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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Wortwichser am Abend

    Der Wortwichser am Abend

    Ein älterer Herr mit Bart und Sonnenbrille sitzt auf einer efeuumrankten Treppe und trällert zu einfachen Gitarrenakkorden ein paar muntere Zeilen. So weit, so Youtube. Doch bei dem älteren Herrn handelt es sich um die russische Rocklegende Boris Grebenschtschikow und seine munteren Zeilen handeln unzweideutig von einem Propagandamacher aus dem Fernsehen, der als wetscherni mudoswon (dt. etwa: Wortwichser am Abend) besungen wird. 

    Wenig später erreicht das Lied im Internet ein Millionenpublikum, gewichtige Gestalten aus dem russischen Staatsfernsehen melden sich zu Wort, allen voran der für seine aggressive Rhetorik bekannte TV-Moderator Wladimir Solowjow. Das Bellen eines getroffenen Hundes? Meduza mit einer Kurz-Chronik des bizarren „Ich bin's nicht!“-Rummels.

    Samstag, 28. September

    Boris Grebenschtschikow, Bandleader von Aquarium, veröffentlicht auf seinem Youtube-Kanal ein Video zum Lied Wetscherni M [Wetscherni Mudoswon, dt. etwa: Wortwichser am Abend]. Darin geht es um einen „echt emsigen Kopf unserer Zeit“ – einen Propagandisten vom russischen Fernsehen: „Er alles sagt, was bestellt wird, seine Antworten bleiben nie aus.“ Namen nennt Grebenschtschikow keine. 



    Ich wandle mein Leben lang durch die Weiten / Und bin bereit, das noch weiter zu tun. / Wen du auch fragen willst, alle rauschen im Taxi vorbei. / Und niemand wird dir beibringen, wie man leben soll. / Doch im Zentrum der Weiten gibts einen Ort, wo es hell ist und wo alle hinschauen. / Dort bringt man nach bestem Wissen und Gewissen allen bei, wie es läuft in der Welt, / allen Kindern, den Alten und Jungen.
     
    Wortwichser am Abend! / Du echt emsiger Kopf, / Wortwichser am Abend / er ist ehrlicher, aufrichtiger und besser als alle, / der Wortwichser am Abend. / Er erklärt dir alles, was du willst, / gibt auf jede Frage eine Antwort. / Das Volk hat eine Seele, ist aber arm wie eine Kirchenmaus, / Dafür haben sie allen eins auf die Nase gegeben!
     
    Er strahlt wie ein druckfrischer 50iger / Er trieft vor Pomade und Lack, / Und wenn der Pöbel Jesus vermöbelt, / erklärt er uns, warum genau Jesus der Feind ist.

    Sonntag, 29. September

    Die russischen Medien greifen das Lied auf. Der Wetscherni M wird in den sozialen Netzwerken fleißig geteilt. Und die User rätseln: „Auf wen ist der Song wohl gemünzt?“ Mutmaßungen kommen auf, der anonyme Propagandist könnte Wladimir Solowjow sein, der Moderator der Sendung Der Abend mit Wladimir Solowjow.

    Montag, 30. September

    Solowjow reagiert per Twitter und Telegram auf Grebenschtschikows Lied: Der Leader von Aquarium sei „vom Dichter zum Coupletsänger verkommen“. Wobei der Moderator auch anmerkt, dass ihn der Song überhaupt nicht kränke. Zumal es darin, wie ihm scheine, um Iwan Urgant  gehe. Der hatte ihn mit seinen Späßen über „Nachtigallscheiße“ schon mal beleidigt. „In Russland gibt es eine Sendung, die das Wort ‚Abendlicher‘ im Titel hat – Sie wissen nicht zufällig, welche?“, fragt der Moderator.

    Am selben Tag

    Boris Grebenschtschikow beteiligt sich an der Diskussion. Der Musiker hinterlässt unter seinem Youtube-Video folgenden Kommentar: „Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich feststellen, was ohnehin klar ist: Zwischen Wetscherni U und Wetscherni M liegt eine unüberwindbare Distanz – wie zwischen Würde und Schande.“     

    Dienstag, 1. Oktober

    Solowjow kommt mit einer neuen Version. Im Gespräch mit dem TV-Sender 360 hält er es durchaus für möglich, dass mit dem umstrittenen Song in Wirklichkeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky gemeint ist: „Es kann natürlich auch sein, dass Herr Grebenschtschikow sein Lied dem Präsidenten der Ukraine gewidmet hat … Was derzeit ein großes Thema in den amerikanischen Medien ist.“

    Am selben Tag

    Eine Agentur für Satire-News namens Panorama veröffentlicht eine Fake-Meldung über Solowjow, wonach dieser versuche, Urgant gegen Grebenschtschikow zu verteidigen. Man beachte das ausgedachte Solowjow-Zitat: „Das Lied handelt natürlich nicht von mir, aber ich halte seine weitere Verbreitung oder Wiedergabe für unzumutbar.“ 

    Am selben Tag

    Iwan Urgant kommentiert Grebenschtschikows Lied live auf dem Ersten Kanal, wobei er sich über sich selbst lustig macht – mehr noch allerdings über Solowjow (wieder ohne ihn namentlich zu nennen): „Wir hätten liebend gern Boris Borissytsch eingeladen, dieses Lied live bei uns zu singen, doch aus firmenethischen Gründen können wir im Ersten Kanal keine Lieder über Mitarbeiter anderer Sender bringen.“ 



    […] Ich habe gerade noch in der Garderobe das neue Lied von Grebenschtschikow gehört. Nun, einige haben es schon gehört, andere noch nicht. Wieder andere haben es sich schon sehr sehr oft angehört …
    Jedenfalls gibt's da gerade einen total bescheuerten Skandal: BG hat ein Lied auf Youtube gestellt. Es heißt Wetscherni M, und es geht darin um den Moderator einer Abendshow. Und im Grunde weiß keiner … , wen er meint …
     
    Können wir mal reinhören?
    Nein, das geht leider nicht wegen des Wortes mudoswon/Wortwichser“, das darin vorkommt.
     
    Also, wegen des Titels ist klar, dass es um einen Talkmaster geht. Der eine Abendshow moderiert. Also, der Kreis wird immer enger, um wen es gehen kann.
    Aber wir Abendshowmaster halten zusammen wie eine Familie […].
    Und wir zerbrechen uns den Kopf: Über wen hat BG geschrieben? Wen konkret tunkt er da ein, in sein Aquarium? Er nennt ja keine Namen, nichts. Und dann ist mudoswon noch dazu ein russisches Wort, also ist von einem Russen die Rede und da können ja wir wieder alle gemeint sein […]

    2. Oktober

    Wladimir Solowjow (den Grebenschtschikows Lied überhaupt nicht kränkt) nimmt die Version mit Iwan Urgant wieder auf. Im Gespräch mit dem Telegram-Kanal Podjom wiederholt er die Idee aus der Meldung von Panorama und verspricht, den Kollegen gegen die Angriffe des Aquarium-Leaders zu verteidigen: „Es gibt in unserem Fernsehen eine ganz konkrete Sendung, die mit ‚Abendlicher‘ beginnt, und ich finde, Boris Borissowitsch hat völlig zu Unrecht einen wunderbaren, feinsinnigen, klugen Moderator des Ersten Kanals beleidigt. Ich habe ihn gegen diese unfairen Anfeindungen verteidigt und werde das auch weiterhin tun.“


    Fortsetzung folgt.

    Ergebnisse der Meduza-Leserumfrage: Wem ist das Lied Wetscherni M gewidmet?

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  • Der Kosake hat den Größten

    Der Kosake hat den Größten

    Die Liebe verbirgt sich an den unglaublichsten Orten. Sogar im Nachnamen des Snob-Korrespondenten Igor Saljubowin steckt das Wort ljubow (dt. Liebe). Prädestiniert ihn das dafür, über Russlands größte Sextoy-Fabrik zu berichten? Er hat es jedenfalls getan und schreibt auf Snob davon, wie sich in einer Kosakensiedlung ein Betrieb der Rüstungs- in einen der Liebesindustrie verwandelt hat. Schwerter zu – ja, zu was eigentlich? 

    Zuerst schuf Gott den Mann. Damit dem Mann nicht langweilig werde, machte Gott aus dessen Rippe die Frau. Dann fingen sie doch an, sich zu langweilen – und erfanden Sextoys.

    Im Jahr 7527 seit Erschaffung der Welt werden künstliche Penisse und Vaginas größtenteils in China hergestellt, doch eine kleine Fabrik in der Oblast Kuban will China Konkurrenz machen und verkauft ihre Produkte schon seit ein paar Jahrzehnten in ganz Russland.  

    Konkurrenz für die Chinesen – eine kleine Fabrik für Sextoys in Kuban / Foto © Igor Saljubowin

    Da baumelt die Mutter aller Butt-Plugs

    Michalytsch hält mit zwei Fingern einen rosa Butt-Plug an einer kleinen Schnur hoch. Hier baumelt die Mutter aller Butt-Plugs, die in nächster Zeit in der Fabrik erzeugt werden. Ein von einem Bildhauer geformtes Wachsmodell wird in eine alte, schon hier und da rissige Plastikwanne gelegt. Kathode, Anode, Elektrolyse – die Methode ist 200 Jahre alt, aber hier in der Fabrik hält man sie für effizienter als 3D-Druck.

    An Michalytschs Fingern baumelt die Mutter aller Butt-Plugs, die in der Fabrik erzeugt werden / Foto © Igor Saljubowin
    An Michalytschs Fingern baumelt die Mutter aller Butt-Plugs, die in der Fabrik erzeugt werden / Foto © Igor Saljubowin

    Eine Wanne mit Modellen, die allmählich metallisiert werden, steht in einem kleinen Nebengebäude im Hinterhof der Fabrik. Die Fabrik steht am Rand einer Kosakensiedlung.   

    In der Kosakensiedlung Poltawskaja leben 25.000 Menschen. Ein Magnit-Supermarkt, eine Brotfabrik, ein geschlossenes Kino, ein ausgestellter Düsenjäger, ein Heimatkundemuseum, ein Hotel, eine dunkelhäutige Prostituierte in der Sauna des Ortes – das ist alles, was es hier an Sehenswürdigkeiten gibt. 

    Ein Auto fährt hier alle fünf Minuten vorbei. Ein Fahrrad – alle vier.

    Die Traubenkirsche blüht, die Straßen sind sauber und leer.

    Im Hinterhof der Fabrik steht die Wanne mit den Gussformen / Foto © Igor Saljubowin

    Die Provinz schleicht sich in die Schlafzimmer der Hauptstadt

    Fabrikdirektor Wadim Kanunow hat in seinem Leben so viele Dildos produziert, dass sie für alle Einwohner von Rumänien reichen würden, oder je vier für jeden Einwohner von Kuban, oder 800 Stück pro Bewohner der Kosakensiedlung Poltawskaja, wo seine Fabrik steht. Kanunows Phallusse werden auf der umstrittenen Krim verkauft, im prorussischen Donbass und in der antirussischen Ukraine. Auf der Krim ganz offen, in die Ukraine schmuggelt sie eine Bande durch die Donezker Volksrepublik. Eine spezielle Person holt von Kanunow einen Schwung Sexspielzeug für Tschetschenien und Inguschetien ab. Dort passiert der Handel im Geheimen.

    In der Provinz, wo man traditionell mit der Hauptstadt nicht kann, und in Moskau, das abfällig über den Moskauer Autobahnring hinausspäht, wird Kanunows Spielzeug etwa in gleicher Menge verkauft. Im ganzen Land sind seine Dildos erhältlich, aber in Poltawskaja gibt es keinen Sex-Shop. Die Fabrik am Ortsrand hat nicht mal ein Schild.    

    Fabrikdirektor Kanunow hat in seinem Leben soviele Dildos produziert, dass sie für alle Einwohner Rumäniens reichen würden / Foto © Igor Saljubowin

    Die künstlichen Schwänze werden nach Gutdünken designt

    „Ich möchte nicht, dass zum Beispiel in der Schule die Lehrer meiner Kinder davon erfahren. Aber die Verwandten wissen Bescheid“, sagt eine Fabrikarbeiterin. Ein Lagerarbeiter bittet uns, nicht sein Gesicht zu fotografieren. Ich mache von ihm eine Aufnahme von hinten, an seinem Schreibtisch. In die Kamera blickt ein Lenin, der seit der Sowjetzeit hier hängt.  

    Keiner nimmt die Produkte aus eigener Herstellung mit nach Hause. „Sie trauen sich nicht“, meint Kanunow. Dem Thema, wie neue Modelle denn getestet werden, weicht er selbst allerdings auch aus. In seiner Fabrik gibt es keine Testpersonen. 

    „Manchmal teste ich ein Spielzeug pro Woche, manchmal weniger, wenn ich gar keine Zeit oder Lust habe“, erzählt eine professionelle Sextoy-Testerin in einem Interview des Onlinemagazins FurFur. „Das glaubt man nur, dass das immer angenehm ist. Ist es gar nicht. Manchmal ist mir einfach nicht nach Sex, da will ich in der Badewanne liegen und Remarque lesen – Gleitgel oder neue Dildos können mir dann gestohlen bleiben.“ 
    Normalerweise arbeiten Testpersonen im Auftrag der Sex-Shops, testen also bereits fertige Ware. Insofern werden die künstlichen Schwänze Poltawskajas praktisch nach Gutdünken designt.

    Dildo-Design nach Gutdünken / Foto © Igor Saljubowin


    Ab Frühling ist Flaute 

    Die meisten Gießer sagen, sie hätten in der Fabrik angefangen, weil man im Ort sonst schwer einen Job findet. „Das mittlere Einkommen ist hier rund 15.000 Rubel [etwa 210 Euro – dek], und wir kriegen 30.000 Rubel [etwa 420 Euro – dek] oder sogar mehr. Aber ich versuche auch, die Wochenenden durchzuarbeiten, wenn ich kann. In Handyshops darf man das gar nicht. Dadurch verdienen wir hier mehr“, sagt Anton. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen macht es ihm überhaupt nichts aus, dass er jeden Tag Phallusse herstellt. Viel mehr Sorgen bereitet ihm, dass die Nachfrage saisonal schwankt. „Von August bis Silvester schuften wir wie die Berserker, sind eingedeckt mit Aufträgen, und im Frühling und Sommer ist Flaute“, erklären die Gießer. „Im Frühling und Sommer gehen die Leute raus“, versucht er, Gründe für diese saisonalen Schwankungen zu erklären. „Aber im Herbst und im Winter – was sollen sie denn sonst tun?“

    Die Kosaken sind die größten, mit einem Durchschnitt wie der Bizeps von Schwarzenegger / Foto © Igor Saljubowin

    Wir haben uns das Ziel gesetzt, den größten Schwanz zu machen

    Die Kosaken sind die größten, mit einem Durchschnitt wie der Bizeps von Schwarzenegger. Die Amerikaner sind etwas kleiner als die Kosaken, aber immer noch dicker und länger als die durchschnittlichen dreizehn Zentimeter. Die Realisten sind näher an der Wahrheit, aber gefragt sind die einen genauso wie die anderen. „Wir hatten uns einfach das Ziel gesetzt, den größten Schwanz zu machen“, erzählt Direktor Kanunow, wie die Idee zum Kosaken entstand. „Wir hatten das eher als Scherzartikel gedacht. Aber dann sind sie ihrem eigentlichen Verwendungszweck entsprechend gekauft worden.“ Das weiß Kanunow nicht aus einer Umfrage in der Fokusgruppe – die gibt es genauso wenig wie die Testpersonen –, das haben ihm Verkäufer in Sex-Shops erzählt.     

    Die ersten Vibratoren waren mit Motoren ausgestettet, die für militärische Zwecke gedacht waren / Foto © Igor Saljubowin
    Die ersten Vibratoren waren mit Motoren ausgestettet, die für militärische Zwecke gedacht waren / Foto © Igor Saljubowin

    Der 23-jährige Shenja ist der Jüngste in der Fabrik. Er fährt allein zur Arbeit und sitzt in einem Extrazimmer. In der Penisproduktion ist er, seit er vierzehn ist, sein Vater, der seit Ende der Nullerjahre bei Kanunow arbeitet, hat ihn in die Fabrik geholt. „Ich habe mich von klein auf für Mechanik interessiert, hab die Schule abgeschlossen, eine Elektrikerlehre gemacht und arbeite seitdem hier.“

    Shenja bezieht ein Gießergehalt, in seiner Freizeit tüftelt er an neuen Herstellungsmethoden und Materialien, mit denen man noch vollkommenere Dildos machen kann, dabei kommen zur Schwanzproduktion umgemodelte sowjetische Maschinen und die technischen Ressourcen der Kosakensiedlung zum Einsatz. 

    Die ersten Vibratoren waren mit Militär-Motoren ausgestattet

    Der ehemalige sowjetische Gynäkologe Wadim Kanunow produziert seit Anfang der 1990er Jahre Sexspielzeug. Die ersten zehn Jahre seines Lebens als Geschäftsmann lassen darauf schließen, dass die Produktion zunächst mit Unternehmensplünderungen und in enger Zusammenarbeit mit der in den Perestroika-Jahren zerstörten Rüstungsindustrie zusammenhing. Die ersten Vibratoren hatte er mit Motoren ausgestattet, die für militärische Zwecke gedacht waren. 
    Nostalgische Gefühle kommen bei Kanunow nicht auf, wenn er an diese Zeit zurückdenkt, genauso wenig wie große Gefühle bei dem Gedanken daran, dass seine Waren Millionen Menschen im Land sexuelle Befriedigung bringen. Nur einmal habe er so eine Art Nostalgie empfunden, sagt er: „Da kam vor einigen Jahren ein alter Mann in einen Sex-Shop und zog einen uralten Dildo aus der Tasche und fragt: ‚Können Sie mir den reparieren?‘ Man rät ihm: Komm, Opa, wir suchen Dir einen neuen aus. Aber er bleibt unbeirrt: Nein, ich mag den, ich komme gut mit ihm zurecht. Als der Sex-Shop-Inhaber den Dildo sah, griff er gleich zum Hörer und rief mich an: ‚Komm her, das wird dir gefallen.‘ Das war einer unserer ersten Vibratoren, noch echtes Handwerk.“

    Sein Business sei eine Mission zur Rettung des Landes, sagt Fabrikdirektor Kanunow / Foto © Igor Saljubowin
    Sein Business sei eine Mission zur Rettung des Landes, sagt Fabrikdirektor Kanunow / Foto © Igor Saljubowin

    „Alle unsere Mitarbeiter sind die erste Zeit mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen, und jetzt mit dem Auto“, erzählt Wadim Kanunow. „Nicht nur das, manche haben sogar Motorräder. In unserem Ort, und überhaupt in Russland, wird jetzt weniger getrunken, und ich glaube, das ist unser Verdienst. Mit meinem Business erfülle ich eine Mission zur Rettung des Landes. Alle wollten das, und wir haben’s geschafft. Wir exportieren mittlerweile sogar. In Poltawskaja wird nicht gesoffen.“  

    Wenn ich heimgehe, denke ich nur an Bier und gebratenen Fisch

    Es wird Abend in der Kosakensiedlung; die Gießer sind wohl schon zu Hause – ruhen sich aus, um morgen früh zur Arbeit zu fahren und eine ordentliche Partie Vaginas anzufertigen. Monteurinnen sitzen noch da, über die Arbeit gebeugt. Die Uhr zeigt schon sieben, aber Anka, die seit 12 Stunden hier ist, weiß noch nicht, wann sie geht. Sie muss heute noch hundert Slips in Schächtelchen verpacken. „Wenn ich heimgehe, denke ich nur an Bier und gebratenen Fisch. Das wird bei jedem anders sein, aber bei mir ist es so. Und du, Larissa, woran denkst du meistens?“ Larissa bepinselt schweigend den hundertsten Schwanz heute. „Hm, Larissa?“ Larissa zieht mit einem Schminkstift langsam blaue Venen. Die Hälfte der Belegschaft ist schon weg. „Komm schon, sag!“, Anka lässt nicht locker.

    „Mann, woran denke ich? Ich gehe und denke, wie verdammt *** (müde) ich bin!“, sagt Larissa und macht sich an die Bemalung der Eicheln.

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  • Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

    Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

    Chernobyl ist eine neue Fernsehserie, auf der Internet Movie Database ist sie die bislang am besten bewertete Serie ever. Es ist eine US-amerikanisch-britische und keine russische Produktion. In Russland sei eine solch kritische und ernste Auseinandersetzung mit der Reaktorkatastrophe derzeit einfach nicht möglich, meint Andrej Archangelski auf Republic. Ein Hohelied auf das therapeutische und das versöhnende Potential des Serien-Genres plus eine Abrechnung mit dem aktuellen russischen Fernsehen.

    Die Serie Chernobyl – eine Produktion von HBO und dem britischen Sky TV – steht im Ranking der Internet Movie Database (IMDb) auf Platz 1. In Russland wird sie, wie nicht anders zu erwarten, von regierungstreuen Medien kritisiert. Das ist eine Art sowjetischer Instinkt – man muss, und sei es im Nachhinein, die Sache grundlegend bewerten. 
    Worin genau die ideologische Sabotage der Serie besteht, ist zwar schwer zu sagen, aber der parteihörige Spürsinn (auch so ein Wort aus dem sowjetischen Lexikon) souffliert fehlerfrei: Irgendwas Aufrührerisches verbirgt sich in Chernobyl, unsichtbar, aber nicht ungefährlich. Man geht dabei allerdings nicht wirklich in die Tiefe und bezeichnet den Film als „einwandfreie Propaganda“ und Teil einer Verschwörung gegen die Atomenergiebehörde Rosatom.   
    Diesmal, so bizarr das auch sein mag, irrt der Spürsinn der Medien nicht – für die russische Ideologie, die sich weitgehend auf Fernsehen und Filme stützt, ist dieser Film tatsächlich gefährlich.

    Für die russische Ideologie ist dieser Film gefährlich 

    Mit regierungsfreundlichen Filmen und ebensolchem Fernsehen ist es in den letzten zehn Jahren gelungen, das Land in einen hermetischen Kokon zu wickeln und das Bewusstsein des Großteils seiner Bewohner zu verändern. Mit Serien und Filmen über die Vergangenheit wurde auf dem Bildschirm das Idyll einer himmlischen Sowjetunion geschaffen – in der es keine Probleme mit Lebensmitteln, Kleidung und Freiheit gab. Und in der der geheimnisvolle Tod von Skiwanderern am Djatlow-Pass ein Riesenereignis darstellte. 

    Das Idyll der himmlischen Sowjetunion

    Eine solche Sowjetunion hat es in Wirklichkeit nie gegeben, und die Fernsehzuschauer wissen das genau, aber trotzdem gucken sie es. Psychologisch ist das leicht zu erklären. All diese Serien sagen dem ehemaligen Sowjetmenschen quasi: Mit der Vergangenheit ist alles in Ordnung, es gibt keinen Grund sich aufzuregen, man hat sich auch nichts vorzuwerfen. So ist es mit Hilfe des Fernsehens gelungen, das kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen zu beeinflussen. 

    Die Formel „es gab Repressionen, aber es gab auch Gutes“ ist nicht aus der Luft gegriffen, sie ist das Ergebnis genau dieser Serienpropaganda. Anstatt das sowjetische Trauma zu behandeln, macht man Unterhaltung daraus. Dieser Sieg über die Vernunft schien eine Universalwaffe zu sein. Doch auf einmal zeigt sich, dass ein anderer Blick auf unsere Geschichte diesen Kokon binnen Augenblicken kaputtmachen kann.  

    Spricht man über das Sowjetische, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge

    Die Serie Chernobyl beginnt mit den Worten „Was ist der Preis der Lüge?“. Wenn man über das Sowjetische spricht, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge, die vom Mechanismus zu einem Wert wurde, der über allem steht. „Die ganze Welt weiß es“, sagt der sowjetische Politiker Boris Schtscherbina entsetzt, als Meldungen über den Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl in der westlichen Presse auftauchen. Das erscheint noch schlimmer als die Bedrohung durch radioaktive Strahlung, als der drohende Tod von hunderttausenden Menschen. Die Welt weiß die Wahrheit – das ist das Allerschlimmste. Die Strahlung durchdringt alles, aber noch mächtiger ist die staatliche Lüge: Sie hat alles um sich herum verseucht. Für die Lüge sind Menschen bereit, sich selbst zu opfern. Und natürlich auch andere.   

    Der russische Film macht jede Tragödie zur Banalität

    Es kommt einem nur so vor, dass in unserem Fernsehen „lauter Sowjetunion“ läuft. Wenn man Chernobyl sieht, wird einem klar, dass es unsere historischen Serien in zehn bis fünfzehn Jahren fertiggebracht haben, fast nichts auszusagen. Lässt man sich auf Chernobyl ein, dann sieht man, dass der russische Film sich nur die leichten, ungefährlichen Themen auswählt; dass er fähig ist, jede Tragödie zur Banalität werden zu lassen, zum Kostümdrama, großzügig aufgepeppt mit Liebesgeschichten. Abgesehen davon erzählt unsere Fernsehmaschine niemals von der Wirklichkeit. Sie packt lieber selbstgemachten Irrsinn auf die Wirklichkeit obendrauf und vermeidet dabei jede Thematisierung tatsächlicher Schlüsselereignisse der Sowjetzeit, zu denen auch der Unfall in Tschernobyl zählt.    

    Gorbatschow im Kino darzustellen ist in Russland ein Tabu

    Der globale Markt, hier vertreten durch den Fernsehsender HBO, hat dieses Defizit rechtzeitig bemerkt; aber wie viele solche Themen gibt es noch, die für das russische Fernsehen tabu sind? Die Revolution von 1917, das Jahr 1937, die Jahre 1941 und 1942, Stalins Tod, die Perestroika, die 1990er … 

    Das Erfolgsgeheimnis der Serie ist nicht, dass ihre Macher mehr Geld haben, sondern dass es keine Zensur gibt. Die Autoren müssen sich nicht überlegen, was man sagen kann und was nicht, um es dem obersten Chef rechtzumachen. Die Autoren von Chernobyl schrecken nicht davor zurück, Gorbatschow darzustellen – bei uns war er jahrzehntelang (!) kein einziges Mal im Kino zu sehen, es ist ein Tabu.

    Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern wie mit Erwachsenen zu sprechen – über den Tod. Sie betrachten die Sowjetzeit nicht als Museum oder staatliche Schatzkammer, sondern als universelle Geschichte der Opposition von Individuum und Staat, als Geschichte menschlichen Widerstands gegen äußere Verhältnisse – und stoßen plötzlich auf abgründigen, existenziellen Stoff. In diesem Sinne kann die sowjetische Geschichte als eine Art Game of Thrones verstanden werden, das ist gar nicht so unpassend. 

    Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern über den Tod zu sprechen  

    Außerdem wurzelt das Interesse der Welt an der Sowjetunion nicht in Nostalgie, sondern in dem Versuch zu verstehen, was denn heute nicht stimmt mit uns, woher dieser kollektive Todestrieb kommt. Chernobyl erzählt natürlich vor allem eine Geschichte über uns, wie wir heute sind, auf welcher Stufe der Reflexion und Moral unsere Gesellschaft heute steht. 

    Das erste und stärkste Gefühl, das Chernobyl auslöst, ist Mitleid mit den Opfern der Tragödie. Die Szene im Krankenhaus, in der sich die Frau eines Feuerwehrmanns von diesem verabschiedet, ist unendlich schwer. Gleichzeitig wird einem klar, dass in unseren Serien nie etwas Vergleichbares zu erleben war. Ein Meer von Blut, Tod, Mord, aber sie erzeugen kein Mitgefühl. Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor – unser Kino weicht jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Menschsein ängstlich aus, wagt keine geistige Herausforderung, keinen Diskurs über wichtige Angelegenheiten.  

    Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor

    So hat unser Fernsehen mit seinem unerträglichen Pathos den Menschen das abtrainiert, was man seelische Arbeit nennt. Hat ihnen im Grunde normale menschliche Gefühle abtrainiert. Hat jede Tragödie zur Unterhaltung gemacht, bei deren Konsum man dasselbe perverse Vergnügen empfindet wie bei Propagandashows. Tragödien sind für uns nur dazu da, um uns nach der Arbeit auf der Fernsehcouch berieseln zu lassen. 
    Das Genre der Serien leistet heute enorme therapeutische Arbeit, dient als Bildungsprogramm für die Menschen, führt ihnen die Komplexität des Lebens vor Augen. Unsere Serien gewöhnen den Menschen das Fühlen ab. Bringen ihnen bei, mit halber Kraft, mit halbem Hirn, wie Kleinkinder zu leben. 

    Dabei schafft es diese Serie, vom Heldentum des Sowjetmenschen zu erzählen. In russischen Filmen ist der Mensch allzeit bereit für große Taten und vollbringt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, im Namen des Staates. Glaubwürdig ist das natürlich keineswegs. 

    In Chernobyl vollbringt der Mensch seine Großtaten trotz des Systems, als würde er dessen Unmenschlichkeit kompensieren. Doch genau an diesem Punkt wächst er über sich selbst hinaus, setzt sich über die Ideologie hinweg. Der Sowjetmensch wird einfach zum Menschen. Die Serie versucht, universelle Motive im Verhalten der sowjetischen Menschen aufzuspüren und uns davon zu überzeugen, dass auch in einem totalitären System alles von der Persönlichkeit abhängt. Entgegen ihrem Selbsterhaltungstrieb hören zwei sowjetische Physiker auf ihr Gewissen und erzählen die Wahrheit über Tschernobyl – um das Land und die Welt vor neuerlichen Katastrophen zu bewahren. 

    Im sowjetischen Heroismus hat der Mensch keine Wahl

    Die Besonderheit des sowjetischen Heroismus besteht darin, dass der Mensch in der Regel keine Wahl hat. Soldaten, Feuerwehrleute, Ärzte gehen hier dem fast sicheren Tod entgegen; das vermindert ihre Leistung nicht, sondern verleiht ihr zusätzlich eine tragische Dimension. Genau wegen dieser verdoppelten Tragik erreichen die Autoren der Serie einen Effekt, den auch das russische Kino erreichen will, aber nicht kann: eine Versöhnung mit der Vergangenheit. Nicht durch Gleichmacherei, Vertuschung, Banalisierung oder Karnevalisierung, sondern durch eine Tragödisierung des sowjetischen Alltags, in dem jeder ein potenzielles Opfer ist und allein schon dadurch Mitgefühl verdient. 

    Viele sind jetzt damit beschäftigt, die Patzer in der Serie aufzuzählen – aber man kann nur staunen, wie psychologisch präzise hier viele Details sind. Wie das alte Parteimitglied im Namen der sowjetischen Ideale empfiehlt, „alles zu verheimlichen“ – ein absolut Pelewinsches Bild, aus Omon hinterm Mond. „Die guten Messgeräte sind im Safe“ ist ein Satz, den nur Sowjetmenschen verstehen (alles, was funktioniert, wird für alle Fälle sicher verwahrt und versteckt). Die routinierte Geste, mit der die kleine Aufmerksamkeit in Form eines Zehnrubelscheins in der Kitteltasche der Krankenschwester verschwindet. Die Geheimsprache, in der sich die Mitarbeiterinnen der Physikinstitute in Moskau und Minsk austauschen. Und die sie perfekt beherrschen, wie jeder Sowjetbürger, weil sie wissen, dass die Telefone abgehört werden können.  

    Und natürlich die Symbolik. Alles, was jahrzehntelang vorbereitet und angehäuft wurde, um den Westen, Amerika zu besiegen, ihm Paroli zu bieten, es einzuholen und zu überholen; Heerscharen von Autos und Panzern, sogar Mondautos, müssen im Endeffekt herhalten, den eigenen Brand zu löschen. Chernobyl erzählt davon, wie die Sowjetunion konstruiert war – und warum sie zerfallen ist. 

    Die Antwort auf die wichtigste Frage zur Serie (warum wurde sie nicht bei uns gedreht?) ist leider sehr einfach: Angesichts des aktuell verfügbaren Maßes an Wahrheit und künstlerischer Freiheit ist das Erscheinen eines derart kritischen und ernsthaften Werks in Russland einfach nicht möglich. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als in einen fremden Spiegel zu schauen.

     

    Die Serie „Chernobyl“ läuft derzeit auch auf Deutsch auf Sky HD

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  • Mit den Schafen – the Grand Tour

    Mit den Schafen – the Grand Tour

    Zweimal im Jahr gehen sie auf große Tour: Die Schafe und der Schäfer. Milana Masajewa hat sie für Takie Dela in Dagestan begleitet – auf einem Extremweg in einem Leben ohne Schnickschnack.

    Von Machatschkala bis zum Winterquartier der Schafherde sind es zwei Stunden Taxifahrt. Von der asphaltierten Straße fahren wir auf einen Kiesweg, auf dem wir etwa eine Stunde lang dahinrumpeln. Bis zu unserem Zielort, dem Dorf Tamasatjube, will der Fahrer uns mit seinem Lada Priora nicht bringen: „Da gibt es keinen Weg, ich habe meinen Wagen auf der Fahrt hierher schon genug durchgerüttelt.“ Wir bitten den Schäfer Chalitbej, uns entgegenzufahren. Er kommt in einem alten Lada Niva ohne Rücksitz. Das Auto ist nur dazu da, die Schafe zu begleiten. Wir setzen unseren Fotografen in den Kofferraum und fahren noch etwa eine halbe Stunde.

    Vater und Sohn

    Drei Sofas, ein Ofen, der mit Dung geheizt wird, eine kleine Kochplatte mit angeschlossener Gasflasche, ein Tisch, Stühle und ein Fernseher – das ist die Wohnstätte, in der der Schäfer Chalitbej mit Frau und Sohn von Oktober bis Mai gelebt hat. Sein Helfer schläft in einem anderen Raum, noch bescheidener als der erste. 
    Wir sind am letzten Tag des Winterquartiers hergekommen. Die Frau ist bereits zur Bergstation gefahren, um das Sommerhaus herzurichten. Der 19-jährige Sohn schläft im Auto, um für uns Platz zu machen. 
    „Setzt euch, nehmt und esst. Gebratenes Hackfleisch, gekochtes Fleisch, Hauswurst, Käse. Alles von uns. In den Bergen gemacht“, sagt der Schäfer und häuft die restlichen Sachen zusammen, die sich morgen mit uns auf eine neuntägige Reise begeben werden. 

    Der Schäfer Chalitbej / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Der Schäfer Chalitbej / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej, der Sohn des Schäfers, am Telefon / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej, der Sohn des Schäfers, am Telefon / Foto © Jewgenija Shulanowa

    „Ich bin als Schafzüchter und Hirte zur Welt gekommen. Mein Vater, Großvater, Urgroßvater, alle waren Schäfer. Außer mir machen das in der Familie auch noch zehn meiner Cousins. Ich will und kann jetzt gar nichts anderes, aber meinem Sohn wünsche ich etwas anderes. Dieses Leben ist hart. Man hat kein Wochenende und keine Ferien, keinen Urlaub. Außerdem: Schafhirte kann er ja immer noch werden, das kann er ja schon. Ich möchte, dass er studiert.“ 

    Auftrieb der Herde / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Auftrieb der Herde / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej trägt ein müdes Lamm / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej trägt ein müdes Lamm / Foto © Jewgenija Shulanowa

    „Esst noch was und schlaft dann gut, wir brechen um vier Uhr früh auf“, sagt Chalitbej. Um ein Uhr nachts schaltet er das Licht aus. Sein Helfer sieht noch einmal nach der Herde. Um halb vier – ich kriege kaum die Augen auf – stelle ich fest, dass schon alle auf den Beinen sind.   

    Ökonomie der Schafherde

    Für eine tausendköpfige Schafherde braucht man zwei, drei Leute. Zum Auftrieb der Herde hat Chalitbej einen Schaftreiber angeheuert. Er wird die Schafe, die am Weg auseinanderstieben, zusammenhalten. Der Schäfer zahlt ihm 1000 Rubel  [knapp 15 Euro – dek] pro Tag. Der Helfer hat einen noch verantwortungsvolleren Job. Er wird für ein ganzes Jahr angestellt und mit drei Schafen pro Monat entlohnt. Während des Auftriebs geht er voraus und führt die Herde an. Obwohl Chalitbej die ganze Zeit über bei den Schafen ist, kommt er nicht ohne Gehilfen aus. In unserer Runde ist der Helfer, ein Darginer, Chalitbej, ein Aware, und der Treiber, ein Kumyke. Sie haben alle verschiedene Muttersprachen, die sich stark voneinander unterscheiden, also sprechen sie miteinander Russisch. 

    Der Auftrieb der Herde vom Tal in die Berge dauert acht bis zehn Tage, manchmal länger – je nach Wetter. Der Winterstall von Chalitbej befindet sich im Dorf Tamasatjube, die Sommerweide hoch in den Bergen, nicht weit von der Siedlung Gagatli. Wenn der Frost hereinbricht, legen die Hirten denselben Weg in die andere Richtung zurück. 

    Der Helfer Magomed bewacht die Herde / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Der Helfer Magomed bewacht die Herde / Foto © Jewgenija Shulanowa

    „Mein Cousin kauft sich für den Sommer tschetschenische Berge. Er zahlt mit Schafen“, erzählt der Schäfer. „Ich habe mir für die Sommerzeit eine Hochebene in der Nähe meines Heimatdorfs ausgesucht. Wenn ich eigenen Grund hätte, könnte ich mehr Schafe halten. Diese Option habe ich nicht. Ich muss für jeden Flecken zahlen.“  

    Das Winterquartier der Schafherde hat eine Fläche von 250 bis 300 Hektar. Für den ganzen Winter zahlt der Schäfer 100.000 Rubel [knapp 1500 Euro – dek] an den Grundbesitzer, plus zehn Schafe für die Hütte. In der kalten Jahreszeit wächst kein Gras. Die Herdenbesitzer kaufen Heu dazu oder mähen in den Bergen Gras, um einen Vorrat anzulegen.  

    Es gibt spezielle Schafe und Hammel, die für den Verkauf gemästet werden. Ihr Fleisch wird meist nach Moskau oder Sankt Petersburg geliefert. Früher wurden die Tiere einfach auf KAMAZ-Laster geladen und erst dort geschlachtet, jetzt darf man nur noch Fleisch transportieren. 
     „Wir verkaufen das Fleisch für 200 bis 220 Rubel [rund 3 Euro – dek] pro Kilo, die Zwischenhändler verkaufen es für 250 [3,60 Euro – dek], manchmal sogar 350 Rubel [rund 5 Euro – dek]. Das heißt, wir arbeiten das ganze Jahr über im Regen, im Schnee, und sie schlagen in ein oder zwei Stunden mehr heraus als wir. Ein Jammer ist das, aber was soll man machen? Das ist der Preis, teurer kriegen wir es nicht verkauft.“

    Changirej und Bek treiben ein Schaf / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej und Bek treiben ein Schaf / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Am Morgen des ersten Auftriebtages legt Chalitbej Geschirr, Kleidung und Decken auf das Autodach, zieht eine Plane darüber und zurrt sie mit einem Strick fest. Der Kofferraum des Niva ist ebenfalls voll mit Sachen, doch in der rechten Ecke gibt es einen Spezialplatz, dort stellt der Schäfer eine leere Holzkiste hin: „Das ist die Rettung für meine Lämmer“, erklärt er, „heute machen sich ja nicht nur erwachsene Schafe auf die Reise, sondern auch kleine, die erst ein oder zwei Tage alt sind. Die sind noch ganz schwach. Wenn ich sehe, dass ein Schäfchen weit zurückbleibt und nicht laufen kann, dann setze ich es in diese Kiste.“ 
    Während der Schäfer alles zusammenpackt, machen sich sein Sohn, sein Helfer und der Schaftreiber auf den Weg: Sie treiben die Herde aus dem Stall. Zwei Hunde gesellen sich dazu. 

    Der Schäfer Chalitbej trägt ein müdes Lamm / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Der Schäfer Chalitbej trägt ein müdes Lamm / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Chalitbej vertreibt seinen Hengst von einem fremden Pferd / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Chalitbej vertreibt seinen Hengst von einem fremden Pferd / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Unsere tausendköpfige Herde läuft auf einem von anderen Herden ausgetrampelten Pfad. Links ein kleiner Kanal, in dem ein Bach fließt, rechts der Abstieg zu den Wiesen, auf denen die Schafe während der Rastpausen weiden können. Die restliche Zeit lässt man sie nicht ans Gras, „sonst dauert unser Umtrieb einen Monat“, lacht der Helfer.

    Die Badestelle der Schafe / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Die Badestelle der Schafe / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Chalitbej ist 50 Jahre alt. Zwei Monate im Jahr wohnt er im Winterquartier im Tal, dann fährt er kurz in die Berge auf Heimaturlaub, dann wieder zurück zur Herde. 
    „Hin und her, hin und her … So geht es das ganze Leben … Wenn ich zu Hause bin, denke ich die ganze Zeit, wie es wohl meinen Schafen geht. Mache mir Gedanken, wie ich alles am besten mache mit dem Futter, mit dem Schutz vor Krankheiten …“, sagt der Schäfer leise, wie zu sich selbst, doch plötzlich besinnt er sich. „Denken Sie nicht, dass ich jammere. Auf keinen Fall. Das ist mein Leben, und ich bin froh, dass ich es habe.“  

    Die Schafherde beim Baden / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Die Schafherde beim Baden / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Die Herde kehrt aus den Bergen zurück / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Die Herde kehrt aus den Bergen zurück / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Terroristen auf der Weide

    Während die Herde sich langsam vorwärtsbewegt, geht der Schäfer herum und schaut, welche Lämmer er in den Kofferraum setzen muss. Er findet vier. Zwei setzt er in die „Wiege“, zwei beim Schaftreiber in die Satteltaschen. 
    Chalitbej füttert seine Hunde Rex und Linda mit Brot, das seine Frau gebacken hat. „Waffen dürfen wir nicht mitnehmen, die Hunde sind der einzige Schutz vor wilden Tieren.“ Auf meine Frage, ob es Fälle gegeben hat, wo sie eine Waffe gebraucht hätten, erinnert sich der Schäfer an eine Begebenheit. 

     „Unser Dorf Gagatli liegt direkt an der Grenze zu Tschetschenien. 1999 haben Terroristen versucht, meinen Aul zu überfallen. Wir waren ihr erstes Hindernis auf dem Weg nach Dagestan. Wir hatten wenig Waffen, nur ein paar Maschinenpistolen, die wir damals auf dem Schwarzmarkt wiederum Tschetschenen abgekauft hatten. Dieser Markt war die Grenze zwischen unserem Dorf und Tschetschenien. Die Pistolen hatten wir gegen Schafe eingetauscht. So erfuhren wir, dass es in Tschetschenien sehr viele Waffen gibt. 

    Changirej / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ruhepause während des Auftriebs / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ruhepause während des Auftriebs / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Gewichte werfen während des Auftriebs / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Gewichte werfen während des Auftriebs / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Als wir rauskriegten, dass Terroristen an die Grenze unseres Dorfes heranrückten, beschlossen wir Dorfbewohner, ein paar Stützpunkte mit sieben, acht Leuten aufzuschlagen. Terroristen gab es etwa zehnmal so viele. Wir schossen aus allem, was wir hatten, weil sie uns umzingelten und  den Kreis enger zogen. Im Gegenzug schossen sie aus Maschinengewehren und AGS – das ist so ein automatischer Granatwerfer. Wir hielten uns zwei, drei Tage, bis die Soldaten kamen. Dann bewachten wir bis Ende Dezember zusammen mit ihnen das Dorf. Wir haben durchgehalten“, beendet der Schäfer seine Erzählung.

    Die ersten vier Tage des Auftriebs durchwandern wir eine Ebene. Am ersten Tag legen wir etwa 30 Kilometer zurück, in den nächsten Tagen 20 bis 25. Am dritten Tag kommen wir in Chassawjurt an. Hier gibt es spezielle Bäder für Schafe. Sie werden in Wasser gebadet, in das ein Zeckenmittel gemischt ist, das die Herde den ganzen Sommer über schützt. 
    Die Entfernung, die wir vom Winterquartier bis zur Sommerweide zu Fuß zurücklegen müssen, beträgt 176 Kilometer. Der Auftrieb geht manchmal langsam, manchmal schnell voran. Mittagspause ist um elf oder zwölf Uhr.   

    Schwierigkeiten im Schäferleben

    Der Schäfer, der Sohn, der Helfer und der Schaftreiber tischen auf: ein großes Stück Käse, frisches Brot, Trockenfleisch und Hauswurst. Ein bisschen Gemüse gibt es, aber das wird kaum eines Blickes gewürdigt. „Wozu Gemüse, wenn es so gutes Fleisch gibt?“, lacht der Schäfer. „Meine Frau schimpft immer, dass ich mir mit lauter Fleisch und Teig den Magen verderbe, aber ich sage immer: ‚50 bin ich geworden, ohne je über den Magen zu klagen!‘ Und weißt du, was das Geheimnis ist? Ich liege nicht auf der Couch. Wenn man viel arbeitet, ist der Körper gesund, dazu muss man nicht unbedingt Gemüse essen. Schlecht geht es mir, wenn ich zu lange zu Hause bin. Aber hier fühl ich mich wohl, unterwegs bin ich nie krank.“

    Changirej ruht sich aus / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej ruht sich aus / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Schaftreiber Bek schläft / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Schaftreiber Bek schläft / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Magomed und Linda erholen sich / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Magomed und Linda erholen sich / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Den Weg, über den der Schäfer seine Herde führt, hat sein Großvater schon vor der Revolution ausgewählt, als er noch ganz jung war. In der Sowjetzeit war der Viehtrieb über diese Route verboten, den Transport der Schafe vom Tal in die Berge und zurück hat die Kolchose erledigt, mit einer speziellen Technik. Heute kann man sich auch einen KAMAZ mieten, die Herde aufladen und hinauffahren, aber das ist für Chalitbej unerschwinglich.   

    Changirej / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Bek treibt ein Schaf / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Bek treibt ein Schaf / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Dass sich die Regierung nicht kümmert, ist dem Schäfer egal: „Natürlich wäre es wünschenswert, dass es staatliche Unterstützung gäbe, ich würde Schäfer einstellen und hätte selbst Zeit für andere Dinge, doch es ist auch so nicht schlecht. Meine Vorfahren haben früher ohne staatliche Hilfe Schafe gezüchtet.“

    Der Tag eines Schäfers geht so früh zu Ende, wie er beginnt. Schon gegen sechs Uhr abends bereiten wir das Nachtlager unter freiem Himmel vor. Der Schäfer spannt eine Plane über Holzpfähle, der Sohn zündet ein Feuer an, der Helfer stellt Essen und Geschirr bereit, der Treiber hält die Herde zusammen und spannt die Pferde aus. 

    Die Herde / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Die Herde / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Der Verlust der ersten drei Tage: ein braunes Schaf. Der Schäfer hat es fast die ganze Strecke im Kofferraum transportiert, doch es ist nicht wieder auf die Beine gekommen. Er nimmt es vorsichtig auf den Arm und berät sich mit seinen Begleitern, was man da machen soll. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Schaf den nächsten Morgen nicht erlebt. Um es von seiner Qual zu erlösen, bringt es der Schäfer hinter die Felswand und schneidet ihm dort die Kehle durch. Er begräbt es gleich dort und kommt zurück. Seine Laune ist sichtlich getrübt. Wir sitzen am Feuer und spülen das Fleisch mit Tee hinunter.  

    „Was ist das Schwerste am Schäferleben?“, frage ich.
    „Wenn ein Schaf stirbt. Du siehst, wie es leidet, Schmerzen hat, und kannst nichts tun. Es bleibt dir nichts anderes übrig als das, was ich heute getan habe. Nicht, weil es mir leid um das Geld wäre, das ich mit ihm hätte verdienen können, das ist etwas anderes. Viel Gewinn hab ich sowieso nicht. Mit dem Geld, das ich mit dem Verkauf von Schaffleisch verdiene, kaufe ich Heu und Gerste. Ich versorge die Familie mit Essen und Wohnraum und versorge die Herde – das ist schon mein ganzer Gewinn.“ 
    Chalitbejs Familie ist nach hiesigen Maßstäben klein: ein Sohn, zwei Töchter. Er hatte noch einen Sohn, einen älteren. Der starb mit 16 Jahren infolge einer Fehldiagnose. Seine Frau, die Mutter seiner Kinder, starb ebenfalls, 2009 an Krebs. „Meine erste Frau hat oft mit mir zusammen Schafe gehütet. Sie ging in die Berge und ins Tal. Die jetzige unterstützt mich auch in allem. Ich verstehe schon, dass es nicht leicht ist, die Frau eines Schäfers zu sein, aber ohne ihre Unterstützung würde ich nicht zurechtkommen.“  

    Changirej sieht im Nebel nach den Schafen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Changirej sieht im Nebel nach den Schafen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Im Dorf Gagatli hat Chalitbej ein Haus, in dem er ganz wenig Zeit verbringt. Während der Weidezeit im Sommer holt er von Gagatli Lebensmittel, oder er fährt hin, wenn jemand heiratet oder begraben wird. Im Aul leben gut 1000 Menschen: Fast alle sind mit Chalitbej verwandt und betreiben Viehzucht. Früher fuhren viele für Zuverdienstmöglichkeiten in den Norden oder auf Baustellen, doch jetzt macht kaum jemand einen Nebenjob. „Die Bewohner meines Dorfes sind mal nach Sotschi gefahren, als dort die Olympischen Spiele vorbereitet wurden. Haben irgendwas gebaut. Haben ein paar Monate gearbeitet und dann keinen Lohn bekommen. Der Brigadier ist mit dem Geld durchgebrannt, hat ihnen die Leitung erklärt. Sie konnten nichts machen, seitdem fahren unsere Männer nicht mehr auf Baustellen. Da sind sie lieber zu ihren Schafen zurückgekommen“, lacht der Schäfer.  

    Ein Rudel Schakale und ein einsamer Wolf

    Die fünfte Nacht des Auftriebs bricht am Fuße der Berge über uns herein. Wir übernachten wieder unter freiem Himmel, neben uns rauscht ein breiter Fluss. Der Wind ist deutlich stärker und kälter als in der Ebene. Die Plane, die als Dach dient, reißt es ständig herunter, und plötzlich beginnt es, wie aus Eimern zu schütten. Die Fotografin und ich dürfen uns im Auto verkriechen, die anderen achten nicht auf den Regen.  

    Wegen des Regens wird im Zelt zu Abend gegessen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Wegen des Regens wird im Zelt zu Abend gegessen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Schäfer Chalitbej / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Schäfer Chalitbej / Foto © Jewgenija Shulanowa

     

    Ziegen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ziegen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Da dringt vom nahen bewaldeten Hügel ein Bellen herüber, wie von Hunden. Man hört, dass es ein großes Rudel sein muss. Unsere Gruppe lässt sofort alles fallen und horcht konzentriert auf. Wieder hört man das Bellen. Als erstes echot der Schäfer. Er formt die Hände zu einem Trichter und gibt genau denselben Laut von sich, in die Richtung gewandt, woher das Bellen kommt. Nach ihm wiederholen sein Sohn, der Schaftreiber und der Helfer genau dieselben Laute. Diese Rufe gehen ein paar Minuten so weiter. Als sie sicher sind, dass das Rudel in den Bergen nicht mehr zurückbellt, widmen sich die Leute wieder ihren Beschäftigungen. 

    Da haben die Schakale den Geruch der Schafe gewittert und überprüft, ob die Herde bewacht ist. Wenn man die nicht abschreckt, ihnen nicht zeigt, dass viele Menschen bei den Schafen sind, greifen sie möglicherweise an. Schakale sind schwächer als Wölfe, aber wenn es viele sind, sind sie gefährlicher. Wölfe greifen einzeln an, höchstens zu zweit. Sie machen das leise. Manchmal sieht man erst bei Tagesanbruch die gerissenen Schafe. Das Gefährliche am Wolf ist, dass er bei einem Angriff mehrere Schafe reißen kann. Eines nimmt er mit, und ein paar lässt er tot liegen. Er beißt direkt in die Kehle, die Schafe bekommen nicht einmal mit, was geschieht. Die Schakale hingegen sind immer laut, man kann sie mit Lärm auch abschrecken.  

    Übernachtung im Schäferhaus / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Übernachtung im Schäferhaus / Foto © Jewgenija Shulanowa

    6. Tag: Das gefährlichste Stück Weg

    Am sechsten Tag des Auftriebs sind wir in den Bergen. Und zwar ganz plötzlich: Die ganze Zeit gingen wir eben dahin, und auf einmal tut sich ein steiler Abhang vor uns auf, und ein ebenso steiler Aufstieg führt auf den Berg daneben. Zwischen den Bergen fließt ein Bach, über den, unten angekommen, zuerst der Helfer springt, woraufhin ihm die ganze Herde folgt. Aufstieg wie Abstieg sind schwierig. Der Nebel bringt Feuchtigkeit, wie nach einem Regenschauer. Der Abstieg erscheint fast vertikal, man kann jeden Moment abrutschen und in die Tiefe stürzen. Festen Halt gibt es keinen, und das einzige, worauf du dich verlassen kannst, ist der Wanderstock. Der muss so stabil sein, dass er einen ganzen Menschen aushält. Wir steigen hintereinander hinab. Keine Sicherung. Am Grund der Schlucht kommt es uns vor, als sei das Schlimmste vorbei, denn der Aufstieg ist nicht so steil. Die Knie schlottern nach dem Abstieg, die Hände sind müde vom andauernden Aufstützen auf den Stock. Beim Aufstieg haben wir Angst zurückzublicken.

     Die Schafherde / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Die Schafherde / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ein krankes Schaf / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ein krankes Schaf / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Am schnellsten überwinden die Schafe die Strecke. Der Schäfer sagt, das sei nur am Anfang der Wanderung so, später würden auch die Schafe müde. So ist es dann auch. Am zweiten Gipfel angekommen, sehe ich, wie sich die Schafe auf dem Plateau verteilen und im Stehen einschlafen.

    „Wir müssen uns beeilen. Wenn sich der Nebel senkt, stecken wir lange fest“, mahnt Chalitbej zur Eile, und der Nebel lässt nicht auf sich warten. Er ist so dicht, dass man auf ein, zwei Meter Entfernung nichts mehr sieht. Die Herde kommt jetzt nur ganz langsam voran. Die Schafe können sich im Nebel verlaufen oder in Büschen stecken bleiben und verloren gehen. Wenn sie in den Nebel eintauchen, verlassen sich die Schäfer nur auf ihre Intuition. 

    Als wir durch das Nebelfeld hindurch sind, stehen wir wieder vor einem Berg. Er ist nicht so steil, dafür viel höher als die ersten beiden. Oben verspricht man uns die langersehnte Rast und ein Nachtlager. Die Bezwingung dieser Höhe nimmt weitere eineinhalb Stunden in Anspruch. 

    Auf 2700 Metern

    Die Nacht in den Bergen ist ganz anders als im Tal und sogar im Vorgebirge. Hier hängen die Sterne tiefer, es sind mehr, die Luft ist sehr dünn, und die Übelkeit wird zum ständigen Begleiter. Mitten in der Nacht kommt starker Wind auf, der fast unser Zelt in den Abgrund trägt.

    Die Müdigkeit ist so bleiern, dass man weder Kälte noch Höhenangst verspürt. Man findet sich damit ab, dass man jederzeit fallen kann, verlässt sich vollkommen auf den Wanderstock, steigt gemächlich von einem Berg auf den nächsten. Die Ziegen klettern hier wirklich über Felsen, auf denen fast keine Vorsprünge sind, die Schafe können diagonal auf einem Berg stehen.

    Dann hast du es bis zum Weideplatz geschafft, denkst daran, dass du 176 Kilometer hinter dir hast und bist stolz. 

    Chalitbej treibt die Herde / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Chalitbej treibt die Herde / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Chalitbej / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Chalitbej / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Der Schäfer atmet indessen erleichtert auf und beginnt, die Sachen auszupacken. Hier wird er fast fünf Monate verbringen, und man sieht, er ist glücklich. Er hat inzwischen noch zwei Lämmer verloren, die zu klein für einen so schwierigen Weg waren. 
    Chalitbej lässt den Helfer bei der Herde und fährt mit dem Schaftreiber nach Gagatli. Dort wartet heißes Chinkal auf ihn, Tschudu und ein Bad. 
    Bevor wir gehen, machen wir ein gemeinsames Foto und lassen Schlafsack und Thermosflasche zurück für die, die sie notwendiger brauchen.
    „Kommt im Herbst wieder, runter geht’s leichter als hoch“, sagt der Schäfer lachend zum Abschied.  

    Text: Milana Masajewa
    Fotos: Jewgenija Shulanowa
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    erschienen am 17.04.2019

     

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    Putin, der geheimnisumwobenste Reiche auf der Welt

    Ende Februar hat das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten den sogenannten Vladimir Putin Transparency Act beschlossen. Die Aufgabe des Gesetzes H. R. 1404 besteht darin, mutmaßliche korrupte Machenschaften des russischen Präsidenten aufzudecken. Als Antwort auf russische Einmischung in US-Wahlen werden damit die Nachrichtendienste beauftragt, Vermögenswerte von Wladimir Putin zu durchleuchten, die er sich laut Verdacht gesetzeswidrig aneignete.
    In Russland wird schon seit Jahren gemunkelt, dass Putin sich seit dem Amtsantritt im Jahr 2000 märchenhafte Reichtümer angehäuft habe. Einige meinen, dass er sogar der reichste Mensch der Welt sei. Beweise für solche Thesen gibt es nicht. Dass die US-Nachrichtendienste sie nun durch das Gesetz H. R. 1404 erbringen werden, ist aber zweifelhaft. Das meint der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew. Auf The Insider argumentiert er, warum der Transparency Act aber dennoch durchschlagend sein wird.

    Putin ist äußerst wohlhabend – daran zweifelt keiner, weder in Russland noch sonstwo auf der Welt. Und die finanziellen Mittel, die er nach Lust und Laune in Bewegung setzen kann, stehen in keinerlei Beziehung zu seinen offiziellen Einkünften. Die Schätzungen über Putins Privatvermögen liegen in den letzten Jahren zwischen 40 und mehr als 200 Milliarden US-Dollar. Doch keiner von denen, die diese Schätzungen abgaben, lieferte Informationen zur Methode oder nannte konkrete Vermögensgegenstände und zuständige Gerichtsstände. (Genau deshalb weigert sich die Zeitschrift Forbes konsequent, Putin in ihre Listen der reichsten Menschen der Welt aufzunehmen.) Wobei sogar offizielle Vertreter westlicher Regierungen offen gesagt haben, sie wüssten, dass Putin korrupt sei und würden diesen Umstand in ihrer Arbeit als gegeben sehen und berücksichtigen. Gleichzeitig bezweifle ich stark, dass die nun begonnene Untersuchung etwas Konkretes zutage bringen wird – vor allem angesichts der Fragestellung.  

    Putins Privatvermögen liegt Schätzungen zufolge zwischen 40 und mehr als  200 Milliarden US-Dollar

    In dem kürzlich erlassenen Gesetz des US-amerikanischen Kongresses heißt es, dass laut Meinung „externer Experten“ Putins Vermögen „im Milliardenbereich“ liege und maßgeblich von den offiziellen Zahlen über seine Einkünfte abweiche. Diese Behauptung wirkt schwach, denn sie ist nicht mehr als eine Hypothese. Die Suche und namentliche Auflistung „rechtmäßig oder widerrechtlich erworbenen Vermögens“, das „Putin und seinen Familienmitgliedern gehört“, ist, wenn man es wörtlich nimmt, nicht machbar.  
     
    Russlands Beamte haben in den vergangenen Jahren das letzte Bisschen an Vorsicht abgelegt – das unterstreicht auch ihre [dutzendfache – dek] Präsens in den sogenannten Panama Papers. Allerdings betrifft das nicht den Präsidenten Russlands. Seine angeborene Wachsamkeit hat sich wahrscheinlich nur noch verstärkt durch die Ermittlungen, die noch in den 1990ern in Russland gegen ihn liefen: Seinerzeit ging es um mutmaßliche Verbindungen zu kriminellen Strukturen sowie um eine enorme Zahl ihm persönlich ergebener Personen, die er in politische Ämter brachte und zu Superreichen machte. All das gibt Anlass zu der Annahme, dass Putins Vermögenswerte auf Privatpersonen und Firmen ausgestellt sind, die sich urkundlich nicht mit ihm oder seinen Verwandten in Verbindung bringen lassen. 

    Im Unterschied zu einem gewöhnlichen korrupten Beamten in Russland, der seine „blutig erkämpften Verdienste“ vor allem vor den russischen Silowiki zu verstecken sucht, geht es dem russischen Präsidenten in erster Linie um die Sicherheit seines Vermögens vor äußeren Mächten. Putin ist sich gewiss im Klaren darüber, welche Aufmerksamkeit seine Person erregt und wie angreifbar das westliche „Bankgeheimnis“ ist, wenn es um die Machenschaften eines korrupten Politikers seines Ranges geht. Was die Haltung ihm gegenüber in den Hauptstädten der Welt betrifft, hegt er, erst recht seit 2014, keine Illusionen. Putins Geld auf westlichen Banken zu finden, würde daher niemandem gelingen.

     Putin kann nicht davon ausgehen, im Ausland sicher zu sein

    Zweitens dürfen wir nicht vergessen, dass besonders diejenigen Politiker ihr Vermögen gern im Ausland ansparen, die sich Sorgen um den Fortbestand des eigenen Regimes machen und gleichzeitig keinen Zweifel an der Möglichkeit haben, selbst relativ sicher ins Ausland flüchten zu können (so war es etwa bei Mobutu, Ben Ali, Marcos und Reza Pahlavi). Das kann man im Fall von Putin nicht behaupten – in den letzten Jahren hat er in der Außenpolitik etliche abenteuerliche Schritte unternommen und kann daher nicht davon ausgehen, im Ausland sicher zu sein.  

    Das Gesetz H. R. 1404 lässt sehr viel Interpretationsspielraum, indem es US-amerikanische Amtspersonen anweist, Vermögensgegenstände zu untersuchen, die „unter W. Putins Kontrolle stehen, auf die er Zugriff hat oder die in seinem Interesse verwendet werden können“. Das und nur das kann in meinen Augen Gegenstand tatsächlicher Ermittlungen sein. Bestenfalls gelingt es also, nicht die Höhe des Vermögens zu messen, das dem russischen Präsidenten persönlich gehört, sondern das Ausmaß seines „wirtschaftlichen Einflusses“, der eine unbestrittene Tatsache ist. 

    Das Ausmaß von Putins wirtschaftlichem Einfluss

    Wird der Kongressbeschluss vom staatlichen Geheimdienst, dem Finanz- und dem Außenministerium ausgeführt, kann ein breites Bild davon entstehen, wie sich Russlands Präsident alle Staatskonzerne unterworfen hat. Binnen zweier Jahrzehnte hat er seinen Freunden und Vertrauensleuten Eigentum im Wert von zig Milliarden US-Dollar in die Hände gespielt, das früher dem Staat gehörte; er hat ein gewieftes System zur Verteilung staatlicher Mittel zugunsten seiner Vertrauensleute geschaffen, den Beschluss und die Anwendung von Gesetzen bewilligt, die „ihm nützlichen Personen“ eine grenzenlose Bereicherung ermöglichten; er hat Mittel aus der Staatskasse zu persönlichen Zwecken verwendet und um seinen Verwandten Annehmlichkeiten zu verschaffen, und er tut das weiterhin. Die Systematisierung dieser Informationen wird für Amerika keinen besonderen Aufwand bedeuten, das Ergebnis wird der naheliegende Schluss sein: Putin hat aus Russland ein Werkzeug gemacht, mit dem er für sich und die Seinen ein Leben im Wohlstand sicherstellt. Jedoch werden zwei grundlegende Probleme dadurch nicht von der Tagesordnung gestrichen.  

    Russland als Werkzeug zur Wohlstandssicherung 

    Einerseits hat in Russland das Thema Korruption meiner Meinung nach längst seine Aktualität eingebüßt. Kaum jemand bezweifelt, dass Putin einer der reichsten Menschen im Land ist – als etwas Unerhörtes wird das nicht wahrgenommen. Putins Kontrolle über gigantische Finanzströme werden die Russen immer mit den Besonderheiten der Verwaltung ihres Landes rechtfertigen. Und selbst wenn jemand beweist, dass der Präsident über Mittelsmänner zum Beispiel eine Kontrollmehrheit über den geheimnisvollen Konzern Surgutneftegas innehat, so wird dieses Aktiv als „Airbag“ für das Land als Ganzes angenommen. 

    Meiner Einschätzung nach werden Informationen aus dem Ausland über die Reichtümer des russischen Präsidenten in keiner Weise seine Legitimität innerhalb Russlands beeinträchtigen. 

    Das westliche Establishment wird die Wichtigkeit der Beziehungen zum Kreml zusätzlich begründen müssen

    Andererseits kann der Westen auf weitere Beweise für Putins Korruptheit stoßen – obwohl diese auch jetzt nicht bezweifelt wird. Und trotzdem wird weiterhin Kontakt zum russischen Staatschef gehalten und das wird mit der wichtigen Rolle erklärt, die Russland in der internationalen Politik spiele. Ich kann mir schwer vorstellen, dass sich nach der Analyse des vom Nachrichtendienst gesammelten Materials der Umgangston westlicher Politiker mit Putin ändern wird. Eher umgekehrt: Wenn die Erstellung dieses vom Kongress geforderten Berichts jemandem das Leben schwer macht, dann dem Establishment Amerikas und Europas, das die Wichtigkeit ihrer Beziehungen zum Kreml zusätzlich wird begründen müssen. Und es wird sie begründen, da bin ich persönlich ganz sicher.  

    Ich komme also zu dem Schluss, dass das Ergebnis dieser Untersuchung Licht auf die Geschäfte von Putins nächstem Umfeld werfen wird und darauf, wohin die daraus erzielten Gewinne fließen und/oder wohin sie konvertiert werden. Es werden massenhaft mit Geldwäsche betraute Mittelsmänner auftauchen (in letzter Zeit spricht man auch ohne spezielle Untersuchung von ihnen, wie im Fall von Troika Dialog), und es werden die nominellen Halter von milliardenhohen Summen festgestellt werden, deren Herkunft auf die eine oder andere Art Russland zu verdanken ist. Aber mehr werden die Amerikaner nicht erreichen. Putin ist und bleibt der geheimnisumwobenste unter den reichsten Menschen des Planeten … 

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    Der Videodesigner und Filmemacher Dimitri Kalaschnikow hat aus den besten russischen Dashcam-Videos einen Langfilm produziert. The Road Movie (russ. Titel Doroga) wurde gestern zwar nicht nominiert, stand aber auf der Longlist für die Oscars. Im Interview mit Bumaga erzählt der Regisseur, was einem auf russischen Straßen so vor die Linse kommt und was er daraus gelernt hat.

     

    Wladislaw Tschirin: Wie und wann sind Sie auf die Idee zu The Road Movie gekommen?

    Dimitri Kalaschnikow: Mir ist irgendwann aufgefallen, dass Dashcam-Videos aus Sicht des Dokumentarfilms sehr interessant sind. Sie sind nicht einfach nur lustig oder furchtbar, sondern sind dank ihrer Aufnahmetechnik etwas Besonderes. Alles passiert absolut zufällig, niemand steuert die Kamera. So, wie der Fahrer sie montiert hat, bleibt sie auch, und dann vergisst man sie und fasst sie nicht mehr an, bis etwas passiert ist, was man aufbewahren möchte. Komposition, Licht, Perspektive, Handlung und Nebenhandlung – alles ist Zufall. 

    Komposition, Licht, Perspektive, Handlung und Nebenhandlung – alles ist Zufall

    Außerdem fällt das Gefühl weg, dass eine Kamera da ist, die das Geschehen beeinflusst. Was auch immer du beim Dokumentarfilm machst, wie sehr du dich auch bemühst, unsichtbar zu sein und dich der Hauptfigur anzunähern, damit sie sich an dich gewöhnt und nicht mehr auf dich achtet – von der Kamera geht trotzdem eine Wirkung aus. Vielleicht nur eine geringe, aber sie ist da. Bei der Dashcam läuft alles von selbst, und niemand denkt daran, dass das Geschehen aufgenommen und in einem Film gezeigt wird.  
    Auch das Wechselspiel zwischen der realen Umgebung außerhalb des Autos und der Reaktion darauf aus dem Inneren, die wir hören, fand ich spannend. Ich habe Material gesucht, das dieses Wechselspiel wiedergibt.
    Der Film war im August/September 2016 fertig, ich habe rund ein Jahr dafür gebraucht. Premiere war im November 2016 auf dem Festival IDFA in Amsterdam. 

    Der Film besteht zur Gänze aus Dashcam-Videos aus dem Internet. Was ist bei so einem Film die Rolle des Regisseurs?

    Die Regieführung, also die Anordnung des Materials. Im Dokumentarfilm arbeiten wir mit einer Wirklichkeit, die wir entweder selbst aufzeichnen oder die bereits in dokumentierter Form vorliegt. Das Genre des Found-Footage-Films ist ziemlich alt. Die Methode ist ungefähr dieselbe wie bei Filmen, die aus Archivmaterial zusammengeschnitten werden. Ob man einen Film aus der Wochenschau der 1920er Jahre oder aus Videos des 21. Jahrhunderts montiert, macht wohl keinen wesentlichen Unterschied.

    Die Methode ist ungefähr dieselbe wie bei Filmen, die aus Archivmaterial zusammengeschnitten werden

    Es war mir sehr wichtig, die größtmögliche Natürlichkeit des Materials zu erhalten. Mein Eingreifen als Autor soll während der Episoden nicht wahrnehmbar sein. Das ist wie bei einer Galerie, in der ich der Kurator bin und die Bilder den Besuchern in einer bestimmten Abfolge präsentiere. 
    Und dann ist es ja auch ein Langfilm, also musste ich mit der Struktur arbeiten. Es entstand etwas Zyklisches: vom Winter zum Sommer, vom Sommer zum Herbst und wieder zum Winter. Darin wiederum habe ich Blöcke mit Nachtaufnahmen eingebaut. Es gibt ein paar Episoden, die mit Musik untermalt sind, nur vier – meines Erachtens sorgen sie für Dynamik und helfen der Struktur des Films, sich zu entwickeln. 

    Warum ist der Film in den USA im Verleih, aber in Russland nicht?

    Weil ziemlich viel nichtnormative Lexik darin vorkommt. Damit ein Film in Russland eine Verleihgenehmigung erhält, muss man die Kraftausdrücke daraus entfernen. Ich finde aber, Mat ist ein wesentlicher Bestandteil meines Films, und es würde viel verlorengehen, wenn man die Vulgärsprache herausnähme. Ich glaube nicht, dass das sinnvoll wäre. 

    Warum ist so ein Filmformat in den USA auf Interesse gestoßen?

    Soweit ich gehört habe, interessiert es die Leute genau wegen der Dashcam-Videos. Die wissen dort, dass es bei uns viele solcher Videos gibt – anscheinend wurde das nach dem Tscheljabinsker Meteor bekannt, der eben zufällig mit Dashcams gefilmt wurde. Vielleicht ist auch Russland ein aktuelles Thema. Und der Film ist für das Publikum … keine Attraktion zwar, aber doch Entertainment. Sehr emotional, oft lustig, oft dramatisch, stellenweise vielleicht auch beängstigend.   

    „Egal, was passiert – die Leute bleiben gelassen“ / Filmstill © The Road Movie/D. Kalashnikov
    „Egal, was passiert – die Leute bleiben gelassen“ / Filmstill © The Road Movie/D. Kalashnikov

    Haben Sie in Ihrem Film Lieblingssequenzen?

    Es gibt eine Episode in einem brennenden Wald. Ein Auto fährt auf einer schmalen Straße durch einen Wald, der zu beiden Seiten lichterloh brennt. Im Auto sitzen offenbar drei Personen, die alles kommentieren, dem Fahrer Tipps geben, wie er fahren soll, auf welchem Fahrstreifen. Man hört, wie nervös sie diese Situation macht. Alles wirkt sehr apokalyptisch. Am Straßenrand taucht einmal ein Auto auf, das schon brennt – ich weiß nichts Genaueres, was damit im Weiteren passiert ist. Am Ende fahren sie aus dem Wald heraus auf eine normale Straße, unterwegs kommt ihnen ein Feuerwehrauto entgegen, alles wird kommentiert und reflektiert. Das ist sehr emotional und filmisch.

    Was erzählt der Film über Russland und die Menschen hier?

    Ich glaube, er zeichnet ein allgemeines Portrait des Landes und des russischen Menschen. Die Leute im Film sind meistens Extremsituationen ausgesetzt. Es ist faszinierend zu beobachten und zu hören, wie sie auf die Geschehnisse reagieren und damit fertig werden. 
    Aber was ich vor meiner Arbeit an dem Film nicht erwartet hätte: Was auch immer passiert, Verrücktes oder Schreckliches – die Leute [in den Videos] bleiben gelassen. 

    Was ich nicht erwartet hätte: Egal was passiert – die Leute bleiben gelassen

    Auf alles reagieren sie mit stoischer Ruhe, sie nehmen das Schicksal hin, das über sie hereinbricht. Natürlich ist es nicht in jedem Fall so, aber eine gewisse Gemeinsamkeit lässt sich doch ausmachen.  


    Dashcams sind nichts spezifisch Russisches, auf Youtube werden sie aber gerade mit Russland assoziiert. Glauben Sie, man könnte genauso einen Film auch über ein anderes Land machen? 

    Ja, da geht es wirklich vor allem um Russland und die postsowjetischen Staaten. Abgesehen von Russland sind mir am häufigsten Kasachstan, die Ukraine und Belarus untergekommen. Es gibt ziemlich viele Videos aus den USA und aus einigen asiatischen Ländern wie Thailand und Malaysia, aber das sind deutlich weniger.

    Wenn man etwas Verrücktes gefilmt hat, will man das teilen, deswegen gibt es so viele Videos. Der Anteil an Irrsinn ist überall ungefähr gleich

    Wenn man eine Kamera montiert und die ganze Zeit filmt, dann kommt einem auf jeden Fall irgendetwas Bemerkenswertes vor die Linse. Wenn man etwas Verrücktes gefilmt hat, will man das teilen, und deswegen gibt es so viele dieser Videos. Aber der Anteil an Irrsinn ist überall ungefähr gleich. 

    In einer Rezension wurde befürchtet, Sie könnten den Erfolg von The Road Movie nicht noch einmal erreichen, ohne sich zu wiederholen. Was sagen Sie dazu, und welche künstlerischen Pläne haben Sie jetzt? 

    Ich habe noch nie hauptberuflich Filme gedreht, weil ich noch keinen Weg gefunden habe, damit Geld zu verdienen. Meistens war ich bei kommerziellen Projekten als Videodesigner beschäftigt. Deswegen habe ich seit 2016 keinen neuen Film mehr gemacht. Stattdessen habe ich ein weiteres Studium angefangen – an der Petersburger Schule des neuen Films, in der Werkstatt für Experimentalfilm. Ich möchte in ein Umfeld eintauchen, in dem sich die Leute für Film interessieren und damit arbeiten. 
    Ideen für Projekte habe ich schon, aber ein Drehbuch gibt es noch nicht. Ich werde sicher nicht auf Dashcam-Videos zurückkommen, die interessieren mich nicht mehr, ich kann mir nicht vorstellen, was ich noch daraus machen könnte. Ich möchte andere Arten von Dokumentarfilmen drehen und auch mal Spielfilme versuchen.     

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  • „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    Verbotene Musik?! In den letzten Wochen wurden zahlreiche Konzerte von russischen Rapmusikern und anderen Bands von den Behörden verboten oder abgebrochen. Das Thema beschäftigte inzwischen nicht nur die Duma, auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff es in seiner Sendung auf. 
    Vom Konzertverbot betroffen waren auch IC3PEAK. Ihr Konzert Anfang Dezember in Woronesh etwa wurde nach wenigen Minuten von den Behörden abgebrochen.

    Bereits mit einem ihrer ersten Videos Go With The Flow betrieben sie einen selbsterklärten „audiovisuellen Terrorismus“, der sich gegen die in Russland verbreitete Homophobie wandte. Zu den Zielen von Nastya und Nick gehört es, „die Hörer aus der Komfortzone herauszubekommen“.

    In einem Interview mit Fontanka äußert sich die Band aus Tula zu den Konzertverboten und erklärt, warum sie weiter gegen das System ansingt, und immer nur das macht, worauf sie Bock hat.

     

    Selbsterklärter „audiovisueller Terrorismus“ – „Go With The Flow“ von IC3PEAK

    Fontanka: Wie geht es euch denn, nachdem mehrere eurer Konzerte abgeblasen wurden?

    Nick: Surreal. Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen. Es ist eine völlig irreale Geschichte: Der FSB ist hinter uns her, sie filzen uns, sagen unsere Konzerte ab. Und alles nur, weil wir Musik machen und unsere Videos drehen. Die wirklichen Gründe kennen wir nicht. Niemand hat uns was gesagt. 

    Nastya: Das ist so eine Schizophrenie, im Grunde ganz typisch für Russland. Aber wenn du selbst im Mittelpunkt des Geschehens bist, ist es manchmal sogar ganz lustig. Wenn dich ständig ein Auto mit durchtrainierten Typen verfolgt, fühlst du dich wie der Held in einem bescheuerten russischen Film. 

     

    „Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen.“ – FAIRYTALE von IC3PEAK

    Der Chef von AGORA, Pawel Tschikow, hat eine Schwarze Liste erwähnt, auf der Namen von Musikern stehen. Habt ihr die gesehen?

    Nick: Es gibt zwei Informationsstränge – wenn man sie verbindet, kann man daraus schließen, dass ein solches „Dokument“ tatsächlich existiert. 
    Einerseits hieß es von seiten der Veranstalter wiederholt, es gebe einen „Befehl vom FSB“. Das haben die Clubbesitzer erzählt. Andererseits haben nicht nur wir solche Probleme, sondern auch andere Musiker. Das Muster ist ziemlich ähnlich. Und alles begann wie eine Welle. Innerhalb einer Woche kamen alle diese Verbote.      

    Nastya: Man hat den Eindruck, einem von denen da oben wurde die aktuelle russische Szene gezeigt – unsere Clips, und das ist jetzt die Reaktion: Da hat nun irgendjemand entschieden, was für unsere Jugend gut ist und was schlecht.    

    Wenn in eurem Lied nicht ein „Bulle ein Kätzchen überfahren“ würde und ohne das Händeklatschspiel vor der Lubjanka, bei dem ihr auf den Schultern von OMON-Männern sitzt – hätten sie euch nicht belangt?

    Nastya: Das ist der Punkt! Wir glauben auch, dass sie uns in Ruhe gelassen hätten.

    Nick: Offenbar haben wir „den Ort besudelt“. Und dann haben sie beschlossen, dass das nicht geht, das „werden wir verbieten“.   

     

    „Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka.“ – „Smerti bolsche net“ von IC3PEAK

    Offenbar haben wir den Ort besudelt

    Das habt ihr doch aber mit Absicht gemacht. Ihr habt den Eisernen Felix doch absichtlich am Schnauzer gezupft?

    Nick: Wir haben das nicht wegen der Reaktionen gemacht. Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka. Wir nehmen grundsätzlich nur das auf, was wir selbst sehen wollen. 

    Nastya: In erster Linie ist unser Video ein Statement. Wir finden, es ist ironisch, raffiniert und schön geworden. Mit Sinn für Humor.  

    Gibt es in Russland eine Politisierung der Jugend?

    Nastya: Wenn man bedenkt, dass es immer mehr politisierte Musikevents und Alben verschiedener, auch bekannter und beliebter Interpreten gibt, und dass Musiker einen großen Einfluss auf das Denken der Jugendlichen haben, dann vielleicht ja. Dann gibt es so eine Bewegung. 

    Wer gibt hier das Tempo vor? Wer treibt die Politisierung an? Die Staatsmacht oder die Musiker selbst, die ja oft schick sein wollen?

    Nastya: Die Zeit. Das ist kein konkreter Mensch, keine bestimmte Personengruppe. Die Zeit gibt das Tempo vor. Für die Politisierung der Jugend ist jetzt einfach die Zeit reif. 

    Nick: Das ist ein historischer Prozess. Die jungen Leute haben endgültig aufgehört, Fernsehen zu gucken. Sie sehen diese höllenhafte Propaganda und leben im Internet. Und dort gibt es mehr als eine Meinung. Unterschiedliche Meinungen legen nahe, dass man kritisch denken kann. Das ist alles ganz einfach.     

    Es gab ein spektakuläres Konzert für den verfolgten Husky, bei dem erfolgreiche Musiker wie Basta, Oxxxymiron und Noize MC auftraten. Hat’s euch gefallen?

    Nick: In unserem System gibt es leider keine andere Möglichkeit, mit dem Druck fertig zu werden. Per Gericht lässt sich das nicht lösen. Das geht nur über Schlagzeilen. Ihr Konzert hat Reaktionen ausgelöst. Eine Masse von Meinungen. 

    Nastya: Die Solidarität mit Husky war richtig. Er ist ein unabhängiger Künstler. 

    Im Kulturministerium heißt es, dass „Verbote keine Methode“ seien, man müsse jedoch „besonnener an die Texte herangehen“. Werdet ihr eure Songs jetzt „besonnener“ schreiben?

    Nastya: Ich glaube, ich gehe auch so besonnen genug an die Texte unserer Tracks heran. Ein Songtext ist vor allem ein Kunstwerk. Und es gibt Themen, über die man eigentlich nicht laut spricht, aber wenn man sie ausspricht, von mir aus auch metaphorisch oder bildhaft, fühlt man sich erleichtert. Daher der therapeutische Effekt der Musik: Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind, dass sie nicht einsam sind, denn Einsamkeit ist das Schlimmste, meiner Ansicht nach.     

    Propaganda für Selbstmord, Gewalt, Extremismus und dergleichen gibt es in unseren Songs absolut nicht, gab es auch nie und wird es nie geben. Wir verwenden nicht mal Mat. Wir reflektieren eine der Facetten der Wirklichkeit, in der unsere Generation lebt, ihre emotionale Seite.      

     

    „Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind“– „Sad Bitch“ von IC3PEAK

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  • Hacker im Dienst des Vaterlandes

    Hacker im Dienst des Vaterlandes

    Sie sollen sich in den US-Wahlkampf und auch in den deutschen Bundestagswahlkampf eingemischt haben, sie sollen versucht haben, in die OPWC in Den Haag einzudringen, und die Liste ließe sich noch fortsetzen. Die Rede ist von russischen Hackern. 
    Daniil Turowski hat für Meduza nach den mächtigen Männern, die im Verborgenen und heute wohl meist für den Geheimdienst wirken, recherchiert und mit mehreren Informanten aus der Szene gesprochen. Die Geschichte geht zurück bis in die 1990er Jahre

    Grafik © Anna Schnygina für Meduza
    Grafik © Anna Schnygina für Meduza

    Am 8. August 2008 saß der Hacker Leonid Stroikow – im Internet nannte er sich meist Roid – zu Hause in seiner  Wohnung in Chabarowsk, trank Bier und las bash.org, als plötzlich eine Nachrichten-Sondersendung im Fernsehen seine Aufmerksamkeit kaperte: Georgische Truppen, so wurde berichtet, hätten die südossetische Hauptstadt Zchinwali unter Beschuss genommen.

    Erschüttert über diese Schlagzeilen machte sich Stroikow als erfahrener Hacker daran, in Websites georgischer Behörden und Medien nach Sicherheitslücken zu suchen, über die man sie angreifen könnte. Bald waren ein paar Websites georgischer Medien und Ämter gehackt. Es gab immer wieder Cyberattacken, solange der Konflikt währte – und auch danach. Mehrere russischsprachige Hacker meinten im Gespräch mit Meduza, dass gerade die Ereignisse in Georgien wie ein Katalysator die Zusammenarbeit der russischen Geheimdienste mit patriotisch gesinnten Hackern vorangetrieben hätten, deren Aktionen ihnen während des Konflikts auffielen. Seitdem würden regelmäßig Hacker engagiert – mal freiwillig, mal unfreiwillig: unter Androhung eines Strafverfahrens. 

    Hacker werden mal freiwillig, mal unfreiwillig engagiert: unter Androhung eines Strafverfahrens

    Wie einer der Gesprächspartner Meduza erzählt, stellen die Geheimdienste nicht viel technisches Personal an, sondern beschäftigen lieber externe Mitarbeiter – die finden sie bei Gerichtsverfahren über Hackerangriffe und Kreditkartenbetrug oder in illegalen Profiforen. 
    Ein anderer Hacker gibt an, im Verteidigungsministerium und im FSB gebe es „ein gängiges Schema zur Anwerbung und Förderung illegaler Hacker und zur Schaffung von Arbeitsbedingungen, um mit ihrer Hilfe an nützliche Informationen zu gelangen“. 
    Einem Informanten von Meduza zufolge kommt es sogar oft vor, dass Hacker vom Geheimdienst in konspirativen Wohnungen versteckt werden – damit die Polizisten der Abteilung „K“ des Innenministeriums, die Cyberkriminalität verfolgen, sie nicht erwischen.

    Hacker auf der Seite des Staates

    Der zweite Tschetschenienkrieg war der erste Konflikt, in dem sich russische Hacker auf die Seite des Staates stellten und de facto gegen den Feind kämpften. Einige Studenten der Polytechnischen Universität Tomsk hatten die Sibirische Netzbrigade gegründet. Diese unternahm DDoS-Attacken auf Websites, auf denen tschetschenische Rebellen ihre Nachrichten und Interviews veröffentlichten – wobei die Cyberaktivisten bereits handelten, bevor der Konflikt in seine aktive Phase überging. 
    Am 1. August 1999 hatten sie in die Homepage kavkaz.org eine Zeichnung eingefügt: der Dichter Michail Lermontow in Camouflage und mit einer Kalaschnikow. „Mischa war hier“, stand in den Farben der russischen Nationalflagge dabei. „Diese Website von Terroristen und Mördern wurde auf zahlreiche Bitten russischer Staatsbürger hin gesperrt.“
    Außerdem schrieben die Mitglieder der Brigade amerikanische Hosting-Firmen an und forderten, dass diese ihre Dienste für Terroristen einstellen.   

    Grafik © Anna Schnygina für Meduza
    Grafik © Anna Schnygina für Meduza

    Ein paar Monate später begannen russischsprachige Hacker, massenhaft den Computervirus Masyanya (nach einem damals beliebten Internet-Trickfilm benannt)  zu verbreiten. Es war zwar unschädlich für User, jedoch nahm ein infizierter Computer auf Kommando des Virus bei einer DDoS-Attacke auf Kavkaz Center teil. 

    Der Leiter von Kavkaz Center, Mowladi Udugow, war überzeugt, dass hinter den Hackerangriffen der FSB stand. Der FSB Tomsk gab eine öffentliche Erklärung ab, dass die Sibirische Netzbrigade die russischen Gesetze nicht verletze; die Handlungen ihrer Mitglieder seien „Ausdruck ihrer staatsbürgerlichen Haltung, die Respekt verdiene“ – obwohl es schon damals Artikel 272 des Strafgesetzbuchs über widerrechtlichen Zugriff auf Computerinformationen gab.   

    Ausdruck ihrer staatsbürgerlichen Haltung, die Respekt verdient

    2005 brach in der Geschichte der patriotischen Hacker eine neue Epoche an – damals erschienen in den Profiforen die ersten Aufrufe, sich zusammenzuschließen, um Quellen von Extremisten anzugreifen. 

    Besonders aktiv rief zu solchen Projekten eine Person mit dem Nicknamen Petr Severa auf, damals einer der bekanntesten russischsprachigen Hacker und Spammer. Hinter diesem Namen verbarg sich Pjotr Lewaschow aus Sankt Petersburg – der Mann, der in den 2000ern Kelihos schuf, eines der weltweit größten Bot-Netzwerke, bestehend aus 100.000 infizierten Rechnern. In den USA wurde Lewaschow „King of Spam“ genannt. 

    Einige Bekannte von Lewaschow erzählten Meduza, er sei einer der ersten russischen Hacker gewesen, der mit den Geheimdiensten kooperierte. Später nutzte er sein Know-how zu politischen Zwecken: Sein Botnet steht unter Verdacht, während des Präsidentschaftswahlkampfs in Russland 2012 E-Mails versandt zu haben, in denen stand, der Kandidat Michail Prochorow sei homosexuell. Darin wurde auf Material mit einem angeblichen Zitat des Politikers verlinkt: „Wer mich kennt, weiß schon lange, dass ich ’ne schwule Sau bin.“ Außerdem gab Lewaschow an, er habe „ab 2007 für Einiges Russland gearbeitet, Informationen zu Oppositionsparteien gesammelt und dafür gesorgt, dass diese zur richtigen Zeit an die richtigen Leute gelangten“. 

    Ein Bekannter von Lewaschow alias Petr Severa gab an, der Hacker habe seinen Kollegen schon Mitte der 2000er-Jahre vorgeschlagen, Russland einen Dienst zu erweisen, indem sie den Staat im Internet unterstützen. Zuerst rief er dazu auf, Websites tschetschenischer Terroristen anzugreifen, dann Internetseiten der russischen Opposition. Sie machten das gratis. Darüber gibt es Berichte der Journalisten Andrej Soldatow und Irina Borogan, die viel zur Funktionsweise der russischen Geheimdienste recherchiert haben.  

    Nach dem Angriff der tschetschenischen Rebellen auf Naltschik im Oktober 2005 attackierten die Hacker nicht nur Kavkaz Center, sondern auch Medien, deren Berichterstattung über die Terroristen ihrer Meinung nach falsch war: Echo Moskwy, Novaya Gazeta, Radio Swoboda
    Einen Monat später hackten sie die Website der (in Russland verbotenen) Nationalbolschewistischen Partei von Eduard Limonow. Danach wurden DDoS-Attacken auf oppositionelle Websites und Websites von Protestaktionen immer häufiger. 
    Im Frühling 2007, als die estnischen Behörden beschlossen, das Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten aus dem Zentrum von Tallin zu entfernen, erfolgte ein Angriff patriotischer Hacker auf staatliche Websites in Estland. 

    DDoS-Attacken auf oppositionelle Websites 

    Im Sommer 2008 schließlich hatten die DDoS-Attacken auf Websites der georgischen Regierung zwei Wochen vor Beginn des Krieges angefangen – als die ständigen Schießereien an der Grenze zwischen Georgien und Südossetien losgingen.

     Am 9. August – einen Tag nach dem Einmarsch der russischen Truppen in Georgien – launchten russischsprachige Hacker die Seite Stopgeorgia.ru. Darauf wurden Empfehlungen veröffentlicht, welche georgischen Websites man hacken soll, dazu Links auf die notwendigen Programme und Tipps für Anfänger. 
    Im Forum der Seite tauschten sich rund 30 ständige User aus – in erster Linie Hacker, die ihr Geld mit Kreditkartenbetrug verdienten; Aufrufe, an dem Projekt teilzunehmen, tauchten im Forum des Magazins Chaker und auf anderen Plattformen für Programmierer auf, wie exploit.in, zloy.org oder web-hack.ru
    Die Gründer der Website bezeichneten sich selbst als „Vertreter des russischen Hacker-Undergrounds“. „Wir lassen uns von Georgien keine Provokationen bieten, egal welcher Art“, erklärten sie in ihrer Vorstellung. „Wir wollen in einer freien Welt leben und uns in einem aggressions- und lügenfreien Web bewegen.“ 
    Sie kündigten an, georgische Quellen zu hacken, „bis die Situation sich ändert“, und luden „alle, denen die Lügen auf den politischen Websites in Georgien nicht egal sind“, zum Mitmachen ein.

    Es gab damals auch Cyberattacken auf russische Quellen: Angriffe auf RIA Nowosti und andere russische und ossetische Quellen; die Website Russia Today war nach einer DDoS-Attacke eine Stunde lang nicht erreichbar. Jemand machte eine Website mit Fakenews, die aussah wie die von einer ossetischen Nachrichtenagentur. 

    Die Spur führt ins Zentrum von Moskau

    Später ergaben Ermittlungen, dass Stopgeorgia.ru beim Webhost Naunet registriert ist, der sich trotz behördlicher Anfrage weigert, die Daten der Betreiber herauszugeben. Die Organisation Spamhaus hat diese Firma längst in ihre Blacklist aufgenommen – denn sie bietet Spammern und Cybercriminals eine Plattform. 
    Der Firmensitz von Naunet liegt unweit des Weißrussischen Bahnhofs im Zentrum von Moskau – das Gebäude teilt sich der Hoster mit dem Forschungsinstitut Etalon, einem staatsnahen Unternehmen zur Produktion von Informationssicherheitssystemen. 2015 wurde Etalon dem staatlichen Betrieb Rostec einverleibt, der sich seit vielen Jahren mit Programmen und Anlagen zur Durchführung von DDoS-Attacken beschäftigt.

    Grafik © Anna Schnygina für Meduza
    Grafik © Anna Schnygina für Meduza

    Postadresse und Telefonnummer, auf die die Domain Stopgeorgia.ru registriert war, wurden mehrfach in den Foren von Kreditkartenbetrügern entdeckt – sie gehörten einem gewissen Andrej Uglowaty, der Datenbanken mit gestohlenen Kreditkartennummern und gefälschte Pässe und Führerscheine verkaufte (wahrscheinlich war der Name erfunden). 
    Die IP-Adresse von Stopgeorgia.ru gehörte der kleinen Firma Steadyhost auf der Choroschewskoje Chaussee Nummer 88 – in einem Moskauer Stadtteil gelegen, in dem fast alle Häuser mit dem GRU in Verbindung stehen. Im Nachbargebäude Nummer 86 befindet sich das 6. Wissenschafts- und Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums, ein Zentrum für militärtechnische Informationen und Recherchen zum Kriegspotential ausländischer Staaten, das früher dem GRU unterstellt war. Die Anrainer nennen das vierstöckige, 1930 errichtete Gebäude „Pentagon“ – nicht wegen seiner Form, sondern wegen der strengen Geheimhaltung; die Institutsangehörigen gelten als die „bestinformierten Leute im GRU“, und der Institutsleiter ist Mitglied des Sicherheitsrats der Russischen Föderation. 

    Leonid Stroikow – aka Roid – hackte die georgischen Websites im Alleingang, ohne Hilfe von Kollegen und Hackergruppen. Zuerst nahm er sich regionale Medien und Suchmaschinen vor. Dann widmete er sich staatlichen Quellen. Bald tauchten auf der Homepage des georgischen Parlaments Fotos des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili auf, auf denen er mit Hitler gleichgesetzt wird. „Und enden wird er genauso …“, lautete der Text dazu. „Hacked by South Ossetia Hack Crew.“

    Von seiner Attacke auf Georgien erzählte Stroikow später dem Magazin Chaker, wobei er meinte, Cyberwars seien „zum fixen Bestandteil realer Kriege mit Blutvergießen“ geworden. Was er seitdem macht, ist unbekannt; seinem Profil auf VKontakte nach zu urteilen, hat Stroikow ein Faible für Camouflage und geht mit Gewehr auf die Jagd. Auf die Fragen von Meduza gab er keine Antwort. In dem Sozialen Netzwerk hat der Hacker 36 Freunde, die meisten von ihnen aus Chabarowsk, wo er immer noch lebt. 

    Der erste Hacker mit Festanstellung beim Geheimdienst

    Eine Ausnahme ist Dimitri Dokutschajew – ein FSB-Mitarbeiter, bekannt als Hacker Forb. Wie Stroikow schrieb auch Dokutschajew für das Magazin Chaker (dank dem viele Hacker einander überhaupt erst kennengelernt haben) – er war sogar Redakteur der Rubrik Vslom (dt. „Hackerangriff“).  Einige russischsprachige Hacker sagten im Gespräch mit Meduza, Dokutschajew sei der erste Hacker gewesen, der eine Festanstellung bei einem Geheimdienst bekam. Möglicherweise war Dokutschajew auch der Drahtzieher hinter den Hackerangriffen auf die Infrastruktur der Demokratischen Partei während der US-Wahlen 2016.

    Dokutschajew wurde in Kamensk-Uralsk geboren, einer armen Stadt eine Autostunde von Jekaterinburg entfernt. Seine Jugend verbrachte Dokutschajew vor allem in Internet-Cafés und spielte Videogames: Worms Armageddon, Need for Speed, Quake 3. Ziel seines ersten Hackerangriffs war das städtische Internet – um gratis ins Netz zu kommen. Nach der Schule studierte er am Polytechnikum in Jekaterinburg, am Institut für Informationstechnik; später arbeitete er als Systemadministrator an einem Lehrstuhl an einer Jekaterinburger Universität. Auf seiner (mittlerweile gelöschten) Website Dmitry’s homepage. The Best … gab er detailreich von sich Auskunft. Neben einem Abschnitt über entdeckte Software-Sicherheitslücken gab es hier auch Fotos von ihm: Ich auf dem Sofa (1997) (ein auf dem Sofa sitzender Teenager in kariertem Flanellhemd und Trainingshosen), an der Universität für Nuklearforschung, auf der Krim, in der Disko am Schwarzen Meer. 2004 war Dokutschajew als Kreditkartenbetrüger aktiv und hackte auf Bestellung Websites. Als seinen größten Erfolg feierte der Hacker einen Angriff auf eine Website der US-Regierung. 2006 zog er nach Moskau und begann, für das Magazin Chaker zu arbeiten.

    Dokutschajew und seine Kollegen feierten und tranken gern zusammen, ab und an passierten ihnen irgendwelche Geschichten. „Wir standen mit einem Fuß in der kriminellen Welt, aber es war ein Mordsspaß. Auf allen Partys und Treffen war immer was los, langweilig war es nie“, erinnert sich einer von ihnen. Einmal machte ihm Dokutschajew im Suff die Räuberleiter, damit er eine Überwachungskamera auf drei Metern Höhe lahmlegen konnte. Daraufhin rannten sie vor den Bullen davon – und in einen FSB-Mann hinein, der dem Hacker „eins auf den Kiefer“ gab. 

    Grafik © Anna Schnygina für Meduza
    Grafik © Anna Schnygina für Meduza

    Bald kooperierte Dokutschajew selbst mit dem FSB – und dann nahm er dort eine Stelle an als Oberfahndungsbeamter in der 2. Abteilung der Betriebsverwaltung des Zentrums für Informationssicherheit des FSB. Das ist ein Referat für den Schutz des Staates vor Cyberkriminalität und für Ermittlungen in Hacker-Prozessen, in denen eine Gefährdung des Landes droht. Dort war er bis 2016 beschäftigt, bis er festgenommen wurde. 

    Dokutschajew kannte nicht nur Stroikow, sondern auch andere Hacker. Einer von ihnen kam wie Dokutschajew ursprünglich aus Kamensk-Uralsk. Und wie sein Kollege war auch Konstantin Koslowski rund um die Uhr in russischsprachigen Hacker-Foren unterwegs – damals, erzählt wieder ein anderer Kollege von Dokutschajew und Koslowski, war die vorherrschende Stimmung, „dass wir Russland helfen, unser Land verteidigen müssen und Banken in den USA und Europa hacken – dort ist das Geld ja sowieso versichert, und in Russland braucht man es nach den 1990ern dringender“. 

    Wir müssen unser Land verteidigen und Banken in den USA und Europa hacken

    Ein paar Jahre später gründet Koslowski die Gruppe Lurk, die es auf die Infrastruktur nun schon russischer Banken abgesehen hat. Und als sie ihn verhaften, wälzt er die Verantwortung für seine Aktionen auf Dokutschajew ab. Koslowski behauptet, im Auftrag von Dokutschajew das Demokratische Nationalkomitee und andere Ziele in den USA gehackt zu haben. Dokutschajew, der zum Zeitpunkt dieser Aussage ebenfalls in U-Haft sitzt, dementiert diese Anschuldigung. 

    Die US-Geheimdienste glauben, dass Dokutschajew als FSB-Major jene Hacker koordinierte, die Angriffe auf Computernetze staatlicher und kommerzieller Strukturen in den USA durchführten. In Russland wirft man ihm offenbar vor, als Doppelagent den Amerikanern Informationen über russische Hacker geliefert zu haben. 

     

    Putins Antwort auf die Frage, ob er es für möglich halte, dass russische Hacker im Bundestagswahlkampf 2017 Falschinformationen verbreiten

    Dokutschajew wurde zusammen mit einem leitenden Beamten aus dem Zentrum für Informationssicherheit des FSB, Sergej Michailow (dem sie bei der Festnahme effekthascherisch einen Sack über den Kopf stülpten), und Ruslan Stojanow vom Kaspersky Lab verhaftet; alle drei sind des Hochverrats angeklagt. 
    Im April 2018 berichtete RBC, Dokutschajew habe ein außergerichtliches Teilgeständnis unterschrieben, Daten an ausländische Geheimdienste weitergegeben zu haben – angeblich habe der FSB-Mitarbeiter geglaubt, auf diese Weise zur Bekämpfung von Cybercrimes beizutragen. 

    Die russischen Geheimdienste werben offenbar weiterhin im Tausch gegen die Einstellung von Strafverfahren Hacker an. Im Juli 2018 stellte in Belgorod das Gericht einen Strafprozess gegen einen Ortsansässigen ein, der 545 Hackerangriffe auf die offizielle Website des FSB unternommen hatte. Die Einstellung des Verfahrens erfolgte auf Antrag eines Ermittlungsbeamten des FSB.

     

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  • Nowosibirsk ist nicht Moskau

    Nowosibirsk ist nicht Moskau

    Während in Russland allgemein die Einwohnerzahl schwindet, kann Nowosibirsk seit Jahren kontinuierliche Zuwächse verbuchen. Die pulsierende 1,6-Millionen-Metropole im Herzen Sibiriens, die ihre Gründung dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn zu verdanken hat, saugt förmlich die Menschen aus den umliegenden Gebieten auf. In dieser Hinsicht gleicht Nowosibirsk der Hauptstadt des Landes.

    Moskau ist zwar gewissermaßen Vorbild, aber gleichzeitig auch Hemmschuh, meint Riddle-Redaktionsleiter Anton Barbaschin auf InLiberty. Aus der Perspektive der „inoffiziellen Hauptstadt Sibiriens“ wirft der Nowosibirsker einen kritischen Blick auf den russischen Föderalismus und das nicht immer einfache Verhältnis zum Machtzentrum Moskau. 

    „Sie sind hier nicht in Moskau“ – das ist in all den Jahren wohl die griffigste Losung auf den Monstrationen von Nowosibirsk. Die Monstration – lassen Sie es uns den Moskauern erklären – ist eine in Nowosibirsk entstandene Aktion zum 1. Mai, eine Parodie auf die offiziellen Paraden zum Tag des Frühlings und der Arbeit. Die Teilnehmer der Aktion gestalten lustige, komische, verrückte und provokante Plakate, mit denen sie durch das Stadtzentrum ziehen – wenn es gelingt, eine behördliche Genehmigung zu erlangen. Nicht zufällig trifft man auf die Losung von „nicht in Moskau“ gerade in Nowosibirsk, der inoffiziellen Hauptstadt Sibiriens, der größten Stadt hinter dem Ural, deren Einwohnerzahl nur hinter Moskau und Sankt Petersburg zurückbleibt.    

    Regionales Moskau

    Das seiner langen Geschichte beraubte Nowosibirsk hat trotz all seines wissenschaftlichen, industriellen und kulturellen Potenzials im Grunde kein unverkennbares Antlitz und keine unverwechselbare Stimme. Auf der Suche nach Identität vergleichen wir uns nicht so sehr mit Städten wie Jekaterinburg oder Krasnojarsk, sondern stehen im Dialog mit Moskau, besser gesagt, wir hören seinem Monolog zu. Diese Kommunikationsform wird zweifellos von Moskau vorgegeben. 

    Die Millionenstadt ist ein regionales Moskau: Hierhin zieht es Studenten aus ganz Sibirien, dem Fernen Osten und dem postsowjetischen Raum, hier findet man die modernsten Bars und Restaurants der Region, hier häufen sich Finanzströme und Investitionen. Moskau ist sowohl Vorbild als auch größter Hinderungsfaktor für die Entwicklung. Die wichtigsten politischen Fragen und die Besetzung von Ämtern werden nicht ohne das Zutun von Moskau entschieden, und die Moskauer Geschäftswelt hält die lokale Business-Elite auf Trab. Sogar bei kulturellen Themen lassen es sich die Moskauer Behörden nicht nehmen, ein Wörtchen mitzureden. 2015 entließ Kulturminister Medinski den Direktor des Opern- und Ballett-Theaters Nowosibirsk nach einer Affäre um eine Inszenierung von Tannhäuser, die offenbar zu riskant geraten war. Nach den Protesten von 2011 und 2012 verstärkte sich der Druck auf die Nowosibirsker Oppositionellen deutlich, die gezeigt hatten, dass nicht nur Moskau und Sankt Petersburg imstande sind, große Demos zu veranstalten. Die Aktivsten und Widerständigsten wurden praktisch aus der Stadt verdrängt, und Nawalny ist in Nowosibirsk immer mit schwierigen Arbeitsbedingungen konfrontiert.

    Konformität und Mittelmaß

    Der Stadt, in der die Beliebtheit der Regierungspartei nie durch die Decke ging und die Kommunisten immer stark waren, gilt immer die besondere Aufmerksamkeit des föderalen Zentrums. Moskau versucht in allen Nicht-Moskau-Städten des Landes Konformität und Mittelmaß zu erreichen. 
    Besonders ist wohl, dass die Struktur des russischen Föderalismus gerade in Sibirien besonders deutlich sichtbar ist. Alle großen Städte liegen ziemlich weit voneinander entfernt und sehen sich nicht gegenseitig an, sondern schauen in Richtung Moskau. Je weiter im Osten des Landes, desto stärker zeigt sich das. Aufgrund fehlender politischer Befugnisse und wirtschaftlicher Chancen agieren die Städte und Regionen nicht miteinander, die Konkurrenz zwischen ihnen ist minimal – dabei könnte gerade sie dem Russland außerhalb des Moskauer Autobahnrings den nötigen Kick zum Aufschwung geben.   

    Moskau ist für Nowosibirsk als Stadt am einfachsten zu verstehen und zu erreichen – jeden x-beliebigen Tag gehen 14 Flüge dorthin. Von Nowosibirsk aus in eine Stadt westlich von Jekaterinburg zu kommen, ohne das Dreieck ScheremetjewoDomodedowoWnukowo zu streifen, ist praktisch unmöglich – zumindest, wenn Sie nicht einen ganzen Tag oder länger die Innenausstattung der neuen Wagen der russischen Eisenbahn studieren wollen. Die Verbindung nach Kasan zum Beispiel ist von Nowosibirsk aus entweder einmal pro Woche ein traurig-einsamer und teurer Flug, oder führt, und dann mit flexiblen Zeiten, über Moskau. 

    Vereinzelte Oasen der Zivilisation

    Man kann versuchen, das althergebrachte Modell zu akzeptieren, in dem alles über Moskau läuft und in dem Moskau bestimmt, wie die Städte östlich des Urals zusammenspielen. Man kann sich darauf einigen, dass Moskau den Löwenanteil der Einkünfte durch die in Sibirien geförderten Rohstoffe kassiert, dass der Gewinn Moskau angerechnet wird und es nur einen kleinen Teil davon Sibirien abgibt. Dann soll Moskau aber auch bitteschön einen klaren Entwicklungsplan für diese Gebiete vorlegen oder ihnen mehr Freiheit gewähren. Doch während Russland sich durch die Krimgroßwächst“, bleiben gigantische Gebiete im Norden Eurasiens unterentwickelt und schwer durchschaubar. Vereinzelte Oasen der Zivilisation – große Städte, die im 21. Jahrhundert leben, mit Craft-Bier und schnellem Internet – ziehen mehr und mehr neue Bewohner aus dem tiefsten Sibirien an, wodurch diese ohnehin schon rar besiedelten Gebiete Russlands komplett veröden. Also was schlägt Moskau vor?

    Offenbar bleibt die wichtigste Idee der letzten Jahre die Hinwendung zum Osten, die in Moskau vielleicht als geopolitisches Manöver verstanden wird, das das Ziel hat, die Außenbeziehungen zu diversifizieren. Von Nowosibirsk aus wirkt das wie eine banale Verlegung einer Leitung nach China und nach einer Anbindung der gesamten Region an ein einzelnes Land südlich von Sibirien.

    Erinnerungen an eine glänzende Zukunft

    Wenn Moskau so allmächtig ist, dass es gleichzeitig das syrische Volk retten, eine Brücke zur Krim bauen und gegen die Hegemonie der USA ankämpfen kann, warum fügt es dieser Liste nicht auch die bescheidene Aufgabe hinzu, seine eigenen Gebiete zu entwickeln? Natürlich streben diese Territorien nicht aus Russland hinaus – von Separatismus ist in Sibirien nichts zu spüren – aber ganz bestimmt werden sie nicht zu dem Schatz, durch den sich ganz Russland laut Prophezeiung Lomonossows großwachsen sollte. Einzelne Versuche, im Fernen Osten Territorien der vorauseilenden Entwicklung anzuleiern und ähnliche Projekte blieben an derselben Stelle hängen wie Medwedews Modernisierung – als Erinnerungen an eine glänzende Zukunft.    

    Die einzige Chance auf Entwicklung besteht darin, den sibirischen Regionen als solchen mehr Freiheit zu geben, sich um die Gebiete zu kümmern, die Russland zum größten Land der Welt machen. Keineswegs muss Sibirien zu den Vereinigten Staaten Sibiriens gemacht werden – es genügt, den Regionen zu gestatten, etwas mehr Einkünfte in ihren Budgets zu belassen, die Steuern zu senken, Möglichkeiten zu privaten Initiativen zu erweitern und sich dem beträchtlichen Kreis potenzieller Investoren zu öffnen.

    Wie Wladislaw Inosemzew richtig bemerkte, liegt östlich von Russland nicht China, sondern Japan, die USA und Kanada – und daher ist Russlands Orientierung nach Osten eine Orientierung in den Westen. Wenn das heutige außenpolitische Paradigma unverändert bleibt, entwickeln wir uns zum kleinen Bruder Chinas. In Nowosibirsk ist besonders stark spürbar, dass unser gemeinsames Zuhause Großeuropa ist, und nicht Großasien.  

    Einstweilen bleibt Nowosibirsk, wie auch den anderen Städten Sibiriens, nichts anderes übrig, als fast im Flüsterton zu sagen: „Sie sind hier nicht in Moskau“, ohne sich wirklich darüber im Klaren zu sein, was genau hier entstehen kann. Und das werden wir garantiert nie erfahren, solange Sibirien keine Chance bekommt, sich vollwertig als Sibirien wahrzunehmen und nicht nur als ein Territorium östlich des Urals.   

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  • „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.

    Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.

    Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.

    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei
    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei

    Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?

    Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.

    Warum hast du beschlossen, das zu drehen?

    Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.


    Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?

    Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. 
    Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen  und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.

    Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. 
    Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?

    Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.

    Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. 
    Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.

    Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.

    Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.

    Glaubst du das?

    Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte.
    Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.

    Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben

    Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.

    Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.

    Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.

    Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?

    Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.

    Aber doch nicht mit Nawalny!

    In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.

    Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.

    Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin

    Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.

    Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns,  die wir unsere Chance verpasst haben?

    Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.

    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube
    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube

    Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. 
    Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.

    Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?

    Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.

    Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?

    Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.

    Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.

    Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?

    Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.

    Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden

    Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.

    Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.

    Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.

    Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht

    Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.

    Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab’s natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.

    Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.

    Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?

    Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. 
    Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.

    Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.

    Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.

    Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?

    Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!

    Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff  trotzdem

    Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.

    In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?

    Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.

    Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend

    Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen.
    Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!

    Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?

    Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.

    In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.

    Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.

    Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?

    Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.


    https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8

     

    Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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