültig zur massenhaften Überzeugung, dass die erwarteten Gäste aus dem Ausland nie dagewesene Infektionen übertragen würden – davon redeten buchstäblich alle. 
    Solche Geschichten wurden mit pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen unter Verwendung medizinischer Terminologie untermauert: Man sprach von „Viren“, „Mikroben“, „Infektionen“ und „entsetzlichen Geschlechtskrankheiten“ der Ausländer. In Moskau kursierten Gerüchte, Ausländer hätten das Marseille-Fieber „Olimpika“ gebracht, und das Tragen amerikanischer Jeans verursache Unfruchtbarkeit oder eine spezielle „Jeans-Dermatitis“.

    Bei den Olympischen Spielen 1980 war der furchteinflößende Fremde, der eine Gefahr darstellte, vor allem der „Neger“. Viele Moskauer erzählten von ihren Befürchtungen während der Spiele, der Kontakt mit den „Negern“ gehe mit schweren Geschlechts- oder Hautkrankheiten einher, einschließlich Lepra und Syphilis. Solche Dinge hatten sie von Freunden, Eltern, Lehrern und Trainern im Bezirkskomitee gehört. Schülern wie Erwachsenen wurde erklärt: „Halte dich von den Negern aus Afrika fern, die haben Maden unter der Haut – das ist schon fast ihr Nationalstolz.“

    Die größte Angst 1980 – das waren Geschichten über eine absichtliche Verseuchung des sowjetischen Volkes mit Geschlechtskrankheiten über attraktive Gegenstände des öffentlichen Gebrauchs, zum Beispiel über Automaten mit Sodagetränken. Witali, zur Zeit der Olympischen Spiele ein Teenager, erzählt, wie er hörte, dass „im Becher vom Soda-Automaten ganz früh am Morgen (um vier oder fünf) ein Neger seinen Penis gewaschen hat“.

    Die sowjetische Führungsriege erwartete solche Gefahren von ausländischen Teilnehmern an Sportwettkämpfen und Festivals und war immer bereit, die Kontakte des sowjetischen Volkes mit potenziellen Feinden einzugrenzen. Solange, bis 1985 Michail Gorbatschow (seinem Assistenten zufolge erschüttert über das Gerede von den gefährlichen Ausländern) bei einer der Besprechungen zu den Weltjugendfestspielen in der UdSSR dieser Tradition ein Ende setzte: „Die Bedeutung direkter Kontakte von Ausländern mit Menschen aus der Sowjetunion [ist sehr wichtig für die Entstehung] wahrheitsgetreuer Vorstellungen über uns. Keine Angst – sollen nur möglichst viele kommen“ (Tagebucheintrag von Gorbatschows Assistenten M. Tschernjajew vom 27. August 1985).

    Seit 2014 werden alte Ängste wieder aktuell

    Mit dem Zerfall der Sowjetunion verschwanden diese Ängste scheinbar. Bei den Olympischen Winterspielen 2014 konnte sie unsere Forschungsgruppe tatsächlich fast nicht feststellen. In den letzten vier Jahren wurden sie aber wieder aktuell.

    Im Frühling 2018 verlautbarte der Direktor einer Moskauer Schule, dass die zur WM anreisenden Amerikaner Zigaretten mit Drogen an Kinder verteilen würden, und forderte von den Eltern, ihre Kinder für die Zeit der WM aus Moskau hinauszubringen. 
    Und in einem kleinen Städtchen im russischen Norden, wo im Frühling und Sommer viele ausländische Touristen hinkommen, um ein berühmtes Kloster zu besichtigen, gab es einen kleinen Elternaufstand. Die Touristen wurden nämlich nicht nur ins Kloster, sondern auch in die örtliche Schule geführt, wo sie sich mit den Schülern unterhielten und sie sogar fotografierten. Die Eltern wollten den Ausländern verbieten, ihre Kinder zu fotografieren, sogar mit ihnen zu reden: „Wer weiß, womit man sich da anstecken kann.“

    Aber jetzt ist die Fußball-Weltmeisterschaft, und wieder, wie 1957 und 1980, droht den Russen der direkte Kontakt nicht nur mit Gruppen von 20 Touristen, sondern mit hunderttausenden Ausländern. Sprecher der Staatsduma übertragen wieder dieselben zwei Arten von nun gar nicht mehr latenter Angst auf die Öffentlichkeit.

    In einer Situation, in der alle anderen Möglichkeiten zur Kontrolle von Interessen und Entwicklung der Gesellschaft ausgeschöpft sind und das Gefühl einer inneren sozialen Instabilität herrscht, ist das einzige Argument, das den Machthabern bleibt, eine Anweisung, den Kontakt zu Menschen aus der Außenwelt zu vermeiden – einfach aus dem Grund, weil sie nicht so sind wie wir. Wie Tamara Pletnjowa sagte: „Ich bin nicht nationalistisch, aber trotzdem.“ Die Angst vor dem „Fremdling“ war sehr viel früher da als der Begriff der Nation.

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    Der russische Frühling

    August: Olympia 1980

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    WM: Potemkinsche Städte

  • Schanson à la russe

    Schanson à la russe

    Was den Franzosen die Liebe, ist den Russen der Knast? Zumindest ist ein wichtiger Zweig der russischen Populärmusik inspiriert von Lagergesängen, die die Gulag-Insassen einst aus den Weiten der sibirischen Steppe mitbrachten. Pawel Belosludzew hat den russischen Chanson für Batenka unter die Lupe genommen.

    Interesse an der Gefängnis-Subkultur gewann ich als Teenager, als ich einen Mitschüler dabei ertappte, wie dieser ehrfürchtig Michail Krug lauschte. Der Typ pinnte sich auch Bilder mit A.U.E.-Symbolik an die Wand, teilte Zitate von Knastbrüdern in Sozialen Medien und hatte ganz allgemein ein Faible für die Gefängnis-Mythologie. Ich kann mich sogar erinnern, dass er einmal in vollem Ernst zu mir sagte: „Vor dem Bau bist du nie sicher.“ Goldene Worte, danke dir, Wowan.

    Damals schon fragte ich mich: Wie kann es sein, dass erstens ein Kind, und zweitens eines, das – klar! – nie gesessen hat, in den Bann der brutalen Ästhetik krimineller russischer Superhelden gerät? Warum beißen Leute, die mit dieser Kultur absolut nichts zu tun haben, bei Liedern über Tattoos mit Kirchenkuppeln oder Spielkarten-Assen an? Was ist daran für sie romantisch? Ist das krankhafte Empathie oder Liebe zur Exotik? Keine Ahnung, echt. Aber dass gegenwärtig die Gefängnismusikindustrie in die Ewigkeit eingeht, muss ich und müsst ihr wohl einsehen.

    Gefängnisfolklore – erste Dokumentationen

    1908 bereiste der Volkskundler und Komponist Wilhelm Harteveld die rauen sibirischen Weiten, um erstmals die Musikkultur in den Straflagern Sibiriens zu dokumentieren. Seine Sammlung aus gut 200 Liedern über das schwere Dasein der Zwangsarbeiter nannte Harteveld dementsprechend: Lieder der Katorga.

    „Ich bin glücklich, wenn Sie anhand dieser Lieder erkennen, dass die Menschen, die sie gemacht haben, genau solche Menschen sind wie Sie“, begann Harteveld seine Vorträge und meinte das absolut ernst, denn wie wir wissen, unterschied sich die gesellschaftliche Wahrnehmung des Gefängnisses in der Vergangenheit leider nicht sonderlich von der heutigen.

    Die Nacht vor der Strafe, aus der Sammlung Lieder der Katorga
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    Verzeih mir, Heimat, schönes Land!
    in Verbannung ich mich fand,
    Auf ewig dort, wo furchtbare Minen sind,
    Wo Türme stehen wie ein Gebirgskamm,

    Harmlosen Spaß gibt es hier nicht,
    nicht Flachland und geschmückte Felder.
    Vorwurf und Verachtung – 
    die werden dort in meine Seele dringen.

    Hier wird die Sehnsucht meine Freundin,
    weit weg von meinen Lieben leb ich als Waise
    Erinnerung und Schmerz der Trennung
    lassen mich leiden bei hundert Jahren Arbeit!~~~«Ночь перед наказанием», из сборника «Песни каторги»

    Прости отчизна, край отрадный!
    В изгнанье вечно я решён,
    Туда, где россыпи ужасны,
    Как башни, где хребты, стоят,

    Где нет невинных развлечений,
    Равнин, украшенных полей
    И где упрёки и презренья
    Должно нести душе моей.

    Там буду жить с подругой-скукой,
    Вдали от милых, сиротой,
    С воспоминаньем и разлукой
    Страдать в работе вековой![/bilingbox]

    18 Jahre später stirbt Harteveld, ohne auch nur zu ahnen, wie weit es sein ethnografisches Erbe noch bringen wird.

    Die Gefängnismusikindustrie des letzten Jahrhunderts (genauer, der Sowjetzeit) hat etwas Paradoxes. Aspekte, die gut nachvollziehbar die Straflagerexistenz aufgreifen, und mit ihr die geächtete Popularisierung und Romantisierung einer kriminellen, marginalen Lebensweise, wurden damals von bekannten Lied- und Chanson-Interpreten besungen: zum Beispiel von Leonid Utjossow:Gop so smykom S odesskogo kitschmana, Irtlatsch Strongilla:Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja, Arkadi Sewerny:Nu, ja otkinulsja, kakoi basar-woksal, Michail Gulko:Berjosy Murka. Es ist aber auch klar, dass die Musiker das nicht aus propagandistischen Motiven heraus machten, sondern wegen des Stils und der damit verbundenen Haltung. Nicht einmal um zielgerichtet Kontakt zum Gefängnis-Milieu bekommen, hatte je einer von ihnen gesessen. Nur Arkadi Sewerny hatte irgendwelche kriminellen Verbindungen, doch darum geht es hier nicht.

    Worin besteht die Problematik des Katorga-Milieus? Ganz einfach: Eine Gefängnis-Musikkultur, die die Gemeinschaft der Häftlinge als einheitliche, unabhängige Stimme hätte repräsentieren können, gab es überhaupt nicht. Sie trug die Bürde eines gesichts- und namenlosen Medienprodukts, das keine Chance hatte, auf den Markt zu gelangen, einfach weil es keine geeigneten Ressourcen und Vertriebswege gab. Durch das Fehlen von Helden und von Möglichkeiten, den Trend zu popularisieren, behielt das Knast-Producing die Form eines Ausflusses lyrischer Stilmittel, wurde aber keineswegs zu einem vollwertigen Konzept, das massentauglich gewesen wäre.

    Grauer Anzug von Alik Berison

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    Ein grauer Anzug, die neuen Stiefel knarzen
    – hab ich getauscht gegen die Jacke aus dem Knast.
    Acht Jahre hab ich nun viel Leid erlebt,
    Und nicht nur eines meiner Haare ist ergraut~~~Алик Берисон, «Костюмчик серенький»

    Костюмчик серенький, колёсики со скрипом
    Я на тюремные бушлаты променял.
    За восемь лет немало горя мыкал,
    И не один на мне волосик полинял.[/bilingbox]

    Vermutlich lag das auch an der Kriegs- und Nachkriegskrise: am enthemmten Zustand des Justizsystems und an der fehlenden Meinungsfreiheit.

    Eine neue Welle intellektueller Knast-Erzeugnisse kam in den 1950er Jahren herangerollt, als massenweise politische Gefangene freigelassen wurden. Zwar gab’s die heutigen Informationskanäle noch nicht, dafür aber die mündliche Überlieferung.

    Die Märchen aus der Gefängniswelt verbreiteten sich in Windeseile, und manche von ihnen schafften es sogar in das Liedgut, das man im Hinterhof zur Gitarre sang (Schol Stolypin). Die letzte Welle kam in den 1990ern und gewann nach dem Zerfall der sowjetischen Ordnung an Wucht, als klar wurde, dass man seine Ideen umsetzen kann, ohne bestraft und daran gehindert zu werden. So erschienen Michail Krug, Alexander Djumin, Michail Swesdinski und andere Celebrities des neuen russischen Blatnjaks, den man nun dank erfolgreicher Kommerzialisierung und kultivierter Mimikry den neuen russischen Chanson nennt. Oder den kriminellen – jeder wie er will.

    Der revolutionäre Durchbruch des Genres und dazugehöriger Persönlichkeiten der Subkultur in Radio und Fernsehen erlaubten es der Häftlingsseele, wie ein Dschinn ins Freie zu drängen und endlich der Welt ihre Werte zu lehren. In dieser Zeit wurde auserlesener Blatnjak auf allen Musikkanälen rauf- und runtergespielt, an diesem Hype kam niemand vorbei. Und im Jahr 2000 entstand eine Hochburg für einschlägige Interpreten – der Radiosender Schanson, den täglich allein in Moskau eine Million Menschen hören.

    Trotz seiner Popularität (die übrigens bis dato nicht nachlässt) treten intellektuelle Gesellschaftsschichten gegen die Popularisierung des Chanson auf und sprechen von der Geschmacklosigkeit und Minderwertigkeit des Genres.

    Eines der interessantesten Phänomene rund um den russischen Chanson ist, wie die Leute über ihn denken: die Kritiker negativ, und das Publikum positiv. Wie bei Filmen mit Jim Carrey. Das macht den Reiz aus.

    Symbolische Einsamkeit

    Man geht allgemein davon aus, dass der russische Blatnjak die Musik von Einzelpersonen ist. Dass es immer weiter Soloprojekte sind, mag an der symbolischen Einsamkeit liegen, die im Schaffen von Chansonniers und Chansonnetten häufig durchscheint, oder auch an einer charakterlichen Besonderheit moderner „Katorgaer“. Natürlich gibt es auch Ausnahmen der Regel, etwa Butyrka, Worowaiki, Zona, Pjatiletka und Belomorkanal

    Bild der Vergangenheit von Michail Swesdinski

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    Noch nie hat mich jemand Vater genannt,
    auch Ehemann sagte bisher keiner.
    Kann sein, dass mein Leben in Einsamkeit vergehen wird
    und Familiengemütlichkeit werd ich wohl kaum erleben.~~~Михаил Звездинский, «Картина прошлого»

    Меня ещё отцом никто не называл,
    Как мужем до сих пор не называли.
    Быть может, в одиночестве вся жизнь пройдёт —
    Уют семьи увижу я едва ли.[/bilingbox]

    Zum Teil liegt es sicher daran, dass das Genre gewissermaßen eine russische Form der DIY-Kultur ist. In den 1990ern war das auf jeden Fall so, als sich zahlreiche Musiker eigenständig auf den Markt hinauswagten, ohne Unterstützung von Producern, einfach indem sie ihre Alben zu Hause aufnahmen oder in Studios von Freunden. Heute wird der Chanson bereits gesponsert und gut bezahlt, wie man an der Vielzahl an Plattenlabeln sieht, die dank der neuen Beliebtheit des Genres aus dem Boden geschossen sind.

    Die Semantik des Gefängnischansons – Mama, Glaube und Tattoos

    Es ist unmöglich, eine einheitliche Antwort darauf zu finden, was genau denn nun der Kriminal-Chansonnier populär machen will und welchen Überzeugungen er anhängt. Allerdings gibt es doch Gesetzmäßigkeiten. Im Mitteilungsblatt des Kasaner Instituts für Rechtswissenschaften des russischen Innenministeriums erschien 2017 ein Aufsatz von Anton Schalagin und Olga Chrustaljowa zum Thema Gefängnisfolklore im Kontext der kriminellen Subkultur. Darin versuchen die Autoren das ideologische Profil des modernen kriminellen Helden zu klassifizieren. Aufgezählt werden Charakteristika wie: gezieltes Begehen von Finanzdelikten, demonstratives und übersteigertes Konsumverhalten, kriminelle Verbindungen und unmoralisches Verhalten, darunter Geringschätzung althergebrachter Traditionen.

    Die Themen, die die Ästhetik der Gefängnislieder ausmachen, sind dieselben wie vor hundert Jahren. Am häufigsten und typischsten finden sich:

    Die Mutter. Lesen Sie sich die Titel der Knastlieder der 1990er und 2000er Jahre durch, und sehen Sie selbst. Hallo, Mama von Krug, Mutter von Alexander Djumin, Mama von Viktor Petlura. Jeder Chansonnier, der etwas auf sich hält, singt ein Lied über die Mutter. Die Bedeutung der Texte läuft immer auf dasselbe hinaus: „Verzeih mir, Mama“, „Mamachen, schenk mir Wodka nach“. Die Mutter ist im Chanson zum ideologischen Kult erhoben.

    Interessanterweise kommt der Vater in den Liedern viel seltener vor. Vielleicht ist das einfach die Knast-Symbolik. Aber wer weiß.

    Der Glaube. Fast in jedem Lied hört man etwas, das mit der Kirche zu tun hat. Jeder anständige Chansonnier muss ein Lied über erlöschende Kerzen, Kuppeln (egal ob echte oder tätowierte) oder Gebete um die Vergebung seiner Sünden im Repertoire haben. Der Tätowierer richtet mir den Rücken – ein Kloster mit lauter Kuppeln (Alexander Djumin Blagoweschtschenski zentral), Goldene Kuppeln erfreuen mein Herz (Michail Krug Goldene Kuppeln), Gott bewahre uns vor dem Gericht (Andrej Sarja, Dialog s sowestju).

    Russian criminal tattoos und sonstige Knastmoden. Jeder anständige Chansonnier hat ein Lied über Tattoos. So will es die Seele der Kriminalität. Das Tattoo ist in der Gefängnisreligion gleichsam das Geschichtsbuch. Für jeden der persönliche Schutzengel. Ein Lied mit dem Titel Nakolotschka findet man bei mindestens zwei Interpreten: Michail Schufutinski und Alexander Udatscha.

    Ansonsten zählt zur Knastmode auch alles andere aus der Welt des russischen Gefängnisses: So gibt es Lieder über Pritschen, über Diebe im Gesetz, über im Gefängnis verlorene Freunde, Landstreicherei, kriminelle Machenschaften, Banden, Strafkolonien und dergleichen mehr.

    Die Natur. Ja, das Verbrechervolk ist auch zur Wahrnehmung der Umwelt fähig, kann auch ästhetisches und seelisches Vergnügen an der Betrachtung äußerer Schönheit empfinden. Vieles dreht sich in den Naturliedern um die Liebe zu heimatlichen Gefilden.

    Weiße Birke von Alexander Djumin

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    Überm Fluss über dem Wald ein gelockter Ahorn stand
    Verliebt war er in eine Birke mit ihrem weißen Band,
    und wenn über dem Feld der Wind sich legte,
    für die Birke sein Lied sich regte:

    Ach, weiße Birke, ick liebe dir!
    Deinen schlanken Zweig streck aus nach mir
    Verloren bin ich ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit.
    Meine liebe weiße Birke, ich bin zu allem bereit!~~~Александр Дюмин, «Белая берёза»

    Над рекой над лесом рос кудрявый клён,
    В белую берёзу был тот клён влюблён.
    И когда над полем ветер затихал,
    Он берёзе песню эту напевал

    «Белая берёза, я тебя люблю.
    Ну протяни мне ветку свою тонкую.
    Без любви, без ласки пропадаю я.
    Белая берёза, ты — любовь моя»[/bilingbox]

    Die Liebe. Wie denn auch ohne? In der Knastlyrik ist sie natürlich ein wenig seltsam, und eigentlich durch und durch sexistisch (man denke nur an das berühmte Zitat von Michail Krug: „Ich mag keine Frauen, die eine eigene Meinung haben. Sobald eine Frau anfängt zu glauben, sie sei klug und habe Verstand, wie ein Mann, hört sie auf eine Frau zu sein. Wieso soll ich ihr dann in der Straßenbahn den Vortritt lassen, ihr die Hand reichen, wozu Blumen schenken?“), aber es gibt sie. Erinnerungen, romantische Oden, das war’s dann schon.

    Beim Versuch, in den Texten der Knastmusik die wichtigsten Schlüsselwörter auszumachen, erörtert Glaskowa im erwähnten Aufsatz, dass im neuen russischen Chanson drei Gefühle vereint seien, die zur russischen Seele gehören: Kränkung, Sehnsucht und Gram. Kein Wunder. Fast jedes Lied handelt von Enttäuschung vom Leben. Sogar wenn es eigentlich um Tattoos geht. Oder um schöne Mädchen.

    Das Schicksal – die Böse von Iwan Kutschin

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    Weiße Rosen blühen, die roten sind gewelkt
    Entweder hab ich den Traum versoffen 
    oder es hat ihn sich jemand gegriffen.~~~Иван Кучин, «Судьба-злодейка»

    Розы белые цветут, красные завяли,
    То ли я пропил мечту, то ль её украли.
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    Opferdarstellung: Fake-Blatnjak

    Noch so ein aufwühlendes Phänomen ist beim russischen Chanson, ähnlich wie beim Rap, die Frage nach der Authentizität, der Glaubwürdigkeit. Während beim Rap die Polemik bei Ghetto- und Straßen-Metaphern ansetzt, lautet hier die Frage: Kann einer, der nie in Haft war, Kriminal-Chansonnier sein? Genrekönig Michail Krug, Sergej Nagowizyn – fast keiner der Blatnjak-Sänger hat je gesessen. Krug outete sich dazu sogar einmal: „Warum wollen denn alle diese Parallele ziehen: Er singt Knastlieder, also hat er gesessen – ich hab nicht gesessen!“

    Ein interessanter Fall war die Sängerin Katja Ogonjok, die zu Lebzeiten (sie starb 2007 im Alter von 30 Jahren) behauptete, sie sei zwei Jahre in Haft gewesen. Im Nachhinein dementierte ihr Producer Wladimir Tschernjakow die Legende. Was ist die Logik dahinter? Warum tun die Leute so, als wären sie kriminelle Autoritäten? Für das Show-Business oder aus Sympathie für die Subkultur? Das Phänomen der Glaubwürdigkeit ist in soziokultureller Hinsicht nicht ausreichend erforscht.

    Gefängnis-Underground

    Kehren wir zur Kriminallyrik als Konzept zurück, so zeichnet sich innerhalb des Gefängnisakademismus auch ein Underground ab – im wörtlichen Sinn das, was nicht aus den Zellen dringt, was nicht kommerzialisiert wird: radikale Selfmades, Amateur-Sänger hinter Gittern und Randerscheinungen aller Art. Sucht man auf Youtube nach „Gefängnismusik“ oder „Blatnjak“, erhält man einen Haufen Nonames, mit alten Handys aufgenommene Videos, in denen Alltagsszenen aus dem Häftlingsleben abgespult werden.

    Die Knastepoche: ein langes, glückliches Leben

    Der Knast braucht keinen Harteveld mehr. Das Internet ermöglicht es den Menschen, ungehindert und selbständig für ihre Ideen und Werte einzustehen. Das betrifft auch die Gefängnisfolklore: Das 21. Jahrhundert ist mit seinem Siegeszug der digitalen Technologien zumindest für jene Leute ein Goldschatz, die in strengen Vollzugsanstalten ein schweres Dasein fristen und keine richtige Gelegenheit zur Selbstverwirklichung haben.

    Sieht man auf dem Bildschirm die Gesichtslosigkeit derer, die vom schweren Los des Gaunerlebens singen, und denkt über die Bedeutung der globalen Knastlyrik nach, dann ist man verwirrt und verunsichert: Welche Art von Mitgefühl ist hier angebracht? Und was das russische Chanson angeht: Wird es weiter bestehen? Dieser Frage kann man nur mit Empirie beikommen, mit einfachen Worten: Warten wir mal hundert Jahre – dann wird man sehen. Zu die Bude.


    In dieser Übersetzung wurden Ausschnitte folgender Lieder zitiert:
    Leonid Utjossow Gop so smykom und S odesskogo kitschmana; Irtlatsch Strongilla: Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja; Arkadi Sewerny: Nu, ja otkinulsja, kakoj basar-woksal; Michail Gulko: Berjosy und Murka; Jelena Entina: Shol Stolypin; Michail Krug: Hallo, Mama; Alexander Djumin: Mama und Blagoweschtschenski zentral; Viktor Petlura Mama; Iwan Kutschin: Sudba-Slodejka

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  • Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Auf Andrej Makarewitsch und seine Band Maschina Wremeni – ein Urgestein der russischen Rockmusik – konnten sich jahrzehntelang breite Teile der Bevölkerung einigen. 

    Das änderte sich im Frühjahr 2014, als Makarewitsch – noch vor der Krim-Angliederung und dem Krieg im Donbass – vor einer „entfesselten Propaganda“ und einem möglichen Krieg mit der Ukraine warnte. Beim Friedensmarsch zeigte er sich mit einem Peace-Symbol und einer Schleife in den ukrainischen Nationalfarben. Wenig später hing im Zentrum Moskaus ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Die Fünfte Kolonne“ – dazu die Gesichter von Makarewitsch, Juri Schewtschuk, Boris Nemzow, Alexej Nawalny und Ilja Ponomarjow.

    Die Lage spitzte sich weiter zu, als Makarewitsch im August 2014 ein Konzert in der Ukraine gab – in einem dortigen Lager für Geflüchtete aus den umkämpften Donbass-Gebieten. 

    Dem Musiker wurde öffentlich „antirussisches“ Handeln vorgeworfen, Politiker sprachen von „Kooperation mit Faschisten“, in staatsnahen Medien erschienen Beiträge und Sendungen wie 13 Freunde der Junta, die Makarewitsch als Volksverräter darstellten, und das Netz füllte sich mit Hasskommentaren über den Musiker.

    Die Shitstorms gegen Makarewitsch nehmen auch vier Jahre später kein Ende, wie ein aktueller Vorfall zeigt, in den sogar Außenamtssprecherin Maria Sacharowa involviert ist. Diesen kommentiert Oleg Kaschin auf Republic und fordert: Lasst den Klassiker in Ruhe!

    Bevor ihr jemanden vom Dampfer der Modernität werft, denkt an seine Bedeutung für die Kultur unseres Landes – möglicherweise wiegt sie schwerer als die Worte und Taten, für die ihr ihn bestrafen wollt. 

    Natürlich ist es in Zeiten von Harvey Weinstein und Kevin Spacey merkwürdig, das zu sagen. Am nächsten an Weinstein und Spacey dran scheint in unserem Kontext der Abgeordnete Sluzki, doch nein, eine lineare Logik greift hier nicht. Sluzki steht eine Untersuchung in der Staatsduma bevor, aber sonst wohl erstmal nichts; zumindest gibt es bisher keinen Anlass zu sagen, dass alle gegen Sluzki wären. Klar, da sind diese drei Journalistinnen, da sind ein paar ihrer Kollegen, die sogar vor der Duma protestierten oder wie Sergej Dorenko zum Boykott aller Nachrichten mit Sluzki aufriefen.

    Hingegen hat Wjatscheslaw Wolodin bereits Partei für den der Belästigung Beschuldigten ergriffen, und Duma-Kollegen, also Leute, die das Disziplinarverfahren gegen Sluzki durchführen werden, äußern sich nicht negativ über ihn. In diesem Sinne ist er von Weinstein offenbar noch meilenweit entfernt. 

    Weniger davon entfernt ist Andrej Makarewitsch. Der Vergleich mag weit hergeholt erscheinen, aber im Grunde ist es so: Den Platz, den in westlichen Gesellschaften sexuelle Belästigung einnimmt, besetzt bei uns echter oder (öfter) angeblicher Antipatriotismus.

    Die Rolle einer gesellschaftlichen Naturgewalt, die Makarewitsch auf die Unzulässigkeit seiner Worte hinweist, spielen die loyalistische Presse und einige offizielle Personen. Darunter auch Maria Sacharowa vom Außenministerium. Ihren Bemühungen ist es zu verdanken, dass ein beiläufiger Facebook-Kommentar ordentlich eingedampft wurde. Wörtlich hieß es da: „Mir scheint, die staatliche Propaganda hat ein 25. Einzelbild erfunden, das die Menschen wahrhaftig in boshafte Deppen verwandelt“ und daraus wurde dann: „Makarewitsch nannte die Russen boshafte Deppen.“ Ausgerechnet dank jenen, die sich derart ereifern, wurde dieser Satz dermaßen ungeheuerlich und unzumutbar, als hätte Makarewitsch Russland den Krieg erklärt, und nicht nur erklärt, sondern sofort auf Kreml, Christ-Erlöser-Kathedrale und noch auf irgendeinen Kindergarten das Feuer eröffnet.  

    Als Zielscheibe staatlicher und staatsnaher Kritik steht Makarewitsch nicht alleine da – die Propaganda fällt in Russland regelmäßig über Leute her, die etwas gesagt haben, was irgendwie daneben war. Das letzte prominente Beispiel war die „Kraft, Unverschämtheit und Grobheit“ des Schauspielers Alexej Serebrjakow [Hauptdarsteller in Leviathandek]. 

    Aber das Lieblings-Angriffsobjekt ist Makarewitsch, der die Macht der loyalistischen Missbilligung erstmals 2014 zu spüren bekam, als die Hetzjagd auf ihn begann für seinen Auftritt im Frontgebiet im Donbass, das von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurde. Innerhalb von vier Jahren wurde Makarewitschs Image durch die Bemühungen von kremltreuen Medien und Aktivisten ernsthaft korrigiert – er ist nicht mehr unser Mick Jagger, kein ehrwürdiges Rock-Urgestein, sondern eher ein moderner Galitsch: für die einen Feind und ausgekochter Anti-Sowok, für die anderen, im Gegenteil, das Gewissen der Nation. In jedem Fall aber vor allem eine politische Figur, die vor einer einfachen Entscheidung steht – entweder durchhalten bis zum Zusammenbruch des Regimes, und dann am Tag der Bestattung der russischen „Himmlischen Hundertschaft“ am Roten Platz irgendwas Trauriges singen oder still und heimlich abziehen und seine Bürger-Lyrik einem immer größer werdenden Exilpublikum präsentieren. Klar ist die zweite Variante ungleich wahrscheinlicher und realistischer als die erste, doch eine dritte gibt es offenbar einfach nicht mehr (obwohl es sie ja gerade noch gab – vor nur zehn Jahren sang Makarewitsch bei der Inauguration Dimitri Medwedews und musste sich gegen Angriffe der liberalen Öffentlichkeit verteidigen).

    Es geschieht ein furchtbares Unrecht, wenn das Schicksal eines unbestrittenen Klassikers der heimischen Popmusik formal in die Hände der Jungs von Lenta.ru und der Mädels von NTW gerät. Die Band Maschina Wremeni wird kommenden Frühling fünfzig, mit ihren Songs sind tatsächlich mehrere Generationen aufgewachsen (Nasche obschtscheje detstwo proschlo na odnich bukwarjach/dt. „Wir haben als Kinder alle aus der gleichen Fibel gelernt“). Man kann sie durchaus als einzigartige kulturelle Institution bezeichnen – wenn schon nicht wie das Bolschoi-Theater, so doch mindestens wie das Alexandrow-Ensemble, und eine solche Institution hat in jedem Fall eine sorgsame Behandlung verdient. 

    Tun wir doch nicht so, als würden beiläufige Kommentare auf Facebook tatsächlich jemanden kränken. Das sieht mir eher nach dem Testlauf irgendwelcher Medientechnologien aus, nach der Konstruktion eines Skandals aus dem Nichts, einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Gut, offenbar braucht ihr solche Experimente, wie man längst erkennen kann, seid ihr ganz versessen auf Informationskriege. Aber was veranlasst euch, gerade mit diesem Menschen zu experimentieren, einem altehrwürdigen Künstler? Wenn er dadurch einen Herzinfarkt erleidet, wie gut schlaft ihr dann noch, wie lebt ihr dann überhaupt weiter?

    Man kann darüber diskutieren, ob das Fernsehen seine Zuschauer zu boshaften Deppen macht, aber es steht völlig außer Frage, dass konkret Andrej Makarewitsch einen solchen Umgang nicht verdient, und sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie seine Ankläger es tun, ist reinste, destillierte Niedertracht. 
    Rein formal ist nicht bekannt, ob diese Niedertracht einen konkreten Autor hat. Sie verteilt sich auf beliebte Online-Publikationen, Boulevardblätter, staatliche Fernsehsender und öffentliche Personen, die es anscheinend nötig haben, Makarewitsch einen Tritt zu versetzen. Aber all diese Medien und all diese Personen eint, dass jeder von ihnen durch einen einzigen Anruf aus dem Kreml zu stoppen wäre.

    Sergej Kirijenko, der 1999 beim Wahlbündnis Union der rechten Kräfte (SPS) die Liste anführte, sollte sich daran erinnern, wie während der Wahlkampfes gerade Maschina Wremeni Konzerte zur Unterstützung der SPS gab und in den TV-Wahlspots sang – wahrscheinlich für Geld, aber Kirijenko hat ja dieses Geld investiert, weil er dachte, gerade die Stimme Makarewitschs (und nicht etwa Kobsons) sei imstande, ihm die Stimmen der Wähler zu bringen.

    Die russische Gesellschaft und vor allem jener Teil, um den es beim Thema Hetze gegen Makarewitsch geht, befindet sich derzeit nicht in einem Zustand, wo man auf ihre Klugheit und Nachsicht zählen könnte. Daher hätte es keinen Sinn, Makarewitschs Äußerung und ihre Unzulässigkeit inhaltlich zu erörtern – die Wahrheit kommt derzeit oft nicht im Disput ans Licht, sondern in direkten Anweisungen.

    So wendet man sich besser direkt an Kirijenko und seine Kollegen: Zeigt Gewissen, gebietet der Jagd auf Makarewitsch Einhalt, und lügt nicht, dass ihr das nicht könnt. 

     

    Das Lied „Marionetten“ aus dem Jahr 1974 war in der Sowjetunion verboten. Erst während der Perestroika wurde es auf der Compilation „Zehn Jahre später“ veröffentlicht

     


     


    Ende Februar 2014 , direkt nach den Ereignissen auf dem Maidan und noch vor der Angliederung der Krim, äußerte sich Andrej Makarewitsch in einer Kolumne, die auf Snob erschien. Diese Äußerungen bilden den Anfang der Demontage, der der Frontmann der Gruppe Maschina Wremeni laut Oleg Kaschin bis heute ausgesetzt ist und die im obigen Text kommentiert wird.

    Deutsch

    Über die Widerwärtigkeit

    Ich mache mir Sorgen ob der Ereignisse in der Ukraine. Aber noch mehr Sorgen bereitet mir das, was in diesem Zusammenhang bei uns geschieht. Ich habe schon Eindruck, dass unsere Staatsmacht denkt: Das Land, das Volk – das sind die, die regieren. Wenn ein Herrscher jedoch nicht auf sein Volk hört und er ihm darüber hinaus Gewalt antut, so wird das Volk ihn wegfegen. Insofern hat in der Ukraine eine ganz typische Revolution stattgefunden. Und bei all meiner Abscheu gegenüber Revolutionen, kann ich sie nicht als ungerechtfertigt bezeichnen. Jetzt kann man, soviel man will, mit den Flügeln schlagen oder die aufständischen Bürger als „braune Pest“ bezeichnen – es sieht einfach widerwärtig aus.

    An eine solch entfesselte Propaganda und einе solche Menge von Lügen kann ich mich seit den besten Breshnew-Zeiten nicht erinnern. Und das lässt sich auch gar nicht vergleichen: Damals gab es viel weniger Möglichkeiten. Leute, was wollt ihr denn bloß? Ein öffentliches Klima schaffen für den Truppen-Einmarsch in das Gebiet eines souveränen Staates? Die Krim abhacken?

    Das Zentralkomitee der KPdSU hatte sich vor der Entsendung von Truppen in die Tschechoslowakei nicht mit dem Volk abgestimmt. Und was war, außer dass sie sich vor der ganzen Welt bloßgestellt haben?
    Heute sind dort zwei Länder statt einem. Und was ist mit dem einen und dem anderen? Haben wir ihre Liebe gewonnen? Oder sonst irgendwas?

    Es ist ja bereits gelungen, eine ziemlich große Masse von Idioten und Unbelehrbaren mit instabiler Psyche zu Zombies zu machen. Mit der Waffe in der Hand reißen sie sich schon darum, die russischsprachige Bevölkerung zu retten – als hätte sie darum gefleht. Und sie hat es tatsächlich geglaubt. Mensch, ihr Fernsehmacher, was wollt ihr denn bloß? Auf lange Zeit die Völker entzweien, die Seite an Seite leben? Das gelingt euch. Aber wisst ihr auch, wie das endet? Wollt ihr einen Krieg mit der Ukraine? Genau wie mit Abchasien wird das nicht klappen: Die Leute auf dem Maidan sind schon abgehärtet und wissen, wofür sie kämpfen: für ihr Land, für ihre Unabhängigkeit. Und für wen wir? Für Janukowitsch? 

    Mensch, Leute, warum habt ihr ihn in Russland versteckt? Ein ehrlicher Mensch wird keine Verbrecher und Diebe decken. Ein Dieb schon. Warum bringt ihr euch vor der Menschheit in Verruf? Ich weiß, es ist euch scheißegal, aber trotzdem?

    Natürlich wurden in der Ukraine zahlreiche Dummheiten begangen – mit der russischen Sprache, mit dem Abriss von Denkmälern. Aber es ist unvermeidbar, dass eine Revolution von solchen Dummheiten begleitet wird – eine gespannte Feder entlädt sich  in die Gegenrichtung. Aber danach findet alles seinen Platz – Dummheit kann nicht ewig dauern.

    Mensch, Leute, wir müssen mit denen leben. Wie bisher in Nachbarschaft. Und nach Möglichkeit in Freundschaft. Und wie sie leben, das entscheiden sie selber.

    Oder habt ihr Lust zu schießen? Es heißt, Patriotismus stärkt und festigt.

    Nicht für lange.


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  • Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Mutter und Kind in der Wohnung eines Moskauer Außenbezirks. Zwecks Verkauf wird die Wohnung von Menschen besichtigt. Der Vater kommt spät abends nach Hause. Die Eltern streiten. Eine Familie ist dabei, sich zu trennen. Und keiner will den Sohn zu sich nehmen. Alle haben Besseres zu tun. „Ich kann nicht mehr“, sagt der Sohn beim Frühstück. Dann ist er weg. Verschwunden. Andrej Swjaginzews Film Neljubow (engl. Loveless) erzählt von der Suche nach dem Jungen, einem Jungen in der Atmosphäre von Nichtliebe.

    Bei der Oscar-Verleihung am kommenden Sonntag ist der aktuelle Film des mehrfach ausgezeichneten Regisseurs Andrej Swjaginzew (Die Rückkehr, Leviathan) in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ nominiert. Sergej Medwedew hat ihn sich für Republic angesehen – und versteht Neljubow als Diagnose für die gesamte Gesellschaft.

    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube
    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube

    Neljubow ist ein Film von Andrej Swjaginzew über ein verschwundenes Kind. Swjaginzew trifft damit einen wunden Punkt an der Schnittstelle zwischen Politik, Propaganda und kollektivem Trauma.

    Im Prinzip geht es in allen seinen Filmen auf die eine oder andere Art um das Thema verlassene Kinder. Die Rückkehr eines verlorenen Vaters zu seinen allein gelassenen Söhnen endet tragisch, im Film Die Verbannung setzt die Abtreibung eines unerwünschten Kindes eine Serie von Todesfällen in Gang, in Jelena ist der zentrale Konflikt jener zwischen Vater und Tochter, in Leviathan kommt der Sohn der Hauptfigur in eine Pflegefamilie.

    Ungeborene, unerwünschte, verlassene, entrissene Kinder sind ein Schlüsselbild und ein Symbol für den zerfallenden Kosmos, die wachsende Entropie, die moralische Katastrophe, die der Regisseur in jedem seiner Filme zeigt.   

    Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos

    Auch in Neljubow steht im Zentrum des Geschehens ein Kind – beziehungsweise sein Verschwinden. Im Raum des Films entsteht eine Leere, die sich ausbreitet wie ein Erdtrichter, der die Protagonisten und ihre Nächsten verschluckt – die Häuser, das Wohngebiet und den Stadtwald. Die Ästhetik der Abwesenheit – markiert durch die Spuren des verschwundenen Jungen, seine Jacke, die Vermisstenanzeigen, das Rufen der Suchtrupps im leeren Wald – steigert die Spannung, macht aus dem Familiendrama einen Psychothriller, macht die Suche nach dem Kind zu einem Leidensweg, der mehr als einmal an Stalker von Tarkowski erinnert. Die Kamera von Swjaginzews Langzeit-Kameramann Michail Kritschman verleiht einfachen Dingen schonungslose Härte und metaphysische Tiefe. Seine langen Einstellungen und matten Farben verwandeln den Moskauer Schlafbezirk in ein Totenreich, dem nur der erste Schnee vorübergehende Anmut verleiht, ihn für Sekunden in eine Bruegelsche Winterlandschaft verzaubert.

    Einen Gott gibt es hier nicht

    In diesem Raum nimmt die Entropie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik zu: Einen Gott gibt es hier nicht (obwohl es bärtige Männer und ein pseudo-orthodoxes Büro gibt), genau so wenig wie einen Staat – der Polizeibeamte macht den Eltern sofort klar, dass man nicht nach dem Jungen suchen wird. Stattdessen taucht ein freiwilliger Such- und Rettungstrupp auf, ein direktes Zitat von Lisa Alert (die Geschichte der Retter wird insgesamt zu einem eigenen Handlungsstrang und zu dem einzigen Quell von Handlung im ganzen Film).

    Die Familien sind tot und die Schule ohnmächtig: Die Lehrerin wischt hilflos mit dem Lappen über die Tafel, lässt Kreideschlieren zurück, und draußen beginnt es langsam zu schneien. Hier gibt es nicht mal Schuldige: Alle wurden in einen lieblosen Raum hineingeboren und leben darin und reproduzieren ihn sorgfältig als einzige ihnen zugängliche Daseins- und Kommunikationsform.

    Die Leere kommt mit Macht

    Die Apotheose der Leere: ein zerstörter Kulturpalast irgendwo im Wald, der letzte Aufenthaltsort des Jungen. Das undichte Dach, Pfützen auf dem Boden, Scherben der menschlichen Zivilisation – das alles erinnert  wieder an das Zimmer und die Zone in Stalker, die für Tarkowski eine Metapher für die verwaiste, leere Seele waren.  

    Und sogar die geniale Szene im Leichenschauhaus, die in ihrer Vieldeutigkeit und Unentschiedenheit unbedingt Eingang in die Regie-Lehrbücher finden muss, ist rund um die Abwesenheit aufgebaut. Wir sehen weder Sachverhalt noch Ereignis, nur dessen Spiegelung in den Gesichtern und Reaktionen der Protagonisten.

    Doch die allerschrecklichste Leere tut sich im Epilog des Films auf, in den Augen der Protagonistin, die in einem Trainingsanzug von Bosco mit der Aufschrift RUSSIA auf dem Laufband joggt: Die Kamera versinkt gleichsam in diesem abwesenden Blick. Am einfachsten wäre es, sie als Zerrbild von Mütterchen Russland zu verstehen, das ihr eigenes Kind verloren hat und nun in der Loggia einer schicken Wohnung auf dem Laufband auf der Stelle tritt, während ihr neuer Mann geistesabwesend Nachrichten aus dem Donbass mit Dimitri Kisseljow guckt.

    Moralischer Defekt, mitten im Herzstück unserer Existenz

    Aber mit so flachen Metaphern arbeitet Swjaginzew nicht: Er entlarvt nicht, sondern stellt fest, er beschuldigt nicht, sondern stellt eine Diagnose. Er hat einen Film über eine zerbrechende Familie gedreht, und heraus kam ein Film über Russland; Kisseljow und der Donbass in den letzten Einstellungen sind kein politisches Pamphlet wie in Leviathan, sondern der Geist der Zeit, der auf dem Fernsehschirm zum Bild erstarrt ist.  

    Geht es bei Boris Godunow letztendlich um einen getöteten Jungen oder um die russische Staatsmacht? Genau so ist es bei Neljubow: Der Film deckt einen moralischen Defekt auf, einen im Stich gelassenen Jungen, mitten im Herzstück unserer Existenz. Die politischen Umstände sind jeweils nur einzelne Folgen dieser umfassenden ethischen Katastrophe.

    Das  Mistkerl-Gesetz

    Von zentraler Bedeutung ist, dass die Zeit der Handlung im Film deutlich markiert ist: Dezember 2012 (im Radio diskutiert man das Ende der Welt laut Maya-Kalender), kurz vor Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes, das den Spitznamen Mistkerl-Gesetz erhielt und das Dutzende kranke russische Waisenkinder, deren Adoption ins Ausland bereits kurz bevorstand, zu einem Leben im Heim, zu Krankheit und manche auch zum Tod verurteilte. Gerade in diesem Moment, der die herrschende Klasse mit dem Blut von Kindern verquickte, begann der endgültige moralische Verfall der Machthaber bei lähmender Gleichgültigkeit der Bevölkerung.

    Der Film endet 2015, im Jahr der Normalisierung, als der Schock der Krim und der Boeing vorbei war und Russland sich mit den Sanktionen abgefunden und eingesehen hat: Dieser Zustand von Regierung und Gesellschaft ist ernst und wird länger dauern. Swjaginzew dreht einen Film über eine Familie, aber die Handlung vollzieht sich unter den Bedingungen eines nie dagewesenen moralischen Verfalls.

    Und das Hauptproblem sind hier nicht Putin und Kisseljow, nicht die Krim und der Donbass und nicht mal die Korruption und Ausbeutung – das alles sind Symptome einer Krankheit, während der Regisseur von der Krankheit selbst spricht: Von einer Gesellschaft, die in Lüge, Zynismus und Misstrauen feststeckt, die die Hoffnung auf Zukunft und Veränderung verloren hat. Putin und Kisseljow gießen diese Lüge nur in die Formen von Politik und Medien, exportieren sie in die Außenwelt. 

    In der moralischen Sackgasse

    Es war absolut kein Zufall, dass 2016 im öffentlichen Diskurs Russlands das Thema Ethik aufkam: die Aktion #янебоюсьсказать (Ja ne bojus skasat – dt: „Ich habe keine Angst, es zu sagen“), der Skandal um die Schule Nr. 57, Diskussionen über häusliche Gewalt und Folter in Gefängnissen, Debatten über das historische Gedenken und die Verantwortlichkeit von Stalins Henkern (Der Fall Karagodin). Der reflektierende Teil der Gesellschaft beginnt, sich der moralischen Sackgasse bewusst zu werden, in die wir alle geraten sind, und jenes konspirativen Schweigens, das die Probleme Gewalt, Demütigung und Trauma umgibt.

    Das sind genau die Fragen, von denen Swjaginzew seit vielen Jahren spricht, mitsamt dem Problem der Stummheit, des Abreißens der Kommunikation. Unter Bedingungen, in denen es weder einen Staat mit Sozialpolitik gibt noch eine sozial verantwortliche und nahe am Menschen stehende Kirche noch eine Kultur des öffentlichen Dialogs zu Themen rund um Familie, Kindheit, Geschlechterrollen, stellen seine Filme genau die fundamentalen moralischen Fragen, über die wir lieber schweigen – oder die wir an zynische Populisten wie Milonow und Misulina verpachten. Wenn man darüber nachdenkt, ist Andrej Swjaginzew heute in Russland eigentlich der, der sich am meisten mit Klammern befasst – mit echten, nicht mit solchen, die die Propaganda sich ausdenkt, doch die Staatsmacht würde ihm diese Rolle niemals zugestehen, sondern schränkt lieber den Verleih ein und verteufelt den Film in der Presse, so wie es auch bei Leviathan war.

    Eines der durchgehenden Motive in Neljubow ist ein Absperrband. Ganz zu Beginn des Films findet es der Junge im Wald, bindet es an einen Stock und wirft es auf einen Baum. Jahre vergehen, neue Kinder werden geboren, doch das Band ist immer noch dort. Swjaginzew hat unsere Gesellschaft mit diesem Band quasi abgegrenzt, hat damit den Umkreis der humanistischen Katastrophe und des moralischen Sumpfes, in dem wir versinken, abgesteckt.

    So wie Puschkins „blutender Knabe“ kündet sein verschwundenes Kind von dem fundamentalen Verbrechen, das unserem vermeintlichen Wohlstand zugrunde liegt, von Dingen, die wir vergeblich zu vergessen versuchen. Das macht seine Filme so schonungslos, so unbequem und so absolut sehenswert.   

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  • Streiken oder Wählen? Aber wen?

    Streiken oder Wählen? Aber wen?

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny darf bei der Präsidentschaftswahl im März 2018 nicht kandidieren und hat zum Wählerstreik aufgerufen. An Xenia Sobtschak, die erklärt hat, Kandidatin gegen alle zu sein, scheiden sich die Geister: Ist sie am Ende eine Marionette des Kreml, angetreten, um die liberale Wählerschaft zu spalten? 
    So oder so: Was Nawalny grundlegend von Sobtschak unterscheidet, obwohl sich ihre Positionen ähneln, und welche Möglichkeiten ein kritischer Wähler im März sonst noch hat – das analysiert Politologe Alexander Kynew auf Republic.

    Es scheint so, als wären die Wahlkampagnen von Nawalny und Sobtschak quasi identisch. Tatsächlich aber unterscheiden sie sich sehr und ziehen völlig unterschiedliche Folgen nach sich.  

    Worum geht es in Nawalnys Kampagne? Nawalny ist zweifellos ein Mensch mit demokratischen Ansichten, er ist bestrebt, mit den Menschen in der Sprache zu sprechen, die die Mehrheit versteht und zwar über das, was diese Mehrheit anzuhören bereit ist. Er übersetzt den liberalen Diskurs in eine für die Mehrheit verständliche Sprache und führt Beispiele an, die jeweils für sich genommen überzeugend sind – im Prinzip schafft er eine Synthese von Freiheit und Gerechtigkeit. Denn sein zentrales Thema – der Kampf gegen Korruption – entspricht im Grunde dem Thema soziale Gerechtigkeit, nur knackig und anschaulich serviert.

    Die Sprache der Mehrheit

    Ob er auch auf andere Bürgerrechte Wert legt, auf freie Religionsausübung und so weiter und so fort? Bestimmt, und kaum jemand bezweifelt das. Nur orientiert er sich an einem breiten Auditorium, wenn es darum geht, die Probleme zu gewichten. Er versucht, mit dem Übertragen des liberalen Diskurses in die „Sprache der Menschen“ eine neue Mehrheit zu schaffen. Genau deswegen ist er für die gegenwärtige Staatsmacht eine Bedrohung.

    Alles, was bei Nawalny die Grundlage für sein Image und sein politisches Programm bildet, kommt bei Sobtschak entweder gar nicht vor oder nur irgendwo am Rande. Und umgekehrt: Das, was bei Nawalny zwar implizit ist, im Kampf um die Wählermassen aber keine Rolle spielt, ist in Sobtschaks Kampagne ein Hauptanliegen. Ob die Krim uns gehört oder nicht, europäische Werte, Sanktionen gegen Russland, Legalisierung leichter Drogen, LGBT-Rechte, Säkularisierung des gesellschaftlichen Lebens und so weiter – das alles sind natürlich wichtige Fragen. Doch aus der Sicht des einfachen Bürgers stehen sie nicht an erster oder zweiter und nicht mal an dritter Stelle.

    Mobilisierung einer Minderheit

    Weil sie Probleme anders hierarchisiert und weil die Kandidatin ein anderes Image hat, ist die an sich ähnliche Kampagne Sobtschaks nicht dazu geeignet, eine neue Mehrheit zu erzeugen, sondern nur dazu, eine Minderheit zu mobilisieren. Wobei dieser Effekt durch die geringe Beliebtheit der Kandidatin verstärkt wird.

    Wie unterscheiden sich die Folgen dieser beiden Strategien, der Erzeugung einer neuen Mehrheit (bei Nawalny) und der Mobilisierung einer ultraliberalen Minderheit (bei Sobtschak)?

    Die Strategie der neuen Mehrheit ist immerhin ein realer Kampf um die Macht – Macht, zumindest was [einen hypothetischen – dek] politischen Einfluss im Parlament angeht. Und sie ist eine Chance, die gesellschaftliche Evolution durch Schritte voranzutreiben, die die Menschen zu verstehen und anzunehmen bereit sind.

    Kampf um die Macht versus Wähler-Ghetto

    Die Strategie der Mobilisierung einer Minderheit bedeutet, dass auf sehr lange Sicht kein realer Einfluss auf die Machthaber zu erwarten ist, ganz zu schweigen von einer Chance, sie abzulösen. Im Grunde ist es ein Kampf für das Recht auf ein ruhiges Leben im Wähler-Ghetto, es ist eine Strategie der langfristigen politischen Aufklärung und ein Versuch, die Gesellschaft allmählich an die Existenz und Akzeptanz eines liberalen Diskurses zu gewöhnen – in der Hoffnung, sie würde sich von selbst schrittweise weiterentwickeln.

    Auch wenn sich also die Positionen in vielen Fragen ähneln, sind die Aussichten in realita völlig unterschiedlich. Die zweite Strategie zu wählen, würde für Anhänger der ersten nicht bedeuten, „quasi Gleichgesinnte“ zu unterstützen – es wäre eine Kapitulation und ein Eingeständnis, auf Ambitionen und Kampfgeist zu verzichten. Und genau so wird das auch benutzt werden. „Quasi dasselbe“ zu unterstützen, wird sich als Falle erweisen.  

    Nawalny: kein Ritter im weißen Gewand

    Nawalny als Ritter im weißen Gewand zu bezeichnen, ist sicher auch nicht angebracht.

    In verschiedener Hinsicht kann man ihn kritisieren, vor allem für seinen fehlenden Teamgeist: Im Prinzip wurde nichts unternommen, um anderen oppositionellen Kandidaten zu helfen, sei es bei den Wahlen zum Moskauer Stadtrat 2014, zur Staatsduma 2016 oder bei den Moskauer Kommunalwahlen 2017. Die offenbar gut organisierten Mitarbeiter Nawalnys sind heute praktisch das einzige funktionsfähige regionale Netzwerk eines führenden demokratischen Politikers.

    Stimme „gegen alle“ gibt es nicht

    Vielleicht ändert sich diese Situation in der Zukunft, aber derzeit unterstützen Sie bei den bevorstehenden Wahlen, wenn Sie eine der beiden genannten Strategien wählen, auch den Trend, der die Demokratiebewegung weiterhin dominieren wird. Eine Stimme „gegen alle“ gibt es bei diesen Wahlen nicht. Das ist eine Illusion. Sie unterstützen (oder auch nicht) einen ganz konkreten Politiker und mit ihm die Strategie, die er verkörpert. Das Ergebnis derer, die an der Macht sind, werden Sie bei solchen Wahlen fast nicht beeinflussen, das Schicksal der Demokratiebewegung jedoch durchaus.

    Also, wenn Sie für ein kleines liberales Ghetto und Versuche einer schrittweisen Aufklärung sind, dann ist Ihre Kandidatin Xenia Sobtschak. Andernfalls haben Sie gleich drei Möglichkeiten: beim „Wählerstreik“ mitzumachen; Stimmzettel zu verschandeln oder mitzunehmen; oder aber „für jeden anderen Kandidaten“ zu stimmen, der chancenlos, aber unschädlich ist (wie Jawlinski und Titow).
     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • „Ich will, dass alle davon erfahren”

    „Ich will, dass alle davon erfahren”

    Bei einem US-Luftangriff in Syrien Anfang Februar sollen russische Söldner der Einheit Wagner getötet worden sein. Mehrere Medien berichteten darüber. Doch der Kreml hüllte sich zunächst in Schweigen. Denn solche Privatarmeen sind illegal.

    Nach Darstellung der USA ereignete sich die Offensive regierungstreuer syrischer Truppen auf eine Raffinerie und ein Ölfeld, die unter Kontrolle der oppositionellen Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) in der Provinz Dair as-Saur waren. An der Seite der Assad-Truppen sollen auch Soldaten der Wagner-Einheit gekämpft haben – 200 russische Söldner kamen laut der Nachrichtenagentur Bloomberg bei dem US-Luftangriff ums Leben. Die USA sprachen von 100 russischen Toten und weiteren 100 Verletzten.

    Die Nachricht erregte große Aufmerksamkeit, aus mehreren Gründen: Das Portal Fontanka hatte im vergangenen Jahr einen Bericht veröffentlicht, wonach seit 2017 nicht das russische Verteidigungsministerium, sondern die syrische Regierung für Kosten und Ausstattung der Privatarmee aufkomme. Insofern heizt der Tod der russischen Söldner nun Gerüchte an, dass es Interessenskonflikte zwischen der russischen Armee und den privaten Milizen gebe.

    Zudem läuft schon seit längerem eine breite Debatte, solche Einheiten zu legalisieren. Allein schon, damit Hinterbliebene im Todesfall versorgt werden und angemessen trauern können. Die Wagner-Einheit soll auch in der Ukraine gekämpft haben.

    Der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow sprach nach dem US-Bombardement von einem Skandal. „Doch die russische Regierung wird so tun, als sei nichts passiert”, sagte er. Erst nach mehreren Tagen äußerte sich die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa zu dem Vorfall, sprach von „fünf Toten, die vermutlich russische Staatsbürger sind“, aber nicht zur Armee gehörten.

    Das Portal Znak traf die Witwe und den Ataman eines Kosaken, der für Wagner in Syrien gekämpfte hatte – und beim US-Luftschlag ums Leben kam.

    Jelena Matwejewa – Fotos © Jaromir Romanow / Znak
    Jelena Matwejewa – Fotos © Jaromir Romanow / Znak

    Znak: Wie haben Sie vom Tod Ihres Mannes [Stanislaw Matwejew – dek] erfahren?

    Jelena Matwejewa: Unser Ataman aus der Stadt Asbest rief mich an. Als erstes fragte er, wann ich zum letzten Mal Kontakt zu Stas hatte. Ich sagte, dass ich ihn schon den dritten Tag nicht erreiche. Und dass die Mädels, deren Männer dort sind, auch von nichts und niemandem etwas wissen. Eine Minute später ruft mich der Ataman noch einmal an und sagt: „Stas und Igor sind nicht mehr unter uns.“ Ich war gerade einkaufen. Das Telefon fiel mir aus der Hand, da, das hat jetzt einen Sprung. Wie auf Autopilot ging ich nach Hause, fast wär ich überfahren worden.    

    Hat man Ihnen gesagt, unter welchen Umständen Ihr Mann umgekommen ist?

    Nein. Am Abend rief ich nochmal den Ataman an. Er bat mich, Ruhe zu bewahren, sagte, dass man bisher noch nichts Genaues weiß. Ich wollte erstmal wegen der Leichen Bescheid wissen. Bat darum, einen Priester anzufragen, der sie segnen würde, wie es sich gehört, wenn Sie gebracht werden. Der Ataman sagte dann, sie sollen gebracht werden, und es würde ein offizieller Anruf aus Rostow kommen. Ob das wirklich so ist, ich weiß es nicht. Die Kosaken bekommen alle Informationen aus dem Donbass (sie weint). Ich weiß nicht, wie bei denen alles zusammenhängt. Ich versuche bisher, das alles nicht zu glauben, bereite auch das Begräbnis noch nicht vor.  

    Haben Sie von der Wagner-Truppe gehört?

    Die Mädels haben davon erzählt. 

    Als Stas nach Syrien fuhr, wussten Sie davon?

    Er hatte mich vorgewarnt. Nach dem Donbass war er etwa ein Jahr zu Hause. Er war im Juli [2016] zurückgekommen. Ein Jahr später, am 27. September [2017], fuhr er wieder weg – im Zug saß er da schon mit den Jungs aus Kedrowoje. Aber jetzt setzt sich niemand so richtig mit uns in Verbindung, keiner sagt uns, ob es stimmt oder nicht. Zuerst so ein Schlag auf den Kopf – und dann halten sie die Klappe.

    Aus Kedrowoje, sagten Sie?

    Neun Mann aus Asbest, und etliche aus Kedrowoje. Mehr weiß ich nicht.

    Zu welchen Bedingungen ist Ihr Mann nach Syrien gefahren, wie viel Geld hat man ihm versprochen?

    Hat er mir nicht erzählt. Er hat so auf mich aufgepasst, dass er mich nie in solche Dinge eingeweiht hat. Seine Kumpels aus dem Donbass wurden begraben, und ich hab das immer als Letzte erfahren. 

    Mit wem hatte er Kontakt?

    Mit Igor Kossoturow, das ist Stas’ Kommandeur. Sie sind entfernte Verwandte. Stas hat eine Cousine, die früher mit Igor verheiratet war. Die hängen immer zusammen. Kosaken eben. 

    Konnte Ihnen Ihr Mann von dort Geld schicken?

    In eineinhalb Monaten 109.000 [1500 Euro]. Das war dafür, dass sie in Rostow waren. Von September bis Oktober, während der Ausbildung. Ich hab dieses Geld im Dezember bekommen.

    Wozu ist er überhaupt nach Syrien gefahren?

    Offenbar haben ihn diese ganzen Waffen und Militärtrainings fasziniert. Ein halbes Jahr nach dem Donbass fing er an, das alles zu vermissen – redete von seinem Gewehr, „wie geht es wohl meinem ‘Täubchen’”. Ich hab mit Engelszungen versucht, ihm das auszureden, wir standen kurz vor der Scheidung. Aber jetzt ist das ja alles sinnlos. 

    Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien
    Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien

    Hat Ihr Mann früher in der 12. Brigade des Militärgeheimdienstes GRU gedient, die hier in Asbest stationiert war?

    Nein. 

    Hat er Wehrdienst geleistet?

    Nein. Zumindest weiß ich nichts davon. Der Donbass war sein erster derartiger Einsatz. Wahrscheinlich gab es da irgendeine Armee. 

    Welchen militärischen Dienstgrad hatte er?

    Er war Stabsfeldwebel. Ich habe eine Kriegsauszeichnung von ihm, ein Georgskreuz aus dem Donbass

    Hat er dort diesen Rang erreicht?

    Sieht so aus, ja. Sagen Sie mir lieber, wer mich jetzt anrufen soll, wer wird mich informieren? Wenn dort alles, verdammt noch mal, in die Luft geflogen ist, wie erkennen sie ihn denn, tackern sie einfach die Fetzen zusammen und sagen dann, das ist mein Mann, oder wie?

    Jelena, Sie sagten, Ihr Mann hat im Donbass gekämpft, wann ist er da hingefahren?

    2016. 

    Was hat ihn dazu bewegt?

    Das haben die Männer alles unter sich entschieden. Er kam und sagte: „Du siehst ja, wie es im Donbass zugeht. Wir müssen den Leuten helfen.“ Er sagte, er fährt dahin und baut Häuser für Flüchtlinge. Er ist ja wirklich Bauarbeiter. 

    Und wie haben Sie erfahren, dass er dort nicht auf dem Bau arbeitet, sondern in der Volksmiliz kämpft?

    Das hat mir die Frau eines Kameraden gesagt. Er selbst hat es mir nicht mal erzählt.

    Wie haben Sie das aufgenommen?

    Ich war beunruhigt. Aber was soll ich machen?

    In welcher Brigade hat er gekämpft?

    Weiß ich nicht.

    War er lang dort?

    Etwa sieben Monate.

    Wie haben Sie ihn nach dem Donbass empfangen?

    Die Kinder haben vor Freude so gekreischt, dass seine Kameraden ganz entrüstet waren. Nach dem Motto: Uns begrüßt niemand so freudig. Er ist dann gleich zu seinen Eltern gefahren. Seine Mutter ist krank, sie hat Diabetes, und ich hab mich um sie gekümmert. Und dort tischten wir auf, klar, ordentlich Alkohol, das Übliche. 

    Was hätten Sie jetzt gern, welche Maßnahmen würden sie sich jetzt vom Staat wünschen?

    Ich würde mir wünschen, dass alle von meinem Mann erfahren. Und nicht nur von meinem Mann, von allen Jungs, die dort so sinnlos umgekommen sind. Arg ist das alles! Wohin wurden sie geschickt, warum? Es gab keinerlei Schutz. Wie Schweine wurden sie zur Schlachtbank geführt. Ich will, dass die Regierung sie rächt. Ich will, dass dieser Männer gedacht wird, dass die Frauen sich nicht schämen müssen für ihre Männer und die Kinder stolz sein können auf ihre Väter.


    Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift "Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich"
    Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift „Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich“

    Mit Ataman Oleg Surnin sprechen wir im Büro des örtlichen Verbands der Afghanistan-Veteranen, am anderen Ende von Asbest.

    Znak: Igor Kossoturow und Matwejew waren Kosaken?

    Oleg Surnin: Die waren von unserer Staniza. Wir haben sie im vorletzten Jahr zusammen aufgenommen, am Tag der Aufklärer [5. November – dek].

    Kannten Sie sie schon lange?

    Mit Igor Kossoturow hab‘ ich humanitäre Hilfe in die Ukraine gefahren, nach Luhansk. Dort ist er dann geblieben. Ich bin damals zurückgekommen, musste auf Arbeit.

    Welches Jahr war das?

    2015, glaub ich.

    Wie lang war Igor Kossoturow in der LNR [Volksrepublik Luhansk – dek]?

    Ein halbes Jahr ungefähr. Dann wurde er verwundet. Am Bein, ein Granatsplitter. Er kam hierher und wurde behandelt.

    Als was hat er da gekämpft?

    Als Aufklärer.

    Und was hat er nach der Verwundung gemacht?

    Ist nochmal für ein ein halbes Jahr hingefahren. Danach ist er nicht mehr in Luhansk gewesen.

    Warum nicht?

    Er hatte schon andere Pläne, wegen Syrien.

    Warum wollte er dann nach Syrien gehen?

    Ja, wie soll ich das sagen … Um zu helfen. Wieder aus Patriotismus! Viele seiner Regimentskameraden aus der Ukraine sind ja da hingegangen.

    Welchen Rang hatte Igor?

    In der Ukraine war er Hauptmann. Hier, in der Brigade, hatte er nicht mal einen Offiziersrang.

    Wie lief das, als sie nach Syrien zogen?

    Dort gibt es viele Russen. In Rostow gibt einen Ausbildungsstützpunkt. In solchen Stützpunkten werden sie trainiert. Folglich ist da auch die Gruppe Wagner dabei. Das erste Mal, als sie da hingingen, wurde ihnen vorgeschlagen, sich in zwei gleichgroße Gruppen aufzuteilen und in verschiedenen Flugzeugen nach Syrien zu fliegen. Die Jungs haben sich geweigert. Igor kam nach zwei Monaten aus Rostow hierher. Doch dann rief der Kommandeur an; sie sammelten sich alle und fuhren los.

    Es gab noch einen von meinen Kosaken dort, Nikolaj Chitjow.

    Hat er überlebt?

    Ja, wir haben schon miteinander gesprochen. Dann kam die Meldung aus dem Donbass, dass Kossoturow und Stas [Stanislaw Matwejew] umgekommen sind. Und jetzt erreiche ich keinen mehr per Telefon, der Mensch, der da die Leichen gesammelt hat, mit Codenamen „der Schwede“, der geht nicht mehr ran. Kolja Chitjow haben sie telefonisch erreicht, der hat auch erzählt, dass es drei Tote gibt: Igor, Stas und ein dritter, Codename „Kommunist“. Bei den beiden ist es sicher, die Informationen zum Dritten werden noch geprüft.

    Was geschieht jetzt mit den Leichen, werden die den Angehörigen übergeben?

    Gestern ging die Information ein, dass die Leichen schon nach Petersburg gebracht wurden. Das ist aber noch nicht bestätigt.

    Warum nach Petersburg und nicht nach Jekaterinburg?

    Das habe ich auch gefragt. Es wurden alle dorthin überführt.

    Sie sagen ständig „die Information ging ein“ – woher denn eigentlich?

    All diese Informationen kommen hauptsächlich über den Donbass, von Dienstkameraden.

    Sind Entschädigungszahlungen an die Angehörigen vorgesehen; die haben ja nunmal einen Ernährer verloren?

    Die müsste es geben. Es wird von drei Millionen Rubel geredet [ca. 42.850 Euro; pro Gefallenem – dek].

    Gibt es denn eine Garantie, dass gezahlt wird?

    Bis jetzt wurde noch niemand übers Ohr gehauen. Denjenigen, der mit der Überführung befasst war, können wir telefonisch nicht erreichen.

    Unterstützt der Staat diese Söldner denn irgendwie?

    Jetzt ist einer aus Syrien zurückgekommen, weil er krank ist. Der sollte am besten operiert werden, hat aber keinerlei Unterlagen, die das bestätigen. Wie auch, wenn er fünf Jahre Verschwiegenheit unterschrieben hat?!

    Gibt es bei den privaten Truppen wenigstens irgendeinen Vertrag mit den Leuten, Brief und Siegel?

    Natürlich, da werden Dokumente unterschrieben.

    Wird das alles denn auf irgendeine Art vom Verteidigungsministerium oder dem FSB kontrolliert?

    Was hat das Verteidigungsministerium damit zu tun?

    Wer übernimmt denn dann alle Kosten und die Entschädigungen?

    Weiß ich nicht.

    Wladimir Putin hat vor einiger Zeit öffentlich erklärt, dass alles geräumt ist, dass sich Syrien vollständig unter der Kontrolle der Regierungstruppen und Baschar al-Assads befindet…

    Ich schaue auch Fernsehen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was uns gesagt wird und was reale, lebende Menschen aus erster Hand erzählen. Ein Teil des Territoriums wird immer noch vom IS kontrolliert. Unsere Leute ziehen in die Kämpfe, von Raffinerie zu Raffinerie, befreien eine und bleiben zur Bewachung da. Dann wird eine neue Operation vorbereitet und es geht zur nächsten Raffinerie. Man hat unseren Leuten diesmal aufgelauert. Es gab ein Informationsleck, sie wurden eindeutig erwartet. Wenn das einfache Angehörige des IS mit Schusswaffen gewesen wären, wäre das alles anders gelaufen.

    Die eroberten Raffinerien werden von unseren Ölleuten kontrolliert. Es gab Informationen, dass Mitarbeiter von Rosneft da hingefahren sind…

    Nein, das waren Syrer.

    Nach dem, was passiert ist, sollte der Staat da nicht irgendwie reagieren?

    Nein. Es wissen doch sowieso alle, dass unsere Leute dort sind.

     

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  • Kulturmetropole in den nördlichen Weiten

    Kulturmetropole in den nördlichen Weiten

    In Totma im Norden Russlands, 1000 km östlich von Sankt Petersburg entfernt im Landesinneren, gibt es sechs Museen, zwei Volkstheater, zwei Kulturpaläste, einen Schachklub, ein Kinder-Kreativhaus, eine Musik- und eine Kunstschule. Und das alles für 10.000 Einwohner. An Feiertagen kommt die halbe Stadt zusammen, auf Premierenkarten hat man nie eine Chance, Vorführungen von Amateurkünstlern sind restlos ausverkauft, und alte Damen trainieren Biathlon. Ein Phänomen? Und ob!

    Sergey Maximishin, zweimaliger Preisträger beim World Press Photo Award, hat die Stadt besucht, Les zeigt seine Fotoreportage.

    Schiffsförmige Kirchen zur Rettung der Kaufmannsseelen. Uliza Lenina – Lenin Straße. Rechts: Kirche zum Einzug des Herrn in Jerusalem, heutzutage ein Museum. Links: Christi Auferstehungskirche, eine der zwei Kirchen in Totma, die noch in Betrieb sind. Fotos © Sergey Maximishin

    In den 880 Jahren ihrer Geschichte erlangte die Stadt Totma zweimal den Gipfel des kommerziellen Erfolgs. Zunächst im 16. und 17. Jahrhundert, als die Salzförderung von Sol Wytschegodsk [heute Solwytschegodsk – dek] an ihrem Höhepunkt war und die Stadt Sol Totemskaja hieß. In den Salinen von Totma dampfte man aus unterirdischen Quellen gewonnene Sole ein – und die Stadtbevölkerung wurde reich. Totma war ein so wichtiger Ort, dass Zar Peter dreimal hier weilte und sich einmal sogar dazu herabließ, höchstselbst einen Eimer Sole aus dem Schacht zu ziehen.

    Die fetten Jahre hielten an, bis Russland die Astrachaner Steppen mit dem dort befindlichen Salzsee Baskuntschak eroberte. Das Salz von Totma war im Vergleich aufwändig in der Gewinnung und daher nicht mehr attraktiv. Mit den Salinen ging es bergab. Fast wäre Totma verarmt. Jedoch, wie Wikipedia schreibt:

    „ … den Kaufleuten von Totma gelang es, neue Ertragsquellen zu erschließen und für einen nicht weniger eindrucksvollen wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt zu sorgen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahmen die Kaufleute zahlreiche Expeditionen in den Osten: nach Sibirien, Fernost und an die Küste Amerikas. Handelsgesellschaften aus Totma machten rund 20 Forschungsreisen in den Pazifik – mehr als Konzerne aus Moskau, Wologda und Weliki Ustjug zusammengenommen.“

    Iwan Kuskow aus Totma gründete – am südlichsten Punkt Russisch-Amerikas – Fort Ross, in Kalifornien. Zur Erinnerung daran sind Fort Ross und Totma heute Partnerstädte. Die Kaufleute kehrten von ihren Seefahrten mit Pelzen zurück, als besonders wertvolle Beute galt das Fell des Silberfuchses, der nur in Amerika lebte. Von den Einnahmen ließen die Kaufleute zur Rettung ihrer Seelen schiffsförmige Kathedralen bauen.

    Kirow Straße. Kirche zum Einzug des Herrn in Jerusalem – die größte Schiffs-Kirche von Totma, erbaut von reichen Kaufleuten vom Verdienst ihrer erfolgreichen Seefahrten Richtung Osten. Die Kirchenmauern sind verziert mit Kartuschen, dem charakteristischen Bauelement des sogenannten Totmaer Barock
    Gesichter schauen durch Krusten abblätternder Ölfarbe, die Restaurierung der Fresken ist noch lange nicht vollendet – im Gebäude der Kirche zum Einzug des Herrn in Jerusalem war zu Sowjetzeiten eine Weinkellerei untergebracht. Heutzutage ist in den beheizbaren Teil das Seefahrts-Museum eingezogen  Der Sommerflügel wurde an die Kirche zurückgegeben

    Ab Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Totma zu einem ruhigen Provinzstädtchen. Ohne Höhenflüge, aber – Gott sei Dank – auch ohne nennenswerte Abstürze. Aus den letzten zwei Jahrhunderten sind ein paar solide Steingebäude geblieben. In einem davon befindet sich jetzt das Polytechnische Lyzeum, in einem anderen, dem ehemaligen Gebäude der Handwerkerschule Peter der Große, die Mittelschule.

    Die Tür der Schule Nr. 1, untergebracht in einem edlen dreistöckigen Steingebäude, früher die Handwerksschule Peter der Große, in der junge Menschen lernten, aus dem Holz der Gegend Spielzeug zu fertigen – auf Kosten des Kaufmanns Tokarew

    Unter den Romanows wurden politische Gegner nach Totma verbannt. Berühmte Verbannte waren der Narodnik Lawrow sowie die Revolutionäre Molotow und Lunatscharski. Auf seinem Weg nach Solwytschegodsk verbrachte auch Stalin drei Tage in Totma.

    Im Heimatkundemuseum – Stalin war einst auf der Durchreise in Totma

    In der Sowjetzeit wurde auf dem Klosterareal eine Sportschule gebaut, die bis heute in Betrieb ist. In einer der Kirchen wurde eine Weinkellerei eingerichtet, in einer anderen ein Kino. Später wurde das Kino dem Städtischen Kulturzentrum übergeben. Damit begann auch meine Bekanntschaft mit der Kulturanomalie Totmas.

    In der Maske

    Ende Februar/Anfang März ist in Totma kulturelle Hochsaison: 23. Februar, 8. März, und dazwischen noch die Masleniza. Nonstop laufen Proben: Duette und Soli, Tanzensembles, Blasorchester. Kostüme werden genäht und ein letztes Mal anprobiert, und auf die Bühne darf man nur gemäß Belegungsplan.

    Blasorchesterprobe im Gewölbe der Christi-Erscheinungskirche, der größten Kirche des alten Totma. Der Leiter des Zentrums sagt voller Stolz: „Unser Blasorchester ist das einzige im Osten der Wologdaer Oblast!”
    Die Tanzgruppe „To li delo“ (dt. sinngemäß „Mit Abstand am besten!”)
    Die Tanzgruppe beim Maßnehmen
    Das mehrfach preisgekrönte Kollektiv „Romaschki” (Die Kamillenblüten)
    Probe der Kamillenblüten

    Am Tag des Konzerts dann ein Unglück – es war schlagartig warm geworden, vom Dach lief das Wasser in Strömen. Es überschwemmte die Garderobe und das Büro der Direktorin Swetlana Cholmogorowa. Die Besucher trudelten bereits ein, während die Belegschaft die nasse Bühnenkleidung auf den Heizkörpern verteilte.

    Tauwetter
    Hinter den Kulissen – gleich geht es auf die Bühne
    Wer wird denn da schmulen …
    Der Saal rappelvoll, das Publikum feingemacht, Blumen und Applaus – am Abend wird dann alles wie auf der großen Bühne 

    Die leisesten Bewohner des Kulturzentrums sind die Schachspieler. Mit der für die Region Wologda typischen o-lastigen Aussprache tröstet der Amateurtrainer einen kleinen Verlierer: „Och, wer ist denn schuld? Selbst schuld, kleiner Hornochs! Hast deinen Sieg vertrottelt! Wieso hast du denn nicht mit dem Läufer die Dame gefressen?“

    Tief versunken
    Hochstapler beim Schach?

    In Totma gibt es sechs Museen. Manche wirken eher wie Wanderausstellungen, aber trotzdem; alles zusammen heißt Museumsverband. Die Verbandsleitung sitzt im Heimatkundemuseum. Dort wohnt auch der Motor und Direktor des ganzen Betriebs Alexej Nowosjolow.

    Ausstellung zum Internationalen Frauentag
    Wo der Bär zu Hause ist
    Bestände
    Der Stolz des Museums: die Sammlung hölzerner Altarskulpturen

    Für die Musikschule reicht in dem einen Gebäude der Platz nicht. Gitarre und Akkordeon werden auf der anderen Straßenseite unterrichtet. Die Musikschule hat auch keinen eigenen Konzertsaal. Und noch ein Problem: Vor einem halben Jahr ist die Geigenlehrerin nach Wologda gezogen und es gibt in Totma keinen Ersatz für sie.    

    Ein etwa zehnjähriges Mädchen lernt Domra. Die Lehrerin streichelt ihr sanft über den Kopf. Und fragt mich:

    „Sieht sie nicht aus wie Serafima?“
    „Welche Serafima?“
    „Was heißt, welche?! Die Schöne Serafima! Aus der Serie. Die kennen sie doch?“
    „Nein“, sage ich, „kenn ich nicht. Ich habe keinen Fernseher.“
    „Wie leben Sie denn? Die müssen Sie unbedingt sehen! Da geht es um eine Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt!“

    Die Lehrerin hat das Mädchen im Chor der Sonntagsschule gehört und sie dann gefragt, ob sie Unterricht nehmen will. „Serafimas“ Mutter sagte, sie könne keine 400 Rubel [5,60 Euro – dek] im Monat bezahlen (das ist in Totma, wo das Durchschnittsgehalt niedriger ist als die Durchschnittsrente, viel Geld), und erst recht nich könne sie ein Instrument kaufen. So bekommt das Mädchen gratis Unterricht. Sie kam in eine Klasse für Volksmusikinstrumente – Domren und Balalaikas sind in der Schule ausreichend vorhanden.

    In der Musikschule: Notenlinie oder Garderobe? Notenschlüssel oder -schloss?
    Der Chor probt das Lied „Kinder lieben Jazz
    „Ein zehnjähriges Mädchen lernt Domra. Die Lehrerin streichelt ihr sanft über den Kopf: ‘Sieht sie nicht aus wie Serafima?’“
    Doo Reee Miii …
    Klavierunterricht am Nachmittag
    Kleines Blockflöten-Trio

    In Totma gibt es zwei Volkstheater, die in Konkurrenz zueinander stehen. Swetlana Samodurowa, Regisseurin am Volkstheater des Jugendkulturtheaters Totma, sagt, ihr Theater blicke auf 140 Jahre ununterbrochene Geschichte zurück. Derzeit proben sie Wölfe und Schafe von Ostrowski. Ein Mäzen von hier hat dem Theater 10.000 Rubel [140 Euro – dek] gegeben, für dieses Geld konnten für alle Schauspieler des Stücks Kostüme genäht werden. 

    Erste Anprobe
    Kindergarten. Frühe Spuren von Kultur an der Fassade

    In der Kunstschule gibt es vier Klassen Basisunterricht und eine fünfte, zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule.

    Malklassen
    Maler und Musen

    Vor der Revolution war Totma berühmt für sein Holzspielzeug, man nannte die Stadt sogar „russisches Nürnberg“. 

    Antike Totmaer Spielzeugfiguren aus Pappmaché
    Das ist Nadeshda Schulga und ihr Hündchen. Nadeshda war einst Erzieherin im Kindergarten und ist jetzt Hobbykünstlerin mit besonderer Handschrift: Sie bewahrt die Tradition und arbeitet mit Pappmaché

    Swetlana, die Direktorin des Städtischen Kulturzentrums, hat zur Masleniza Mütterchen Winter gespielt. Von ihr war auch das Drehbuch für die dreistündige Aufführung. Das Budget dafür betrug 3000 Rubel [ca. 42 Euro – dek]. Die ganze Stadt war auf dem zentralen Torgowaja-Platz versammelt. Dem Publikum wurde (im direkten und übertragenen Sinn) drei Stunden lang ordentlich eingeheizt. Von den typischen Masleniza-Bräuchen fehlten nur die „Pfosten mit Stiefeln”. Offenbar hatte das Budget dafür nicht gereicht.

    Masleniza-Feier auf dem zentralen Platz der Stadt
    Hobbyschauspieler hinter den Kulissen des Straßentheaters zur Masleniza. Der schwarze Fuchs ist das Wappentier von Totma. Im Jahr 1785 erließ Katharina die Große ein Dekret – Totma erhielt ein Wappen mit einem schwarzen Fuchs auf goldenem Grund: „Als Zeichen, dass die Bewohner der Stadt Fuchsjagd betreiben“
    Fürs Masleniza-Fest haben die Mitglieder des örtlichen patriotischen Klubs zur Freude der Bürger einen Schießstand organisiert
    „Dem Publikum wird (im direkten und übertragenen Sinn) drei Stunden lang ordentlich eingeheizt”

    Als Lunatscharski von seiner Verbannung in Totma zurückkehrte, erzählte er:

    „Totma ist ein bezauberndes, schmuckes Städtchen, mit Kirchen im Rokoko-Stil, am Ufer eines riesigen Flusses gelegen, hinter dem sich dunkle Wälder erstrecken. Unweit der Stadt befindet sich ein Kloster, zu dem man im Schlitten durch silberne Winterwälder fahren kann und wo man mit Brot, Kwas und Ucha bewirtet wird, wie ich sie nie zuvor und nie danach je genossen habe … Ich habe Totma in Erinnerung wie ein Wintermärchen, wie eine Kulisse für Snegurotschka.“

    Ich bin nicht im Schlitten zum Kloster gefahren, habe die Suppe nicht probiert. Doch Kwas und Brot sind in Totma immer noch köstlich. Und die Wirkung der Stadt ist ungefähr immer noch die gleiche.

     

    Text und Fotos: Sergey Maximishin
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Erschienen am 15.02.2018

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  • Höllischer Brei

    Höllischer Brei

    In Fellmantel und dicken Filzstiefeln marschiert Putin an den Reportern vorbei. Mantel und Stiefel abgelegt, taucht er anschließend zu feierlichen Gesängen versammelter kirchlicher Würdenträger und vor laufenden Kameras ins eiskalte Wasser des Seligersees, ein Kreuz über der nackten Brust – nicht ohne sich zu bekreuzigen.

    Am 19. Januar feiert die orthodoxe Kirche das Epiphanias-Fest. Das traditionelle Untertauchen im Eiswasser soll dabei an die Taufe Jesu im Jordan erinnern und die Gläubigen von den Sünden reinwaschen. So öffentlichkeitswirksam wie Putin 2018 beging allerdings noch kein russischer Herrscher den orthodoxen Feiertag.

    Dass ausgerechnet der Ex-KGBler die orthodoxen Bräuche pflegt – nicht nur an Epiphanias – verwundert manche. Kurz vor dem Epiphanias-Fest am 19. Januar wurde im staatsnahen Fernsehkanal Rossija 1 außerdem eine Doku über das Kloster Walaam ausgestrahlt. Darin verglich Putin die Mumie Lenins mit Reliquien christlicher Heiliger.

    Andrej Loschak schimpft auf colta.ru darüber, dass die Staatsführung sehr unterschiedliche Ideologien zusammenmische. Mit diesem Sud würde in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspült. Das ist Loschaks optimistische Prognose. Er hat auch eine pessimistische.

    Eisbaden am Tag des Epiphanias-Festes – Wladimir Putin pflegt diese Tradition 2018 am Ufer des Seligersees / Foto © kremlin.ru
    Eisbaden am Tag des Epiphanias-Festes – Wladimir Putin pflegt diese Tradition 2018 am Ufer des Seligersees / Foto © kremlin.ru

    Putin hat die Mumie Lenins mit christlichen Heiligtümern verglichen. Der Vergleich eines blutbefleckten Atheisten mit Märtyrern spiegelt wunderbar die ideologischen Prozesse wider, die in der Staatsführung vor sich gehen. Anders gesagt, er zeigt anschaulich, was für ein höllischer Brei sich da in den Köpfen zusammenbraut.

    Höllischer Brei in den Köpfen

    Ich kenne keine Kreml-Insider, aber wenn ich die Stimmungen in den oberen Rängen mitkriegen möchte, stöbere ich manchmal einfach auf der Website meines Kommilitonen aus dem Journalismusstudium. Der war mal ein lieber, freundlicher Typ – jetzt ist er einer der Chef-Reporter von RTR. Für ihn und seinesgleichen ist das Thema Liberale schon lange erledigt. Die sind Müll, Dreck unter den Füßen, ihre bloße Erwähnung schon eklig. Ein paar angewiderte Posts, unter anderem homophobes Gewitzel über Serebrennikow, das ist alles, was der Reporter in den letzten drei, vier Monaten auf Facebook zum Thema „Liberasten“ von sich gab.

    Viel unterhaltsamer und emotionaler ist der Streit, den  er – der überzeugte Stalinist und sowjetische Revanchist – mit orthodoxen Monarchisten führt. Sogar beim Sender Spas war er dafür. Die Monarchisten regten sich über die Verbrechen des Sowjetregimes auf (schimpften nebenbei natürlich auf den Westen und die Liberalen), und der stalinistische Reporter empörte sich ernsthaft über die „schleichende Ent-Sowjetisierung, bei der die orthodoxe Kirche aus irgendeinem Grund mitmacht“.

    Wenn man sich die Polemik auf Spas ansieht, wird einem klar, dass Russland in den nächsten sechs Jahren genau von diesem verkrampften Ringen der Stalinisten und Monarchisten  bestimmt sein wird. Aus dem für das 21. Jahrhundert lächerlichen Streit zweier überholter Ideologien will die Staatsmacht neue Klammern generieren. Prozessionen von Verkehrspolizisten, Segnungen von Trägerraketen (die dann abstürzen), neue Stalin-Denkmäler im ganzen Land und Verbote, Verbote, Verbote – so ungefähr wird die Zukunft Russlands aussehen. Mit der Zukunft der restlichen Menschheit wird das nichts zu tun haben – das größte Land der Welt hat einfach nur wieder mal beschlossen, einen Sonderweg zu gehen. Den Preis solcher Alleingänge kennen wir gut aus der Geschichte, aber mit sadomasochistischer Sturheit schlagen wir uns immer wieder am selben Rechen den Schädel an.

    Segnungen von Trägerraketen (die dann abstürzen), neue Stalin-Denkmäler und Verbote, Verbote, Verbote – so ungefähr wird die Zukunft Russlands aussehen

    Für die Ideologen des Regimes sind all diese Battles von Revanchisten gegen Orthodoxe Balsam für die Seele. Früher gab es eine Religion, die kommunistische, jetzt gibt es zwei – ist doch klasse!

    Interessanterweise nimmt keiner von denen, die sich ständig einen auf den Sowok runterholen (ein erstaunlich passender Ausdruck), je das Wort Kommunismus in den Mund.  Niemand glaubt an ihn oder erwähnt ihn auch nur. „Mit dem Pflug übernommen, mit der Atombombe hinterlassen“ ist das wichtigste Mantra. Sie huldigen dem Sowok gerade als totalitärem Staat und vergessen dabei ganz, für welche Idee dieser gigantische Gulag eigentlich aufgezogen wurde. Denn die ungeheure soziale Ungleichheit, wenn 25 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, und daneben eine Handvoll Milliardäre (Freunde des Präsidenten) – das ist so ganz und gar nicht kommunistisch. 
     
    Ähnlich ist die Situation mit Putins Orthodoxie. Keiner der Hierarchen und Staatsmänner spricht von der zentralen Botschaft Christi: von Liebe und Vergebung. Das Wort Gottes ist hinter all diesen heiligen Mächten, wundertätigen Ikonen und Kirchenbannern auf pompösen Prozessionen überhaupt irgendwo verloren gegangen. Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen wie im Großinquisitor. Weil er andernfalls umgehend all diese fettgesichtigen Popen verjagen würde, die in Kathedralen Handel treiben und gegen die zehn Gebote verstoßen.

    Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen

    Die Staatsmacht braucht keine frohe Botschaft, sondern ein weiteres Sicherheitsorgan – ein furchterregendes ideologisches Amt, das Gedankenverbrechen ahndet.

    Als Folge lässt sich eine interessante Metamorphose beobachten: In vielen Köpfen sind Sowjetwichserei und orthodoxer Monarchismus zu einer bizarren Figur verschmolzen; sowas in der Art haben die Nachtwölfe bei ihrem Festival auf der Krim präsentiert: ein sowjetisches Wappen mit einem zaristischen Doppeladler. Die Apotheose: Sjuganow wünscht alles Gute zu Weihnachten – „dem Fest der Zukunft“. Vor unseren Augen entsteht eine rot-orthodoxe Ideologie.    
     
    Der Film Walaam, in dem unter anderem berichtet wird, wie gut die Rotarmisten mit den Kirchendienern umgingen, ist ein Meilenstein auf diesem Weg: „Spirituell, stark, heiter“ – mit diesen Schlagwörtern kündigten kremlfreundliche Websites den Filmstart an. Diese neue Richtung lässt sich mit Besonderheiten in der Biografie und mit persönlichen Vorlieben unseres Präsidenten leicht erklären. Einerseits entstammt er dem KGB, besucht aber andererseits an Feiertagen den Gottesdienst und bekreuzigt sich vor laufender Kamera. Das muss man ja irgendwie vereinen – und so vereinen sie es so gut es geht. Eine Dekonstruktion von Bedeutungen läuft da, eine Verwandlung von für sich genommen starken Ideen in einen postmodernen Trash-Zirkus, das Lieblingswerk von Putins Ideologen. Und mit diesem elenden Sud wird man offenbar in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspülen. Das wäre die optimistische Prognose.

    Es passiert eine Verwandlung von für sich genommen starken Ideen in einen postmodernen Trash-Zirkus. Und mit diesem elenden Sud wird man in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspülen

    Die pessimistische Prognose ist im Film Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben beschrieben. Wie alle Geächteten von Weltrang greift Putin immer häufiger zur Waffe und fuchtelt damit als einzigem Argument dem verehrten Publikum vor der Nase  herum. Der ganze militaristische Schaum, der nach der Annexion der Krim geschlagen wurde, schien sich im letzten Jahr wieder aufzulösen. Putin wird kaum Lust darauf haben, zur Karikatur eines Bösewichts à la Kim Jong-un zu mutieren, der die Welt mit Atomwaffen terrorisiert; andererseits lässt er sich selbst keine andere Wahl. Der Krieg mit der Ukraine wird schwelen, solange Putin an der Macht ist. Daher werden sich zum Kalaschnikow-Denkmal bestimmt noch andere Symbole dazugesellen, daran besteht kein Zweifel. Aber hoffentlich zumindest keine neuen Kriege. Dann doch lieber den orthodoxen Sowok als Nordkorea.

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  • Hier stirbt die Demokratie!

    Hier stirbt die Demokratie!

    Auf dieses Ereignis hatte die russische Gesellschaft fast ein ganzes Jahr gewartet, seit der Abdankung von Nikolaus II. im März 1917: Am 5. Januar (18. Januar) 1918 trat im Taurischen Palais in Petrograd die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Bis dahin hatte die Regierung, die im Zuge der Februarrevolution an die Macht gekommen war, sich als „provisorische“ bezeichnet. Die damaligen Regierungsmitglieder waren nämlich der Ansicht, dass über die Regierungs- und Verfassungsform in Russland erst noch ein Organ entscheiden soll, das durch eine allgemeine, freie und geheime Wahl bestimmt wird – die Verfassunggebende Versammlung.

    Die meist schwierigen Vorbereitungen dafür liefen über das Revolutionsjahr hinaus und auch der Oktoberumsturz der Bolschewiki stoppte sie nicht.

    Inwiefern die Wahlen Ende 1917 schließlich ihren demokratischen Ansprüchen entsprachen, darüber streiten Historiker immer noch. Tatsache ist aber: Die Bolschewiki, die seit Ende Oktober an der Macht waren, bekamen nur circa 22 Prozent der Stimmen und standen am 5. Januar im Taurischen Palais als Opposition da. Für Lenin war dies ein Rückschlag. Die Demonstrationen, die den Start der Versammlung unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen. Und schon am kommenden Tag unterschrieb Lenin ein Dekret zur Auflösung der Versammlung. Der russische Parlamentarismus war Geschichte.


    Quelle: Altrichter, Helmut (2017): Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Padeborn, S. 237-238

    Maxim Gorki, schon damals ein landesweit bekannter Schriftsteller, leitete zu der Zeit die parteiunabhängige, aber sozialdemokratisch ausgerichtete Zeitung Nowaja Shisn. Dort vergleicht er in seinem Artikel 9. Januar – 5. Januar die Niederschlagung der Arbeiterdemonstrationen mit dem Blutsonntag vom 9. Januar 1905 – und sagt das Ende der demokratischen Entwicklung in Russland voraus.

    Am 9. Januar 1905, als eingeschüchterte, geknechtete Soldaten auf Befehl des Zaren in eine Menge unbewaffneter, friedlicher Arbeiter schossen, liefen gebildete, kritisch denkende Arbeiter auf sie zu und schrien den Soldaten – unfreiwilligen Mördern – direkt ins Gesicht:

    „Was macht ihr Verfluchten? Wen bringt ihr da um? Das sind doch eure Brüder, sie sind unbewaffnet, sie haben nichts Böses im Sinn. Sie gehen zum Zaren, um ihn auf ihre Not aufmerksam zu machen. Sie fordern nicht einmal, sondern bitten, ohne Drohung, arglos und ergeben! Kommt zur Vernunft, was macht ihr nur, ihr Idioten!“ 

    Man sollte meinen, diese einfachen, klaren Worte, ausgelöst durch Kummer und Schmerz über unschuldig getötete Arbeiter, hätten Zugang zum Herzen des „sanftmütigen“ russischen Mannes im grauen Soldatenrock finden müssen.

    Doch der sanftmütige einfache Mann hat die besorgten Leute entweder mit dem Gewehrkolben geprügelt oder mit dem Bajonett auf sie eingestochen, oder er brüllte, zitternd vor Hass:
    „Auseinander, wir schießen!“

    Sie wichen nicht aus, und da schoss er gezielt, streckte Dutzende, ja Hunderte Leichen aufs Pflaster nieder.

    Der Großteil der Soldaten des Zaren antwortete auf die Vorwürfe und Anpfiffe niedergeschlagen und fügsam:
    „Befehl von oben. Wir wissen nichts – uns wurde befohlen …“

    Und wie Maschinen schossen sie in die Menschenmengen. Ungern vielleicht, widerwillig, aber sie schossen.

    Am 5. Januar 1917 demonstrierte eine unbewaffnete Sankt Petersburger Demokratie – Arbeiter, Hausangestellte – friedlich für die Verfassunggebende Versammlung.   

    Die besten russischen Leute hatten fast hundert Jahre lang von der Idee der Verfassunggebenden Versammlung gelebt – eines politischen Organs, das der gesamten russischen Demokratie Gelegenheit gegeben hätte, ihren Willen frei zu äußern. Im Kampf für diese Idee starben in Gefängnissen, in Verbannung und Zwangsarbeitslagern, an Galgen und durch die Kugeln der Soldaten tausende Intellektuelle und zigtausende Arbeiter und Bauern. Auf dem Opfertisch dieser heiligen Idee wurden Ströme von Blut vergossen – und die „Volkskommissare“ befahlen, die Demokratie zu erschießen, die für diese Idee demonstrierte. 
    Ich möchte daran erinnern, dass viele dieser „Volkskommissare“ selbst ihre gesamte politische Tätigkeit hindurch den Arbeitermassen die Notwendigkeit eingebläut hatten, für die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung zu kämpfen. 
    Die Prawda [dt. „Wahrheit“ – dek] lügt, wenn sie schreibt, die Demonstration am 5. Januar sei von der Bourgeoisie organisiert worden, von Bankiers und dergleichen, und zum Taurischen Palais seien vor allem Angehörige der Bourgeoisie und Kaledin-Anhänger marschiert.        
    Die Prawda lügt – sie weiß nur zu gut, dass für die Bourgeoisie die Eröffnung einer Verfassunggebenden Versammlung kein Grund zur Freude wäre, dass sie inmitten von 246 Sozialisten einer Partei und 140 Bolschewiki nichts zu suchen hätte. 
    Die Prawda weiß, dass an der Demonstration Arbeiter des Obuchow-Werks, der Munitionsfabrik und anderer Betriebe teilnahmen, dass unter den roten Bannern der Sozialdemokratischen Partei Russlands Arbeiter aus dem Wassileostrowski Rajon, dem Wyborgski und anderen Rajons zum Taurischen Palais zogen.

    Und genau diese Arbeiter wurden erschossen. Und wie viel die Prawda auch lügen mag, diese schändliche Tatsache wird sie nicht verbergen können.

    Die Bourgeoisie hat sich vielleicht gefreut, als sie sah, wie Soldaten und Rote Garden den Arbeitern die Revolutionsbanner aus der Hand rissen, darauf herumtrampelten und sie verbrannten. Möglicherweise freute jedoch auch dieser willkommene Anblick nicht alle „Bourgeoisen“, denn es gibt ja auch unter ihnen ehrliche Leute, die ihr Volk und ihr Land aufrichtig lieben.

    Einer von ihnen war Andrej Iwanowitsch Schingarjow, der von irgendwelchen Bestien heimtückisch ermordet wurde.

    Am 5. (18.) Januar 1918 trat die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Demonstrationen, die ihren Start unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen
    Am 5. (18.) Januar 1918 trat die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Demonstrationen, die ihren Start unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen

    Also, am 5. Januar schossen sie auf Arbeiter von Petrograd, auf unbewaffnete. Sie schossen ohne Vorwarnung, schossen aus dem Hinterhalt, durch Zaunritzen, feige, wie richtige Mörder.

    Und genau wie am 9. Januar 1905 fragten Menschen, die Gewissen und Verstand nicht verloren hatten, die Schießenden:
    „Was macht ihr Idioten? Das sind doch eure Leute? Seht doch – überall rote Fahnen, und kein einziges Plakat, das sich gegen die Arbeiterklasse wendet, kein einziger feindseliger Ruf gegen euch!“

    Und genau wie die Soldaten des Zaren antworteten auch diese Auftragsmörder: 
    „Befehl! Uns wurde befohlen zu schießen.“
    Und genau wie am 9. Januar 1905 staunte der Biedermann, dem alles egal ist und der bei der Tragik des Lebens immer nur Zuschauer bleibt:
    „Klasse, sie sperren sie ein!“ 
    Und überlegte hellsichtig:
    „Bald werden sie sich gegenseitig erschlagen!“

    Ja, bald. Unter den Arbeitern kursieren Gerüchte, dass die Rote Garde des Telegrafieunternehmens Ericsson auf Arbeiter im Rajon Lessnoi geschossen hätten und Arbeiter von Ericsson wiederum von der Roten Garde irgendeiner anderen Fabrik beschossen worden seien.

    Solche Gerüchte gibt es viele. Vielleicht sind sie nicht wahr, doch das hindert sie nicht daran, die Masse der Arbeiter auf ganz bestimmte Weise psychologisch zu beeinflussen.

    Ich frage die „Volks“-Komissare, in deren Reihen sich doch anständige und vernünftige Leute finden müssen:

    Ob ihnen klar ist, dass sie, sobald sie ihren eigenen Leuten die Schlinge um den Hals legen, unvermeidlich die gesamte russische Demokratie erdrosseln, alle Errungenschaften der Revolution zunichte machen?

    Ob sie das verstehen? Oder ob sie denken: Entweder wir sind an der Macht, oder es sollen doch alle und alles zugrunde gehen?

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Die Erzfreunde Russland und USA

    Die Erzfreunde Russland und USA

    Russische Trolle! US-amerikanische Bedrohung! Die Hysterie in den Beziehungen zwischen Russland und den USA erreicht gerade in letzter Zeit immer wieder neue Höhepunkte. Einer, der sich dagegen wohltuend ruhig und sachlich mit dem gegenseitigen Verhältnis auseinandersetzt, ist der Historiker Ivan Kurilla. Im Interview mit Olga Filina von Kommersant-Ogonjok erklärt er unter anderem, was die besondere „Erzfreundschaft“ zwischen beiden Ländern ausmacht, was Ford mit dem Kommunismus und Sputnik mit dem US-amerikanischen Bildungssystem zu tun hat. Und warnt vor zu viel „Schaum vor dem Mund“.

    Analysiert das Verhältnis zwischen Russland und den USA ruhig und sachlich – Historiker Ivan Kurilla / Foto © Gaidar Open University
    Analysiert das Verhältnis zwischen Russland und den USA ruhig und sachlich – Historiker Ivan Kurilla / Foto © Gaidar Open University

    Kommersant-Ogonjok: Schon im Titel Ihres Buches behaupten Sie, Russland und die USA seien zwar „Erzfreunde“, aber immerhin doch Freunde. Können Sie diese These begründen?

    Ivan Kurilla: Meinem Buch liegt ein zehnjähriges Projekt zugrunde: Ich habe Materialien gesammelt, die mit der gegenseitigen Beeinflussung zwischen Russland und den USA zu tun haben. Ein paar hundert kamen da zusammen.

    Ich möchte mit einer Art Metapher beginnen: Russland ist sehr stolz auf „seine Spur“ – die materialisiert sich in den russischen Eisenbahnschienen, die eine andere Spurweite haben als die in Europa. Aber warum sind unsere russischen Eisenbahnen anders als die europäischen? Weil sie amerikanisch sind, ein Modell von 1836. Heute haben die Amerikaner natürlich andere Standards, doch im 19. Jahrhundert lieferten sie uns die Schienen, die auch Baltimore mit Ohio verbanden. Und so setzten sich bei uns die Schienen aus Maryland durch.

    Die ganze Industrialisierung verdanken wir ,amerikanischer Einmischung‘

    Und weiter: Die ganze Industrialisierung der 1930er Jahre verdanken wir „amerikanischer Einmischung“. Das Stalingrader Traktorenwerk genauso wie die Nishni Nowgoroder Automobilfabrik, die Magnitka genauso wie das Wasserkraftwerk DniproHES, sie alle wurden nach amerikanischen Plänen gebaut. Wir waren das 20. Jahrhundert hindurch einander viel näher, als man uns zu denken erlaubte.

    Auch deutsche Ingenieure arbeiteten vor dem Krieg in der Sowjetunion …

    Trotzdem spielt Amerika bei jeder unserer Modernisierungen eine ganz besondere Rolle. Es ist sogar so: Jedes Mal, wenn unser Staatschef von der „Modernisierung“ spricht, meint er „Amerikanisierung“. Mit einem Ruck wollen wir durch Europa hindurch und direkt nach Amerika. Das war schon unter Nikolaus I. so und unter Lenin, unter Chruschtschow und Gorbatschow und sogar unter Medwedew. Trotzki war da übrigens sehr ehrlich: In den 1920ern verwendete er durchweg genau diesen Begriff – „Amerikanisierung“ – wenn er dem Land den Weg in die Zukunft aufzeigte. Berühmt ist noch eine weitere Losung aus diesen Jahren: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung“.

    Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung

    Wir erinnern uns an diese Formel natürlich mit dem Wort „Elektrifizierung“, weil die Geschichte der ersten Sowjetjahre erst in Zeiten des Anti-Amerikanismus geschrieben wurde. Der Kalte Krieg ließ uns überhaupt viel von der Präsenz Amerikas in Russland vergessen, obwohl die Spuren überall sichtbar sind, wenn man nur den Blick dafür schärft.

    Sie haben jetzt ein paar Beispiele genannt, wie Amerika Russland veränderte. Kann man auch Geschichten über den Einfluss Russlands in den USA finden?

    Die sucht man vielleicht nicht so sehr auf dem Gebiet der Technik, obwohl auch dort … etwa der Elektrotechniker Alexander Poniatoff mit seiner Firma Ampex, der den ersten funktionierenden Videorekorder erfand.

    Von der ersten Generation von Emigranten, die Russland noch als Kinder verließen und alle berühmten Hollywood-Filmstudios gründeten, rede ich schon gar nicht. Der kulturelle Einfluss von Auswanderern unseres Landes auf die USA ist wirklich offensichtlich: Man denke an Irving Berlin, aus dessen Feder die wichtigsten patriotischen Lieder Amerikas im 20. Jahrhundert stammen (inklusive God bless America), obwohl er in Tjumen geboren wurde.

    Der kulturelle Einfluss von russischen Auswanderern auf die USA ist offensichtlich

    Während des Kalten Krieges ging dann der berühmte Ausspruch des amerikanischen Impresarios Sol Hurok um, der den kulturellen Austausch zwischen UdSSR und USA organisierte: „Was ist denn unser kultureller Austausch? Das ist, wenn sie uns ihre Juden aus Odessa schicken, und wir schicken ihnen unsere Juden aus Odessa.“ Und da war viel Wahres dran.      

    Und der ideelle Einfluss, der ideologische? Der war, nehme ich an, einseitig …

    Bei den Amerikanern entwickelte sich ab dem 18. Jahrhundert, ab den ersten Puritanern, die Tradition, sich als Leader zu sehen: zuerst als religiöse („City upon a Hill“), dann als demokratische („Citadel of Freedom“) und so weiter.

    Damals im 19. Jahrhundert wurden amerikanische Verhältnisse von Nikolaus I. (der den transatlantischen Pioniergeist äußerst schätzte) und den Dekabristen (die ihre Verfassung nach amerikanischem Muster schrieben) gleichermaßen bewundert.

    Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft

    Mit Russland ist das komplizierter, doch Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft. Wir haben sie früher abgeschafft als Amerika die Sklaverei, und während des Bürgerkriegs studierten die USA aktiv die Erfahrungen Russlands. Wahrscheinlich haben wir sie genau in diesem Moment „eingeholt und überholt“, ohne es selbst zu bemerken.

    Eine weitere bekannte Geschichte erzählt davon, wie die Amerikaner ihr Bildungssystem zu reformieren begannen, als sie mit den Erfolgen des sowjetischen Raumfahrtprogramms konfrontiert waren. Das ist doch auch ein ideeller Einfluss.

    Wenn man heute vom Einfluss Amerikas auf Russland oder Russlands auf Amerika spricht, dann impliziert man etwas Ungutes. Bei Ihnen ist „Einfluss“ fast immer für beide Seiten vorteilhaft.

    Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht. Wie wir wissen, folgte nach der „Entspannung“ eine neuerliche Abkühlung der Beziehung zwischen UdSSR und USA, die mit der Präsidentschaft Jimmy Carters zusammenfiel. Ich betone, der Krieg in Afghanistan begann 1979, aber das Verhältnis verschlechterte sich bereits 1977. Anlass für diese Abkühlung war, dass Carter bei einem bilateralen Gespräch die Einhaltung der Menschenrechte in der Sowjetunion in den Vordergrund rückte. In den 1960er Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass die USA etwas derartiges vorbringen: Sie hatten damals selbst eine gesetzlich verankerte Rassentrennung. In den 1970ern jedoch hatte die Bürgerrechtsbewegung in Amerika Erfolge erzielt und stand auf dem Gipfel ihrer Popularität – Carter konnte sie nicht ignorieren.

    Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht

    Gleichzeitig verlor Amerika Mitte der 1970er auf anderen Gebieten praktisch überall: Misserfolg in Vietnam, die heftigste Wirtschaftskrise seit der Great Depression, Watergate … Beim besten Willen nichts, worauf man stolz sein konnte. Es ging darum, das Land wieder auf die Beine zu stellen. Und es zeigte sich, dass es vor diesem beklemmenden Hintergrund doch auch eine gute Nachricht gab – das Ende der Rassentrennung [im Jahr 1964 – dek], in den USA siegten die Bürgerrechte, anders als in der UdSSR!

    Die Sowjetunion, die Andersdenkende und die eigenen Bürger unterdrückte, wurde wie eine Spielkarte zu innenpolitischen Zwecken eingesetzt, um die Stärken Amerikas besser hervorzuheben.   

    Also waren wir einander nützlich als „Feindbilder“?

    Das Verhältnis zwischen Russland und den USA gestaltet sich generell auf einer bildhaften, symbolischen Ebene. Wenn sich etwas verändert darin, dann bedeutet das nicht, dass der eine dem anderen tatsächlich etwas angetan hat.  

    Kann man von einer eindeutigen Dynamik des Russlandbildes in Amerika sprechen?

    Im Laufe des ersten Jahrhunderts der Unabhängigkeit Amerikas war Russland das europäische Land, das ihm von allen am freundlichsten gesinnt war. Eine markante Episode jener Zeit war das Erscheinen von zwei russischen Geschwadern in den Häfen von New York und San Francisco im Jahr 1863. Ihre Präsenz unterstützte die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg moralisch. Andererseits reisten in den Jahren des Krimkriegs einige Dutzend amerikanische Ärzte nach Russland, um im belagerten Sewastopol in den Spitälern zu arbeiten: Viele von ihnen starben an Infektionen, den Überlebenden überreichte unser Chirurg Pirogow zum Andenken Medaillen mit der knappen Aufschrift „Sewastopol. Alles getan, was möglich war“.

    Zu bröckeln begann das Russlandbild in den 1880er Jahren, als der Journalist und Schriftsteller George Kennan Sibirien bereiste und dort auf gebildete und liberal denkende Verbannte und Zwangsarbeiter stieß, da war zum ersten Mal die Rede von Russland als „großem Gefängnis“. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts steckten auch die USA in der Krise, da nach dem Bürgerkrieg im Süden die Weißen wieder an die Macht kamen, die Rassentrennung festgelegt wurde und sich die Amerikaner natürlich die Frage stellten: Wofür haben wir gekämpft? Da kamen die Beobachtungen von George Kennan gerade recht, der den kritischen Blick der Amerikaner von sich selbst in Richtung Russland umlenkte, à la: Seht mal, dort haben sie überhaupt die besten Leute nach Sibirien verbannt!
    Die einstigen Verfechter der Unabhängigkeit des schwarzen Südens vereinigten sich also zur amerikanischen Society of Friends of Russian Freedom, um für die Befreiung des russischen Volkes von der Alleinherrschaft zu kämpfen.

    Russland und die USA als zwei extreme Versionen von Europa: eine konservative und eine radikale

    Damals begann sich ein interessantes dreiteiliges Darstellungssystem herauszubilden, wonach Russland und Amerika zwei extreme Versionen von Europa sind: eine konservative und eine radikale. Deswegen erweist sich Russland als willkommener Vergleichspunkt – als entgegengesetzter Pol im europäischen Kulturraum. Und deswegen ist es so harscher Kritik ausgesetzt. 

    Die gegenwärtigen Anwandlungen von Antiamerikanismus und Russophobie – sind die auch der Tradition gezollt?

    Beide Länder benutzten und benutzen Bilder voneinander zur Lösung ihrer inneren Probleme. Vor allem von Problemen, die mit einer Identitätskrise zu tun haben.

    Beide Länder benutzen einander zur Lösung ihrer Identitäts-Probleme

    Wenn Russland sich von Amerika „geplagt“ fühlt, heißt das, etwas stimmt mit unserer Identität nicht, irgendwo haben wir uns verloren. Wenn Amerika sich von Russland „geplagt“ fühlt, stimmt mit Amerika etwas nicht, es schafft einfach nicht, sich zu entscheiden, wie es nun sein soll: wie Hillary, wie Obama oder wie Trump … Aus der Sicht des Durchschnittsamerikaners muss man, wenn sich Russland wirklich in die Präsidentenwahlen der USA eingemischt hat, konkrete Schritte tun, um das nicht mehr zuzulassen: die Cybersecurity verstärken, irgendwelche internationalen Verträge abschließen, zusätzliche Mittel für Geheimdienste ausgeben – was auch immer.

    Aber mit Schaum vor dem Mund zu wiederholen, wie schlecht Russland ist, trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Das hat eine andere Funktion – den eigenen Schmerz zu lindern. Und dasselbe gilt auch für Russland.

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