Nawalnys Stiftung FBK soll zur „extremistischen“ Organisation erklärt werden, das Exilmedium Meduzawurde auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“gesetzt. Journalisten, Menschenrechtler, auch Wissenschaftler, die an den Protesten für Nawalny im Januar und Februar teilgenommen haben, berichten in den vergangenen Tagen über Hausbesuche von Sicherheitskräften. Diese und weitere Nachrichten zeigen, dass sich die innenpolitische Lage in Russland derzeit zuspitzt, der Druck auf die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien wächst.
Die Repressionen, aber auch das Schweigen in breiten Teilen der Gesellschaft, beides fließt ein in den unten stehenden Text von Andrej Loschak. Sein Text auf dem Online-Medium Projekt zeugt von verlorener Hoffnung und großer Verzweiflung, und auch davon, welch existenzieller Nerv derzeit in einem bestimmten Segment der russischen Gesellschaft getroffen ist und blankliegt. Implizit wirft sein engagiertes Meinungsstück auch die offene Frage auf, wie objektiv Journalismus unter solchen Bedingungen noch sein kann, darf und muss.
Was mit Alexej Nawalny und seinen Anhängern passiert, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Da werden friedliche, gesetzestreue, unschuldige Menschen geächtet. Sie sind einem regelrechten Staatsterror ausgesetzt, der immer mehr Schwung aufnimmt. Endlose Lügen und Hasstiraden auf staatlichen Sendern und kremltreuen Müllkippen, fabrizierte Anklagen, Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmung (Diebstahl) von technischen Geräten, Geldstrafen, Geldstrafen, Geldstrafen, Festnahmen und Haftstrafen aufgrund völlig irrwitziger Beschuldigungen, strafrechtliche Verfolgung von Verwandten von „Volksfeinden“ (Nawalnys Bruder Oleg, Iwan Shdanows 66-jähriger Vater Juri et cetera), schließlich der Mordanschlag auf Alexej Nawalny, seine anschließende Verhaftung und erst vor Kurzem der Schlussakkord: der Vorwurf des Extremismus gegen seinen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) und gegen alle, die damit zu tun haben.
Aus rechtlicher Sicht ist das ein klarer Fall von Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (so ähnlich klingt das in Artikel 282 des Strafgesetzbuchs, den die Opritschniki so lieben). Doch der Vorwurf des Extremismus bricht einfach so über den FBK herein, aus heiterem Himmel. Nicht einmal Beweise wurden vorgelegt. Die Leiter des Fonds fragten nach und bekamen zur Antwort: Sagen wir nicht, ist ein Staatsgeheimnis. Ich spreche über Nawalnys Anhänger immer in der dritten Person, obwohl das natürlich geheuchelt ist – ich muss „wir“ sagen. In meinem Fall wäre es treffender zu sagen „Anhänger von Nawalnys Freilassung“, aber das sind jetzt unwichtige Details. Natürlich bin ich Anhänger dieses Menschen, der im postsowjetischen Russland als erster eine richtige Heldentat in der öffentlichen Politik vollbracht hat. Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht. Ich bin Anhänger dieses Menschen, der gegen Korruption kämpft und ehrlichen Herzens ein besseres Leben für seine beraubten Mitbürger will. Und der immer noch daran glaubt, dass seine Mitbürger dieses bessere Leben verdienen, auch wenn fast die Hälfte von ihnen die Repressionen gegen ihn unterstützen.
Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht
Ich bin Anhänger dieses Menschen, der mit verzweifeltem Mut, aber ausschließlich legalen Methoden gegen einen um die Macht kämpft, der alles hat: uneingeschränkte Macht, Opritschniki, Gerichte, diensteifrige Oligarchen, ein Milliardenbudget, das er nach Lust und Laune verschleudert, wo er es für nötig hält. Sein Gegner hat alles, Nawalny hat nur uns – 400.000 „Extremisten“. Na, und ein mitfühlendes Ausland, das aber trotzdem nicht helfen kann – und auch nicht helfen soll. Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit. Solange die Bevölkerung nicht verstanden hat, wie wichtig die Absetzbarkeit der Staatsmacht und Wahlen sind, wird sich hier sowieso nichts ändern.
Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit
Wir, Nawalnys Anhänger, wollen nichts anderes, als dass unsere Kandidaten zu Wahlen zugelassen (und rechtzeitig vorher aus der Haft entlassen) werden. Unsere Kandidatinnen – es sind übrigens viele Frauen dabei – wollen bei Wahlen um die Macht kämpfen, die seit 21 Jahren in denselben Händen liegt. Breshnew hat kürzer regiert. In den Programmen und Reden unserer Kandidaten ist nichts Illegales oder Misanthropes. Sie gefallen Ihnen nicht? Ihr gutes Recht. Aber unser Recht ist es, die zu wählen, die wir wählen wollen, und nicht die, die der amtierende Präsident genehmigt hat. Was genau soll daran extremistisch sein? Eigentlich heißt so etwas einfach „Politik“.
Mein Hauptinteresse gilt nicht den Machthabern und ihren Opritschniki. Was die betrifft, ist alles klar. Mich interessiert, was diese 146 Millionen denken, die da abwartend rumstehen. Ich schaue immer genau, welche Prominenten diese endlosen Petitionen für Nawalny unterschreiben. Tschchartischwili, Makarewitsch, Achedshakowa, Chamatowa, Swjaginzew … Gerade mal zehn bis fünfzehn Personen. Bei den jungen Stars sind es auch immer dieselben – Face, Noize MC, Oxxxymiron, Sascha Bortitsch, Semjon Treskunow, und das war’s dann auch schon. Das sind natürlich alles sehr ehrenwerte und für die russische Kultur sehr bedeutende Leute, aber wo ist der Rest? Warum stehen unter den Protestbriefen immer dieselben Namen? Worauf wartet ihr denn, ihr Meister der Kultur? Auf Erschießungen? An den Protesten 2011 und 2012 waren viel mehr Leute beteiligt – auch aus dem Kulturbetrieb. Die Proteste richteten sich damals gegen Wahlfälschungen und Putins dritte Amtszeit. Seitdem hat Putin so viel Mist gebaut, dass die Gründe für die „Proteste mit weißen Bändchen“ dagegen direkt lächerlich wirken. Dritte Amtszeit? Ha-ha-ha. Jetzt sitzt er lebenslänglich da oben, abgesichert durch die Verfassung. Leben wir besser? Irgendwie nicht wirklich. Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab.
Wo ist der Rest?
Vor der Präsidentschaftswahl 2018 hatten wir eine wenn auch geringe, so doch eine Chance, die Geschichte zu verändern. Erstmals in der Geschichte Russlands gelang es einem oppositionellen Kandidaten abseits des Systems, im ganzen Land ein Netz aufzubauen und eine richtige Wahlkampagne zu starten, an der vor allem die Jugend aktiv teilnahm (worüber ich die Doku-Serie Wosrast nesoglassija gedreht habe). Aber leider hat die absolute Mehrheit der Erwachsenen diese Geschichte ausschließlich aus der Distanz verfolgt. Chancen zum Zusammenschluss gaben uns Nawalny und sein Team dann auch bei der Wahl zur Moskauer Stadtduma 2019 und erst kürzlich bei Nawalnys Rückkehr nach Russland. Da begibt sich ein Mensch freiwillig in die Höhle des Löwen – um unseretwillen und zu unserer Rettung – und wird am Flughafen von ein paar tausend Fans in Empfang genommen. Ich glaube, der Entschluss, ihn „hardcore“ einzusperren, wurde genau in diesem Moment gefasst. Am 23. Januar gingen in Moskau rund 40.000 Menschen auf die Straße. Das ist weniger als 0,3 Prozent der Bevölkerung der Hauptstadt – hochgerechnet auf das ganze Land sind es etwa 400.000. Bei so einem wahnsinns-staatsbürgerlichen Aktivitätspegel hätten sie Nawalny gleich direkt auf der Gangway des Flugzeugs erschießen können, oder auch zerstückeln, wie die Saudis es vor nicht allzu langer Zeit mit einem Oppositionellen gemacht haben. Kriminelle Macht respektiert nur Gewalt. 0,3 Prozent – ist das euer Ernst?
Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab
Diesen Dezember sind die Proteste mit weißen Bändchen zehn Jahre her. Schon damals schrien wir „Putin ist ein Dieb!“ und „Weg mit Putin!“, wohlwissend, dass uns in den nächsten zwölf Jahren mit diesem Mann nichts Gutes bevorstand. Im darauffolgenden Jahr wurden die Proteste niedergeschlagen und die Menschen verkrochen sich in den Schlupfwinkeln ihres Privatlebens. Lang genug war der Widerstand tot, bis es Nawalny und seinem Team gelang, ihm neues Leben einzuhauchen. Putin beschloss, Nawalny und seine Anhänger zu vernichten. Die Folge ist, dass die Situation heute so aussieht: Wenn Sie Nawalny nicht unterstützen oder sich raushalten (was ein und dasselbe ist), unterstützen Sie nicht nur die Tötung eines unschuldigen Menschen und die Diskriminierung von Hunderttausenden. Sie unterstützen auch den Status quo des herrschenden Regimes. Somit unterstützen Sie Korruption, die Unabsetzbarkeit des Präsidenten, fehlende Rechtsprechung, Verarmung der Bevölkerung, politische Morde, die übelsten Regime der Welt – von Belarus bis Myanmar, Monatsgehälter von 150 bis 200 Dollar, Inflation, Braindrain, Investitionsflucht, Kapitalflucht, häusliche Gewalt, Homophobie, Verschuldung der Bevölkerung, schrumpfende demografische Entwicklung, Krieg gegen die Ukraine, internationale Isolierung, die Rehabilitierung des Stalinismus, Ramsan Kadyrows Terror, den durchgedrehten Duma-Drucker, Lüge und Hate Speech der Propaganda, Militarisierung, das stetig wachsende Budget für die heimische Polizei, die schrittweise Abschaltung des Internets, Zensur nicht nur in den Medien, sondern auch in Kultur und Wissenschaft und so weiter und so fort.
Vor allem aber unterstützen Sie Perspektivlosigkeit.
Davon sprechen jetzt alle. Wir leben in der trübsinnigen Matrix eines alternden KGB-Offiziers, der für immer im 20. Jahrhundert feststeckt und das ganze Land mit hineinzieht. Mit ideologischen Einstellungen aus den 1970er Jahren und einer Moral aus den Neunzigern. Das habe ich ganz deutlich gespürt, als ich den Film Fuck this Job über die Geschichte des TVSenders Doshd sah. Da gibt es am Anfang eine Szene aus dem Jahr 2011, in der Präsident Medwedew den Sender besucht. Ich war beeindruckt, wie fähig und modern er wirkt, in die Zukunft gerichtet und sogar leise Hoffnungen weckend. Alles zeigt sich im Kontrast, wie es so schön heißt. In was für einen Abgrund der Verzweiflung müssen wir da in den letzten zehn Jahren gestürzt sein, um in Medwedew einen zukunftsweisenden Politiker zu sehen! Meine tiefe Überzeugung ist: Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben – und das sind nicht 400.000, sondern zig Millionen –, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben. Bis vor Kurzem hätten Nawalny und der FBK uns diese Gelegenheit gegeben, aber anscheinend haben wir versch… Alexej wird im Gefängnis erledigt, der FBK steht am Rande der Zerstörung, und mit hoher Wahrscheinlichkeit beginnt demnächst die größte Hexenjagd seit der McCarthy-Ära. Ich weiß, dass Täter-Opfer-Umkehr ein schlechter Motivator ist, aber ich kann's mir nicht verkneifen: Dass wir an diesen Punkt gelangt sind, ist nicht allein Putins Schuld. Wissen Sie, wie viele Menschen einen Dauerauftrag für monatliche Spenden an den FBK haben? 19.700 Personen – bei so viel Unterstützung wird meine Generation die glänzende Zukunft Russlands definitiv nicht mehr erleben. In U-Haft landen könnten diese 19.700 Leute dafür umso schneller.
Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben
Um nicht endgültig Grabesstimmung zu verbreiten, schließe ich mit einem Zitat aus der letzten Rede des unermüdlichen Optimisten Nawalny – denn im Unterschied zu mir und Putin weiß Alexej wie man Hoffnung sät: „Es ist sehr wichtig – einfach keine Angst vor Leuten zu haben, die die Wahrheit suchen, und sie vielleicht sogar irgendwie zu unterstützen: direkt oder indirekt. Oder vielleicht nicht einmal zu unterstützen, aber wenigstens diese Lügerei nicht auch noch zu fördern, zu diesen Märchen nicht auch noch beizutragen, die Welt rundherum nicht zu verschlimmern. Das birgt natürlich ein kleines Risiko, aber erstens ist es klein, und zweitens, wie ein ausgezeichneter Philosoph der Gegenwart namens Rick Sanchez sagte: ‚Leben ist Risiko. Und wenn du nichts riskierst, dann bist du wohl einfach ein schwammiger Haufen zufällig angeordneter Moleküle, die mit dem Strom des Universums mitschwimmen‘.“
„Wer gehen will, geht leise.“ So sagte es ein ehemaliger Mitarbeiter der Truppen des Inneren in Belarus. Der hatte seinen Dienst infolge der massiven Repressionen und Polizeigewalt gegen die Demonstranten aufgekündigt, die seit dem 9. August 2020 gegen die belarussischen Machthaber protestieren. Mitarbeiter der Silowiki-Strukturen gehören zu den wichtigsten Stützen des Apparats von Alexander Lukaschenko, der auch aktuell immer noch mit massiven Repressionen gegen jeglichen Widerstand vorgeht. Allerdings berichten Medien und andere Kanäle immer wieder, dass die Unzufriedenheit bei den Silowiki extrem hoch sei. Auch Andrej Ostapowitsch verließ bereits im August 2020 seinen Dienst als Mitarbeiter des Ermittlungskomitees. „Mir wurde klar, dass ich da nicht mehr arbeiten kann“, sagte er in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. „Auch Untätigkeit wäre Mittäterschaft.“ In Polen gründete er schließlich die Initiative BYPOL, eine Vereinigung für ehemalige Mitarbeiter von Strafverfolgungsbehörden, die mittlerweile zu einem der bekanntesten und aktivsten Akteure der Opposition avanciert ist.
Wer aber steht noch hinter BYPOL? Wie arbeitet die Initiative? Woher erhält sie ihre Informationen? Was waren die bis dato größten Scoops von BYPOL? Das Medienportal tut.by hat sich das Projekt genauer angeschaut und dafür auch Mitarbeiter von BYPOL interviewt.
Vor einem halben Jahr war Andrej Ostapowitsch noch Beamter einer Bezirksabteilung der Ermittlungsbehörde in Minsk. Er nahm damals selbst an Protestaktionen teil, ahnte aber nicht, dass er eine Initiative ehemaliger Silowiki gründen würde, die in mühseliger Kleinarbeit Informationen über diejenigen sammelt, die Belarussen verhaften, prügeln und sogar töten, wenn sie mit dem Regime nicht einverstanden sind. Genau das macht jetzt BYPOL; außerdem bietet die Initiative aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern der Sicherheitskräfte Hilfe an. Das Innenministerium bezeichnet die von BYPOL bereitgestellten Informationen meistens als Fake.
Anfang März veröffentlichte BYPOL die Abschiedsrede des damaligen Innenministers Juri Karajew anlässlich seines Ausscheidens aus dem Amt [Ende Oktober 2020 – dek]. Davor hatte BYPOL die Ergebnisse seiner Recherchen zum Geschehen am 11. November 2020 auf dem Platz des Wandels publiziert sowie eine Rede des jetzigen stellvertretenden Innenministers Nikolaj Karpenkow und andere Audioaufzeichnungen, die viel Aufsehen erregten.
tut.by berichtet im Folgenden, wer hinter BYPOL steht und wie die Initiative funktioniert.
Was ist BYPOL, und wie ist das Projekt entstanden?
Die Initiative BYPOL wurde von ehemaligen Mitarbeitern der Ermittlungsbehörde und des Innenministeriums gegründet. Sie treten gegen Alexander Lukaschenkos Politik auf, sammeln Daten zu Gesetzesübertretungen von Silowiki und appellieren an diese, auf die andere Seite zu wechseln. Ende August 2020 schrieb Andrej Ostapowitsch, ein Beamter in einer der Bezirksabteilungen der Ermittlungsbehörde in Minsk, seinen Entlassungsantrag. Darin stand, dass er das Vorgehen der Staatsmacht, die friedliche Demonstranten vertreibe und verprügle, nicht unterstütze und er zu neuen, ehrlichen und gerechten Wahlen aufrufe. Daraufhin begannen Ermittlungen gegen ihn, und er beschloss, Belarus zu verlassen.
In Polen gründete Ostapowitsch eine Initiative für Silowiki, die mit der Vorgehensweise des belarussischen Regimes nicht einverstanden sind. Als erste beteiligten sich Igor Loban, ehemaliger Ermittler in besonders wichtigen Fällen an der Ermittlungsbehörde der Region Hrodna, Wladimir Schigar, ehemaliger Fahndungsbeamter der Kriminalpolizei in Masyr, und Matwej Kupreitschik, leitender Ermittlungsbeamter an der Minsker Polizeiabteilung für die Bekämpfung von Drogen- und Menschenhandel, an der Initiative. Im Oktober wurde bei einem Treffen mit Swetlana Tichanowskaja die Gründung von BYPOL bekanntgegeben.
Wie viele Menschen sind an dem Projekt beteiligt, und was sind seine zentralen Aufgaben?
Die Initiative legt nur die Daten von drei ehemaligen Silowiki offen, die wir bereits genannt haben (im März wurde bekannt, dass Ostapowitsch das Team verlassen hat). Die Namen weiterer Mitglieder werden unter Verschluss gehalten, um Verschwörungen vorzubeugen.
„Derzeit hat BYPOL gut und gern mehrere hundert Mitglieder“, sagen Vertreter der Initiative. „Auch sehr viele Zivilpersonen kommen auf uns zu und leisten enorme Unterstützung.“
Der Hauptsitz von BYPOL befindet sich in Warschau, aber auch in anderen polnischen Städten und EU-Ländern gibt es Büros, in denen ehemalige Strafverfolgungsbeamte und Aktivisten (meist über den Telegram-Kanal des Projekts) eingehende Daten zu Gesetzesübertretungen im Strafverfolgungssystem bearbeiten. Mitglieder von BYPOL helfen ehemaligen Silowiki, das Land zu verlassen, wenn ihnen Gefahr droht – solche Fälle gab es rund 30. Wobei BYPOL anmerkt, dass es eine Initiative und keine Stiftung ist und entlassenen Beamten keine finanzielle Hilfe anbieten kann.
„Im Gegenteil, wir ermutigen Strafvollzugsbeamte, die mit uns einer Meinung sind, mit uns zusammenzuarbeiten, ohne ihre Strukturen zu verlassen. Wie man sieht, bringt das Ergebnisse“, heißt es bei BYPOL.
So erhält BYPOL Informationen über Vorgänge im System sowohl von aktiven als auch von ehemaligen Silowiki. Manche Daten findet man in Datenbanken – dabei bekommt BYPOL Hilfe von IT-Fachleuten. Informationen kommen auch von anderen zivilgesellschaftlichen Projekten, etwa von 23-34.net, wenn es um Verwaltungsarrest von Protestierenden geht oder um Informationen von Gesetzesübertretungen der Silowiki aus dem Einheitlichen Verbrechensregister EKRP.
Die Daten von Polizeimitarbeitern, die an Verbrechen beteiligt waren, gibt BYPOL (über Swetlana Tichanowskajas Büro) an die EU weiter in der Erwartung, dass das nicht nur zu persönlichen Sanktionen führt, sondern auch zu einem Lieferstopp für Spezialausrüstungen der belarussischen Sicherheitskräfte.
Im Februar initiierte Tichanowskaja auf Basis von BYPOL die Gründung eines Situationsanalysezentrums für folgende Aufgaben:
– strategische und taktische Planung der Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Belarus; – Sammlung und Auswertung von aktuellen und relevanten Informationen unter anderem über Protestaktionen in Belarus; – Koordinierung von Projekten aktiver Gruppen, Initiativen und Organisationen; – Beratung und Unterstützung für aktivistische Vereinigungen zur Gewährleistung ihrer Sicherheit; – Einbeziehung von und Austausch mit aktiven Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamten; – Neutralisierung von Bedrohungen gegen die Unabhängigkeit von Belarus.
Sein Budget legt BYPOL nicht offen. Den Kauf von Technik für die Arbeit am Projekt haben im Ausland lebende Belarussen und der Solidaritätsfonds Bysol finanziell unterstützt. Vertreter der Initiative, die öffentlich über ihre Tätigkeit berichten, haben um politisches Asyl ersucht.
Warum kündigen Beamte ihren Dienst, und gibt es viele solcher Fälle?
Der Höhepunkt der Kündigungen sei Sommer/Herbst 2020 gewesen, aber das bedeute nicht, dass der Prozess zum Stillstand gekommen sei, heißt es bei BYPOL.
„Die Unterbesetzung, die im Innenministerium jetzt rund zehn Prozent beträgt, ist längst nicht mehr auszugleichen“, schätzen BYPOL-Vertreter die Lage ein. „Die verbleibenden Mitarbeiter sind einer extremen Belastung ausgesetzt. Zu Spezialeinheiten wie der OMON werden Grundwehrdienstleistende angeworben, die gerade erst die Schule und eineinhalb Jahre Armee hinter sich haben – und dann sollen sie gleich in einer Eliteeinheit kämpfen. In letzter Zeit machen Silowiki, die ihren Dienst quittieren, das nicht öffentlich, weil jetzt eine öffentliche Kündigung aus den Spezialeinheiten garantiert zu einer Verfolgung führt. Der Gründer von BYPOL, Andrej Ostapowitsch, musste nach Russland fliehen, wo er vom FSB festgenommen wurde. Andrej gelang die Flucht in den Wald, wo er sich vor seinen Verfolgern verstecken und anschließend nach Polen absetzen konnte. Auch nach den restlichen öffentlichen Vertretern von BYPOL wird derzeit gefahndet. Aus dem geleakten Gespräch über Roman Bondarenko geht hervor, dass Roman seinen Dienst in der Militäreinheit 3214 erwähnt hatte (eine Spezialeinheit der Truppen des Innenministeriums – Anm. tut.by), bevor er in dem Kleinbus verprügelt wurde.“
Ein weiteres Beispiel ist der Fall des ehemaligen Polizisten Dimitri Kulakowski, der wegen Beleidigung eines ihm unbekannten Polizeibediensteten zu zwei Jahren „Chemie“, einer Art Hausarrest mit Arbeitsauflagen, verurteilt wurde. Während seiner Verwaltungsstrafe im Untersuchungsgefängnis Okrestina war er unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt und schluckte aus Protest Gegenstände aus Metall. Vor Gericht sagte Kulakowski:
„Ich glaube, das Strafverfahren gegen mich wurde fingiert, weil ich aus Überzeugung meinen Job im Innenministerium gekündigt habe. Bis zum 18. August 2020 war ich Chef der kriminalpolizeilichen Abteilung des Bezirks Sawodksi. Nach den Geschehnissen im August war mir klar, dass ich aus moralischen Gründen nicht weiterarbeiten kann. Ich brachte meine Haltung offen zum Ausdruck, im September habe ich ein Foto gepostet (von einer Polizeiuniform vor einer Müllkippe – Anm. tut.by). Ich nehme an, dass Mitarbeiter des internen Sicherheitsdienstes mir eine Lektion erteilen und die verbleibenden Kollegen abschrecken wollten, dass ihnen im Fall einer Kündigung dasselbe passieren würde – so kam es zu meinem Verfahren. Ich war 27 Tage eingesperrt (in Untersuchungshaft – Anm. tut.by), sie forderten ein Geständnis von mir, dass ich versucht hätte, Informationen über Polizeibeamte zu verkaufen, ich verweigerte. Die Haftbedingungen waren unmenschlich, 25 Tage Kerker ohne Medikamente und medizinische Versorgung.“
Wie verifiziert BYPOL Informationen über Gesetzesverstöße der Silowiki?
Die Vertreter der Initiative sagen, dass sie die Informationsquellen nicht offenlegen, da damit oft eine Gefährdung der Sicherheit jener Personen einhergeht, die das Material zur Verfügung gestellt haben.
„Gleichzeitig ist uns unser Ruf sehr wichtig, daher legen wir großen Wert auf Faktencheck. Das Einheitliche Verbrechensregister ist ein effektives Mittel. Anhand der Rückmeldungen bewerten wir das Projekt positiv, es verdient das Vertrauen aktiver Sicherheitskräfte. Interessanterweise fragen viele aktive Polizeibeamte bei uns nach, ob sie auch nicht im nächsten Update des Einheitlichen Verbrechensregisters erscheinen.“
BYPOL ist nicht für die totale Auflösung der Sicherheitskräfte, sondern vertritt die Meinung, dass nur jene Vollzugsbeamte entlassen werden sollen, die Straftaten begangen haben. Die bestehenden Offiziersversammlungen sollen von Gewerkschaften abgelöst werden, die tatsächlich die Rechte der Mitarbeiter vertreten.
„Die Dokumentation der Verbrechen und die Identifikation der Täter haben einen enormen Einfluss auf die Stimmung innerhalb des Systems“, meint BYPOL. „Wobei man dazusagen muss, dass allein die Dokumentation der Verbrechen noch keine Wunderpille ist und nicht zu Veränderungen führt. Erst zusammen mit unseren anderen Aktivitäten und dem Engagement der Zivilgesellschaft führt sie zum gewünschten Ergebnis.“
Was war das Aufsehenerregendste, was BYPOL aufgedeckt hat? Und wie hat das Innenministerium darauf reagiert?
BYPOL wird nicht nur von einfachen, sondern auch hochrangigen Mitarbeitern der Strafvollzugsorgane kontaktiert. So ist die Initiative an die Aufzeichnung eines Gesprächs gekommen, in dem ein Mann mit einer Stimme wie der Ex-Innenminister Juri Karajew über Sergej Tichanowski sagt, dieser sei „gefährlicher als alle diese Babarikos“ und man müsse ihn „für lange Zeit wegsperren“. Allerdings wird in der Aufzeichnung der Name Tichanowski nicht genannt. Formulierungen, dass „er, dieser Lump, in Russland viel Schlimmeres gesehen hat“ (bekanntlich arbeitete Tichanowski in Russland) und dann „zurückkam und anfing: Wir bringen diese Macht ins Wanken“, lassen darauf schließen, dass die Rede von Tichanowski ist.
In einer weiteren bedeutsamen Aufnahme, die von BYPOL veröffentlicht wurde, sagt eine Stimme, die wie der heutige stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow klingt (damals Chef der Abteilung für die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption), dass Alexander Taraikowski durch ein Gummigeschoss gestorben sei, das ihm „in die Brust flog“ (ursprünglich hatte das MWD erklärt, Taraikowski sei durch die Explosion eines selbstgebauten Sprengsatzes ums Leben gekommen, den er in den Händen gehalten habe). In der Aufnahme geht es auch darum, dass die belarussischen Silowiki mit russischen Jarygina-Pistolen ausgestattet worden seien und wie man mit Protestierenden umgehen solle. Es wird betont, dass „das Staatsoberhaupt uns beim Einsatz von Waffen von allen Seiten deckt“.
„Wie der Präsident gesagt hat: Wenn einer auf euch zurennt, wenn einer euch angeht, greift zur Waffe, also, zu einer nichtletalen. Und dann aus nächster Nähe: in die Beine, in den Bauch, in die Eier. Damit ihm, wenn er wieder zu sich kommt, klar ist, was er angerichtet hat. Tut ihm einfach irgendwas an, macht ihn zum Krüppel, verstümmelt ihn, bringt ihn um. Zielt ihm direkt auf die Stirn, direkt ins Gesicht, mitten rein, dass er nie mehr wieder so wird wie vorher. Kann auch sein, dass er wiederbelebt wird, auch gut. Es fehlt ihm halt dann das halbe Hirn, na, geschieht ihm schon recht. Weil im Grunde alle, die jetzt auf die Straßen gehen und sich an diesem Schienenkrieg beteiligen, weil die, die die Fahrbahnen blockieren, Polizisten angreifen, Molotow-Cocktails werfen – weil das Terroristen sind. Solche brauchen wir nicht in unserem Land.“
In derselben Aufnahme erklingt auch die Idee von den Lagern:
„Ein Lager, also, keines für Kriegsgefangene, auch kein Internierungslager, sondern ein Lager für besondere Aufrührer, zur Aussonderung. Und dann ein Stacheldraht rundherum. In zwei Bereiche teilen: eine Etage für die Heizkammer, eine Etage für die Speisung, und dass sie arbeiten. Dort sollten sie eingesperrt werden, bis sich alles beruhigt hat.“ Eine unabhängige phonoskopische Expertise hat übrigens bestätigt, dass die Stimme in der Aufnahme tatsächlich Nikolaj Karpenkow gehört, einen Kommentar von ihm persönlich bekam tut.by nicht.
Außerdem hat BYPOL eigene Recherchen zu Roman Bondarenkos Tod veröffentlicht. Da sind die Namen der Beteiligten an der Schlägerei am Platz des Wandels angeführt und was die Beamten der Polizeidienststelle Zentralny, auf die Roman gebracht wurde, dem Rettungsdienst mitteilten und auch, dass Bondarenko nicht alkoholisiert war.
Die häufigste Reaktion des Innenministeriums auf Informationen von BYPOL ist, dass es sie als Fälschungen abtut. Nur in einem Fall hat die Polizei Untersuchungen angekündigt – zu einem Video aus der Polizeidienststelle des Bezirks Frunsenski, wo am 12. August 2020 bei Protesten Festgenommene verprügelt wurden. Einige der Festgenommenen haben sich selbst wiedererkannt. „Zu dieser Videoaufzeichnung, wo Beamte der Bezirkspolizei Frunsenski die Häftlinge nicht sehr gut behandeln, wird eine Untersuchung durchgeführt“, sagte der erste Stellvertreter des Innenministers, Juri Nasarenko. „Die Anordnung des Ministers ist erfolgt. Je nach Ergebnis der Untersuchungen werden entsprechende Schlüsse gezogen.“ Seitdem sind mehr als zwei Monate vergangen, über die Ergebnisse der Untersuchung ist nichts bekannt.
Was halten Sie von der Idee „Russland den Russen“? Auf diese Frage des Lewada-Zentrumsantwortet im August 2020 mehr als die Hälfte der Befragten positiv: Sie halten das für richtig (19 Prozent) oder schränken leicht ein „es wäre nicht schlecht, das umzusetzen, aber im angemessenen Rahmen“ (32 Prozent). Knapp ein Drittel der Befragten dagegen lehnt die Aussage ab. Danach gefragt, wie eng sie sich das persönliche Verhältnis zu Zentralasiaten (gemeint sind auch die sogenannten Gastarbaitery) vorstellen könnten, antworten nur vier Prozent, dass Zentralasiaten als Mitglieder der eigenen Familie für sie denkbar seien. Die Mehrheit findet, man sollte sie gar nicht oder nur zeitlich begrenzt nach Russland lassen.
Auch wenn zahlreiche rechtsextreme Organisationen und Publikationen in Russland inzwischen verboten sind: Wie schmal ist der Grat zwischen einer weit verbreiteten Fremdenfeindlichkeit und rechtsextremer Gewalt? Das Online-Medium Batenka fordert seine Leser regelmäßig auf, eigene Geschichten zu erzählen: ungewöhnliche, traurige oder lustige. In Wie ich zum Nazi wurde gibt ein junger Russe den Batenka-Journalisten Anastasia Sadowskaja und Konstantin Waljakin zu Protokoll, wie er als Jugendlicher zum Skinhead wurde – und schließlich aus der rechtsextremen Szene wieder herausfand.
Der Text hat uns übrigens auf sprachliche Unterschiede im Russischen und Deutschen aufmerksam gemacht, die man beim Lesen wissen muss: „Faschisten“, faschisty, das sind im Russischen die deutschen Nationalsozialisten. „Nazis“, nazisty, dagegen sind nicht unbedingt deutsch, sondern das, was man im Deutschen mitunter als „Faschos“ oder „Rechtsextreme“ bezeichnet.
Als Kind hörte ich die Geschichten der Erwachsenen über den Krieg und die bösen Faschisten, aber vom Respekt vor anderen Nationen hat mir ehrlich gesagt nie jemand was erzählt. Man hat mir nicht beigebracht, dass alle Menschen gleich sind. Im Gegenteil, im Fernsehen sah ich von klein auf Reportagen über Terroranschläge kaukasischer Rebellen, und dann lief der Comedian Sadornow: Zuerst riss er Witze über die dummen Amerikaner, dann fing er von der Bühne herunter davon an, dass die Protorussen – slawische Arier – alle europäischen Länder gegründet hätten.
Mein Vater war beim Militär und hatte immer ziemlich rechte Ansichten. Nein, er ist kein Hitler-Verehrer und schmiert sich nicht mit Hakenkreuzen voll, aber er glaubt an die Einzigartigkeit der russischen Nation. Er hat in Tschetschenien gekämpft und dann noch irgendwo und war fast nie zu Hause, als ich klein war. Mich hat meine herzensgute und gebildete Mutter aufgezogen.
Meine Familie lebte in einem Moskauer Stadtteil mit vielen Armeniern und Aserbaidshanern. Und in der Nähe gab es tatsächlich vier Wohnheime für Vietnamesen. Von klein auf assoziierte ich sie mit Betrügereien und Dreck. Die nichtrussischen Kinder im Hof waren unverschämt, es gab immer wieder Konflikte. Ich erinnere mich, wie mich ein aserbaidshanischer Junge von der Schaukel schubsen wollte, und ich hab ihm eine reingehauen. Meine Großmutter, die bei mir war, hat mich damals sogar gelobt: Ich könne für mich einstehen.
Wenn man sich vorstellt, dass rechte Anschauungen ein Haus sind, dann ist die ganz alltägliche Fremdenfeindlichkeit sein Fundament. Wenn mein Alter von seinen Einsätzen nach Hause kam, dachte ich mir, es gibt auf der Welt keinen cooleren Menschen. Jedes seiner Worte war für mich eine Offenbarung. Als ich größer war, redeten wir oft über Politik. Manchmal kam ich in die Küche und blieb stundenlang dort und hörte mir an, was in unserem Land früher passiert war. Er erzählte mir, dass die Ukrainer und die Balten „Verräter“ seien und erklärte, wie wichtig es sei, stark zu sein und sein Volk und seine Heimat zu lieben. Oft lobte er Putin – dafür, dass er „es erlaubt hatte, nach Tschetschenien zurückzukehren und das Begonnene zu Ende zu bringen“.
Mein Vater erzählte mir, dass die Ukrainer und die Balten ‚Verräter‘ seien und erklärte, wie wichtig es sei, sein Volk und seine Heimat zu lieben
Mein Vater ist kein dummer Mensch. Im Gegenteil. Er ist immerhin Oberstleutnant und hat in Spezialeinheiten gedient und in Hotspots gekämpft, ohne Köpfchen hätte er das nicht überlebt. Er ist einfach in der sowjetischen Einöde aufgewachsen, unter kriminellen Halbstarken, und ist daran gewöhnt, alles mit Gewalt zu lösen.
Bis zur sechsten Klasse war ich ein lieber, aber schüchterner, verschlossener Junge. Ich habe Sport gemacht – Schwimmen und Boxen. In der Schule hatte ich nur Einsen. Habe Klavier gespielt. Doch dann kam ich auf eine neue Schule und kam mit niemandem mehr klar. Ich kam mit Gleichaltrigen überhaupt nicht zurecht, fühlte mich unsicher und wurde schnell zum Außenseiter. Bald entstanden Hass und Neid. Ich wollte, dass die anderen mich mochten, dass sie mich beachteten, besonders die Mädchen. Doch niemand wollte mich.
Mit 16 habe ich zum ersten Mal von Extremisten gehört. In Russland hatte es damals gerade Proteste am Manegenplatz gegeben. Die Bewegung war im Aufschwung. Nazis, Skinheads, Hooligans gab es haufenweise. „Russische Märsche“ fanden statt, regelmäßig auch Massenschlägereien, und die Nachrichten meldeten nationalistisch motivierte Morde.
Ich war ein Teenager, Gewalt und Aufstand fand ich total geil. Solche Sachen imponieren, vor allem, wenn du beleidigt und aggressiv bist. Aber es war auch einfach ganz normaler Protest. Der Nazi ist der Gesellschaft schlimmster Feind. Wenn man in die Suchmaschine „Tätowierungen Häftlinge“ eingibt, findet man viele Tattoos mit Hakenkreuzen. Und das nicht, weil im Knast die Naziideologie beliebt wäre. Das Hakenkreuz ist ein Attribut des Protests gegen das System.
Ich war einsam, wütend und voller Komplexe. Ich wollte was Besonderes sein, wie die durchtrainierten Schönlinge, die von allen gemocht wurden. Und ich glaubte, meine Probleme kämen davon, dass ich zu lieb war. Die tragende Säule für ein Haus aus Hass ist jugendliche Einsamkeit. Na, und die Schweißnähte an den Trägern sind die Komplexe.
Das Hakenkreuz ist ein Attribut des Protests gegen das System
Irgendwann ließ ich den Gedanken zu, dass der Nazismus vielleicht gar nicht so böse ist, wie ihn die Erwachsenen immer darstellen.
Zuerst brachte ich nur symbolische Unterstützung zum Ausdruck: Ich zeichnete Hakenkreuze, hörte Nazimusik. Doch bald schon stand ich erstmals richtig dafür ein: Ich befestigte an der Armbinde des Pausenaufsehers ein rundes Stück Papier mit aufgemaltem Hakenkreuz. Dann ging ich zusammen mit einem Freund in der Schule herum, und wir machten den Hitlergruß – das fanden wir lustig. Aber bald erwischte uns eine Lehrerin, und ich bekam bei der Kinder- und Jugendstelle der Polizei einen Eintrag – wegen Rowdytums.
Nach der Geschichte mit der Polizei flog ich von der angesehenen Schule im Zentrum von Moskau und kam in eine einfachere Schule, wo ich das Lernen komplett sein ließ. Ich ließ mir die Haare schneiden wie bei der Hitlerjugend und marschierte in Springerstiefeln, schwarzem Hemd und Hosenträgern durch die Korridore. Mehr und mehr faszinierte mich die Idee eines Rassenkrieges, davon erzählte ich in den Pausen ständig, und im Biologieunterricht hielt ich sogar mal ein Referat darüber, warum Mulatten schlechter seien als Reinrassige. Der Lehrer gab mir eine Eins, besser wäre gewesen, er hätte mich damals schon der Polizei ausgeliefert.
Zu Hause war meine Mutter entsetzt über meine Anschauungen, sie schimpfte mit mir, konnte aber nichts tun. Mein Alter hingegen nahm das alles mit Wohlwollen auf, sagte, ich trete in seine Fußstapfen. Manchmal motzte er halt über die Hakenkreuze, wiederholte, ich bräuchte andere, russische Symbole: „Das Dritte Reich – das waren Schlappschwänze“, und „die Russen sind stärker als alle anderen“. Einmal hat sich die Geschichtslehrerin beim Elternsprechtag zu beschweren versucht, dass er einen Faschisten aufziehe. Er hörte ihr zu und sagte ruhig: „Keinen Faschisten, einen Nazi. Eine Geschichtslehrerin sollte den Unterschied kennen.“
Im Biologieunterricht hielt ich mal ein Referat darüber, warum Mulatten schlechter seien als Reinrassige. Der Lehrer gab mir eine Eins
Auch unter meinen Altersgenossen wurden rechte Ideen immer beliebter. Die einen prügelten sich bei Fußballkrawallen, die anderen fanden sonstwo Anlässe, Stunk zu machen.
Meine Mitschüler begannen mich zu beachten, ich hatte jetzt Freunde. Einer trug so wie ich schwarze Hemden, wir kauften uns gemeinsam Anstecker mit Keltenkreuzen. Ich fühlte mich selbstsicherer, doch das mit den Mädchen brachte ich nach wie vor nicht auf die Reihe. Da lief irgendwie nichts, und das belastete mich sehr. Mit der Zeit begann ich zu glauben, dass mit mir etwas nicht stimmt. Einmal ertappte ich mich in der Garderobe des Schwimmbads dabei, dass ich meinen Blick nicht losreißen konnte von den nackten Jungs, wobei es mich weiterhin zu Mädchen hinzog. Ich setzte mich mit dem Thema auseinander und merkte, dass ich bisexuell bin, fand das aber alles falsch, nur konnte ich nichts dagegen tun.
Homosexualität war nirgendwo akzeptiert. Mein eigener Vater sagte, Schwule gehörten umgebracht. Ich las Naziliteratur, in der beschrieben wurde, wie die Nazis Schwule in Konzentrationslager gesteckt hatten. Mit doppeltem Eifer und doppelter Wut stürzte ich mich darauf, diesen ganzen Kram durchzuarbeiten, um in mir selbst zu vernichten, was nicht richtig war.
Ich merkte, dass ich bisexuell bin, fand das aber alles falsch
Gegen Ende der Schulzeit begann ich mit einem Kumpel die Planung einer eigenen Nazi-Organisation. Wir wollten eine auf Propaganda und direkte Aktionen spezialisierte Zelle gründen. Alle Skins verprügelten damals Nichtrussen, zur Abschreckung. Die Logik ist einfach: Angst hindert einen daran, sich zu Hause zu fühlen. Wir fanden das richtig so. Schlussendlich wären sie alle eingeschüchtert und würden abhauen, dachten wir, während wir uns nach der Schule auf der Straße herumtrieben. Wir waren eine ganz normale Gang, ein Trüppchen angefressener Halbstarker, die ein bisschen gemein waren und über die Großtaten in der Zukunft schwadronierten. Und dann begegneten wir echten Skinheads.
Wir trafen sie auf einem Platz, wo Freaks aller Art rumhingen. Ich weiß noch, wie sie näherkamen und auf mich aufmerksam wurden. Ich hatte mir an dem Tag eine Glatze rasiert. Ich trug eine Bomberjacke, Springerstiefel und ein Shirt mit dem Reichsadler. Sie taxierten mich, ich durfte mitkommen. Alle hatten eine Glatze, Bomberjacken, Doc Martens. Sehr cool, wie aus dem Bilderbuch.
Wir machten uns auf den Weg rund um den Platz – hielten Ausschau nach Nichtrussen oder Antifaschisten. Fanden auch welche. Wir fielen mitten auf der Straße im Rudel über sie her, vermöbelten einen Tadshiken und besprühten ihn mit Pfefferspray. Ich fühlte mich damals einfach unendlich stark. Die Skinheads luden mich ein, mit ihnen abzuhängen. Da waren auch Mädchen dabei. An diesem Tag war ich glücklich. Endlich hatte ich das Gefühl, dass ich gefunden hatte, was ich suchte.
Unsere Freundschaft währte nicht lange. Ein paar Wochen später brachte einer von ihnen einen Kirgisen um. Er wurde eingesperrt, und die Behörden knöpften sich unsere Gang vor. Wir alle tauchten ab und hielten die Füße still. Ich war wieder allein, aber jetzt wusste ich, was ich wollte, und begann, im Internet nach Skinheads zu suchen.
Wir vermöbelten einen Tadshiken und besprühten ihn mit Pfefferspray. Ich fühlte mich damals einfach unendlich stark
Ein paar Monate später kam einer meiner rechten Kumpel von der Armee zurück – ein Gopnik, der nach Begriffen lebte. Er trat unserer winzigen Organisation bei, und wir begannen, weitere Mitglieder anzuwerben. Wochenlang lernten wir ständig neue Leute kennen, tauschten uns aus, tüftelten daran herum, wie die Organisation funktionieren sollte, und schmiedeten Pläne. Es hatte sich schon ein ganzer Haufen Schüler und Freaks gefunden, die mitmachen wollten.
Ich war zu der Zeit mit der Schule fertig und ging zur Berufsschule. Studieren wollte ich nicht. Von klein auf hatte ich daran gedacht, Regisseur zu werden oder Drehbuchautor, aber für die Filmhochschule hatten meine Eltern kein Geld, und mein Schulabschluss war nicht so berauschend ausgefallen. Ich sah keine Perspektive, schwänzte den Unterricht und konzentrierte mich auf die Nazibewegung. Da taten sich auch Wege auf. Ich hatte für die Zukunft drei Szenarien im Kopf: Ich komme in den Knast, ich werde umgebracht oder es bricht endlich der Rassenkrieg aus. Das Gefängnis schreckte mich nicht ab: Bei Ultrarechten tragen Knastis den Ehrentitel Gesinnungshäftlinge und werden als Helden gefeiert. Für sie legen alle zusammen und schicken ihnen Päckchen ins Gefängnis. So ein Häftling zu sein, verschafft einem in der Szene ordentlich Ansehen. Deswegen wünschten sich viele ein solches Schicksal, und ich habe mir oft ausgemalt, wie ich mich verhalten würde, wenn mich das Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt.
Ich hatte für die Zukunft drei Szenarien im Kopf: Ich komme in den Knast, ich werde umgebracht oder es bricht endlich der Rassenkrieg aus
Unsere Gang wuchs, wir bekamen immer mehr Mitglieder. Manchmal gingen wir „angeln“, wie wir das nannten. Wir suchten auf den Straßen Nichtrussen und attackierten sie. Uns schlossen sich Leute an, die ich vom Sehen schon lange kannte. Auch Skinheads aus den Vorstädten trafen wir damals. Das waren knallharte Typen. Die kauften sich Schraubenzieher und Hammer und machten sich allen Ernstes ans Ermorden von Tadshiken.
Mit bestialischem Hass droschen sie auf Nichtrussen ein. Sprangen auf ihre Köpfe, stachen mit Schraubenziehern auf sie ein. Sie machten mir Angst, aber bis zu einem gewissen Grad beneidete ich sie auch: Sie waren gnadenlos in ihrem Kampf, und ich konnte das nicht. Mir taten die Menschen leid, die wir angriffen. Da hatte wohl die Erziehung gegriffen. Es war schwer, jemanden einfach niederzuschlagen. Mir reichte es schon, jemandem einen Fußtritt zu verpassen, dass er zu Boden fiel, und wegzulaufen. Schon in der Schule hatte ich gedacht, das sei meine Weichheit und Sentimentalität – alles Zeichen von Schwäche und Feigheit. Dass alle meine Probleme daher rührten, dass ich nicht hart sein kann. Und immer wieder versuchte ich, das aus mir rauszukriegen, und es stresste mich, dass ich es auch hier nicht schaffte, in letzter Konsequenz meiner Ideologie zu folgen.
Zu diesem Zeitpunkt war ich von meiner Rolle als Organisator der Gang auf eine zweitrangige Position herabgesunken. Mein Freund aus der Armee führte eine militärische Ordnung ein: mit Disziplin, Befehlen und absolutem Gehorsam. Er war kein Unmensch, griff selbst nur selten jemanden an, aber er machte Gruppentrainings mit uns, brachte uns Nahkampftechniken bei und leitete uns zum Kraftaufbau an. Wer es wagte, seine Befehle zu überhören, bekam ein paar Schläge von den Kameraden – zur Mahnung.
Ich dachte, dass alle meine Probleme daher rührten, dass ich nicht hart sein kann
Ich konnte mich an so etwas nicht gewöhnen und weigerte mich irgendwann, seinen Anweisungen zu folgen. Das war einmal meine Organisation gewesen, ich war der Meinung, wir wären auf Augenhöhe. Da passten mich ein paar Kameraden hinter den Garagen ab und hauten mir voll in den Magen. Da beschloss ich zu gehen. Und bald zerfiel und zerstreute sich auch der Rest der Gang.
Allein blieb ich nicht. Die harten Skins aus den Vorstädten, die in unsere vorherige Gang nie aufgenommen worden waren, wurden nun meine Freunde. Wir hatten eine eigene kleine Bande, sie machten Angriffe und Aktionen, während ich weiterhin Ideen sammelte und vorantrieb und den einen oder anderen prominenten Nazi kennenlernte.
Meine Überzeugung von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges geriet erstmals ins Wanken, als ich einen der wichtigsten russischen Nazis kennenlernte – Roman Shelesnow.
Suchel, wie er in der Bewegung genannt wurde, biederten sich alle an, aber mich stieß seine Persönlichkeit von Anfang an ab: sein dämlicher, watschelnder Gang, seine Großtuerei, der Riesenwind, den er um sein Messer machte. Ständig erzählte er Schauermärchen, wie er einen Tadshiken geköpft hatte, und dauernd prahlte er damit, dass er als Arbeitsloser mit Knastvergangenheit von Abgeordneten Geld kriegt. Shelesnow machte kein Hehl daraus, dass er und seine Freunde von Leuten aus Parlamentsparteien finanziert wurden. Genauso wie der ganze Rest der Bewegung – BORN, DPNI, die Slawische Union und andere Organisationen, die als extremistisch eingestuft und jetzt auf dem Gebiet der Russischen Föderation verboten sind.
All das stand in scharfem Kontrast zu dem, was auf seiner Website stand und was er seinen Anhängern öffentlich vermittelte. Ich konnte das Bild des flammenden Orators vom Russischen Marsch nicht mit diesem Prahlhans in schicken Klamotten von Thor Steinar und Stone Island zusammenbringen.
2013 war die Bewegung im Aufschwung. Täglich entstanden neue Organisationen. Ständig fanden rechte Veranstaltungen, Konzerte und Russische Märsche statt. Auf dem regimenahen Forum Seliger versammelten sich Mitglieder der Partei Anderes Russland, die eng mit der Naziszene verbunden ist. Sie posierten dort mit Flaggen der Volksrepublik Donezk – 2013 schon, ein Jahr vor der offiziellen Gründung von Noworossija. Während ich die Bewegung von innen betrachtete und analysierte, hinterfragte ich immer öfter, was wir da tun. Mir war es immer unangenehm gewesen, Leute zu verprügeln, aber ich glaubte daran, dass das notwendig sei für die Rassenhygiene. Ich glaubte daran, dass wir eine politische Kraft sind, dass wir die Welt verändern. Als ich Verdacht schöpfte, dass die Skinheads benutzt werden, zweifelte ich immer mehr am Sinn unseres „Angelns“. Bei allem, womit ich mich beschäftigte, drängten sich mir immer mehr Fragen auf. Tatsächlich waren die Skinheads – Verteidigung und Stütze der weißen Rasse – selbst nicht die besten Vorbilder.
Für mich waren die Nazis eine Hochburg der Sittlichkeit in einer fauligen Welt. Ich glaubte, sie würden für traditionelle Werte eintreten: Familie, Kinder und so was. Doch in der Nazibewegung gab es diesbezüglich viel Scheinheiligkeit.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich im Großen und Ganzen nur mehr aus Gewohnheit dabei war, vor allem wegen meiner Freunde. Wir hatten eine gute Zeit zusammen, schworen einander ewige Bruderschaft, feierten Feste, machten einander Geschenke. Wir nannten einander Familie: Wir begingen Verbrechen, spielten Videospiele, machten zusammen Kampftraining und fuhren gemeinsam in den Urlaub.
Ich glaubte aufrichtig, sie seien meine Freunde. Ich hatte immer Sehnsucht nach ihnen. Ich dachte, es gäbe keine besseren Menschen auf der Welt, doch eines Tages brach alles zusammen.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich im Großen und Ganzen nur noch aus Gewohnheit dabei war
Es heißt, es gibt zwei Dinge auf der Welt, die das Schlimmste sind, was passieren kann: Nicht zu kriegen, was man will, und zu kriegen, was man will.
Ich träumte von einer großen, schönen Liebe. Von einem Mädchen. Und sie trat in mein Leben. Sie war auch Nazi. Ich war 19, sie 24. Sie war Witwe und hatte ein Kind. Ich liebte sie von ganzem Herzen. Wir hatten leidenschaftlichen Sex, und ich dachte, wir würden eine richtige Familie. Ihr konnte ich alles erzählen. Ich vertraute ihr an, dass ich nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer stehe. Erstaunlicherweise nahm sie das gelassen zur Kenntnis und versprach mir, mein Geheimnis für sich zu behalten. Die Möglichkeit, mich nicht zu verstecken und ganz offen zu sein, stieg mir zu Kopf. Zum ersten Mal im Leben konnte ich mich jemandem anvertrauen und war richtig glücklich. Ich ging so aus mir heraus, dass ich ihr meinen Wunsch gestand, mit einem anderen Mann zu schlafen. Ich weiß auch nicht, wie es dazu kam. Ich war wie betrunken. Stellt euch mal vor: Das ganze Leben kriegt ihr zu hören, dass etwas schlecht ist, und ihr träumt immer davon, es auszuprobieren.
Sie sagte, sie würde sich freuen für mich, und so fasste ich den Entschluss. Ich fand einen Mann außerhalb der Szene, der mit mir schlafen wollte, und machte sogar ein paar Beweisfotos. Mannomann, die Fotos waren heiß. Dagegen kann man nichts sagen. Sie meinte, sie hätte nie etwas Erregenderes gesehen, und wir unterhielten uns noch endlos lang über mein und ihr Leben.
Nach gar nicht allzu langer Zeit war meine Liebe aus meinem Leben verschwunden. Wir hatten wegen irgendeinem Quatsch gestritten und den Kontakt abgebrochen, und von gemeinsamen Bekannten erfuhr ich, dass sie einen anderen hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich wieder meinen Nazisachen zu widmen, aber jetzt schon als ganz anderer Mensch.
Ich fühlte mich leer, hatte zu nichts Lust, wollte einfach alles hinschmeißen und alles überdenken, meine Gedanken ordnen. Mein Leben als Nazi machte mir keinen Spaß mehr, außerdem waren meine Eltern drauf und dran, sich scheiden zu lassen, und meine Mutter beschwerte sich über meinen Vater und jammerte, dass ich auch keine Zukunft haben würde. Ich bat sie, die Familie zu erhalten, meinen Vater nicht zu verlassen, ich liebte sie beide und versprach, mit meinem bisherigen Leben Schluss zu machen.
Mein Leben als Nazi machte mir keinen Spaß mehr
Ich sagte meinen Freunden, dass ich die Bewegung verlasse und fuhr zur Abschiedsfeier. An dem Tag hatte ich nichts Richtiges zum Anziehen gefunden. Ich hatte nur Skinhead-Klamotten. Ich hatte den Schrank durchwühlt und einen alten Mantel, Schuhe und eine dämliche Hose gefunden, die ich schon in der Schule getragen hatte. In dem Aufzug fuhr ich zum Treffpunkt, dachte darüber nach, dass es peinlich werden würde, aber wir sind Freunde und werden mit allem fertig. Ich wusste, dass sie mich verstehen würden. In erster Linie waren sie ja keine Nazis, sondern gute Menschen.
Wir trafen uns wie immer auf der Straße, eine große Schar, begrüßten einander mit Handschlag. Sie wollten in einen Hof gehen. Ich ging mit, und da fiel das ganze Rudel über mich her. Sie prügelten auf mich ein, traten mich, einer verdrehte mir die Arme auf dem Rücken, ein anderer wollte mir in mein Tattoo am Bein „Schwuchtel“ einritzen. Ich fiel in den Sand, wand mich und schrie vor Schmerz. Unter ihnen war auch dieses Mädchen. Sie hatte allen meine Fotos gezeigt, und jetzt versprachen mir meine „Freunde“, mir das Leben zur Hölle zu machen, es zu zerstören. Sie versprachen, dass diese Fotos alle meine Bekannten und Verwandten sehen würden. Und nannten mich natürlich Schwanzlutscher. Päderast. Untermensch.
Als ich nach Hause kam, lief mein Nachrichteneingang schon über vor Drohungen und Beleidigungen. Meine Nacktfotos mit dem Schwanz im Mund machten in allen Nazigangs der Stadt die Runde. Mein Nazi-Mitschüler schrieb mir, er würde mir die Eier abschneiden, wenn er mich das nächste Mal im Unterricht sieht. Einer fand sogar meine Festnetznummer raus und rief mich auch dort an.
Ich war geschockt und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich kann mich erinnern, dass ich sofort meine Seite löschte, den Computer ausschaltete, meine Wunden mit Panthenol bestrich und einfach die Decke über den Kopf zog. So lag ich mehrere Tage. Ich zitterte, ich konnte nichts tun. Mein Leben war zu Ende. Ich wartete nur mehr darauf, dass mein Vater alles erfährt und mich umbringt.
Meine ‚Freunde‘ versprachen, mir das Leben zur Hölle zu machen, es zu zerstören
Drei Wochen verbarg ich erfolgreich vor meinen Eltern, dass ich schwänzte. Auf der Straße zu sein war furchtbar. Ich hatte immer das Gefühl, verfolgt zu werden. Zu Hause war es noch immer still. Mama war die erste, der ich alles in allen Details erzählte. Sie war entsetzt, aber ließ sich eine Version für den Vater einfallen: Wir erzählten ihm, dass sie mich in Verruf bringen wollten, weil ich die Nazigang verlassen hatte. Deswegen hätten meine ehemaligen Freunde Fotos von mir genommen und mir einen Schwanz in den Mund gephotoshoppt. Mein Vater ist bei den Spezialeinheiten. Ich glaube nicht, dass er diesen Unsinn glaubte. Eher hat er alles ganz und gar durchschaut – aber wollte unsere Version einfach glauben.
Die Ausbildung habe ich abgebrochen. Mein Alter schimpfte mich einen Feigling und bestand darauf, dass ich zur Armee ging und endlich „ein richtiger Mann“ werde. Ich hatte nichts dagegen: Irgendwo musste ich schließlich anfangen. Nach der Grundausbildung wurde ich nach Armenien geschickt, auf die russische Militärbasis, wo mein Freund früher gedient hatte.
Als ich zurückkam, sann ich auf Rache, wollte sogar Ermittler werden, um sie alle einzusperren. Aber das Leben schaffte es auch ohne mein Zutun. Die einen kamen ins Gefängnis, andere in die Irrenanstalt, die dritten wurden im Donbass zu Dünger. Na ja, und alle anderen haben kein Leben mehr, sondern fristen ihr Dasein. Was auf dem Maidan geschah, hat die Nazibewegung in zwei feindliche Lager gespalten. Und im Donbass sind sie Stirn an Stirn aneinandergekracht, haben einander niedergemetzelt, der eine auf der einen, der andere auf der anderen Seite der Front. Wieder andere wurden im Zuge der Nazi-Razzien 2015 bis 2017 eingesperrt. Die Machthaber brauchten keine Nazis mehr und wollten sie schnell loswerden.
Einst hatte ich geglaubt, die Nazis seien eine riesige, starke Bewegung mit sehr vielen Anhängern. In Wirklichkeit sind sie eine Bande von Außenseitern. Zahlenmäßig schwach und machtlos. Eine Hetzjagd innerhalb so kleiner Gruppen, in denen sowieso nie mehr als 500 Leute sitzen, nehme ich nicht ernst und ist nicht das Ende meines Lebens. Allerdings habe ich nach diesem Mädchen nie wieder jemandem vertraut. Vertrauen fällt mir jetzt schwer, meine Vorsicht grenzt an Paranoia, und ich kann mich nicht mal wirklich nahen Menschen gegenüber öffnen. Aber im Großen und Ganzen ist das alles, was ich von jenem Leben mitgenommen habe. Sogar mein Tattoo habe ich überdeckt, jetzt ist über dem Symbol schwarze Farbe.
Ich bin durchaus ein glücklicher Mensch, habe Geld und Pläne für die Zukunft. Vor der Pandemie bin ich sogar durch Europa gereist. Ich hatte schon viele verschiedene Jobs. Ich war Ladearbeiter in einer Brotfabrik, Verkäufer beim Mobilfunkanbieter MTS, Werbetexter und Schweißer auf einer Baustelle. Jetzt schreibe ich Drehbücher. Meine politischen Ansichten sind, wie Krowostok singen: „Keine Freiheit für Feinde der Freiheit.“
Die frühe Zulassung des russischen Impfstoffs Sputnik V hatte im vergangenen Jahr wegen der Missachtung der üblichen Standards hohe Wellen geschlagen – nun prüft die Europäische Arzneimittelbehörde EMA, ob er nicht bald auch in Europa eingesetzt werden könnte. Eine wissenschaftliche Studie hatte eine Wirksamkeit von über 90 Prozent belegt. Ein solcher Erfolg auf wissenschaftlicher Ebene bringt die heftige Kritik an der Corona-Politik des russischen Staates, wie sie etwa Sergej Schelin in seinem Beitrag auf Rosbalt äußert, jedoch nicht zum Verstummen: Intransparenz, inkonsequente Maßnahmen und das In-Kauf-Nehmen vieler Todesopfer – eine Abrechnung.
Die offizielle Haltung Wladimir Putins und seiner Agitatoren zur Covid-19-Situation ist trotz aller Schwankungen vor allem eins: absolut selbstgefällig. Als die russischen Behörden vom Beginn der Pandemie erfuhren, konnten sie das Auftauchen des Coronavirus angeblich sofort bremsen, trafen gewissenhafte Vorkehrungen, schützten dann das Volk mit Social Distancing – und die Katastrophe war angeblich quasi besiegt. Und jetzt, wo sie doch wieder da ist, wehren sie mit sicherer Hand ihren neuerlichen Angriff ab. Von Anfang an und bis zum heutigen Tag läuft in Russland alles besser als „bei unseren Partnern“.
In diesen schönen Worten steckt kein Körnchen Wahrheit.
Ende 2020 gehört Russland zu den am schlimmsten betroffenen Ländern der Welt, abgesehen von ein paar lateinamerikanischen Staaten, in denen die Zahl der Todesopfer [je Tausend Einwohner – dek] aufgrund der Pandemie noch höher ist.
Die offizielle Statistik der Covid-Opfer ist fast überall unzuverlässig. Daher ist ihr realer Messwert die sogenannte Übersterblichkeit. Für Russland, wo die Sterberate bis zum ersten Quartal 2020 stetig zurückging, ist dieser Messwert als Anstieg der allgemeinen Sterblichkeit von April bis Dezember 2020 im Vergleich zu demselben Zeitraum 2019 definiert.
„Die Übersterblichkeit zeigt das wahre Ausmaß der Covid-Pandemie in Russland“ Quelle
Rosstat gibt die Berichte mit extremer Verzögerung heraus, vor allem jetzt. Daher kann die Übersterblichkeit in den neun Covid-Monaten 2020 vorerst nur näherungsweise angegeben werden. Nach Einschätzung des Demografen Alexej Rakscha beträgt sie rund 300.000. Den fragmentarischen Daten nach, die uns trotz der Hindernisse aus den Regionen erreichen, sind fast alle Fälle von Übersterblichkeit auf Covid zurückzuführen.
Pandemie und Politik
Wie sieht das im Vergleich zu anderen Ländern aus? Schlecht, beziehungsweise sehr schlecht. Auf 1000 Einwohner ist die Übersterblichkeit in Russland 2020 doppelt so hoch wie in den besonders stark betroffenen USA; zweieinhalbmal so hoch wie in Schweden, das sich eine Zeit lang seiner Verharmlosung der Infektion rühmte; siebenmal höher als in Deutschland (für alle diese Länder sind das ebenfalls nur ungefähre Schätzungen).
300.000 Tote bedeuten, dass im Zeitraum von April bis Dezember 2020 die Sterblichkeit in Russland im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf das 1,23-Fache gestiegen ist. Und im November, mit 75.000 bis 80.000 zusätzlichen Todesfällen der schlimmste dieser Monate, auf das 1,55-Fache. Das sind die Durchschnittswerte. In manchen Gegenden des Landes ist es wesentlich ärger.
Abgesehen davon ist die Pandemie noch lange nicht vorbei. Bezeichnet man ihre Bekämpfung durch unseren Staat als unzureichend, so nennt man einfach eine offensichtliche Tatsache beim Namen. Diese Misere besteht aus mehreren Punkten:
1. Selbstbetrug auf allen Ebenen
Um eine Pandemie zu bekämpfen, muss man zumindest wissen, was passiert. Doch die Chefetage hat bis heute nicht wirklich den Dreh raus, wie man Daten sammelt, nicht einmal für sich selbst.
Die täglichen Berichte des Rospotrebnadsor mit den Zahlen der Neuinfektionen haben mit der Wirklichkeit meistens überhaupt nichts zu tun. Und die von derselben Behörde auf der Website стопкоронавирус.рфveröffentlichte Sterbestatistik [derzeitiger Stand: rund 77.000 – dek] tut nicht mal so, als wäre sie vertrauenswürdig. So berichtet Rosstat mit mehrmonatiger Verspätung von einer doppelt so hohen Zahl jener, die an oder mit Covid gestorben sind. Doch auch diesen Informationen sollte man nicht mehr Glauben schenken als sonstigen Berichten von Rosstat über Todesursachen in Russland, die seit 2012 an die Vorgaben der Mai-Dekrete angepasst werden.
Was die Führungsebene angeht, so bezieht sie ihre Informationen aus einem der Öffentlichkeit unzugänglichen, speziell an sie adressierten Monitoring des Gesundheitsministeriums. Diese Zahlen übersteigen die des Rospotrebnadsor um ein Vielfaches, bleiben dabei aber eindeutig unvollständig: Es sind nämlich nur die Zahlen der nach stationärer Behandlung Verstorbenen erfasst, die aus den Regionen gemeldet werden, die diese Zahlen zum Teil bewusst fälschen.
Innerhalb der Machtvertikale belügt man sich gegenseitig nicht weniger als man die Untergebenen belügt. Über verlässliche Daten verfügt niemand, nicht einmal der Führer.
2. Das Versagen des Polizeistaatеs
Unser Regime kokettiert damit, dass es angeblich alle Bereiche des Lebens durchdringt und hundertprozentige Kontrolle über die Staatsbürger ausübt.
In der Politik ist das möglicherweise gar nicht so frei erfunden, obwohl es auch da in letzter Zeit ständig Fehler gibt. Aber als es darum ging, Coronainfizierte und ihre Kontaktpersonen ausfindig zu machen, zu isolieren und ihre Aufenthaltsorte zu tracken, da erlitten die Bespitzelungsverfahren des Regimes sofort Schiffbruch – und das im März, als die Behörden angeblich so gut auf die Abwehr der Pandemie vorbereitet waren.
Und versucht haben sie es ja. Nur leider erfolglos. Das, was irgendwo in Taiwan wie am Schnürchen läuft, überfordert den russischen Polizeistaat mit seiner millionenschweren Überwachungsmaschinerie offenbar …
3. Die Selbstenthebung des Führers
Fast die gesamte Anti-Covid-Aktivität von Wladimir Putin fand im Frühling statt. Von Ende März bis Mitte Mai hat er sogar ein paarmal in den sauren Apfel gebissen – und sich durchgerungen, kurze Reden an die Nation zu halten.
Dann wurde verkündet, die Krankheit sei besiegt, und diese These ist bis heute in Kraft.
Als die Herbstwelle der Pandemie begann, die viel heftiger war als die im Frühjahr, hatte sich Putin schon eine andere Rolle ausgesucht: Die Verantwortung wurde entgegen aller unserem System zugrundeliegenden Prinzipien auf Regionalverwaltungsleiter, medizinische Bürokraten und Gesundheitsbehörden abgeschoben.
Gelegentlich sah das Publikum auf den Bildschirmen, wie der Führer diensteifrigen Berichten lauscht und seinen Untergebenen weise Ratschläge gibt, ihren Vortragsstil verbessert, ohne auch nur für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen oder Fehler zuzugeben. Sogar ein so wirksames PR-Instrument wie die Bestrafung, wenn sich jemand etwas hatte zu Schulden kommen lassen, wurde sehr selektiv und höchstens auf Ebene regionaler Gesundheitsbehörden angewandt.
Der Mobilisierungsgrad der Behörden war daher viel niedriger, als möglich gewesen wäre. Ganz zu schweigen von verwirrenden Signalen an die Bürokratie, die darauf hindeuten, dass das Staatsoberhaupt in die Angelegenheiten rund um die Pandemie kaum involviert ist: So mussten sich die Sankt Petersburger Beamten, die versuchten, den Tourismus zum Jahreswechsel einzudämmen, Appelle des Führers an die Russen anhören, öfter mal nach Sankt Petersburg zu fahren. Und die Normalbürger, die zum Tragen von Masken verdonnert werden, sehen, dass ihr Führer immer ohne herumläuft.
4. Das Rätsel des Frühlings-Lockdowns
Aus heutiger Sicht scheinen die „arbeitsfreien Tage“ (so etwas Ähnliches wie ein Lockdown), die bei uns im Frühling eineinhalb Monate lang galten, irgendwie unlogisch. Für unsere Führung stehen seit Urzeiten wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks.
Möglicherweise waren da einfach ein paar Zufälle zusammengekommen – Putins Besuch in einem Covid-Krankenhaus (bis heute der einzige), die Erkrankung von einigen seiner Untergebenen und Bekannten, das Vorbild europäischer Länder und die damalige allgemeine Atmosphäre von Ratlosigkeit, die in Panik umschlug.
Jedenfalls bekamen die durch den Arbeitsstopp Geschädigten um ein Vielfaches weniger finanzielle Unterstützung, als sie hätten kriegen können. Fast alle Verluste wurden dem Volk aufgebürdet. Die strenge Einhaltung dieses Prinzips machte es unmöglich, Betriebe abermals flächendeckend stillzulegen – weder Personal noch Besitzer könnten es sich leisten, ein weiteres Mal auf ihre Einnahmen zu verzichten.
5. Das Paradox des ausgebliebenen Lockdowns im Herbst
Die zweite Covid-Welle erwies sich als tödlicher als die erste. Während die (anhand der Übersterblichkeit bestimmte) Zahl der Todesopfer im Frühling und in der ersten Sommerhälfte rund 70.000 betrug, waren es von September bis Dezember rund 220.000.
Ein Lockdown ist, auch wenn regional beschränkt, eine Holzhammermethode, die wahllos verschiedene Interessen trifft. Doch die Praxis europäischer Länder zeigte, dass man auf diese Art Infektionsausbrüche in den Griff bekommen kann. Auch in Russland gab es inzwischen weitaus mehr Gründe für die teilweise Schließung von Unternehmen und Betrieben als im Frühling.
Allerdings wurde bis mindestens Mitte November fast gar nichts unternommen. Abgesehen von ein paar formalen Gesten, die kaum jemand ernstnahm.
Für unsere Führung stehen wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks
Die Covid-Leugner, die im Nachhinein das „schwedische Modell“ bejubeln, vergessen seltsamerweise, auch vom Vorgehen unseres Regimes begeistert zu sein. Die Hälfte des Herbstes ging es nämlich durchaus „schwedisch“ vor, und die Signale, die es an seine Untertanen sandte, erweckten den Eindruck, dass bei uns lauter Covid-Dissidenten an der Macht sind.
In Russland überlagerten sich die Passivität und Gier der oberen Etagen mit der Misswirtschaft der unteren, und das aus der Not entstandene „schwedische“ Szenario hatte bei uns weitaus fatalere Folgen. Die waren so offensichtlich, dass im Spätherbst ein Teil der russischen Regionen doch noch wirkliche Einschränkungen beschloss – in der Regel schlecht durchdachte Maßnahmen, die vor allem Branchen ohne starke Lobby schwer trafen und die eigenen Leute verschonten. Zudem wurde das irrwitzige Prinzip, für entstehende Einbußen nicht aufzukommen, auch jetzt nicht revidiert.
Trotz der beachtlichen Zahl von Todesopfern in den eigenen Reihen zieht Russlands Führungselite nicht an einem Strang und ist auch kein bisschen von dem Wunsch erfüllt, dem Volk im Kampf gegen die Katastrophe den Weg zu weisen. Dasselbe muss auch über den Herrscher gesagt werden, dessen berühmt-berüchtigte Coolness und Abgebrühtheit in der Stunde der Gefahr plötzlich irgendwohin verschwunden sind.
Dem Volk bleibt nichts anderes übrig, als auf seine Überlebenskünste zurückzugreifen und auf die Hilfe jenes Teils der medizinischen Versorgungsstrukturen zu hoffen, die das Regime noch nicht „optimiert“, entprofessionalisiert und korrumpiert hat.
Unter den reichsten Menschen der Welt ist und bleibt Putin der geheimnisumwobenste, resümierte im März 2019 Wladislaw Inosemzew. Der Wirtschaftswissenschaftler gab damit seine Einschätzung zu einem damals verabschiedeten US-Gesetz ab, dessen Aufgabe darin besteht, korrupte Machenschaften des russischen Präsidenten aufzudecken. Die US-Nachrichtendienste werden mit ihren Beweisen in keiner Weise Putins Legitimität beeinträchtigen, schrieb Inosemzew – wohl aber ein Licht auf die Geschäfte von Putins nächstem Umfeld werfen.
Nun werfen nicht die ausländischen Nachrichtendienste dieses Licht, sondern vermehrt unabhängige russische Medien: So hat im November 2020 das Online-Magazin Projekt in seiner Recherche über die mutmaßliche Ex-Geliebte des Präsidenten berichtet, eine Millionärin. Das Investigativmedium Washnyje istorii zieht den Kreis enger und nähert sich Putins Tochter und ihrem Ex-Gatten an – der mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde.
Im Januar 2019 entdeckte Troy Hunt, ein australischer Fachmann für Websicherheit, in einem Hackerforum etwas, das sogar ihn, der schon lange Jagd auf gestohlene Userdaten machte, in Staunen versetzte. Hunt ist ein Cyber-Robin-Hood: Seit vielen Jahren durchstöbert er Foren von Cyberkriminellen und kauft Datenbanken gehackter Accounts – nicht, um daran zu verdienen, sondern um die Opfer vor der drohenden Gefahr zu warnen.
Doch an jenem Tag stieß Hunt auf ein Archiv, dessen Dimensionen ihn verblüfften. In der Datenbank befanden sich 773 Millionen E-Mail-Adressen und 21 Millionen Passwörter. Der Verkäufer des Archivs nannte es Collection #1. Über Hunts Fund wurde weltweit berichtet, man sprach von der größten Sammlung gehackter Accounts, die jemals veröffentlicht wurde. Wer hätte ahnen können, dass in der riesigen Collection #1, zufällig entdeckt von einem australischen Cyber-Robin-Hood, zwischen hunderten Millionen E-Mail-Adressen der Kontakt eines Mannes auftauchen würde, den man ruhig als Hüter eines der wichtigsten Staatsgeheimnisse Russlands bezeichnen kann.
Dieser Mensch arbeitet weder im Verteidigungsministerium, noch entwickelt er Geheimwaffen oder rekrutiert Mitarbeiter ausländischer Geheimdienste. Er ist ein Unternehmer aus Sankt Petersburg, von dem die meisten Menschen in Russland wahrscheinlich noch nie gehört haben. Und obwohl er bereits mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde, gibt es in seiner Biografie Dinge, die noch viel mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Mit 32 Dollarmilliardär und Hüter wichtiger Staatsgeheimnisse
Der Mann, um den es hier geht, ist in ein russisches Geheimnis eingeweiht, das mindestens so streng gehütet wird wie geheime Atomraketenstützpunkte: Er kennt Wladimir Putins Familie und weiß Bescheid über Hunderte Millionen Dollar schwere Offshore-Deals von Verwandten des Präsidenten.
Woher hat dieser Mensch so viel Einblick in Wladimir Putins Familie und ihre Geschäfte? Ganz einfach: Mehrere Jahre lang war er selbst ein Mitglied der russischen First Family. Er heißt Kirill Schamalow und war verheiratet mit Wladimir Putins Tochter Katerina Tichonowa.
Teil I
Anfang 2020 erhielten Mitarbeiter von Washnyje istorii Zugang zum E-Mail-Archiv von Kirill Schamalow. Die Dokumente wurden den Journalisten von einer anonymen Quelle zugespielt, die sich vermutlich mithilfe der Daten aus der Collection #1 Zugang zu Schamalows E-Mail-Postfach verschafft hatte. Wir kennen weder seinen (oder ihren) Namen noch die Motive. Die Person schrieb nur, dass sie dieses Archiv auch anderen russischen Medien angeboten habe, aber niemand auch nur einen Blick auf das Material werfen wollte. Die Quelle stellte lediglich eine Bedingung: keine medizinischen Daten verwenden. Sie teilte uns außerdem mit, dass sie Schamalow über den Klau seines Accounts informiert habe.
Der Sohn von Putins Freund
Kirill Schamalow ist der Sohn von Nikolaj Schamalow, einem der ältesten und engsten Freunde Wladimir Putins. Schamalow senior gehörte zum Kreis der Wenigen, die der Präsident regelmäßig zu seinem Geburtstag einlud. Mitte der 1990er Jahre waren Schamalow und Putin Mitgründer der berühmten Datschen-Kooperative Osero bei Sankt Petersburg. Als Wladimir Putin Präsident wurde, bekamen fast alle seine Datschen-Nachbarn hohe Posten in der Politik oder in Staatskonzernen.
Nikolaj Schamalow (2020 wurde er 70 Jahre alt) hat sich nach Auskunft seiner Bekannten mittlerweile zur Ruhe gesetzt und verbringt viel Zeit bei der Jagd. Doch sein Geschäft wird von seinen Söhnen weitergeführt. Der älteste, Juri, leitet seit über 15 Jahren eine der größten privaten Rentenversicherungen Russlands, Gazfond. Eine noch beeindruckendere Karriere hat aber der jüngste Sohn Kirill gemacht.
Die „Neuen Petersburger“
Kirill Schamalows E-Mail-Archiv ist nicht nur deshalb von großer gesellschaftlicher Bedeutung, weil es bisher unbekannte Details zu wichtigsten Geschäftsabschlüssen und politischen Entscheidungen enthält. Dieses Archiv ist gewissermaßen eine Milieustudie zur russischen Elite im 21. Jahrhundert in eigens von ihr verfassten Briefen.
Die russische Elite – das sind unter anderem die Kinder derjenigen, die in den Medien und im Volksmund als „Piterskije“, „die Petersburger“, bezeichnet werden: Putins zahlreiche Datschen-Nachbarn, seine Judo-Sparringspartner, Masseure und Kollegen aus der Petersburger Stadtverwaltung, die Anfang der 2000er Jahre Schlüsselpositionen im Land einnahmen. Doch seither sind mehr als 20 Jahre vergangen, die Piterskije sind gealtert, und an ihre Stelle sind ihre Kinder und Enkel getreten – die Neuen Piterskije.
Zusammen mit den Schlüsselpositionen haben die Neuen Piterskije von ihren Eltern auch die Führungsmethoden übernommen.
2009 war Schamalow erst 27 Jahre alt. Aber er war bereits Vize-Präsident für Business Administration beim größten russischen Petrochemie-Konzern Sibur und hatte zuvor bereits bei Gazprom, Rosoboronexport, der Gazprombank und im Apparat der russischen Regierung gearbeitet.
Doch der größte Sprung seiner Karriere kam erst später: 2014 erwarb Schamalow 17 Prozent des Unternehmens Sibur im Wert von fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek] und erhöhte damit seine Anteile am Konzern auf mehr als 21 Prozent. Dieser Deal brachte ihn mit einem Schlag auf die Forbes-Liste der reichsten Russen und machte ihn außerdem zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes. Zu diesem Zeitpunkt war Schamalow gerade mal 32 Jahre alt.
Doch dem war ein noch bemerkenswerteres Ereignis vorausgegangen. Wie die internationale Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt hatte, heiratete Schamalow 2013 die Vorsitzende der Stiftung Innopraktika, Katerina Tichonowa. Mittlerweile gibt es in den Medien zahlreiche Beweise, dass es sich dabei um die jüngere Tochter von Wladimir Putin handelt; der Kreml jedoch verweigert schon seit vielen Jahren die Bestätigung der Verwandtschaft.
Kirill Schamalows E-Mail-Archiv lässt weder einen Zweifel daran, dass es sich bei Tichonowa um die Tochter des russischen Präsidenten handelt (aus Rücksicht auf ihre Sicherheit veröffentlichen wir hier keine persönlichen Dokumente), noch dass sie im Februar 2013 seine Frau wurde. Davon zeugen die gegenseitigen E-Mails sowie Fotos von ihrer Hochzeit, die nie zuvor an die Öffentlichkeit gelangten.
Wahrscheinlich würden wir an dieser Episode ihres Privatlebens gar nicht rühren (wobei fraglich ist, wie privat das Leben des Präsidenten und seiner Familie sein kann), wäre da nicht Folgendes: In Schamalows Mails wird erwähnt, dass seine Offshore-Firma ein Aktienpaket des Konzerns Sibur im Marktwert von 380 Millionen Dollar für gerade mal 100 Dollar gekauft hat.
Und dem zeitlichen Ablauf nach zu urteilen, könnten diese zwei unglaublichen Glücksfälle im Leben des jungen Geschäftsmannes – die Ehe mit der Präsidententochter und die quasi geschenkten Aktien des größten Petrochemie-Konzerns des Landes – miteinander zusammenhängen.
Kirill Schamalows Mailfach sagt nichts darüber, wie und wo Katerina Tichonowa und er sich kennengelernt haben. Es gibt nur indirekte Hinweise darauf, dass Schamalow und Tichonowa sich seit ihrer Kindheit kennen und auch als Jugendliche in Kontakt geblieben sind. Wann aus ihrer Bekanntschaft mehr wurde, wissen wir nicht, aber 2012 waren sie bereits vollauf damit beschäftigt, sich ein gemeinsames Luxusleben in Russland und Frankreich einzurichten.
Ein Anwesen auf der Rubljowka und ein Schloss in Biarritz
Am 2. Juni 2012 bekam Schamalow eine E-Mail von der Frau, die von dem jungen Paar mit dem Um- und Ausbau einer Villa beauftragt worden war, und zwar im Dorf Ussowo an der Rubljowskoje Chaussee – einem der teuersten Orte Russlands. Das Haus befindet sich in der Nähe des Anwesens des Präsidenten in Nowo-Ogarjowo.
„Sehr geehrter Kirill, anbei übersende ich Ihnen Fotos von den Möbeln, die Katja für den Garten ausgesucht hat. Sie sind alle in Italien vorrätig (wie uns bestätigt wurde). Für die Bestellung muss eine Vorauszahlung in Höhe von 60 Prozent der ausgewiesenen Gesamtsumme überwiesen werden“, schreibt ihm die Frau.
Im Anhang findet sich eine Liste von Einrichtungsgegenständen für den kleinen Gartenpavillon: Tisch, Sofa, ein paar Sessel, Stoffvorhänge – im Gesamtwert von 53.000 Euro.
Diese E-Mail leitete Kirill an Katerina Tichonowa weiter, mit dem Kommentar:
„Gefällt mir, keine Einwände. Was denkst du?“
Insgesamt kosteten Umbau, Möbel und Einrichtung fast neun Millionen Euro. Nimmt man das Grundstück und das Haus selbst dazu, könnten sich die Gesamtkosten für das Anwesen auf etwa 15 bis 17 Millionen Euro belaufen.
Das Haus in Ussowo war nicht die einzige teure Immobilie von Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa. Zeitgleich zum Umbau des Anwesens bei Moskau richteten sie ein kleines Schloss in Frankreich ein.
Im Oktober 2012 hatte Schamalow über seine Firma Alta Mira mit Sitz in Monaco eine Villa im Städtchen Biarritz gekauft. Das Anwesen gehörte früher der Familie von Gennadi Timtschenko, einem alten Freund von Wladimir Putin und einem der größten russischen Öl-Exporteure. Den Dokumenten in Kirill Schamalows Postfach nach zu urteilen, kostete ihn das Haus in Frankreich rund 4,5 Millionen Euro.
Biarritz und seine Umgebung kann man ruhig als Auslandsreiseziel Nummer eins von Wladimir Putins Familie bezeichnen. Wie das Netzwerk OCCRP herausfand, erwarb 2013 ein weiterer russischer Staatsbürger ein Haus unweit von Kirill Schamalows Schloss: Artur Otscheretny. Er ist verheiratet mit Ljudmila Putina, der Ex-Ehefrau des russischen Präsidenten. Das Paar hatte 2013 offiziell die Scheidung bekanntgegeben, und 2016 entdeckte die Zeitung Sobesednik, dass Ljudmila Putina in den Papieren zu ihrer Sankt Petersburger Wohnung ihren Nachnamen in Otscheretnaja geändert hatte.
Von 2013 bis 2014 ließen Schamalow und Tichonowa die französische Villa von Designern einrichten. Daran, dass die jüngste Tochter des russischen Präsidenten plante, das Mini-Schloss auch zu benutzen, gibt es keinen Zweifel: Sie war unmittelbar in die Gespräche um die Renovierung des Anwesens in Biarritz involviert.
Unternehmer sollten bescheidener sein. Sie haben Recht
Während der Schwiegersohn des russischen Präsidenten Aktien von Offshore-Firmen besaß, ausländische Konten eröffnete und Immobilien in Ländern der NATO erwarb, leitete Wladimir Putin den Prozess der „Nationalisierung der russischen Eliten“ ein. 2013, genau zu der Zeit also, als Schamalow und Tichonowa fleißig ihr französisches Schlösschen einrichteten, brachte Putin einen Gesetzentwurf in die Staatsduma ein, der es Beamten und Führungskräften von Staatsunternehmen verbieten sollte, Konten im Ausland zu eröffnen und ausländische Bankeinlagen oder Wertpapiere zu besitzen. Das Verbot erstreckte sich auch auf Ehepartner und minderjährige Kinder. Im Erläuterungstext hieß es, das Gesetz diene „der Gewährleistung der nationalen Sicherheit“.
Das luxuriöse Anwesen von Schamalow und Tichonowa in Ussow kann der Präsident wohl ebenfalls kaum gutgeheißen haben. 2016 antwortete er auf die Frage einer Journalistin des Portals Znaknach dem nicht gerade bescheidenen Lebensstil der Chefs von Staatskonzernen: „Was unsere Geschäftsleute anbelangt, auch innerhalb von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung und dass sie derart provokante Immobilien bauen, da stimme ich Ihnen zu – sie sollten bescheidener sein. Sie haben Recht. Ich habe ihnen das schon mehrfach gesagt. Und ich hoffe, dass sie darauf hören. […] Man muss verstehen, in was für einem Land wir leben, und die Leute nicht reizen.“
Hochzeit in Igora
Die Hochzeit mit Katerina Tichonowa wird in Kirill Schamalows Korrespondenz zum ersten Mal am 7. September 2012 erwähnt. An diesem Tag erhielt er eine E-Mail von einer Frau, die sich um die Hochzeitvorbereitungen kümmerte:
„Ich möchte Ihnen und Jekaterina für die angenehme Bekanntschaft und unser Treffen danken. Wir haben die wichtigsten Punkte, die wir dort besprochen haben, in einer kurzen Übersicht zusammengefasst.“
Dem Schreiben war ein kurzer Ablaufplan für die Hochzeitsfeier im Skiort Igora in der Nähe von Sankt Petersburg beigefügt. Ursprünglich sollte die Feier im Januar 2013 stattfinden, wurde dann aber auf den 23. bis 25. Februar verschoben.
Ab Ende Januar versendete Schamalow an seine Freunde Hochzeitseinladungen mit detaillierter Beschreibung des Dresscodes:
„23. Februar. Herren: Dresscode Cocktail im russischen Stil. Samtjackett, dazu Halstuch, Hemd mit Stehkragen. Damen: Cocktail im russischen Stil. Kleid, Rock oder Sarafan, bodenlang, in Pastelltönen, Haare geflochten, Kopftuch;
24. Februar. Herren: Creative Black Tie im russischen Stil. Smoking und Fliege dürfen farbig sein. Damen: Creative Black Tie im russischen Stil. Abendkleid in A-Form, Hochsteckfrisur mit Tiara-Kopfschmuck im Kokoschnik-Stil;
25. Februar. Herren: Casual chic im russischen Stil. Lockerer Anzug mit Polohemd, Rollkragen oder Pullover. Damen: bodenlanger Glockenrock, Feinstrickpullover.“
Insgesamt lud das Brautpaar rund 100 Gäste ein. Auf der langen Gästeliste fehlten die Eltern von Katerina Tichonowa – der Präsident und seine Gattin (zu diesem Zeitpunkt war die Scheidung noch nicht offiziell). Ihr Fehlen auf der Liste könnte allerdings auch mit dem Sicherheitskonzept erklärt werden, für das sechs Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten (SBP) verantwortlich waren. Für diese hatte das junge Paar sogar eigens ein Haus angemietet.
Teil III
Seinem Postfach nach zu urteilen war Kirill Schamalow sowohl vor seiner Heirat mit Katerina Tichonowa als auch danach – als Schwiegersohn des russischen Präsidenten – Eigentümer von Offshore-Firmen. Ein Großteil der Firmen, die von Juristen aus verschiedenen Ländern geführt wurden, war auf Strohmänner registriert. Haupthüter der Offshore-Geheimnisse von Kirill Schamalow und dessen Vater Nikolaj war Dario Item, Botschafter des kleinen Inselstaates Antigua und Barbuda, der die Interessen seines Landes in Spanien, Monaco und Liechtenstein vertritt.
Ein großzügiges Geschenk
Im Juni 2013 kaufte Kirill Schamalows Offshore-Firma Kylsyth Investments Ltd. mit Sitz in Belize von einer anderen Offshore-Firma, Volyn Portfolio Corp. mit Sitz auf den britischen Virgin Islands, 38.000 Aktien einer dritten Offshore-Firma auf der Insel Guernsey, Themis Holdings Ltd. Zu diesem Zeitpunkt war die Themis Holdings Ltd. die Muttergesellschaft des Unternehmens Sibur. Mit anderen Worten: Mit dem Kauf von Anteilen der Themis Holdings Ltd. erwarb Kirill Schamalow automatisch 3,8 Prozent am Konzern Sibur. Bereits vor diesem Deal hatten ihm 0,5 Prozent der Holding gehört: Insgesamt hielt er nun also einen Anteil von 4,3 Prozent.
Doch das Interessanteste an dieser Reihe von Deals ist nicht einmal, dass Wladimir Putins Schwiegersohn – ungeachtet der vom Präsidenten geplanten „Nationalisierung der Eliten“ – exotische Offshores für seine Investitionen in ein strategisches russisches Unternehmen benutzte, sondern wie viel er für diese Aktien bezahlt hat: 3,8 Prozent der Anteile am Konzern Sibur kosteten ihn bloß einhundert Dollar. Dabei hat Schamalow selbst in einem Interview mit der Zeitung Kommersant den Gesamtwert des Konzerns auf rund zehn Milliarden Dollar geschätzt. Damit könnte der Marktwert seines Aktienpakets bei etwa 380 Millionen Dollar liegen (den Rabatt für fehlenden Anspruch auf Kontrollrechte nicht mitgerechnet) – oder, mit anderen Worten: 3,8 Millionen Mal höher, als der Schwiegersohn des russischen Präsidenten dafür bezahlt hat.
Der Pressedienst von Sibur übermittelte Washnyje istorii eine Stellungnahme von Dimitri Konow, dem Vorstandsvorsitzenden des Konzerns:
„Die Transaktionen im Jahr 2013 fanden im Rahmen eines 2011 von Aktionären ins Leben gerufenen Programms statt, das der zusätzlichen Motivationssteigerung eines breiten Kreises von leitenden Managern des Unternehmens dienen sollte. In jeder Etappe gab es andere Teilnehmer und unterschiedliche Bedingungen für die verschiedenen Teilnehmergruppen. Die Bedingungen für den Aktienverkauf der von Ihnen angesprochen Transaktion unterschieden sich nicht von denen für einige andere Manager. Exklusive Bedingungen für K. N. Schamalow persönlich gab es nicht. Womöglich ist Ihnen nicht bewusst, dass bei der Bewertung des Aktienwerts die Höhe der Schulden der betreffenden juristischen Person berücksichtigt wird/wurde“, teilte Konow mit.
Washnyje istorii hat sich jedoch die Verträge von elf Topmanagern genau angeschaut, die an dem Optionsprogramm von Sibur teilgenommen haben, von dem Konow spricht. Sie alle haben echtes Geld für ihre Anteile bezahlt – abzüglich eines Rabatts von etwa 15 Prozent des Marktwerts, was der gängigen Praxis solcher Motivationsprogramme entspricht. So musste beispielsweise der geschäftsführende Direktor Sergej Komyschan laut Vertrag für 0,26 Prozent an Sibur-Aktien 21,6 Millionen Dollar zahlen. Das heißt, für ein fünfzehn Mal kleineres Paket als das des Präsidenten-Schwiegersohns hat Komyschan 216.000 Mal mehr bezahlt. Alexej Filippowski, der Vizepräsident des Unternehmens, musste für sein Paket von 0,15 Prozent 12,7 Millionen Dollar zahlen.
Auf unsere Frage, warum andere Manager im Gegensatz zu Schamalow echtes Geld für ihre Aktien bezahlen mussten, entgegnete Dimitri Konow bloß, unsere Zahlen seien „inkorrekt“. Welche Zahlen seiner Ansicht nach korrekt sind, sagte er allerdings nicht.
Wenn man die Dinge beim Namen nennt, ist also Folgendes passiert: Die Offshore-Firma des Schwiegersohns des russischen Präsidenten hat für 100 Dollar etwas gekauft, was eigentlich rund 380 Millionen kostet.
Und das war erst der Anfang der beispiellosen Bereicherung von Kirill Schamalow.
Auf der Suche nach der passenden Mitgift
Kirill Schamalow hatte sehr viel Glück mit seinen Beratern und Assistenten. Den E-Mails nach zu urteilen, war ein ganzes Team für ihn tätig: Es recherchierte Investitionsprojekte für ihn, schrieb Redebeiträge für seine Auftritte bei Foren und Sitzungen des Direktorenrats, inklusive der Antworten auf mögliche Fragen aus dem Publikum. Ganz wie zu Studienzeiten, als man ihm dabei half, sein Diplom zu verteidigen und seine Rede für den Prüfungsausschuss vorzubereiten.
Nach der Hochzeit mit Tichonowa hatten die zahlreichen Helfer des Präsidenten-Schwiegersohns alle Hände voll zu tun: Sie mussten ein groß angelegtes Finanzprojekt finden, das in den Besitz ihres Chefs übergehen sollte. E-Mails mit märchenhaften Angeboten über Milliarden von Dollar landeten eine nach der anderen in Schamalows Postfach – und Wladimir Putins Schwiegersohn suchte sie sich so aus, wie wir uns im Supermarkt Milch aussuchen.
Am 16. Mai 2013 schickte Schamalows Assistent Denis Nikijenko ihm den Vorschlag, Anteile an gleich drei Unternehmen zu kaufen – Rostelekom, Tele2und Trikolor TV –, um sie danach zu einem „nationalen Telekommunikations-Champion“ zu vereinen, wie es in dem Schreiben hieß. Die Gesamtkosten für die Realisierung dieser Idee beliefen sich auf neun Milliarden Dollar. Wo sollte Schamalow dieses Geld hernehmen? Nikijenko erklärte das in einer Notiz:
„Die finanzielle Grundlage für den Erwerb könnten Kreditressourcen von der WTB, Sberbank und Gazprombank bilden. Zur Bildung der 20 bis 30 Prozent sogenannter Eigenmittel wäre es denkbar, befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond oder Gazprombank.“
Abgesehen davon, dass Schamalows Assistent vorschlägt, dieses enorme Vorhaben auf Kosten von Staatsbanken zu finanzieren, enthält das Zitat eine weitere interessante Formulierung: die „20 bis 30 Prozent ‚sogenannte Eigenmittel‘“.
Jeder, der bei der Bank eine Hypothek aufnehmen will, um eine Wohnung zu kaufen, muss 20 bis 30 Prozent des Kaufpreises selbst aufbringen. Genauso ist es, wenn ein Investor Aktiva erwerben will, besonders wenn es sich dabei um riesige Projekte über hunderte Milliarden Rubel handelt. Wie aus Nikijenkos E-Mail hervorgeht, hatten Schamalows Betraute jedoch offenbar nie vor, Eigenmittel ihres Chefs einzusetzen. Stattdessen schlugen sie vor, „befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond“ – der, wie der Zufall es will, von Schamalows älterem Bruder Juri geleitet wird.
Im April 2014 schrieb Nikijenko Schamalow schließlich eine weitere E-Mail, die gleich mehrere Vorschläge enthielt. Der erste war, 51 Prozent an dem Konzern VSMPO-Avisma zu erwerben, dem weltgrößten Titanproduzenten (dieses Paket kostete zu diesem Zeitpunkt über eine Milliarde Dollar).
„Warum 51 Prozent? Wenn eine Person, die mehr als 50 Prozent der Anteile an einem Unternehmen besitzt, auf der Sanktionsliste landet, können US-Bürger und -Konzerne keine Geschäfte mehr mit diesem Unternehmen machen. Weil die USA an einer Zusammenarbeit mit VSMPO-Avisma interessiert sind, wäre es somit unwahrscheinlich, dass der Konzern oder ein Teilhaber auf die Sanktionsliste kommt“, erklärte Nikijenko die Vorteile einer Übernahme des Titankonzerns.
Der zweite Vorschlag bestand darin, ein zusätzliches Aktienpaket des Konzerns Sibur zu erwerben.
„Die Unternehmensbeteiligung von GNT (gemeint ist Gennadi Nikolajewitsch Timtschenko – Anm. Washnyje istorii) schränkt die operative Geschäftstätigkeit des Konzerns ein. Sibur erhält bereits Absagen von Banken und Geschäftspartnern (weil Timtschschenko auf der Sanktionsliste der USA steht – Anm. Washnyje istorii). Um dieses Problem zu lösen, schlagen wir vor, GNT seine Anteile abzukaufen. Die Transaktion kann durch zwei Manager des Unternehmens mit nachträglicher Zusammenführung der Anteile in eine Hand realisiert werden (dieser Vorgang, bei dem eine künstliche Schuld geschaffen und daraufhin von einem zweiten Aktienpaket getilgt wird, ist gut erprobt)“, heißt es in dem Schreiben.
Wie der weitere Verlauf zeigt, entschied sich Kirill Schamalow offenbar für diesen Vorschlag. Das Interessanteste an der E-Mail ist die Beschreibung des Schemas für den Kauf der Sibur-Aktien von Gennadi Timtschenko: die Schaffung einer „künstlichen Schuld“ und deren Tilgung durch ein weiteres Aktienpaket. Derartige Schemata werden in der Rechtsliteratur und in Handelsgerichtsurteilen als populäres Mittel beschrieben, um die Kontrolle über Unternehmen zum Spottpreis zu bekommen.
Der Kauf von Sibur
Am 1. August 2014 registrierte Kirill Schamalow unter seiner Privatadresse in der Zoologitscheskaja Uliza in Moskau die Firma Jausa 12. Laut seinen E-Mails kaufte diese Firma bereits sechs Tage später, am 7. August, 17 Prozent von Sibur. Der Marktwert dieses Aktienpakets lag bei fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek]. Gegenüber Kommersant sagte Schamalow, die Mittel dafür habe er bei der Gazprombank geliehen (in dessen Direktorenrat sein Bruder Juri sitzt – Anm. Washnyje istorii), als Sicherheit hätten eigene Vermögensgegenstände gedient. Welche Vermögensgegenstände das genau waren, sagte er nicht.
Im Rahmen des Sibur-Optionsprogramms hatte Schamalow fast zum Nulltarif über vier Prozent der Holding akkumuliert. Mit dieser Kreditsicherheit hätte er theoretisch ein Darlehen von rund 500 Millionen Dollar bekommen können. Aber woher hatte der junge Geschäftsmann das restliche Geld für den Erwerb der Aktien?
Leider enthält Schamalows Korrespondenz keine Antwort auf diese Frage, vorausgesetzt man will nicht die E-Mail seines Assistenten Denis Nikijenko als solche werten, in der zum ersten Mal die Idee der Übernahme von Timtschenkos Sibur-Anteilen mithilfe einer „künstlichen Schuld und ihrer Tilgung durch ein zweites Aktienpaket“ geäußert wurde.
Wann und wie Schamalows Firma Jausa 12 ihren Riesenkredit abbezahlt hat, wissen wir nicht. Der letzte im Rosstat zugängliche Jahresabschluss stammt aus dem Jahr 2016, in der Zeile „Verbindlichkeiten“ sind dort immer noch 80 Milliarden Rubel angegeben. Den Daten des Föderalen Steuerdienstes zufolge beschloss Schamalow im September 2017, Jausa 12 aufzulösen, was er im Dezember desselben Jahres auch tat.
Wie dem auch sei, als zweitgrößter Aktionär der größten Petrochemie-Holding des Landes (mit einem Anteil von 21,3 Prozent), zog Schamalow die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Wahrscheinlich, um den Fragen zu seinen Verwandtschaftsbeziehungen und der Herkunft seines Vermögens zuvorzukommen, gab der Schwiegersohn des Präsidenten der Zeitung Kommersant ein Interview. Das Blatt stellte keine unangenehmen Fragen.
Das Interview endete mit einer patriotischen Äußerung Schamalows: „Ich bin in Russland geboren, aufgewachsen und lebe hier. Mein Business ist hier. Und zwar komplett nach russischem Recht, nicht irgendwo im Offshore. Irgendwelche Hintertürchen und Geschäfte im Ausland – das ist nichts für mich“, erklärte Wladimir Putins Schwiegersohn. Dabei hat er offenbar vergessen, dass er die Sibur-Aktien über eine Firma in Belize gekauft hatte, sein Schloss in Frankreich auf eine Firma in Monaco gemeldet war und er 2015, im selben Jahr, in dem das Interview stattfand, mehrere Konten in der Schweiz eröffnet hatte. Aber 2017, als die Sanktionen einen immer weiteren Kreis von Wladimir Putins Bekannten erfassten, begannen Schamalows Finanzbeauftragte, die Geschäfte seiner Firmen und Fonds mit Konten bei europäischen Banken einzustampfen, und registrierten auf seinen Namen einen eigenen Fonds – den Centurion International Fund auf der Insel Labuan, einem Offshore-Gebiet in Malaysia. Der Fonds läuft über Offshore-Unternehmen aus Belize – einem winzigen Staat an der Karibischen Küste.
Teil IV
Kirill Schamalow konnte man durchaus auch vor seiner Liebesbeziehung mit Katerina Tichonowa zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Russlands rechnen – dank der Freundschaft seines Vaters mit dem russischen Präsidenten und seinen eigenen zahlreichen Beziehungen zu Vertretern der Neuen Petersburger. Schamalow war erst 27, als er gebeten wurde, im Streit um die Moskauer Flughäfen Einfluss auf die Entscheidung der Handelsgerichte zu nehmen. Durch die Ehe mit Katerina Tichonowa stieg er allerdings in eine ganz andere Liga auf: Vom Sohn eines Freundes wurde er zum Familienmitglied Wladimir Putins – mit allen Möglichkeiten, die dieser Status mit sich brachte.
Ein gemütliches Zuhause
Einer der Hochzeitsgäste war Kirill Dmitrijew, Chef des Russian Direct Investment Funds (RDIF). Er stand als Gast der Braut auf der Liste: Dmitrijew ist mit Natalja Popowa verheiratet, Katerina Tichonowas Stellvertreterin bei der Stiftung Innopraktika.
Der von Dmitrijew geleitete Staatsfonds ist einer der wichtigsten staatlichen Player innerhalb der russischen Wirtschaft. Sie wurde 2011 auf Initiative des Präsidenten (damals Dimitri Medwedew) und des Premierministers (damals Wladimir Putin) gegründet. Hauptaufgabe des RDIF ist es, führende russische Unternehmen zu finanzieren und ausländische Investoren für Projekte zu ködern. Seit seiner Gründung hat der RDIF fast zwei Billionen Rubel [Stand Januar 2021: 22 Milliarden Euro – dek] in verschiedene Unternehmen in Russland investiert.
Dem vorliegenden Archiv zufolge bekam Schamalow die ersten Mails von Dmitrijew Mitte 2012, also in einer Zeit, als er sich gerade mit Tichonowa ein gemütliches Zuhause errichtete. Die jungen Paare (Dmitrijew und Popowa, Schamalow und Tichonowa) waren miteinander befreundet. Sie machten mehrfach zusammen Urlaub im Ausland, und Schamalow und Dmitrijew schrieben einander alle paar Tage zu den verschiedensten Themen.
Unter anderem schickten der Schwiegersohn des russischen Präsidenten und der Chef des RDIF einander permanent Links und diskutierten Wirtschaftsmeldungen. Das war aber noch nicht alles – mehrmals finden sich in Schamalows Posteingang vertrauliche Dokumente des RDIF, die Dmitrijew seinem geschäftstüchtigen Freund übersandte.
Eine Hand wäscht die andere
Kirill Dmitrijew versorgte seinen Freund Schamalow nicht nur mit Informationen, sondern auch mit enormen Summen aus der Staatskasse für sein Unternehmen. Im Januar 2015 schickte der RDIF-Direktor dem Präsidenten-Schwiegersohn einen Artikel der Vedomostimit dem Titel RDIF unterstützt Sibur. Darin hieß es, Dmitrijews Staatsfonds plane gemeinsam mit ausländischen Investoren, in ein Projekt von Sibur zu investieren, das den Bau eines Petrochemiewerks mit dem Namen Sapsibneftechim in Tobolsk, Oblast Tjumen, vorsah.
„Langsam kommen wir in die Gänge :-)“, schreibt Dmitrijew in einer E-Mail. „Super!“, antwortet Schamalow, der zu dem Zeitpunkt der zweitgrößte Aktionär von Sibur ist.
Sapsibneftechim ist das größte Petrochemiewerk Russlands. Es wurde im Mai 2019 in Betrieb genommen. Seine Fertigstellung kostete insgesamt schätzungsweise 9,5 Milliarden Dollar. Ende 2015 erklärte der RDIF auf seiner Website, er habe gemeinsam mit anderen Investoren mehr als ein Drittel der Projektfinanzierung zur Verfügung gestellt (3,3 Milliarden Dollar). Doch für die Errichtung einer so großen Anlage reichte Schamalows Firma die Beteiligung des befreundeten Staatsfonds nicht. Und so griff ihm der Schwiegervater unter die Arme.
Im Oktober 2015 stimmte Wladimir Putin zu, dass Sibur 1,75 Milliarden Dollar aus dem Nationalen Wohlstandsfonds erhalten soll. Dieser Fonds ist eigentlich für die Förderung der privaten Altersvorsorge der Staatsbürger da, sowie dafür, Defizite in der Rentenkasse auszugleichen.
Doch nicht nur Schamalow profitierte von seiner Freundschaft mit Kirill Dmitrijew. Dem Chef des RDIF brachte seine enge Bekanntschaft mit Wladimir Putins Schwiegersohn ebenfalls satte Gewinne. Ein Beispiel dafür ist der Kauf des Sibur-Terminals für die Verladung von Flüssigerdgas am Handelshafen Ust-Luga durch den RDIF. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass nicht alle Top-Manager von Sibur so begeistert von der Idee waren, den Terminal zu verkaufen. Im November 2015 war der Deal unter Dach und Fach: Für 700 Millionen Dollar hatte der RDIF zusammen mit einem Investorenkonsortium den Terminal in Ust-Luga gekauft.
Auf die Anfrage von Washnyje istorii, warum er Schamalow vertrauliche Dokumente des RDIF zukommen ließ und inweiweit er dafür gegenüber dem von ihm geleiteten Staatsfonds hafte, reagierte Kirill Dmitrijew nicht.
Begehrter Partner mit Ressourcen
Das Besondere am Business von Wladimir Putins Schwiegersohn war nicht nur, dass es ihm gelang, Aktien eines strategischen Unternehmens millionenfach unter ihrem Marktwert einzukaufen, sondern er war auch ein enorm gefragter Partner, bei dem Unternehmer mit den verlockendsten Angeboten buchstäblich Schlange standen. Unter anderem wurden Schamalow Beteiligungen an verschiedensten Firmen offeriert, ohne dafür irgendwelche Gelder zu verlangen – offenbar in der Annahme, dass Putins Schwiegersohn diesen Unternehmen etwas bieten könne, was im heutigen Russland wertvoller ist als Geld.
So bekam Schamalow 2017 von seinem ehemaligen Studienkollegen Dimitri Utewski eine Beteiligung an einer großen Müllentsorgungsfirma in der Nähe von Sankt Petersburg angeboten. Utewski versprach ein „fixes Jahreseinkommen“ und bat im Gegenzug – wörtlich – um eine „administrative Ressource (mindestens auf der Ebene eines Gouverneurs)“. Wie Schamalow konkret auf diesen Vorschlag reagierte, wissen wir nicht, aber in seinem E-Mail-Verkehr gibt es genügend Beispiele dafür, wie er seinen Partnern half, Probleme auf höchster Staatsebene zu lösen.
Zusammen mit seinem Vater war Schamalow jahrelang Miteigentümer des [Zementherstellers – dek] Russkaja zementnaja kompanija und der Holding Sibirski zement. Oleg Scharykin, Hauptgesellschafter dieser Firmen, sagte einmal in einem Interview mit dem Kommersant, mit Schamalow senior verbinde ihn eine Freundschaft: „Nikolaj Terentjewitsch und ich sind vor allem gute Freunde, und unsere Geschäfte beruhen auf zwischenmenschlichen Beziehungen.“
2016 fand sich dieser Scharykin in einer unangenehmen Situation wieder: Am 7. April hatten Ermittlungsbeamte und FSB-Mitarbeiter seinen Wohnsitz in der Siedlung Nikologorskoje bei Moskau und seinen Firmensitz in Moskau durchsucht. Bereits am 11. April, also nur vier Tage später, erhielt Kirill Schamalow eine E-Mail von Waleri Bodrenkow, dem Vizepräsidenten von Sibirski zement. Betreff: „Lightversion für den Garanten“, im Attachment mehrere Belege und ein an Wladimir Putin adressierter Brief von Oleg Scharykin. (Mit „Garant“ ist der russische Präsident gemeint, i. S. v. „Garant der Verfassung“ – Anm. d. Red. Washnyje Istorii)
In dem Brief an den „Garanten“ schrieb Scharykin, die Durchsuchungen seien von seinem „Businesskontrahenten“ Andrej Murawjow initiiert worden, dem ehemaligen Präsidenten von Sibirski zement.
„Ich bitte Sie inständig, verehrtester Wladimir Wladimirowitsch, diese Situation unter Ihre persönliche Kontrolle zu bringen und der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation den Auftrag zu erteilen, das Vorgehen der Organe des FSB und des Ermittlungskomitees der RF im Zuge der Durchsuchung meines Wohnsitzes rechtlich zu überprüfen“, heißt es am Ende von Scharykins Brief.
Kirill Schamalow ließ diese E-Mail nach Erhalt umgehend ausdrucken. Wir wissen nicht, ob er sie danach seinem Schwiegervater vorlegte, aber es war nicht das einzige Mal, dass Scharykin ihn um Hilfe bat, und im Archiv finden sich Beweise, dass Wladimir Putins Schwiegersohn diese Bitten erhörte.
Ein Jahr später, im April 2017, schickte Oleg Scharykin Kirill Schamalow zwei weitere an den russischen Präsidenten gerichtete Briefe. In einem beklagte er sich, dass seine Firma Keramitscheskije technologii optische Elemente für Boden- und Weltraumteleskope entwickele, aber die staatliche Gesellschaft Roskosmos sie nicht kaufe:
„Ich würde Sie bitten, dem Generaldirektor der Staatlichen Weltraumorganisation Roskosmos I. A. Komarow den Auftrag zu erteilen, ein gemeinsames Programm zur Verwertung der vorhandenen Technologie zu erarbeiten“, appellierte Scharykin an Putin.
Wie es aussieht, konnte Schamalow seinem Partner zumindest teilweise helfen. Zwei Wochen später, am 12. Mai 2017, schrieb Scharykin ihm wieder eine E-Mail:
„Guten Morgen, Kirill. Hier die Protokolle. Das Treffen mit KSW verlief gut, er hat sich alles genau angesehen. Festen Händedruck.“
Die Abkürzung KSW entspricht den vollständigen Initialen von Kirijenko Sergej Wladilenowitsch, dem ehemaligen Chef von Rosatom und zu jenem Zeitpunkt – wie auch heute noch – stellvertretender Leiter der russischen Präsidialadministration. Seinem Schreiben hängte Scharykin das Protokoll des Treffens mit dem Chef von Rosatom an, bei dem die weitere Zusammenarbeit des Staatskonzerns mit der Firma Keramitscheskije technologii besprochen wurde. Anfragen von Washnyje istorii ließ Scharykin unbeantwortet.
Teil V
Katerina Tichonowa verwendete für den Mailwechsel mit Kirill Schamalow mehrere E-Mail-Adressen. Für ihren Hauptaccount aber wählte sie einen Usernamen, der viel über Wladimir Putins Tochter und ihre Interessen verrät: Hypatia von Alexandria. So hieß eine Gelehrte im antiken Alexandria, die Philosophie, Mathematik und andere Disziplinen unterrichtete. Hypatia wurde nicht nur für ihre wissenschaftlichen Erfolge, sondern auch für ihre Bescheidenheit gepriesen.
Hypatia: Bescheidenheit und Rock’n Roll
In den Mails des jungen Paares ging es, abgesehen von der Einrichtung ihrer schicken Häuser in Russland und Frankreich, vor allem um zwei Themen: Rock‘n‘Roll-Akrobatik und das Innovationsprojekt Innopraktika.
Die von Tichonowa geleitete Stiftung wurde 2012 gegründet. Sie verbindet das Zentrum für nationale intellektuelle Reserven der MGU mit der Stiftung Nationale intellektuelle Entwicklung zur Förderung wissenschaftlicher Projekte von Studenten, Doktoranden und jungen Wissenschaftlern, die ebenfalls der MGU untersteht. Vornehmlich kümmert sich Innopraktika um die Vermittlung zwischen Business und Wissenschaft, um innovative Technologien in Russland zu entwickeln und sie auf dem Markt zu positionieren. Die Liste der Partner von Innopraktika würde jede russische Nonprofit-Organisation vor Neid erblassen lassen. Zu ihnen zählen die mächtigsten Konzerne, darunter auch solche mit staatlicher Beteiligung: Rosneft, Rosatom, Sibur, Rostec, Gazprombank, RDIF und viele mehr.
Innopraktika wurde für viele Großunternehmer gewissermaßen zur Eintrittskarte in die Sphäre führender Forschungs- und Entwicklungsprojekte (zumindest an der MGU). Und wie Katerina Tichonowas E-Mails zeigen, wusste sie ihre Ehe mit Schamalow für die Voranbringung ihres Fonds zu nutzen. Mehrmals bat die Tochter von Wladimir Putin ihren Mann außerdem, zusammen mit seinen Partnern ihr liebstes Hobby zu finanzieren – Rock‘n‘Roll-Akrobatik.
Am 14. April 2014 schickte sie ihrem Mann den Entwurf einer E-Mail von Iwan Sbitnew, dem Präsidenten des russischen Verbands der Rock‘n‘Roll-Akrobatik, die an den Generaldirektor des Erdgasförderunternehmens Nowatek, Leonid Michelson, adressiert war:
„[…] Wir möchten Sie bitten, die Möglichkeit einer Unterstützung für den russischen Verband der Rock‘n‘Roll-Akrobatik in Form einer Spende für die satzungsgemäße Tätigkeit in Höhe von einer Million Dollar jährlich über fünf Jahre zu prüfen“, stand am Ende seiner E-Mail.
Innerhalb der nächsten zehn Tage leitete Tichonowa zwei weitere Schreiben gleichen Inhalts von Sbitnew an Schamalow weiter, eines an den Präsidenten der Gazprombank Andrej Akimow (ohne Angabe der Summe) und eines an den Generaldirektor von Sibur, Dimitri Konow (10 Millionen Rubel [damals rund 200.000 Euro – dek]).
Die Chefs dieser russischen Großkonzerne, die Tichonowa um Unterstützung bat, schlugen ihre Bitten nicht ab: Sibur, Nowatek und die Gazprombank tauchten mehrfach in der Liste der Partner und Sponsoren des Verbandes der Rock‘n‘Roll-Akrobatik auf.
Trennung
Anfang 2018 berichtete die internationale Nachrichtenagentur Bloomberg von der Trennung Kirill Schamalows und Katerina Tichonowas. Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte Schamalow das Sibur-Aktienpaket verkauft, das er 2013 von Gennadi Timtschenko erworben hatte. Bloombergs Quellen zufolge machte Schamalow mit diesem Verkauf keinen Gewinn, weil er dieses Paket als Garantie des Vertrauens des russischen Präsidenten bekommen hatte. In Schamalows E-Mail-Archiv finden sich keine Angaben dazu, wie viel er für die Sibur-Aktien bekommen hat.
2018 kam Kirill Schamalow auf die Blacklist der USA, weil er nach seiner Hochzeit mit der Tochter des russischen Präsidenten „zu einem ausgewählten Kreis von Milliardären aus dem Umfeld von Wladimir Putin gehörte“. Die amerikanischen Behörden waren mit dieser Entscheidung reichlich spät dran: Die letzte E-Mail von Schamalow an die Präsidententochter stammt vom 15. Juni 2017. Er leitete Tichonowa eine E-Mail von einem berühmten Sankt Petersburger Architekten mit mehreren Planungsentwürfen für eine Villa im Grünen weiter (ohne genaue Adressangabe). Danach gibt es im Archiv keine E-Mails mehr zwischen den beiden.
Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa ignorierten die Anfragen von Washnyje istorii. Wir baten auch den Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, um einen Kommentar zur Nutzung von Offshore-Firmen durch Wladimir Putins Schwiegersohn, zum Kauf von Aktien millionenfach unter dem Marktwert und zu den Luxusimmobilien in Russland und Frankreich, über die Schamalow zusammen mit der Präsidententochter verfügte. Dazu sagte Peskow wörtlich: „Solche Fragen sind schon oft unbeantwortet geblieben.“
Auch am vergangenen Sonntag beim Marsch der Freiheit konnte man wieder hören, wie Demonstranten diese Losung schrien: Shywe Belarus!, Es lebe Belarus! Zudem sieht man den Ausruf auch immer wieder auf Wänden, Plakaten oder Fahnen. Es ist nicht so, dass diese Beschwörungsformel erst seit dem Beginn der Proteste im Sommer in Belarus populär geworden ist. Auf Kundgebungen und Demonstrationen der Opposition gehört sie schon lange zum Standardrepertoire, um seinen Protest gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auszudrücken und die Souveränität der Republik Belarus zu betonen.
Aber woher stammt diese Losung eigentlich? Wann hat sie sich entwickelt? Und in welchen unterschiedlichen Kontexten wurde sie seitdem verwendet? Auf diese Fragen gibt der Historiker Denis Martinowitsch für das belarussische Medienportal tut.by eine Antwort.
Der Historiker Alexej Kawka sieht den Ursprung dieses Ausspruchs in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als manche Teilnehmer am Aufstand von Kastus Kalinouski die Parole benutzten: „Wen liebst du? – Ich liebe Belarus. – Ganz meinerseits.“ Doch die genaue Wortkombination trat erstmals am Ende eines Gedichts von Janka Kupala auf: „Ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!“, entstanden in den Jahren 1905 bis 1907, als damals im Russischen Reich gerade eine Revolution im Gange war.
Wer liebt nicht dieses Feld, den Wald, den grünen Garten, die schnatternde Gans! Der Wirbelsturm, der hier manchmal klagt – ist ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!
Aber nicht nur Janka Kupala, auch andere Dichter, die in der Zeitung Nasha Niva publizierten, verwendeten aktiv diesen Spruch. Kein Wunder, dass im Editorial einer Ausgabe von 1911 stand:
„Die belarussische Nationalbewegung wächst, die armseligen, in Vergessenheit geratenen belarussischen Dörfer erwachen zu einem neuen, eigenständigen Leben; unsere Städte und Ortschaften erwachen und werden ihrer nationalen Namen gewahr. Es erwacht die riesige, kriwitschische Weite mit unseren Äckern, Wiesen und Wäldern, und in den Liedern unserer Volkssänger erschallt, dass Belarus lebt!“.
Wie wurde diese Losung vor dem Zweiten Weltkrieg verwendet?
Sehr aktiv. Aber bevor wir diese Frage beantworten, machen wir einen kleinen Exkurs. 1917 fand in Minsk der Erste Allbelarussische Kongress statt. Die belarussischen Staatsbeamten betonten immer wieder dessen große Bedeutung. „Diese Volksversammlung hat die zentralen Werte erkennen lassen, die für uns bis zum heutigen Tag Gültigkeit haben: ein eigener Staat, dessen sozialer Charakter und das Faktum, dass nur das Volk, sein Wille, seine kollektive Vernunft und seine politische Führung ein echter Quell der Unabhängigkeit sein können“, erklärte Alexander Lukaschenko 2017.
„Erstmals seit vielen Jahrhunderten zeigte das belarussische Volk seinen Willen zur Selbstbestimmung, und erstmals wurde die Idee einer belarussischen Staatlichkeit geäußert. Aus dieser Idee, der Idee des Allbelarussischen Kongresses, geht die Praxis der Allbelarussischen Versammlungen hervor“, sagte Igor Marsaljuk ebenfalls 2017 in einer Sendung des Staatsfernsehens ONT. Auf eben diesem Kongress erklang die Losung „Es lebe das freie Belarus!“. Bis zum Krieg behielt die Losung in der Belarussischen SSR ihre Bedeutung bei. Nur dann in der Variante „Es lebe das sowjetische Belarus!“. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Losung noch verwendet, wie auf dem Plakat zu sehen ist.
Wie wurde die Losung während des Krieges verwendet?
Der Verweis auf die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation ist ein Lieblingsmotiv der belarussischen Propagandisten. Leider lässt auch der habilitierte Geschichtswissenschaftler Igor Marsaljuk es nicht aus.
„Man kann sich natürlich auf Verse von Kupala oder Pimen Pantschenko beziehen, in denen diese Wendung vorkommt. Aber wenn wir nicht von der Wortverbindung sprechen, sondern von der Grußform, dann sehen wir in den Statuten des Weißruthenischen Jugendwerks, dass man als Rangniederer auf den Ranghöheren zuging, ihn begrüßte mit: Es lebe Belarus und dabei die Hand zum Hitlergruß hob. Die Antwort darauf war kurz und bündig: Es lebe. Dieser Gruß wurde, genauso wie Sieg heil!, während der deutsch-faschistischen Besetzung der BSSR kanonisch und in weiterer Folge zu einer konstanten, alltäglichen Formel der belarussischen Emigration in Kanada und den Vereinigten Staaten“, sagte Marsaljuk auf CTV.
Während des Krieges gab es im besetzten Belarus tatsächlich eine solche Organisation mit dem Namen Weißruthenisches Jugendwerk. Sie wurde 1943 gegründet, ein Jahr vor der Befreiung. Und ja, ihre Mitglieder grüßten wirklich mit Hitlergruß. Doch auf ihrem Höhepunkt hatte die Organisation gerade mal 12.600 Mitglieder, von denen noch dazu später ein Teil zu den Partisanen überlief. Doch gleichzeitig wurde diese Losung auch auf der anderen Seite der Barrikaden verwendet. „Verfechter der BSSR und später auch Partisanen und Untergrundkämpfer im Zweiten Weltkrieg riefen: ‚Es lebe das sowjetische Belarus!‘“, schrieb 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja. Während des Krieges entstand ein Marschlied der belarussischen Partisanen. Ein kurzes Fragment daraus zitierte E. Tumas vom Lehrstuhl für Chor und Gesang der Belarussischen Universität für Kunst und Kultur. Wir bringen einen längeren Ausschnitt:
Niemals wird erliegen den heftigen Bränden unser großes und ruhmreiches Land. Auf in den Kampf für die Heimat, Genosse, schließ dich den Partisanen an. Am preußischen Henker für Dorf und Haus ruft das Volk zur Rache auf. Zum Angriff bereit sind die Waldsoldaten, Granaten krachen, Gewehre donnern – es lebe Belarus! Es lebe hoch!
Dieser Text ist in der Werksammlung von Pimen Pantschenko zu finden, einem Klassiker der belarussischen Literatur. Es handelt sich um eine Übersetzung des vom russischen Dichter Alexej Surkow verfassten Partisanenmarsches. Der Band, in dem das Gedicht erschien, wurde 1981 in einer Auflage von 17.000 Stück veröffentlicht. Die Losung Es lebe Belarus irritierte niemanden.
Wie der Slogan „Es lebe Belarus“ wieder aktuell wurde
Nach dem Krieg wurde die Losung in der Emigration aktiv verwendet, während sie in der BSSR in den Hintergrund trat. Aktuelle Bedeutung erlangte sie durch die Belarussische Nationale Front (BNF) und die politischen Ereignisse Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Doch nach dem Machtantritt Alexander Lukaschenkos ereilte die Parole Es lebe Belarus dasselbe Schicksal wie die weiß-rot-weiße Fahne: Die staatlichen Medien begannen, sie ausschließlich mit der Opposition im Allgemeinen und der BNF im Besonderen zu assoziieren. Diese Wahrnehmung herrschte lange Zeit vor und beeinflusste die Haltung eines Teils der Gesellschaft zu nationaler Symbolik und zu dieser Losung.
In den 2010er Jahren kehrte der Slogan wieder auf die Tagesordnung zurück. Die Opposition im ursprünglichen Wortsinn war praktisch zur Gänze vernichtet. Die Parteien (auch die BNF) hörten in diesen Jahren auf, das politische Geschehen mitzugestalten. Gleichzeitig traten anderweitig politisch aktive Belarussen bei politischen Aktionen weiterhin mit nationaler Symbolik auf und skandierten Es lebe Belarus! In der Folge wurden sowohl die nationale Fahne als auch die Losung nicht mehr nur der Opposition zugeordnet. Zumal: Ab dem Jahr 1990 erschien sie regelmäßig als Slogan auf der Titelseite der Narodnaja Gaseta, einer Publikation des Parlaments. Der oben erwähnte Igor Marsaljuk ist übrigens Abgeordneter des Repräsentantenhauses. Seit den 1990er Jahren ist einiges an Zeit vergangen. Eine neue Generation ist herangewachsen, die bereits im unabhängigen Belarus zur Schule ging, Geschichte und Literatur des eigenen Landes gelernt hat und in der Lage war, selbst ihre Schlüsse zu ziehen. „Für Belarus!, Es lebe Belarus! oder Blühe, Belarus! – im Grunde ist das alles dasselbe mit anderen Worten. Ist es denn so außergewöhnlich oder gar – das fehlte gerade noch – das exklusive Recht bestimmter Parteien, seinem Land Wohlergehen zu wünschen, zu betonen, dass es lebt (und nicht im Sterben liegt und nicht untergeht – Gott bewahre!)? Soll das heißen, ein normaler Mensch, der mit Politik nichts am Hut hat, darf nicht einmal ein paar schöne Worte über sein eigenes Land verlieren?“, stellte 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja die rhetorische Frage. „Heimatliebe, Nationalbewusstsein oder, wenn man so will, ‚Bewusstheit‘ sind heute der Normalzustand jedes Belarussen.“
Batenka-Autor Alexej Sinjakow sucht nach Gegenständen, die Putin berührt hat. Und stellt fest: Der Onlinehandel blüht.
In Russland gibt es zwei Besonderheiten: Putin wird gefürchtet, und er wird verkauft. Und je mehr man ihn fürchtet, desto teurer verkauft man ihn – diese seltsame Dynamik kann man auf Online-Kleinanzeigenseiten wie Avitound Jula beobachten. Es ist alarmierend: Anscheinend verliert und vergisst der Präsident ständig Dokumente, Papiere, Geschirr, Wäsche und Sportgeräte. Manchmal finden Leute diese Sachen und verkaufen sie. Wenn man zum Beispiel in die Suchmaschinen dieser Online-Märkte „Putin“ eingibt, findet man: „Luftballon für Sammler mit Putin-Portrait. Preis: 10.000 Rubel [ca. 115 Euro – dek].“ Selbst ein schwarzes Baumwoll-T-Shirt mit ordentlich gekämmtem Präsidenten und Kampfjet über der Bauchspeicheldrüse kostet in der Boutique Armija Rossii an der Küste des Ferienortes Anapa nur ein Sechstel – wahrscheinlich deswegen, weil diese T-Shirts in Massen hergestellt werden, während der Verkäufer auf Avito eine extreme Sammlerrarität verspricht.
Auf dem Foto sind drei unaufgeblasene Luftballons drapiert, alle mit demselben Aufdruck: der lächelnde Präsident in satten Zeiten, während der Rochade zwischen Wladimir Putin und Dimitri Medwedew.
Bläht sich Putins Gesicht nicht auf, wenn man den Ballon aufbläst?
Ich rufe den Verkäufer an. Es meldet sich Maria. „Wie viele Luftballons kriegt man für 10.000 Rubel?“, frage ich und hoffe auf alle. „Einen.“ „Warum sind die so teuer?“ „Ich habe mir gedacht, der Ballon selber kostet ja nicht viel. Aber wenn der Präsident drauf ist, kann man ihn doch nicht für drei Rubel verkaufen …“ Diese Logik ist bestechend, doch in unserem Gespräch entsteht eine peinliche Pause. Dann erzählt die geschickte und sanfte Verkäuferin sogleich, wie sie zu diesen Luftballons gekommen ist: Als Studentin habe sie „bei der ersten Wahlkampagne von WWP [Wladimir Wladimirowitsch Putin – dek] gearbeitet“ und die Ballons an Moskauer Passanten verteilt. „Solche Luftballons werden Sie nirgendwo mehr finden“, setzt sie angesichts meines Schweigens fort. „Ich habe nämlich gehört, nicht alle bekommen die Erlaubnis Porträts von Wladimir Putin zu drucken.“ „???“ „Ja, auch auf T-Shirts und Tassen: Auf billigen und schlechten Sachen ist das verboten“, beteuert die Frau. „Na gut, aber wenn man den Luftballon aufbläst, bläht sich dann nicht Putins Gesicht auf? Die Backen zum Beispiel?“ „Aber nein! Ich habe Putin schon so oft aufgeblasen! Auch mein Sohn hat ihn einmal aufgeblasen – bei einem Fest im Kindergarten. War alles in bester Ordnung.“ Auf mein Schweigen hin bietet Maria an, mit dem Preis auf 3000 [ca. 35 Euro – dek] pro Stück herunterzugehen. Ich lege auf.
Mit dem Namen des Präsidenten verleihen sie den Dingen eine sakrale Macht
Die Russen verkaufen alles, was der Präsident berührt haben könnte. Was sie dazu bewegt, ist schwer zu sagen und schon gar nicht, ob sie wirklich mit Erfolg rechnen. Mit dem Namen des Präsidenten verleihen sie den Dingen eine sakrale Macht, dann bringen sie ein astronomisches Preisschild an und warten geduldig. Da bietet einer eine schwarze Sportsocke feil, die, wie er behauptet, Putin in der Hektik einer anstrengenden Dienstreise in einem Petersburger Hotel vergessen hat – für 60.000 Rubel [knapp 700 Euro – dek]. Ein kariertes Freizeitsakko – der Verkäufer versichert, es habe Putin gehört. Es lässt sich gut bei Weinverkostungen und in Zigarrenlounges tragen, oder auch bei harmlosen, feuchtfröhlichen Betriebsfeiern in der Regionalstelle irgendeiner großen Eisenbahnfirma. Oder man tut damit einfach so, als wäre man reich.
Oder das Hockeyshirt von Dynamo Moskau. Am Telefon, meldet sich ein höflicher, gebildeter Mann. „Sagen Sie, hat Putin in diesem T-Shirt wirklich gespielt?“ „Das ist kein T-Shirt, sondern ein Trikot“, erklärt der Verkäufer geduldig. „Dieses Trikot wurde eigens für Putin hergestellt, als er für den HK Dynamo Moskau aufs Eis gehen sollte. Das war, als Andrej Safronow Präsident des Clubs war – vor 2014.“ Der Verkäufer kennt sich offenbar gut aus mit Eishockey, wahrscheinlich arbeitet er in dem Bereich. Seine Antworten klingen trocken und gewichtig, wie Zitate aus dem Lexikon. Außerdem hat er mehrere Dutzend Anzeigen geschaltet: von einfachen Buttons über Eishockeyschläger bis hin zu Eislaufschuhen, manche davon mit Autogrammen von Spitzensportlern, etwa Wjatscheslaw Fetissow. „Klebt denn der Schweiß des Präsidenten an diesem Trikot?“ „Putin kam damals gar nicht zum Match. Das Trikot habe dann ich bekommen.“ Allein die Herstellung eines Trikots koste 12.000 bis 14.000 Rubel [ca. 150 Euro], erzählt der Verkäufer weiter, aber solche Sachen würden ab 1000 Dollar zum Verkauf angeboten. „Das ist nämlich etwas auf seine Art Einzigartiges“, sagt er mit hörbarer Kennermiene.
Klebt denn der Schweiß des Präsidenten an dem Trikot?
„Warum einzigartig?“ „Es steht ‚Putin‘ drauf.“ „Das kann doch jeder draufschreiben …“ „Hören Sie, Sie verstehen das wohl nicht ganz: Das Trikot ist von der Firma Lutsch. Und solche Namen werden ohne Abstimmung mit dem FSO nicht aufgedruckt. Lutsch wird ja nicht seinen Ruf und seinen Kopf riskieren – deswegen muss es da eine Genehmigung von oben gegeben haben.“ „Es ist also kein Tropfen Präsidentenschweiß dran?“ Der Mann willigt ein, das Trikot für 50.000 Rubel [580 Euro – dek] herzugeben, dann geht er runter auf 30.000 Rubel [350 Euro – dek]. Da wird es höchste Zeit, sich die Frage zu stellen: Warum 30.000 für ein Trikot ausgeben, das Putin gar nicht getragen hat, wenn man sich genauso gut ein neues bestellen kann? Ich versuchte mehrmals, mit der Firma Lutsch Kontakt aufzunehmen, aber dort taten sie mehrere Monate angestrengt so, als hätten sie meine Aufträge zur Herstellung eines Trikots, wie es der Präsident hat, nicht bekommen.
Ein spezielles Genre in diesem Warenkult sind Visitenkarten, Dokumente und Papiere, die der Präsident in verschiedenen Lebensjahren unterschrieben hat (oder auch nicht). Zum Beispiel: „Firmengründung 1993. Sankt Petersburg. Mit Putins Unterschrift. Preis 99.000.“ Mit der Anmerkung: „Bitte keine Anrufe mit dummen Fragen.“ Ich rufe an. „Das Dokument hat meine Mutter bei der Firmengründung bekommen“, sagt Anton aus dem Mikrorayon Dubinki in Krasnodar und fügt sofort hinzu: „Aber fast wäre es auf dem Müll gelandet.“ „Wieso das?“ „Als die Firma aufgelöst wurde, blieb bei uns zu Hause eine ganze Aktentasche voller Dokumente zurück“, erinnert sich Anton. „Vor dem Wegwerfen wollte ich sie durchsehen – und fand auf einmal ein Dokument mit Putins Unterschrift. Damals in den 1990ern hat meine Mutter gemeinsam mit einem Geschäftspartner ein Unternehmen gegründet, und WWP war zu dieser Zeit Vorsitzender des Komitees für Außenbeziehungen in Sankt Petersburg. Er hat dieses Dokument eigenhändig unterschrieben. Kriminelle oder korrupte Machenschaften sind mir persönlich in dieser Sache nicht bekannt.“
‚Wie kann die Echtheit der Visitenkarte bestätigt werden?‘ ‚Ich versichere Ihnen, dass sie echt ist.‘
Am teuersten sind Visitenkarten. Nach langem Suchen stoße ich endlich auf etwas Lohnendes: eine Visitenkarte, die aussieht wie jene, deren Echtheit im Jahr 2019 vom Pressesprecher des Präsidenten kommentiert werden musste. Allerdings kostet sie 1.100.000 Rubel [ca. 12.700 Euro – dek]. Für diesen Betrag bekommt man in Orechowo-Sujewo eine ganze Wohnung. Beim x-ten Versuch erreiche ich schließlich die Verkäuferin Olga über WhatsApp. Olgas Profilbild ist eine Fünf-Kopekenmünze von 1916. „Sind Sie Journalist?“, fragt statt Olga eine Männerstimme aus dem Hörer. „Nein“, sage ich und lüge, ich sei Eventmanager und suche Geschenke für eine Betriebsfeier. „Mich rufen nämlich dauernd Journalisten an“, ärgert sich der Mann über bisherige Interessenten. „Wie können Sie garantieren, dass die Visitenkarte echt ist?“ „Die Visitenkarte hat mein Vater bekommen. Er war im Komitee für öffentliche Kommunikation tätig.“ „Wie kann ihre Echtheit bestätigt werden?“ „Ich versichere Ihnen, dass sie echt ist.“ Die Telefonnummer des Mannes beginnt mit 995, und Yandex gibt sofort preis, dass sie nicht in Sankt Petersburg registriert ist, sondern von der tschetschenischen Wainach Telekom stammt. „Na gut, aber kann ich ein persönliches Treffen mit Ihrem Vater vereinbaren, immerhin geht es um eine Million Rubel?“ „Nein, er ist verstorben.“ Das Gespräch ähnelt immer weniger einem Dialog, und ich entschuldige mich, so gut ich kann. „Aber mein Vater ist auf Fotos drauf – sogar zusammen mit Putin und Peskow.“ „Kann ich bei einem Treffen diese Fotos sehen?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil alle Fotos im Besitz von Verwandten sind, die sie nicht herzeigen wollen.“ „Aber …“ Der Mann meint, ich könne das Foto der Visitenkarte jedem zeigen, der lange mit Putin zusammenarbeitet, und fügt hinzu, eine solche Karte nachzumachen sei einfach unmöglich – sie sei echt.
Ich gehe auf Jula und finde dort etwas Billigeres, das der nationale Leader berührt haben könnte. „Souvenir-Medaille Sotschi von Präsident Putin“, 7000 Rubel [80 Euro – dek]. „Erzählen Sie mal, hat die der Präsident persönlich überreicht? Ich muss wissen, ob Putin sie in der Hand hatte oder nicht.“ „Aber ich bitte Sie, wieso der Präsident?! Glauben Sie, ich würde sie dann noch zu so einem Preis verkaufen? Da würde sie doch 100.000 kosten! Die Medaille wurde in China produziert und für weniger als 1.000 Rubel gekauft.“ „Verstehen Sie, ich brauche Dinge, die Putin berührt hat. Haben Sie solche?“ „Ja, hab ich. Die Putinmedaille.“ „…“ „Für 7.000“, er spricht noch immer von derselben Medaille. „Wie beweisen Sie, dass sie echt ist?“ „Es steht drauf, dass sie vom Präsidenten ist. Solche Medaillen hat Putin nach der Olympiade den Sportlern überreicht.“
„Und wem konkret hat er diese Medaille überreicht?“ „Selbst wenn ich Ihnen den Namen nennen würde, würde er Ihnen ohnehin nichts sagen.“ „Aber so könnte ich immerhin im Internet nachschauen.“ „Sage ich nicht.“
Aber eigentlich, warum habe ich überhaupt beschlossen, dass es einen Unterschied macht, ob der Präsident Sachen berührt hat oder nicht? Wer sagt denn, dass das wichtig ist? Und für wen? Die Leute sammeln diese bedeutungsgeladenen Horkruxe in der Hoffnung, dass sie so dem Präsidenten näher sind, und halten das Ersehnte für die Wirklichkeit. Und irgendwann finde ich die Antwort auf diese Frage: Ich entdecke ein Inserat mit Kopien alter Visitenkarten von Putin – 100 Stück zum Preis eines Humpens Importbier. Ich kaufte sie und verkaufte sie sofort weiter, zuerst zu einem durchschnittlichen Avito-Preis von 800.000 Rubel [etwa 8.800 Euro – dek], und dann schrieb ich mit Feststelltaste: GRATIS ABZUGEBEN. Innerhalb eines Tages riefen acht Personen an, aber wie ich die Echtheit des Dokuments beweise, das hat nur einer gefragt.
„Ein Name, ein Leben, ein Zeichen“ – unter diesem Motto startete 2013 in Russland die Bürgerinitiative Posledni Adres. Sie hat sich die „Erinnerung an die Opfer von politischer Repression und Staatswillkür in der Sowjetzeit“ zur Aufgabe gemacht. Analog zu den Stolpersteinen in Deutschland werden an Häusern, in denen die Opfer politischer Verfolgung bis zu ihrer Verhaftung wohnten, kleine Metalltafeln mit Namen und kurzen biografischen Daten angebracht. Mittlerweile wurden auf diese Art mehr als 1000 Opfer des Großen Terrors unter Stalin in mehr als 40 Städten gewürdigt, darunter auch drei in Deutschland.
Diese Initiative stößt in Russland jedoch regelmäßig auf Widerstand der Bewohner, Hausbesitzer oder -verwalter, die sich weigern, die Tafeln anzubringen oder bereits angebrachte Erinnerungszeichen wieder entfernen. Manche Tafeln werden auch mutwillig beschädigt oder zerstört.
Zuletzt wurden 16 Tafeln vom sogenannten Dowlatow-Haus in Sankt Petersburg entfernt. Diese 16 Tafeln erinnerten an 16 Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität, die zu verschiedenen Berufsgruppen gehörten. Das einzige, was sie außer dem Wohnhaus teilten, war ihr Schicksal: Sie alle wurden während des Großen Terrors festgenommen und erschossen und erst Jahrzehnte später rehabilitiert.
Auf Initiative dreier Hausbewohner hin wurden die Tafeln wieder abmontiert. Dies hat für eine heftige Diskussion und gegenseitige Beschimpfungen in Sozialen Netzwerken gesorgt. Auch in den Medien wird der Fall breit diskutiert.
Warum löst das Thema Repressionen in der heutigen russischen Gesellschaft eine so waidwunde Reaktion aus? Wie wird das kollektive Trauma in Russland und wie in anderen Ländern behandelt? Und kann man Menschen zum Gedenken zwingen? Auf diese Fragen antwortet Boris Kolonizki, renommierter Historiker und Professor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, im Interview mit der Novaya Gazeta.
Maria Baschmakowa: Die Gesellschaft ist in zwei Lager gespalten. Die einen rufen zur kollektiven Reue auf, die anderen bestehen darauf, dass „wir keine Schuld haben“ und „keine schlechten Menschen sind“. Wie kam es zu dieser Spaltung?
Boris Kolonizki: Die Überwindung des Stalinismus hängt nicht von oktroyierten Losungen und Programmen ab, sondern von der Taktik, mit der man das Ziel zu erreichen versucht. In jeder Politik sind die Mittel wichtiger als der Zweck. Der Zweck heiligt die Mittel eben nicht, sondern die Mittel verändern den Zweck. Und Taktik ist wichtiger als Strategie.
Stalinismus kann nicht mit stalinistischen Methoden bekämpft werden. Ein Teil der Gesellschaft fordert von dem anderen Reue und ruft nicht nur die Nachkommen von Henkern und Denunzianten zur Reue auf, sondern alle, die versucht haben, in dieser schrecklichen Zeit zu überleben. Als ob durch Reue alles gut würde. Doch so funktioniert das nicht. Reue ist eine persönliche Entscheidung, die man nicht erzwingen kann; dazu aufrufen kann man, indem man selbst mit gutem Beispiel vorangeht.
Reue ist eine persönliche Entscheidung, die man nicht erzwingen kann
In Russland wird Deutschland gern als Vorbild hingestellt, das es nachzuahmen gilt. Und gerade in Deutschland bekannten sich viele, die mit den Naziverbrechen persönlich nichts zu tun hatten und sogar im antifaschistischen Kampf aktiv waren, öffentlich zu ihrer Verantwortung für das, was Deutschland im 20. Jahrhundert angerichtet hat. Sogar jene, die während des Krieges und danach geboren wurden, die allein aufgrund ihres Alters an gar nichts beteiligt gewesen sein konnten, sprachen von ihrer moralischen Verantwortung. Beispiele, dass Kriegsverbrecher Reue gezeigt hätten, findet man jedoch selten.
Ein reifer und verantwortungsbewusster Patriotismus verlangt eine Kombination aus Stolz und Scham für die eigene Heimat
Wir beobachten heute einen globalen Viktimisierungswettstreit: Fast alle fühlen sich als Opfer und fordern von anderen Reue. Das ist nicht nur ein russischer Charakterzug, das findet man in vielen Ländern. Für uns wird unsere Geschichte aber noch lange ein Stolperstein sein: Die Menschen fühlen sich oft als Opfer des Stalinismus, des Kommunismus, des russischen Imperialismus, fordern Reue von anderen, ohne über die eigene Verantwortung für die Vergangenheit des Landes zu sprechen.
Ein reifer und verantwortungsbewusster Patriotismus verlangt eine Kombination aus Stolz und Scham für die eigene Heimat. Einem solchen Patriotismus stehen Aufrufe zum Vergessen der „schweren Vergangenheit“ und das Gefühl, sich als Opfer der Geschichte zu sehen, im Wege.
Warum werfen unsere Zeitgenossen heute so leichtfertig mit Worten wie „Faschist“ und „Stalinist“ um sich? Polemik über Repressionen bedeutet im Netz fast immer Streit und Beschimpfungen.
Das ist der, mitunter durchaus unbewusste, Einfluss der sowjetischen Tradition. Die Antikommunisten sowjetischer Provenienz tragen sehr viel Sowjetisches in sich. Die Revolutionäre haben sehr gern das in ihrem Sinne abgeänderte Evangelium zitiert: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Dieser Logik folgen auch viele Antikommunisten. Hinzu kommt die allgemeine Zuspitzung der Situation: Wir erleben mehrere ineinander verwobene Krisen als schwere emotionale Belastung. Auf all das wirkt auch die schwindende, vor allem humanistische, Bildung.
Die Menschen fühlen sich oft als Opfer des Stalinismus, ohne gleichzeitig auch über die eigene Verantwortung an der Vergangenheit zu sprechen
Das zeigt sich auch in einer heimlichen Sehnsucht nach klarer Zugehörigkeit: Das Schema „das Eigene“ versus „das Fremde“ wirkt schon, bevor das erste Argument auf dem Tisch ist.
Das Thema der Verantwortung der Nachfahren für die Handlungen ihrer Väter und Großväter ist komplex. Wer wie leben will, ob er etwas über die Taten seiner Vorfahren wissen will oder nicht, entscheidet jeder selbst.
Keiner meiner Verwandten war Offizier des NKWD. Aber ich kann nicht hundert Prozent sicher sein, dass meine Vorfahren keine Denunziationen geschrieben, bei Versammlungen keine „Feinde“ entlarvt haben. Und es sind auch nur wenige, die mit Sicherheit sagen können, dass ihre Vorfahren ganz bestimmt nicht „beteiligt“ waren.
Wir suchen gern in fremden Kellern nach Leichen, aber haben Angst im eigenen nachzuschauen. Wir haben ein schlechtes politisches Erbe. Wir sind Menschen unterschiedlicher politischer Ansichten, Träger jener radikalen, konfrontativen politischen Kultur, die den Stalinismus ermöglicht hat.
Zur Sowjetzeit haben sich Millionen Pioniere die Frage gestellt: Wie kann ich im Verhör durchhalten, wenn ich der Gestapo in die Hände falle? Mehrere Generationen wurden so erzogen. Wir sollten uns heute die Frage stellen: Wie hättest du dich in einem Verhör beim NKWD verhalten? Und wenn Leute sofort, vollkommen überzeugt und ohne nachzudenken sagen: „Ich hätte niemals jemanden denunziert“, dann glaube ich ihnen das nicht einfach so. Denn zwischen Ablehnung des Stalinismus und seiner Manifestation besteht ein Zusammenhang.
Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets. Im Inforauschen rund um den Fall Nawalny tauchte irgendwann sogar die Version auf, der Oppositionspolitiker sei womöglich in Berlin vergiftet worden.
Doch warum das Argument, man habe keine giftige Substanz nachweisen können, gerade dann nicht gelten kann, wenn es um eine Vergiftung durch Nowitschok geht, zeigt eine Recherche von Roman Schleinow für Washnyje istorii und Novaya Gazeta. Warum hätten die russischen Ärzte aufgrund der Symptome Nawalnys sehr wohl auf eine Vergiftung durch Nowitschok kommen können? Es gab schon mal einen ähnlichen – allerdings nicht politischen – Fall: 1995 wurde der Bankier Iwan Kiwelidi durch Nowitschok vergiftet. Da dies allerdings Staatsgeheimnis war, war offiziell stets von einem amerikanisch-britischen Kampfstoff von Typ-V die Rede gewesen.
Im Vergleich der beiden Fälle, den das Medium unternimmt, tun sich erstaunliche Parallelen auf, was die Symptome angeht, und deutliche Unterschiede, was die Ermittlungen betrifft.
dekoder hat eine gekürzte Version der umfangreichen Recherche ins Deutsche übersetzt:
Der Kreml sieht keinen Grund, im Fall Nawalny Ermittlungen einzuleiten. Das teilte Dimitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, am 25. August 2020 mit – drei Tage, nachdem der Oppositionspolitiker, der zuvor keinerlei gesundheitliche Probleme gehabt hatte, in einem Flugzeug zusammengebrochen und ins Koma gefallen war.
„Zuerst muss die Substanz gefunden werden, es muss festgestellt werden, was diesen Zustand herbeigeführt hat“, erklärte Peskow.
Diese kategorische Haltung des Kremlsprechers überrascht. So musste im Fall des Giftanschlags auf Kiwelidi 1995 nicht zuerst „die Substanz gefunden werden“. Man fand sie auch nicht sofort, sondern nach drei bis vier Monaten komplexer Untersuchungen an den Oberflächen der Gegenstände aus dem Büro des Bankiers. Dass diese Untersuchungen durchgeführt wurden, war nur durch die Einleitung von Ermittlungen und die schnelle Sicherung der Beweismittel möglich. Benannt wurde die Substanz bis zuletzt nicht. In den Akten heißt es, die Eigenschaften „sind Staatsgeheimnis“.
Fall Kiwelidi: Einleitung von Ermittlungen und schnelle Sicherung der Beweismittel
Am 1. August 1995 war Iwan Kiwelidi in seinem Büro der Rosbisnesbank plötzlich ins Koma gefallen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Am nächsten Tag folgte die Einlieferung seiner Sekretärin Sara Ismailowa mit denselben Symptomen. Bereits am 6. August leitete die Moskauer Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein – wegen Anzeichen einer Intoxikation „durch ein unbekanntes Gift“, „mutmaßlich Cadmiumchlorid“.
Eine Vergiftung durch Cadmiumchlorid vermuteten auch Kiwelidis Angehörige und Kollegen. Doch auch nach dem Tod des Bankiers und seiner Sekretärin konnten bei den Analysen weder Gift noch andere bekannte hochwirksame Substanzen nachgewiesen werden. Die Annahme, es handele sich um Cadmium, bestätigte sich nicht. Nicht einmal das Büro für gerichtsmedizinische Gutachten des Moskauer Gesundheitsministeriums konnte die Todesursache von Ismailowa ermitteln, die offenbar unbeabsichtigt ebenfalls vergiftet worden war.
Dennoch genügte im August 1995 der von Kiwelidis Angehörigen und Kollegen geäußerte Verdacht, um eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten. Als Nawalnys Angehörige und Kollegen im August 2020 offen erklärten, er sei vergiftet worden, zeigte das keinerlei Wirkung auf die russischen Sicherheitsbehörden. Die Einleitung eines Strafermittlungsverfahrens wurde abgelehnt.
In Russland ist nicht einmal mehr der rätselhafte Tod eines Politikers Grund genug für ein Verfahren. Im Sommer 2003 starb der Duma-Abgeordnete und stellvertretende Chefredakteur der Novaya GazetaJuri Schtschekotschichin infolge einer seltenen allergischen Reaktion, obwohl er keine Allergien hatte. Nicht nur seine Angehörigen, sondern auch der Vorsitzende des Sicherheitskomitees der Duma, die Partei Jabloko und die Novaya Gazeta hatten darauf bestanden, dass umgehend ein Ermittlungsverfahren eröffnet wird, weil Schtschekotschichin wegen seiner beruflichen Tätigkeit mehrfach bedroht worden war. Ein Verfahren wurde dreimal abgelehnt. Erst fünf Jahre später wurden Ermittlungen aufgenommen, die ergebnislos blieben: Eine Substanz, die eine solche Reaktion hätte auslösen können, wurde nicht gefunden.
I. Kein Gift in Nawalnys Organismus nachweisbar – gab es also keine Vergiftung?
Russische Regierungsvertreter betonen immer wieder, dass die russischen Ärzte kein Gift in Nawalnys Organismus gefunden hätten.
„In dem Moment, als Alexej Nawalny Russland verließ, waren keine toxischen Substanzen in seinem Organismus“, erklärte der Chef des russischen AuslandsgeheimdienstesSergej Naryschkin.
Die These, in Nawalnys Organismus sei kein Gift nachgewiesen worden, äußerte als erster Anatoli Kalinitschenko, der stellvertretende Chefarzt der Klinik Nr. 1, bereits einen Tag nach Nawalnys Einlieferung. Er fügte dann vorsichtig hinzu, dass die anfängliche „Diagnose einer Vergiftung wohl noch nicht ganz vergessen ist, aber wir denken nicht, dass der Patient vergiftet wurde“.
All diese Erklärungen muten seltsam an. Denn wie der Fall Kiwelidi gezeigt hat, ist es ausgesprochen schwer, eine Substanz aus der Nowitschok-Gruppe im Organismus des Vergifteten nachzuweisen. Bei Kiwelidi und seiner Sekretärin wurden keine bekannten Gifte festgestellt – weder durch die Ärzte der Zentralklinik der Verwaltung für die Angelegenheiten des Präsidenten noch durch die Ärzte der Moskauer Stadtklinik Nr. 1 und auch nicht durch die Gerichtsmediziner.
Nowitschok ist im Organismus kaum nachweisbar
Als der Rettungswagen Kiwelidi aus seinem Büro abtransportierte, notierten die Ärzte in ihrem Bericht: „Hatte eine Stress-Situation bei der Arbeit“ (der Bankier kam aus einem hitzigen Meeting); außerdem gaben sie an, er hätte sich unwohl gefühlt, sei ohnmächtig geworden und kurz darauf ins Koma gefallen. In den Vernehmungsprotokollen der drei Ärzte, die im Einsatz waren, lautet die „Diagnose: Verdacht auf schwere zerebrale Durchblutungsstörungen“.
Am nächsten Tag wurde Kiwelidis Sekretärin Sara Ismailowa mit ähnlichen Symptomen aus demselben Büro mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Im Vernehmungsprotokoll des Notarztes heißt es, sie „war nicht bei vollem Bewusstsein, stöhnte“, dann sei sie ins Koma gefallen. Der Notarzt stellte die Diagnose: „epileptischer Anfall“. Es vergingen keine 24 Stunden, bis sie starb. Kurz darauf starb auch Kiwelidi.
In zwei gerichtsmedizinischen chemikalischen Untersuchungen konnten keine hochwirksamen oder toxischen Substanzen und auch keine Schwermetalle im Blut des Bankiers festgestellt werden. Die Gerichtsmediziner folgerten nur anhand von indirekten Anzeichen, dass eine „unbekannte Substanz“ auf Kiwelidi eingewirkt haben musste. Den Prozessakten zufolge war das erste und wesentliche Anzeichen einer solchen Einwirkung „eine Abnahme der Konzentration von Cholinesterase im Blut“. Cholinesterase ist ein lebenswichtiges Enzym bei der Neurotransmission. „Wird die Cholinesterase gehemmt, kommt es zu einem fast vollständigen Versagen aller lebenswichtigen Funktionen“, heißt es im Abschlussbericht der Gerichtsmediziner.
Die Cholinesterase als Marker
Auch bei Alexej Nawalny stellten die deutschen Ärzte niedrige Cholinesterase-Werte fest, als er im Koma in die Berliner Universitätsklinik Charité eingeliefert wurde.
Nawalnys Angehörige hatten seine Verlegung gefordert, mehrere europäische Staats- und Regierungschefs hatten mit Wladimir Putin gesprochen. Schließlich änderten die Gesundheitsbeamten in Omsk, die zuvor erklärt hatten, Nawalny sei „nicht transportfähig“, innerhalb weniger Stunden ihre Meinung. Nach einer Untersuchung des Oppositionspolitikers gab die Charité in einer Pressemitteilung bekannt: „Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin. […] Die Wirkung des Giftstoffes, d. h. die Cholinesterase-Hemmung im Organismus, ist mehrfach in unabhängigen Laboren nachgewiesen.“
„Es ist wichtig herauszufinden, warum der Cholinesterase-Wert gesunken ist. Bisher konnten weder unsere noch die deutschen Ärzte diesen Grund feststellen“, entrüstete sich Putins Pressesprecher. „Wir verstehen nicht, warum die deutschen Kollegen so voreilig von einer Vergiftung sprechen. Diese Version war unter den ersten, die unsere Ärzte in Betracht gezogen hatten. Aber es wurde keine Substanz ermittelt.“
Die Empörung des Kremlsprechers ist wenig plausibel. So wird in den russischen Prozessakten im Mordfall Kiwelidi die Vergiftung durch „rapide gesunkene Cholinesterase-Werte im Blut“, „plötzliche Ohnmacht mit darauffolgendem Koma“ und eine Reihe weiterer Symptome belegt.
„Ein überzeugender Beleg für eine Vergiftung durch Cholinesterase-Hemmer war die biochemische Analyse von Kiwelidis Blut, […] bei der sehr niedrige Cholinesterase-Werte festgestellt wurden“, heißt es im gerichtsmedizinischen toxikologischen Befund.
In den Prozessakten sind außerdem folgende äußerliche Anzeichen der Vergiftung aufgelistet: Blässe, kalte Hände, kalter, klebriger Schweiß, Flimmern vor den Augen, Stöhnen während des Bewusstseinsverlusts, Krämpfe. Den Menschen ergreife Todesangst, er rede konfus, erkenne Angehörige nicht wieder und habe Atemnot. Dies geht aus den Zeugenaussagen im Fall Kiwelidi, der Anklageschrift und dem toxikologischen Befund der Gerichtsmedizin hervor.
Alexej Nawalny erzählte Washnyje istorii, was er gespürt hat, als ihm im Flugzeug übel wurde. Mindestens zehn seiner Symptome und Reaktionen entsprechen dem, was Kiwelidi und seine Sekretärin durchgemacht hatten.
Die Plastikflasche als Träger
Als Nawalnys Kollegen erfuhren, dass er während des Flugs ins Koma gefallen war, schöpften sie sofort Verdacht. Sie engagierten einen Anwalt und nahmen in dessen Anwesenheit einige Gegenstände aus Nawalnys Hotelzimmer in Tomsk mit. Darunter auch eine Wasserflasche aus Plastik, die Nawalny berührt hatte.
Nawalnys Angehörige übergaben diese Flasche und weitere Dinge den Ärzten aus der Charité. Diese zogen ein Speziallabor der Bundeswehr hinzu, das minimale Spuren einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe auf der Flasche feststellte.
„Diese Flasche möchte man ja gar nicht erwähnen, so ein Unsinn ist das!“, sagte der Experte des Duma-Verteidigungsausschusses Leonid Rink gegenüber RIA Nowosti. Rink ist ein ehemaliger Mitarbeiter des staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie, an dem die Gifte der Nowitschok-Gruppe entwickelt wurden.
Bevor Rink zum Experten der Duma und einem der größten Kritiker der Version wurde, dass Nawalny vergiftet worden sei, war er in den 1990ern in einem geheimen Gerichtsverfahren wegen Handels mit einer toxischen Substanz angeklagt. Die Ermittler vermuteten, dass eben diese Substanz beim Mord an Kiwelidi zum Einsatz kam. Obwohl Rink eine ausführliche Aussage dazu gemacht hatte, wie er das Gift an verschiedene Leute verkauft oder schlicht weitergegeben hat, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Beim Prozess im Fall Kiwelidi tauchte er plötzlich als Zeuge auf. Später behauptete Rink in einem Interview für The Bell, er hätte Gift für Nagetiere verkauft und sei an Kontrollkäufen beteiligt gewesen, die von den Geheimdiensten initiiert worden wären.
Mithilfe der Prozessakten im Fall Kiwelidi lässt sich auch erklären, warum die minimalen Giftspuren auf der Plastikflasche erhalten geblieben sind, die Nawalny kurz angefasst hatte. In den Gutachten heißt es, die Substanz habe die Konsistenz von Wasser oder sei nur geringfügig dickflüssiger, sie könne in Plastik eindringen, in Gummi hingegen nicht. Deswegen fanden sich auch Giftspuren auf dem Telefonhörer im Büro des Bankiers, die sich noch nicht vollständig zersetzt hatten und verdampft waren.
II. Warum wurden im Fall Nawalny keine Ermittlungen eingeleitet?
Nawalnys Kollegen taten das, was die russischen Sicherheitsbehörden hätten tun sollen. Und was die Ermittler im Fall Kiwelidi 1995 getan haben. Nach den gerichtsmedizinischen Untersuchungen, in denen niedrige Cholinesterase-Werte bei Kiwelidi und seiner Sekretärin festgestellt worden waren, schlussfolgerten die Ermittler, dass in ihren Getränken, Nahrungsmitteln oder auf den Oberflächen, die die beiden angefasst hatten, Cholinesterase-Hemmer sein mussten. Drei Tage nach dem plötzlichen Koma des Bankiers, wurden Proben von den Oberflächen der Gegenstände in seinem Büro genommen, um sie auf Spuren von toxischen Substanzen zu untersuchen. Man nahm Proben vom Schreibtisch, von den Telefonen und den persönlichen Gegenständen.
Nach wenigen Tagen waren Kiwelidis Büro und die Nachbarzimmer leergeräumt – man untersuchte alles: von den Tellern bis zu den Putzlappen, nahm Proben von Lebensmitteln, Medikamenten, vom Staub auf den Schränken und der Raumluft. Diese Proben gingen an die fünf höchstrangigen Einrichtungen auf dem Forschungsgebiet.
Schließlich fand man auf einem Telefonhörer in Kiwelidis Büro Spuren einer stickstoffhaltigen phosphororganischen Substanz, die eine starke cholinesterasehemmende Wirkung haben kann. Die genaue Bestimmung stellte ein Problem dar, weil über solche Substanzen keine Daten vorlagen.
Während die Ermittler vor 25 Jahren also ein Verfahren einleiten und die Vergiftung durch eine unbekannte Substanz feststellen konnten, die bis zuletzt nicht benannt wurde, weigert sich die heutige Regierung auch nur Ermittlungen im Fall Nawalny aufzunehmen, obwohl ihr modernere Verfahren und besser qualifizierte Experten zur Verfügung stehen.
Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Substanz
Warum betonen die Beamten im Fall Alexej Nawalny, dass in Russland keine giftige Substanz nachgewiesen werden konnte? Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass sogar in diesem politisch neutralen Fall, in dem zu einer ganz anderen Zeit ermittelt wurde, die führenden russischen Labore nicht dahintergekommen sind, welches Gift konkret eingesetzt worden war.
„Wegen der extrem geringen Mengen, in der der nachgewiesene Stoff vorliegt, ist es nicht möglich, seine physikalischen und chemischen Eigenschaften zu bestimmen“, hieß es im Befund des Zentrums für kriminalistische Gutachten des Innenministeriums.
Die Militärakademie für chemische Waffen entdeckte ebenfalls Spuren „einer hochwirksamen giftigen Substanz mit signifikanter cholinesterasehemmender Wirkung“. Doch welcher Substanz genau, konnte sie nicht bekanntgeben.
Am umfassendsten waren die Untersuchungen des Staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie (GosNIIOChT), wo das System Nowitschok entwickelt worden war. Hieraus ging hervor, dass auf dem Telefonhörer „Spuren einer giftigen Substanz nachweisbar sind, die dem Schädigungsmuster und der cholinesterasehemmenden Wirkung nach den festen, hochtoxischen, phosphororganischen Verbindungen mit signifikanter hautresorptiver Komponente [dringen durch Berührung in den Organismus ein] auf Niveau eines Kampfgifts von Typ V zuzuordnen ist“.
Die gerichts-chemische Untersuchung des GosNIIOchT wies Fluor in jenem Giftstoff nach, mit dem Kiwelidi ermordet wurde. Doch eine endgültige Formel nannte auch das GosNIIOChT nicht. Letztlich lief das Gift in den Prozessakten unter dem Titel „unbekannte giftige Substanz“, als „giftige Substanz mit enormer cholinesterasehemmender Wirkung auf Niveau von Kampfgiften des Typs V“. Diese Benennung war noch dazu insofern absurd, als das britisch-amerikanische Kampfgift V gar kein Fluor enthält. Dieses findet man jedoch in Substanzen der Gruppe Nowitschok.
Warum im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens niemand das konkrete Gift nannte, ist nachvollziehbar. Ein Experte für Chemie und führender Mitarbeiter des GosNIIOChT, der als Gutachter befragt wurde, sagte im Fall Kiwelidi aus, dass die Eigenschaften dieser Substanz ein Staatsgeheimnis sind. Dass die Substanz der Geheimhaltung unterliege, bestätigte in seinem Verhör auch Leonid Rink, gegen den wegen Handels mit giftigen Substanzen ein Strafverfahren mit dem Vermerk „streng geheim“ eingeleitet, aber dann eingestellt wurde. Heute erzählt Rink den staatlichen Medienagenturen, dass der Fall Nawalny eine westliche Provokation sei.
III. Symptome einer Nowitschok-Vergiftung
Wirkungsdauer
„Im Fall einer Vergiftung mit Nowitschok […] hätte es Nawalny zu keinem Flugzeug geschafft“, erklärte Leonid Rink in einem Interview für RIA Nowosti. „Die ersten Symptome zeigen sich innerhalb weniger Minuten. Nach zehn Minuten tritt der Tod ein“, so Rink.
In den Prozessakten zum Giftanschlag auf Kiwelidi dagegen, in denen Rink als Zeuge geführt ist, heißt es im gerichtstoxikologischen Gutachten: Bei Aufnahme über die Haut werde eine Inkubationszeit beobachtet, die in der Regel eineinhalb bis fünf Stunden betrage.
Stoffwechselchaos und Zuckerschock
Anfang Oktober wurde Alexander Sabajew, Cheftoxikologe des Föderationskreises Sibirien und der Oblast Omsk, zum Interview gebeten. Er erklärte RIA Nowosti, bei Alexej Nawalny sei eine Störung des Kohlehydratstoffwechsels diagnostiziert worden. Diese sei ausgelöst worden durch eine Dysfunktion der Bauchspeicheldrüse, die wiederum zu plötzlichen und extremen Schwankungen des Blutzuckers führe.
„Die ersten 12 Stunden, ja, da gab es so ein Zuckerchaos, der Blutzuckerspiegel war hoch – und er ließ sich nicht durch eine Insulintherapie korrigieren“, sagte Sabajew. Er verplapperte sich aber, indem er angab, Nawalny habe keine „offensichtlichen, chronischen, verschleppten Krankheiten“.
Sabajew sagte zudem, die Krisis sei in der Nacht vom 20. auf den 21. August eingetreten, als Nawalnys Laktatwerte einen gefährlich hohen Wert erreicht hätten. „Zu diesem Zeitpunkt hätte ein Multiorganversagen eintreten können, das zum Tod des Patienten geführt hätte“, betonte Sabajew.
Die Erklärung des andauernden Komas mit Hypoglykämie (eines verringerten Blutzuckerspiegels) hält einer Kritik nicht stand, wie die Endokrinologin Olga Demitschewa, Mitglied der European Association for the Study of Diabetes (EASD), dem Magazin Forbes erklärte. „Eine Verabreichung von Präparaten zur Erhöhung des Blutzuckerspiegels hätte das Problem schnell gelöst, und der Patient wäre innerhalb weniger Minuten wieder bei Bewusstsein gewesen“, sagte sie. Außerdem litt Nawalny nicht unter Diabetes.
Der israelische Intensivmediziner Michail Fremderman sagte in einem Kommentar für die BBC, nach Angaben der Omsker Ärzte sei Nawalny wie ein Patient in einem Koma unklarer Genese behandelt worden, eine richtige Diagnose hätten ihm die russischen Ärzte nach wie vor nicht gestellt. Fremderman merkte an, die Laktatazidose, von der die Omsker Ärzte sprechen, komme sowohl bei akuten Schüben chronischer Stoffwechselstörungen bei Diabetikern vor – als auch bei Vergiftungen. Bei Nawalny (der kein Diabetiker ist) könne nur eine Vergiftung der Grund für einen solchen Zustand sein .
Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass bei dem Bankier bei seiner Hospitalisierung nach Vergiftung mit einer unbekannten Substanz ebenfalls vor allem erhebliche Zuckerschwankungen aufgetreten sind. Und die Vergiftung hat zu Stoffwechselstörungen und Multiorganversagen geführt.
Mit anderen Worten, wenn der Toxikologe Sabajew Nawalnys Blutzuckerschwankungen beschreibt, dann beschreibt er einen Zustand, den auch Kiwelidi nach seiner Vergiftung mit einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe durchlaufen hat.
Es ist wichtig zu wissen, dass ein phosphororganischer Giftstoff auf besondere Weise wirkt. Wenn die Dosis gering war und der Mensch überlebt, kann der weitere Verlauf auch ganz anders sein als bei einer Vergiftung. Und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen.
Je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen
Dies erklärte Viktor Schulga bei seiner Befragung zu Kiwelidis Vergiftung. Schulga ist Toxikologe mit 40-jähriger Berufserfahrung und war damals Laborleiter am staatlichen Institut für organische Chemie und Technologie (in einer Außenstelle dieses Instituts wurde das System Nowitschok entwickelt). Im Protokoll gab er an, dass die Symptome einer Vergiftung mit einem phosphororganischen Kampfgift mit der Zeit sowohl auf altersbedingte Veränderungen als auch auf diverse Erkrankungen und so weiter zurückgeführt werden können.
Innenministerium, Ermittlungskomitee, Gesundheitsministerium und das Städtische Krankenhaus für Notfallmedizin Nr. 1 in Omsk haben auf unsere Anfragen bezüglich Alexej Nawalnys Situation nicht reagiert.
Auf die Fragen von Novaya Gazeta und Washnyje istorii, was der Grund für die ungewöhnlichen gesundheitlichen Probleme und die Ermordung von Oppositionellen in Russland sei und ob sich der russische Präsident für das verantwortlich fühle, was mit Oppositionsführern und seinen Kritikern geschehe, antwortete Dimitri Peskow, Pressesprecher des Präsidenten. Er sagt, er lehne „diese Versuche ab, in dem verschlechterten Gesundheitszustand und in der Ermordung von Oppositionsführern irgendwelche allgemeinen Tendenzen zu sehen“.
Und er fasst zusammen: „Jeder Fall ist strikt als Einzelfall zu beurteilen, und so wird das auch gehandhabt.“
Mitleid, Großherzigkeit, Mitgefühl – sind das etwa keine Qualitäten eines starken Staates? Das fragt die bekannte Radiojournalistin Tatjana Felgengauer in einem Meinungsstück auf Republic. Und meint: Allem Anschein nach hält Putin diese für das Wesen der Schwachen. Und dem Vorbild des Präsidenten folgen auch alle anderen Staatsbediensteten.
Wladimir Putin ist wahrscheinlich nicht immer so gewesen. „Es ist gesunken.“ Dieser Satz von ihm [und vor allem die Art, wie er ihn aussprach] ganz zu Beginn seiner Regierungszeit, als das Atom-U-Boot Kursk verunglückte, lässt sich vielleicht auf die angespannt nervöse Situation zurückführen. Zwei Jahre später, bei der Geiselnahme durch Terroristen im Dubrowka-Theater, zeigte Putin noch Anzeichen menschlicher Emotionen. In seiner Ansprache hieß es damals: „Wir konnten nicht alle retten. Verzeiht uns.“ Doch danach hat Wladimir Putin nie wieder um Verzeihung gebeten.
In Beslan war der Präsident in all den Jahren nur ein einziges Mal, und in seiner Ansprache direkt nach diesem schrecklichen Ereignis 2004 redete er etwas von Schwäche, die gezeigt worden sei, und die Schwachen würden nun mal geschlagen. Dann wurde die Journalistin Anna Politkowskaja ermordet, und Wladimir Putin gab wieder merkwürdige Erklärungen ab. „Ihre Ermordung fügt der amtierenden Regierung mehr Verlust und Schaden zu als ihre Texte“, sagte das Staatsoberhaupt.
Kursk, Beslan, Politkowskaja
Klar – wenn Regierende auf Unglücksfälle unmenschlich reagieren, dann kann man das damit erklären, dass es sich um Reaktionen des Staatsapparates handelt. Bürokratie bedeutet nicht Emotion. Entscheidungsmechanismen zur Problemlösung müssen universell sein, das heißt, sie können nicht die Besonderheiten jeder einzelnen Situation berücksichtigen. Jedoch besteht der Staatsapparat ja aus Menschen, von denen jeder einzelne mitempfinden, mitfühlen, unterstützen und trösten kann.
Doch aus irgendeinem Grund zeigen uns Staatsbeamte mit ihren Handlungen Mal um Mal das Gegenteil. Hier eines der eindrücklichsten Beispiele aus jüngster Zeit: Vor vier Jahren ereignete sich auf dem See Sjamosero eine Tragödie. 47 Kinder hatten sich unter Aufsicht auf eine Bootstour begeben, die Boote gerieten in einen Sturm, 14 Kinder kamen dabei ums Leben. Pawel Astachow, der zu dieser Zeit Kinderschutzbeauftragter der Russischen Regierung war, besuchte die Jugendlichen, die überlebt hatten, im Krankenhaus und fragte sie: „Und? Wie war eure Bootsfahrt?“ Am nächsten Tag schrieb er selbstverständlich, dass der Satz aus dem Zusammenhang gerissen worden sei.
Staatsbeamte sind nicht in der Lage, in russischen Bürgern Menschen zu sehen
Hier noch das aktuelle Beispiel einer Beamtin aus der Stadt Welikije Luki, die den Ohnmachtsanfall von Schülerinnen und Schülern bei einem Festakt damit erklärte, dass der Moment einfach überaus feierlich gewesen sei. „Es wurden patriotische Reden gehalten“, erklärte Tatjana Losnizkaja vor Journalisten. 13 Schüler wurden ins Krankenhaus eingeliefert, und die Beamtin spricht von überbordenden patriotischen Gefühlen. Schwer einzuschätzen, was die Eltern der Kinder, die ins Krankenhaus mussten, von den Worten der Leiterin der Bildungsbehörde hielten. Und Tatjana Losnizkaja ist natürlich kein Einzelfall in ihrer Unfähigkeit und Unlust, Empathie aufzubringen. Staatsbeamte sind nicht in der Lage, in russischen Bürgern Menschen zu sehen. Lebendige, echte, Angst verspürende, Trauer durchlebende Menschen. Wichtiger ist, dass das offizielle Foto gelingt, das über den Pressedienst verteilt wird – und dann wird der Leitung Bericht erstattet.
Ständegesellschaft
Ihre Unmenschlichkeit – im Sinne von Unfähigkeit, Mensch zu sein – zeigen Beamte nicht nur in ihren Kommentaren zu Unglücksfällen. Entlarvend sind auch ihre Äußerungen zum Lebensstandard in Russland. Die Vertreter der Staatsmacht sind nicht nur Lichtjahre davon entfernt, die Gefühle und Emotionen der Russen zu verstehen, sie leben überhaupt auf einem anderen Planeten. Besser gesagt, innerhalb ihres eigenen Standes.
Igor Schuwalow amüsierte sich als Vize-Premier unverhohlen, als er hörte, dass es Menschen im Land gibt, die 20-Quadratmeter-Wohnungen kaufen. Da möchte man sagen: Und das, Igor Iwanowitsch, sind noch die Reichen, es gibt nämlich auch welche, die sich in Baracken und Wohnheimen zusammenpferchen müssen.
Natalja Sokolowa, Arbeitsministerin in der Oblast Saratow, war ihrerzeit angesichts des Existenzminimums ebenfalls perplex. Ihrer Meinung nach gibt es bei 3500 Rubel [zum Zeitpunkt der Aussage im Oktober 2018 etwa 50 Euro] im Monat nichts zu beanstanden, vor allem, wo doch „Nudeln eh immer gleich viel kosten“. Übrigens stand sie in der Hierarchie weiter unten als Schuwalow, daher hat ihr der Gouverneur der Oblast nach diesem Skandal gekündigt.
Wir leben schon lange in dieser Ständegesellschaft. Beamte unterschiedlichen Ranges können sich mehr oder weniger Geringschätzung gegenüber russischen Bürgern leisten, die sie scheinbar ernsthaft für undankbare Knechte halten. Wie frei man seine Geringschätzung zum Ausdruck bringen darf, hängt von der jeweiligen Position in der aktuell gültigen Rangtabelle ab.
Umso erstaunlicher ist es, wenn ein Vertreter der Staatsmacht mal menschlich reagiert. Der Gouverneur der Oblast Nishni Nowgorod, Gleb Nikitin, postete auf Instagram etwas zum Tod der Journalistin Irina Slawina und kam auch zu ihrer Beerdigung. Und man wird es nicht über die Lippen bringen, ihn hier des Populismus zu bezichtigen.
Unter heutigen politischen Bedingungen ist die echte Beliebtheit der Regierenden in den Regionen eher ein Grund zur Sorge, wie uns der Fall Sergej Furgal zeigt. Und dennoch, gerade solche plötzlichen und seltenen Bezeugungen von Empathie, Mitgefühl und Mitleid haben einen starken Effekt. Furgal verhielt sich als Gouverneur in den Augen der örtlichen Bevölkerung wie ein Mensch, ein lebendiger, normaler Mensch. Vielleicht ist genau das die Wurzel des Problems: Die Regierungsmacht kann kein menschliches Gesicht oder, noch schlimmer, Herz haben. Weil der Mensch schwach ist und die Macht stark sein muss. Genau mit diesem Konzept lenkt Präsident Putin schon viele Jahre unser Land.
Der Mensch ist schwach, die Macht ist stark
Unfälle, Naturkatastrophen und Terroranschläge gab es in den 20 Jahren Regierungszeit Putins genug, doch der Präsident des Landes (mit kurzem Zwischenspiel als Premier) blieb immer außerhalb des emotionalen Feldes. Und wenn wir die eine oder andere spontane emotionale Reaktion gesehen haben, so rief sie meistens gemischte Gefühle hervor. Ein Kuss auf den Bauch eines kleinen Jungen, ein einsamer Spaziergang nach der Beerdigung [seines Judo-]Trainers, eine Aussage über kleine süße Kinderchen. All das wirkt entweder nicht echt, oder der Präsident hat in diesen 20 Jahren wirklich verlernt, Emotionen zu zeigen.
Mitleid, Großherzigkeit, Mitgefühl – sind das etwa keine Qualitäten einer starken Macht, eines starken Staates? Doch allem Anschein nach hält Putin sie für das Wesen der Schwachen. Und nach Vorbild des Präsidenten folgen diesem Denkschema auch alle anderen Staatsbediensteten und Institutionen. Mitgefühl oder Unterstützung seitens der Repräsentanten der Staatsmacht ist hier nicht zu erwarten, mit Freispruch oder Begnadigung ist hier nicht zu rechnen. Hier ist ein Zarenreich der Unmenschlichkeit, so groß wie die Russische Föderation.