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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Als wäre es ein Horrorfilm“

    „Als wäre es ein Horrorfilm“

    Belarus hat bis heute zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Corona-Pandemie Quarantänemaßnahmen für die eigene Bevölkerung verordnet. Im vergangenen Jahr, als während der ersten Corona-Welle die Regierungen weltweit Massenveranstaltungen untersagten und auch Schulen, Restaurants oder Kneipen schließen mussten, ging das Leben in Belarus seinen vermeintlich normalen Gang, auch in die Fußballstadien durften die Fans, was dem sonst kaum beachteten belarussischen Fußball internationale Aufmerksamkeit einbrachte. Staatsführer Alexander Lukaschenko verkündete lauthals, dass Wodka, Traktorfahren oder ein Gang in die Banja helfen würden, das Virus zu bekämpfen. Das allerdings  habe er damals im Scherz gesagt, entgegnete Lukaschenko dem Interviewer von CNN Anfang Oktober dieses Jahres und fügte an: „Aber Sie wollen sagen, dass dieser Diktator in Belarus ein Wahnsinniger ist, der die Menschen nicht heilt. Ich bin sogar noch tiefer in die Materie eingetaucht als Sie alle im Westen, als alle Führungskräfte zusammen.“  

    Dass der Staat seinen selbstbeschworenen Fürsorgepflichten nicht nachkam und auf die Pandemie lasch reagierte, war auch ein Grund – so sehen es Experten – für die angeheizte Proteststimmung in der Bevölkerung im Jahr 2020. Mittlerweile ist die Situation in Belarus, das ebenfalls mit der vierten Welle zu kämpfen hat, dramatisch. An vier aufeinanderfolgenden Tagen seit dem 12. Oktober übersprangen die Neuinfektionen bei einer Bevölkerungszahl von 9,4 Millionen die 2000er-Marke. Auch die Regionen vermelden überfüllte Krankenhäuser und neue Rekordzahlen. Aufgrund der Überlastung wurde die medizinische Versorgung in ambulanten Gesundheitseinrichtungen teilweise ausgesetzt, wie beispielsweise für ambulante Vorsorgeuntersuchungen, Früherkennungsmaßnahmen oder physiotherapeutische Behandlungen. Seit dem 9. Oktober gilt nun erstmals landesweit eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und an öffentlichen Plätzen. Nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums sind seit dem Ausbruch von Corona 4402 Personen mit oder an dem Virus in Belarus verstorben. Kritiker gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffern wesentlich höher liegen.

    Bei den Impfungen nimmt Belarus einen der hintersten Plätze in Europa ein. 18,6 Prozent der Bevölkerung sind nach offiziellen Angaben durchgeimpft, 1,75 Millionen Personen. Als Impfstoffe sind in Belarus die russischen Fabrikate Sputnik V und Sputnik light zugelassen, die teilweise auch im Land selbst produziert werden, sowie das chinesische Vero Cells. Seit Monaten lässt die Staatsführung verlautbaren, dass man auch an einem eigenen Impfstoff arbeite. Als Grund für die mangelnde Impfbereitschaft der Belarussen nennt beispielsweise der Arzt Igor Tabolitsch, der bereits im vergangenen Jahr offen das staatliche Fehlverhalten gegenüber den Corona-Maßnahmen kritisierte, an den Protesten teilnahm und schließlich nach Moskau ging, das zerrüttete Verhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung:  „Propaganda ist ein Spiel gegen den Staat. Alles, was die Behörden jetzt einführen wollen, wird mit Skepsis betrachtet.“  

    Das belarussische Online-Medium Reformation widmet sich der aktuellen Corona-Lage in Belarus, indem es Ärzte und anderes medizinisches Personal zu Wort kommen lässt

    Die vierte Covid-19-Welle hat Belarus fest im Griff. Sogar das Gesundheitsministerium vermeldete jetzt erstmals über 2000 Neuinfektionen innerhalb eines Tages. Die Stationen sind überfüllt, Betten stehen auf den Fluren, in jedem Minsker Krankenhaus sterben zehn bis 15 Patienten pro Tag an Corona. Fast keiner der Krankenhauspatienten ist geimpft, und die Epidemie nimmt gerade erst an Fahrt auf. Darüber hat Reform.by mit Medizinern gesprochen, die beim Kampf gegen Covid an vorderster Front stehen. Wir haben mehrere Mitarbeiter verschiedener Minsker Krankenhäuser und zwei Rettungssanitäter aus Minsk und Umgebung interviewt. Um unsere Quellen nicht zu gefährden, nennen wir keine konkreten Krankenhäuser und Bezirke. Die Ärzte betonen jedoch, dass die Situation überall ungefähr gleich schlecht ist.  

    „Die Menschen entwickeln begleitende Psychosen“
    Alexandra (Name geändert), Rettungssanitäterin in der Oblast Minsk:

    „Viele sind infiziert. In der Stadt gibt es abgesehen von einem reinen Infektionskrankenhaus, das sowieso schon für Covid-Patienten reserviert war, noch zwei weitere: Eines wurde für alles andere als Corona bereits komplett geschlossen, das zweite teilweise. Oft reicht der Platz nicht aus. Sehr häufig kommt es vor, dass Leute aus anderen, aus Nicht-Covid-Stationen entlassen werden, und nach ein paar Tagen werden sie positiv auf das Virus getestet.
    Das Personal ist erschöpft, wir hatten ja im Grunde keine Pause. Aber sie strengen sich an, übernehmen Zusatzfunktionen, machen Überstunden. Wie groß der Personalmangel ist, kann ich nicht genau sagen, aber dass alle mehr als Vollzeit arbeiten, weiß ich ganz bestimmt. Die Krankenschwestern und -pfleger infizieren sich selbst, ihre Kinder auch …
    Im Vergleich fühlt sich diese Welle stärker an. Die Komplikationen treten sehr schnell ein. Man bekommt Fieber, und nach ein paar Tagen hat man schon Lungenentzündung, 45 Prozent erleiden Lungenschäden. Noch dazu haben viele Leute begleitende Psychosen. Oft wirst du zu einem Covid-Patienten gerufen und siehst, dass er auch psychisch leidet. Todesangst, Panik, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Depressionen – die Ausformungen sind unterschiedlich. 

    Ein paar Mal wurden wir nach Sputnik-Impfungen gerufen: Die Leute klagten über Schwäche, Fieber, Husten. Unter den Covid-Infizierten gibt es zwar auch Geimpfte, aber wir haben es dann höchstens mit mittelschweren Fällen zu tun, von schweren Verläufen ist mir nichts bekannt. Was die Zahl der Toten betrifft, kann ich nichts sagen. Es heißt immer, in unserem Bezirk sterben viele, aber dazu wird nicht viel berichtet.“

    „Statt drei Ärzten ist oft nur einer auf der Station“
    Nikolaj (Name geändert), Notarzt, Minsk:

    „Die Situation in den Krankenhäusern selbst kenne ich nicht gut. Aber ich weiß, dass vor den Notaufnahmen, wo wir die Patienten hinbringen, lange Schlangen sind. Ich weiß, dass Leute auch schon fünf Stunden gewartet haben und ohne Untersuchung wieder gegangen sind. Also ja, wahrscheinlich gibt es ein Platzproblem.
    Das Personal bei uns in den Rettungswagen kommt mit der Situation ganz gut zurecht. Ja, im letzten Monat gab es mehr Notrufe, mehr Patienten mit Fieber. Aber im Herbst und Winter sind es immer mehr als sonst.  
    Natürlich ist auch das Personal krank, nicht alle Brigaden sind voll besetzt, manchmal ist auf einer Dienststelle nur ein Arzt statt drei. Das war auch vor einem Jahr so, während der zweiten Welle.
    Ich hatte selbst vor Kurzem Covid, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, und wieder fast symptomlos, nur ein paar Tage Halsschmerzen und um die 37 Grad, diesmal war nicht einmal mein Geruchssinn beeinträchtigt. Im Frühling habe ich mich mit dem chinesischen Impfstoff impfen lassen.“

    „Bei uns auf der Intensivstation gab es überhaupt keine geimpften Patienten“
    Jekaterina (Name geändert), Anästhesistin in einem Minsker Krankenhaus, das teilweise zum Covid-Krankenhaus umgerüstet wurde:

    „Die Infektionszahlen steigen, das sieht man nicht nur an den Intensivstationen, sondern auch an den Inneren Abteilungen. Vor ein paar Tagen waren die Zimmer überfüllt und die Patienten lagen ohne Sauerstoffgeräte auf dem Flur. Wir haben versucht, das irgendwie zu lösen, und entließen die stabileren Patienten. Der Platz ist sehr knapp, wir haben höchstens ein oder zwei freie Betten pro Tag.   

    Auf der Intensivstation haben wir heute fast zweieinhalbmal so viele Patienten wie Betten (es geht hier um ein paar Dutzend Menschen, die genauen Zahlen wurden zur Sicherheit der Auskunftsperson entfernt – Anm. Reform.by). Sie liegen in Zusatzbetten. In Dreibettzimmern liegen zum Beispiel vier Personen, in Einzelzimmern zwei. Außerdem wird derzeit in den OPs nicht operiert, sondern sie sind zur Behandlung von Intensivpatienten umfunktioniert.“

    Gelingt es unter solchen Bedingungen, die nötige Hilfe zu leisten?

    „Natürlich nicht. Wir bemühen uns aus Leibeskräften, aber es ist körperlich sehr schwer. Sie haben gefragt, ob das medizinische Personal ausreicht. Im Prinzip arbeiten wir vorschriftsmäßig nach Protokoll. Ein Facharzt für Intensivmedizin ist zum Beispiel für sechs Patienten zuständig, eine Krankenschwester auf der Intensivstation muss drei Patienten versorgen – und so ist es auch ungefähr. Aber wenn man bedenkt, wie schwer die Fälle sind … Manchmal sind es auch acht Patienten, manchmal noch mehr, aber auch wenn es sechs sind, ist es für einen allein körperlich sehr anstrengend, sich um sie zu kümmern. Weil sich ihr Zustand alle fünf Minuten ändern kann. Auch für die Krankenschwestern ist es schwer. Während der Arzt noch gewisse Pausen hat, in denen er die Zone verlassen kann, sind die Krankenschwestern rund um die Uhr auf der Intensivstation.    
    Es kommt auch vor, dass nicht genügend Medikamente da sind oder Einwegprodukte für Geräte fehlen. Elementare Dinge wie Infusionsschläuche, Katheter … Nichts von höchster Priorität, aber wenn zum Beispiel ein Patient bessere Antibiotika braucht, und man muss sie erst bestellen – das kostet Zeit, dabei bräuchten wir sie hier und jetzt. So etwas passiert jetzt leider manchmal. Auch die Beatmungsgeräte, die seit eineinhalb Jahren im Dauereinsatz sind, gehen manchmal kaputt, noch dazu in den unpassendsten Momenten. 
    Im Vergleich zu den vorherigen Wellen sind die Symptome der Krankheit im Grunde dieselben. Nur die Patienten werden merklich jünger. Während es in der ersten Welle 70- bis 80-Jährige waren und in der zweiten 60+, sind es jetzt viele Junge, 40- bis 50-Jährige. Die schweren Fälle, wohlgemerkt. Generell erkranken alle Altersgruppen, aber wie ich auf der Intensivstation sehe, trifft es jetzt gerade die Jungen besonders hart. 

    Wie viele Leute sterben, ist jeden Tag anders. Manchmal an einem Tag keiner, manchmal fünf oder sechs Personen. Im Durchschnitt sterben bei uns im Krankenhaus zwei bis drei Menschen pro Tag.     
    Was Geimpfte betrifft, die werden auch krank, aber sehr selten. Ich habe Bekannte und Verwandte, die geimpft sind, manche von ihnen wurden krank, aber nur leicht. Dass so jemand ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation kommt – nein, Geimpfte trifft man dort äußerst selten an.“

    Hatten Sie auf der Intensivstation geimpfte Patienten?

    „Nein, bei uns gar nicht.“

    Und was sagen Ihre Patienten zur Impfung, bereuen sie es, nicht geimpft zu sein?

    „Verschieden, die meisten verstehen nicht, dass sie das hätte retten können. Sie glauben, nachdem man auch mit Impfung krank werden kann, ist sie unwirksam. Ein Mann war bei uns, der sagte: Uns hat auf der Arbeit ein Kollege angesteckt, obwohl er geimpft war. Aber Fakt ist, dass dieser geimpfte Kollege jetzt gesund und munter ist, während der Mann künstlich beatmet werden muss.“

    „In einer Schicht habe ich sechs Leichen abtransportiert“
    Wladimir (Name geändert), technischer Arbeiter an einem anderen Minsker Krankenhaus: 

    „Vor ein paar Wochen wurden wir wieder auf Covid umgestellt. Kürzlich habe ich in einer Schicht fünf Leichen abtransportiert, in einer anderen sechs. Zum Vergleich, in der vorigen Welle, im Winter, sind in unserer Abteilung ein bis zwei Menschen pro Tag gestorben und im ganzen Krankenhaus fünf bis sechs. Jetzt sind es insgesamt 15 bis 16 Menschen pro Tag. Im Leichenhaus wird der Platz knapp, manchmal bahren wir die Toten vorübergehend draußen auf, bis ein Platz frei wird.  
    Die Patienten sind jünger als früher. Derzeit liegt auf der Intensivstation eine 24-Jährige mit schlechten Chancen, außerdem ein kräftiger, brutaler Kerl, 34 Jahre alt. Auf dieser Intensivstation rechnet man nicht mit Entlassung, man geht davon aus, dass diese Leute sterben. Mit manchen ist es schon nach ein oder zwei Tagen vorbei.

    Das Personal ist derzeit überwiegend gesund, alle, die ich kenne, arbeiten. Alle sind geimpft, das wurde von den Mitarbeitern auch verlangt. Kann sein, dass auch jemand verweigert hat, aber davon wüsste ich nichts. Voriges Jahr, als es noch keine Impfung gab, sind circa 80 Prozent des Personals erkrankt.“

    „Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreichen würden. Die Sache nimmt grad erst an Fahrt auf“
    Tatjana (Name geändert), Internistin an einem Minsker Krankenhaus:

    „Unser Krankenhaus ist jetzt fast zur Gänze ein Covid-Krankenhaus, kürzlich wurden noch ein paar Abteilungen umfunktioniert, andere gibt es fast gar keine mehr. Die Aufnahmen werden seit ein paar Wochen immer mehr. Pro Tag kommen mindestens 130 bis 150 Menschen in die Aufnahme, insgesamt haben wir über 800 Covid-Patienten. Der Platz reicht nicht für alle. Es ist schon vorgekommen, dass Betten auf den Flur gestellt wurden, dementsprechend gab es für diese Patienten keinen Sauerstoff. Dann schieben wir sie die nächsten Stunden durch die Station, tauschen Plätze – je nachdem, wer den Sauerstoff gerade dringender braucht. Wer ohne Sauerstoff auskommt, wird – wenn er nicht sonstwie in einer lebensbedrohlichen Lage ist – nach Hause geschickt. 
    Die Intensivstation ist sowieso immer voll … Viele Patienten, die laut Anordnung des Gesundheitsministeriums und aufgrund der Ernsthaftigkeit ihres Zustands auf der Intensivstation liegen sollten, werden in normalen Abteilungen behandelt. Und du rennst hin und drehst sie auf den Bauch und überlegst, wie sie mehr Sauerstoff kriegen können.       
    Der Unterschied zu den vorherigen Wellen: viele Patienten, schwere Verläufe, kurze Krankheitsdauer, viele junge Menschen. An einem Tag sterben im Krankenhaus im Schnitt zehn bis 15 Patienten. Regelmäßig wird in den Abteilungen für Begräbnisse gesammelt, weil Eltern und Partner von Mitarbeitern sterben. 
    Der Anteil der geimpften Patienten ist schwer auszumachen, von allen stationär aufgenommenen vielleicht maximal zehn bis 20 Prozent. Aber sie sind viel weniger schwer krank, kommen nur vereinzelt auf die Intensivstation. Normalerweise sind das jene, die nur die erste Teilimpfung haben und dann das Virus noch irgendwo aufschnappen. 
    Ärzte und Krankenschwestern gibt es an sich noch genug, doch bei uns arbeitet niemand mehr nur die vertraglich festgelegten Stunden. Aber wir kommen zurecht. Manchmal gibt es Ausfälle bei Medikamenten, aber nach ein, zwei Wochen ist die Apotheke wieder aufgefüllt. Derzeit gibt es vorübergehend nicht genug Schutzanzüge, wir flicken ständig an unseren herum.  
    Alle Ärzte sind im Dauerstress, weil wir nicht wissen, wann das vorbei ist … Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreicht hätten, die Zahlen sind grad erst im Aufschwung. Die Kollegen aus den Polikliniken sind auch recht gut darin, uns Steine in den Weg zu legen: Sie raten den Leuten vom Impfen ab, mit dem Argument, dass sie zu viele chronische Krankheiten hätten. Dabei kommt eben das heraus, was wir jetzt haben.
    Es ist ein Krieg. Wenn einem beim Einkaufen jemand mit der Maske am Kinn zu nahe kommt, zuckt man zurück. Möchte ihm am liebsten eine reinhauen und ihn anschreien: ‚Setz deine Maske ordentlich auf!‘ Dann fährt man mit dem Auto, alles ist ruhig, man geht spazieren, alles wie immer … Aber kaum kommst du zur Arbeit, ist Krieg. Als ob das alles nicht bei uns wäre, als wäre es ein Horrorfilm.“     

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  • Zukunftsnostalgie

    Zukunftsnostalgie

    Alexey Bratochkin, geboren 1974, gehört zu den bekanntesten Intellektuellen in Belarus. In seinen messerscharfen Analysen geht er den kulturhistorischen Verwerfungen und gesellschaftspolitischen Umbrüchen auf den Grund, die seine Heimat seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 durchlaufen hat. Dies tut er auch in diesem Essay, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Vorstellungen von Zukunft für Belarus in seiner Geschichte seit der Sowjetunion bestimmend waren und wie diese möglicherweise helfen können, eine Zukunft zu schaffen, die ohne den bis heute prägenden Autoritarismus auskommt.

    Russisches Original auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Der Protestsommer 2020 brachte die Idee der Zukunft nach Belarus zurück. Menschenmassen in Minsk und anderen Städten demonstrierten die Absicht, ihre Zukunft selbst zu bestimmen – ein Recht, das das autoritäre Regime ihnen abgesprochen hatte.

    Der französische Historiker François Hartog erforscht die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gemeinschaften und der Kategorie Zeit. Er verwendet den Begriff „Geschichtlichkeitsmodus“ (régime d’historicité), um zu zeigen, wie in unterschiedlichen Gemeinschaften Vorstellungen zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft generiert werden: von dem Versuch, die Grundlagen fürs Leben im Goldenen Zeitalter zu finden, also in einer idealisierten Vergangenheit, über Bestrebungen, die Zukunft nahe heranzuholen und mit dieser „futuristischen“ Aufgabe zu leben, bis hin zu einer Dominanz der Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft bestimmt. 

    Wenn man über die belarussische Wirklichkeit der letzten dreißig Jahre spricht, so kann man sie anhand wechselnder Zukunftskonzepte beschreiben, von denen es in meiner Generation schon mehrere gegeben hat.

    Wir haben verschiedene Versionen einer kollektiven Zukunft erlebt, überlebt, aufgegeben und uns enttäuscht von ihnen losgesagt. Eine dieser Zukünfte prägte uns in der UdSSR, doch diese Zukunft Nr. 1 war 1991 zu Ende. Die Zukunft Nr. 2 stellte sich dann in den 1990er Jahren ein, sie war optimistisch und utopisch, wenn auch der sowjetischen diametral entgegengesetzt. Diese Zukunft wiederum fand einen autoritären Ersatz in der Zukunft Nr. 3, die jedoch 2020 endgültig in sich zusammenstürzte. Und so stehen wir vor einer neuen Version der Zukunft, der Zukunft Nr. 4. Was erwartet uns?

    Zukunft Nr. 1

    Bis heute ist die übliche Sichtweise, dass die UdSSR in einem besonderen, futuristischen Geschichtlichkeitsmodus beziehungsweise Zeitbezug existierte – eine Gesellschaft, deren Entwicklung von der Zukunft, vom Aufbau des Kommunismus, bestimmt war. Natürlich gab es auch hier Nuancen – doch eigentlich war das Bild der offiziellen Zukunft alternativlos.

    Für mich, wie für viele andere meiner Generation – die formal der vom Kulturanthropologen Alexei Yurchak beschriebenen letzten sowjetischen Generation der Mitte der Siebziger Geborenen angehörte – war eine spezielle Wahrnehmung der Zukunft ein enorm wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens. 

    Was hatten wir damals für eine Vorstellung von unserer, der persönlichen und der kollektiven, Zukunft? Technokratische Phantasien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mischten sich mit ideologischen Postulaten des sowjetischen Marxismus und (in unserem Fall) einer kindlichen, etwas infantilen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. Gleichzeitig war diese Zukunft unmittelbar bedroht: Jeden Moment konnte ein Atomkrieg mit dem kapitalistischen Westen ausbrechen.

    Der Glaube an regelmäßige Raumflüge in naher Zukunft existierte in meiner sowjetischen Kindheit in den frühen 1980er Jahren Seite an Seite mit der Propaganda für das ultimative soziale Bestreben der Sowjetbürger – den Aufbau des Kommunismus (und das war die richtige Zukunft).

    Das in der Sowjetunion beliebte Genre der Science Fiction enthielt nicht nur utopische Beschreibungen einer positiven Zukunft – es war ein Ergebnis der Zensur. In der UdSSR durften keine Dystopien veröffentlicht werden (der Roman 1984 von George Orwell kursierte im Samisdat), sodass dieses Genre zum Teil durch Science Fiction ersetzt wurde. Auch in den offiziell veröffentlichten Büchern fand sich immer Platz für Anspielungen auf soziale Probleme, und eine Reihe sowjetischer Phantasten, etwa die Brüder Strugatzki, trieben diese besondere Sprache zur Perfektion. Die sowjetischen Dissidenten der 1960er Jahre sahen die Zukunft kritisch, und Andrej Amalrik schrieb einen fast prophetischen Text: „Überlebt die UdSSR bis 1984?“ 

    1988 erschien im noch sowjetischen Belarus, in der Zeit von Gorbatschows Reformen, Andrej Mrys satirischer Roman Notizen von Samson Samossui aus dem Jahr 1929. Der Autor dieses Romans wurde in den 1930er Jahren politisch verfolgt und sah sich vor seinem Tod gezwungen, Briefe an Stalin mit der Bitte um Begnadigung zu schreiben. In seinem Roman beschrieb er einen „neuen Sowjetmenschen“, der auf groteske Weise alle Anweisungen der Staatsmacht erfüllte und darauf seine Karriere aufbaute. Diese Satire kann man auch als Beschreibung einer gescheiterten Utopie lesen – des Misserfolgs der Bolschewiki bei der Erschaffung einer sozialistischen Zukunft. In gewisser Hinsicht war das eine Dystopie, wenn auch als Satire verkleidet. Seitdem sind dystopische Motive in der belarussischen Literatur äußerst selten.  

    Jelena Swetschnikowa, die dystopische Texte in der belarussischen Literatur erforscht, schreibt in ihrer Dissertation, dass das Genre der Dystopie in Belarus erst in den 1980er, 1990er Jahren zu finden ist. Sie konstatiert einen spezifischen Charakter der dystopischen Zukunftsvisionen in Belarus: „Kulturelle, politische und soziale Veränderungen werden in der belarussischen Dystopie negativ bewertet.“ Die Propaganda sprach vom Kommunismus, die Schriftsteller hingegen schrieben konservative, patriarchale Bücher, die Modernität und Urbanität kritisierten und zur Rückkehr in eine vorindustrielle Harmonie aufriefen.

    Konservativismus kann man hier als Reaktion auf die radikalen sozialen Veränderungen und die rasend schnelle Modernisierung interpretieren, die in der Stalinzeit und in den 1960er bis 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Die Transformation ging schnell vonstatten und hinterließ eine schwer beschädigte Vergangenheit, die in der sozialen Imagination der Intellektuellen keinesfalls zu einer wahrhaft optimistischen Zukunft werden konnte. 

    Einer der erfolgreichsten Filme der spätsowjetischen Populärkultur war die fünfteilige Fernsehserie Gast aus der Zukunft aus dem Jahr 1985, in dem auch Michail Gorbatschows Perestroika begann. In diesem für Schüler gemachten Film kommt Moskau im Jahr 2084 vor: Die Menschen bewegen sich in individuellen Flugzeugen fort, zwischen Planeten verkehren regelmäßig Raumschiffe, es gibt einen Apparat zum Gedankenlesen et cetera.   

    Die Handlung jedoch spielt fast ausschließlich in der Vergangenheit, im Moskau des Jahres 1984: Kolja Gerassimow, ein einfacher Pionier, seine Freunde und Alissa, ein mit Superkräften ausgestattetes Mädchen aus der Zukunft, versuchen, einen Gedankenleseapparat zurückzuholen, den Weltraumpiraten entführt haben. Das Leben 1984 ist leicht ironisch dargestellt – seltsame Erwachsene, das ewige Problem mit der Mangelware und ein ziemlich alltägliches Leben der Sowjetmenschen, das wenig von der Präsenz von Weltraumtechnik spüren lässt. Durch die Gegenüberstellung von Moskau 1984 und der strahlenden Zukunft 2084 konnte das Publikum sich fragen: Wie kann eine solche Zukunft das Ergebnis jener Gegenwart sein, die wir jetzt um uns haben?

    Der für Kinder gedrehte Film erzählt recht blumig eher von Erwachsenen und der Unmöglichkeit einer Zukunft, von Zynismus, Zweifel und Kritik und von den Hoffnungen der älteren Generation, die im Leerlauf zwischen dem irgendwann verblichenen Optimismus und dem Realsozialismus der 1970er und 1980er Jahre aufgewacht sind. Die Zukunft bringt durch ironische Gegenüberstellung die Probleme der Gegenwart zur Geltung, deren Lösung jedoch utopisch, unmöglich bleibt.

    Am Ende des Films erklingt das Lied Prekrasnoje daljoko (dt. Das Schöne ist weit weg), in dessen Text die Zukunft gebeten wird, „nicht grausam zu sein“ – und fast alle Heldinnen und Helden bleiben im Jahr 1984. Das Lied wurde unfassbar populär und ikonisch für mehrere Generationen; es transportiert eine besondere Stimmung – fast ein Gebet, dass unsere Kinder besser leben mögen als wir. Es trägt auch eine besondere Nostalgie in sich – eine Zukunftsnostalgie über etwas, das nie eingetroffen ist, aber so wahrscheinlich erschien, fast schon greifbar, fast real.   

    Der Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 setzte den technokratischen Zukunftsphantasien ganz plötzlich ein Ende und rückte die Probleme der Gegenwart wieder in den Mittelpunkt. Der Zerfall der UdSSR 1991 war nicht nur das Ende des sowjetischen Projekts mit seinen utopischen Zukunftsvisionen, sondern bot für viele auch eine neue kollektive Idee – die Rückkehr zur Normalität in Form von Verwestlichung, Markt und Demokratie.  

    Zukunft Nummer 2

    Der belarussische Alltag veränderte sich nach 1991 schnell und radikal. Das Bild der kollektiven kommunistischen Zukunft war verschwunden: An seine Stelle trat ein Gefühl von Freiheit, Chancen, aber auch Besorgnis, sowie von individuellen Perspektiven (zumindest für jene, die Ressourcen für Veränderungen hatten oder wenigstens die Hauptressource – ihre Jugend). Das gemeinsame Wertesystem kollabierte, die gewohnten sozialen Strukturen begannen sich aufzulösen, und eines der wichtigsten Kriterien für sozialen Erfolg wurde Geld. 

    Ganz plötzlich verlieh das Geld der Zukunft eine Materialität – sie war nun objektiviert, individualisiert und drückte sich darin aus, wie und was man konsumieren kann. Gleichzeitig war die Zukunft nicht mehr ganz Zukunft, also etwas, das man sich nur schwer bis ins Letzte vorstellen kann. Sie hat sich maximal der Gegenwart angenähert, in der man so leben muss, dass man jetzt Geld verdienen kann und am sozialen Erfolg beteiligt ist.  
    Eines der Symbole dieser Gegenwarts-Zukunft sind die Kleider-, Haushalts- und Technikmärkte in den belarussischen Städten, die in den 1990er Jahren fast spontan entstanden – in Sportstadien, auf Plätzen, auf denen früher sozialistische Kundgebungen abgehalten wurden, und überall, wo auch nur die kleinste Möglichkeit dazu bestand. Auf diesen Märkten arbeiteten Menschen, die von ruinierten staatlichen Betrieben, wissenschaftlichen Instituten und Schulen entlassen worden waren.  

    Die Märkte waren gerammelt voll mit neuen Waren aus dem Ausland. Die Nachfrage war stabil und mit Versuchen verbunden, durch Konsum neue soziale Zugehörigkeiten zu markieren. Dieser übersteigerte Konsum war bestimmt auch eine unbeabsichtigte Folge des sowjetischen Traums vom Aufbau des Kommunismus – die Zukunft muss man endlich nicht mehr aufschieben, endlich kann man leben.

    Und während auf Alltagsebene die Zukunftsträume sehr pragmatische Formen annahmen, entwickelten sich auf Ebene des intellektuellen und politischen Lebens eigene Vorstellungen davon, wie man schneller zu einem Belarus der Zukunft kommt, zu einem demokratischen, europäischen Land, das sich einfügt ins politische Weltsystem, das seine Bipolarität und Zweigeteiltheit während des Kalten Krieges endlich abgelegt hat. Auch der gefeierte Besuch von US-Präsident Bill Clinton 1994 in Belarus war eine symbolträchtige Episode im Verschwinden des gewohnten Feindbilds, das in der Sowjetzeit geprägt wurde und als dessen Finale eine „nukleare Apokalypse“ im Fall eines Krieges mit dem Westen erwartet wurde. 

    Die Ideen der ersten Jahre der Unabhängigkeit von 1991 bis 1994 transformierten sich zu einer Idee der „Nationsbildung“, zu Versuchen, endlich ein Land und eine Gesellschaft zu entwickeln, die alle Kriterien eines Nationalstaats erfüllen, der die Idee des Imperiums besiegt und überlebt hat. Identität wurde zur Politik (wie immer), die Geschichte wurde nun „aus einer nationalen Perspektive“ diskutiert, und es entstanden neue staatliche Strukturen und Institutionen. 

    Wenn wir uns jetzt an diese Zeit erinnern, sprechen wir von der Naivität dieser Gesellschaft, die überzeugt war, man könne alle Institutionen reformieren und die alten Probleme innerhalb kurzer Zeit loswerden. Aus dieser Naivität entstand jedoch allmählich die Erfahrung des zivilgesellschaftlichen und politischen Lebens. 

    Die Jahre 1991 bis 1994 waren turbulent; es gab keinen Zweifel, dass die Dynamik unumkehrbar war – es schien kein Zurück mehr zu geben. Und auch hier drängt sich wieder der Gedanke der Naivität auf – viele dachten damals, die Freiheit würde sich von selbst einstellen, man müsse sich darum nicht sonderlich kümmern. Die Gesellschaft dachte nicht mehr so intensiv an die Zukunft wie früher, die Zukunft war da, und das genügte. Weniger Utopien, mehr Pragmatik, und die Überzeugung, alles laufe bestens. Wir waren endlich unabhängig, das war das Wichtigste. Doch paradoxerweise wandelte sich die Zukunft, als wir aufhörten aktiv darüber nachzudenken, in eine Diktatur. 

    Zukunft Nr. 3

    Lukaschenkos Regime, das 1994 begann, erschien vielen wie eine Diktatur aus der Vergangenheit, alle sahen darin das Sowjetische. Was auch Lukaschenko selbst unterstützte: Solange nostalgische Bilder aus der Sowjetzeit dafür eingesetzt werden konnten, wurde das auch doppelt und dreifach getan, mindestens bis Anfang – Mitte der 2000er Jahre.

    Später nutzte die Staatsführung die sowjetische Vergangenheit nur noch selektiv. Als wichtige symbolische Ressource wurde nur noch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg maximal genutzt, angepasst an die Bedürfnisse der neuen (alten) politischen Klasse. 

    Und was wurde aus der Idee der Zukunft? Im Unterschied zur sowjetischen Idee einer kommunistischen Zukunft mit ihrem Utopismus und ihrem Globalismus sowie im Unterschied zur Atmosphäre des Übergangs und der Erlangung der Unabhängigkeit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre beschränkte sich die Idee der Zukunft unter der Herrschaft Lukaschenkos auf eine einfache propagandistische Formel: Ohne Lukaschenko hat das Land keine Zukunft.

    Die 2000er Jahre begannen mit der Gründung des Museums der modernen belarussischen Staatlichkeit, das so gut wie nichts vom Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erzählte, nichts über die Zeit vor Lukaschenkos Amtsantritt. Seitdem dominiert die Auslöschung der Vergangenheit, das Schweigen über die politischen Querelen in den 1990er Jahren und darüber, dass es damals eine Alternative zu Lukaschenko hätte geben können. Zu Lukaschenko gab und gibt es nun keine Alternative mehr, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. So, wie es auch die Zukunft selbst nicht gibt. Die Vergangenheit wurde zensiert, die Zukunft auf die Frage reduziert, wie lange Lukaschenko leben wird, und übrig blieb eine Gegenwart, in der politischer Populismus die Hauptrolle spielte. 

    Zur wichtigsten Losung in Belarus wurde das Wort „Stabilität“. Stabilität bedeutete die Unveränderlichkeit des politischen Regimes und jener zwiespältigen Atmosphäre, die sich im Land entwickelte, als viele ihrer Bürger zwar verstanden, was Autoritarismus bedeutet, ihn aber trotzdem nicht als Katastrophe empfanden und bereit waren sich anzupassen. Alle verzettelten sich im autoritären Alltag, im Konsum und auf der Suche nach Nischen zum Überleben. 2013 berichteten die Medien, dass Werbeflächen im Zentrum von Minsk von jemandem mit Plakaten „Diese Stabilität ist wie der Tod!“ überklebt wurden. Diese Kunstaktion brachte das Geschehen auf den Punkt. 

    In den 2010er Jahren entstand ein neuer Mythos, der eine Illusion der Zukunft erzeugen sollte – der Mythos vom „IT-Land“. Die IT-Sphäre hatte sich abseits der staatlichen Planung entwickelt, doch die Regierung schaffte es trotzdem, sich diesen Trend auf die Fahnen zu schreiben, nicht zuletzt dank der Lobbyarbeit von Vertretern der Branche. Der neue High-Tech-Park in Minsk sollte als Argument dafür dienen, dass Autoritarismus fähig zur Modernisierung ist und Belarus einer digitalen Zukunft entgegensieht. Die Proteste im August 2020, die vor dem Hintergrund eines fast vollständigen Internet-Shutdowns passierten, zogen auch unter diese Geschichte von der digitalen Zukunft einen Schlussstrich.    

    Zukunft Nr. 4

    Die Proteste des Jahres 2020 machten die Legitimität des autoritären Regimes zunichte, das als Antwort Gewalt zum zentralen politischen Werkzeug und zur Grundlage des Systems machte. Die Atmosphäre in Belarus schwankt heute zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Das bestehende System kann sich noch halten, aber eine Zukunft hat es nicht (nur die Vergangenheit wird ausgenutzt und Gewalt angewendet).

    Wie können wir uns heute in Belarus die Zukunft vorstellen? Welche Fragen stehen an? Einige von ihnen betreffen die politische Praxis: Welcher Weg führt aus dem Autoritarismus heraus, was wird mit unseren Institutionen und Vorgehensweisen, welchen Preis werden wir zahlen müssen? Wird es uns gelingen, das Erbe der Diktatur zu verdauen und ein System zu erschaffen, in dem Diktatur nicht mehr möglich sein wird? Wird dieses System auch demokratisch, sozial gerecht, inklusiv sein, werden wir in der Lage sein, horizontale Strukturen und Verbindungen aufzubauen? Wird es uns außerdem gelingen, über den politischen Pragmatismus hinauszugehen und allen unseren Bemühungen mehr Gewicht und mehr Sinn zu verleihen?

    Diese Fragen stellen sich wohl viele im Land schon jahrelang mit unterschiedlicher Intensität. Und all diese Jahre hindurch sehen wir Versuche, auf die Bilder einzuwirken, wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aussehen – mit unterschiedlichem Erfolg. Das Verschwinden der sowjetischen Utopie der kommunistischen Zukunft und des nationalen Projekts der Unabhängigkeit der späten 1980er und frühen 1990er Jahre schufen eigene Zukunftsnostalgien unterschiedlicher Zukünfte (und Vergangenheiten). 

    Die Proteste von 2020, Repressionen, Gewalt und der 2021 fortgesetzte Widerstand haben die Diskussion über die Zukunft wieder aufgebracht und vermitteln das Gefühl ihrer Wiederkehr. Gelingt es uns, diese Chance zu nutzen, oder bleibt es bei einer weiteren Nostalgie, einem weiteren nicht realisierten Projekt kollektiver Zukunft?   

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    Rund 177.000 Menschen in Russland leben in geschlossenen psycho-neurologischen Einrichtungen, im psichonewrologitscheski internat (психоневрологический интернат), kurz PNI, oder einfach: Internat. Die meisten von ihnen werden dort sterben. Jelena Kostjutschenko verbrachte mehrere Wochen in einem dieser Internate, dekoder bringt Auszüge aus ihrer Reportage in der Novaya Gazeta.

    „Verrecken sollst du! Hauptsache, du verreckst! Verreck, du Sau!“
    Das kommt aus dem Zimmer gegenüber von meinem. Aglaja – eine Alte mit einer Rabennase und dunklen Glubschaugen – wünscht allen den Tod. Das sind alle gewohnt. 
    Meine Station ist Station 1. Sie ist riesig und zweigeteilt, in einen Frauen- und einen Männerflügel. In meinem leben 41 Frauen. 
    Die Lichtschalter sind draußen vor dem Zimmer. Es gibt weder Türklinken noch Fenstergriffe. Und keine Steckdosen, nicht in diesem und nicht in anderen Zimmern. Es gibt nur die Steckdose für den Fernsehapparat, unter Aufsicht der Krankenschwester. Ohnehin hat niemand etwas aufzuladen: Auf 41 Frauen kommen lediglich drei Handys, und die bewahrt der Sozialarbeiter auf. Sie werden dienstags und freitags ausgegeben, nach dem Kaffeetrinken, für eine halbe Stunde.   
    Es wird früh aufgestanden – um sieben sind schon alle auf den Beinen. Ich würde gern rauchen. An der Wand hängt der Rauchplan: 9:30, 13:30, 16:30. Pro Tag kriegt man fünf Zigaretten. Die Männer kriegen zehn, dafür haben die keine „Ausgabestelle“ – ein Zimmer mit Teewasser. 
    Ich nähere mich dem vergitterten Balkon. Draußen steht schon Olessja, eine ehemalige Lehrerin für Russisch und Literatur. Sie hat Schizophrenie. Sie redet in Sprichwörtern und Redensarten.  
    Ich ziehe mir eine Jacke an und trete hinaus. Es ist kalt. Die Frauen rauchen in ihren Hausmänteln. Zwickmühle-22: Rauchen ohne Oberbekleidung ist untersagt, die Oberbekleidung befindet sich jedoch hinter Schloss und Riegel und wird nur nach Plan ausgehändigt. Oberbekleidung darf nicht im eigenen Zimmer aufbewahrt werden. Rauchen außerhalb des Rauchplans wird bestraft. Man riskiert einen ganzen Tag ohne Zigaretten, und das gilt nicht nur für die Übeltäterin, sondern für die ganze Station. 

    Ich stecke mir eine von meinen Zigaretten an. Alle anderen rauchen LD – stinkende Kippen aus einer roten Packung. Nicht alle haben Zigaretten, ein paar Omas zappeln in der Hoffnung, dass sie mal ziehen dürfen. Sie haben ihre schon aufgeraucht, und einen Vorrat anzulegen, schafft hier keine. Die Omas werden ignoriert. Die Asche wird nicht abgeklopft, sondern mit den Fingern abgestreift.    
    „Wir sind wie politische Häftlinge“, sagt Olessja. „Denn unsere Haftzeit ist lebenslänglich.“ 
    Eine halbe Stunde vor dem Frühstück stellen sich alle vor die versperrte Tür. Warten. Eine kahlgeschorene Frau mit einem einzigen Zahn im Mund hockt sich hin und sieht zu Boden. Dann schaue ich mir die Leute endlich genau an. Nur Olessja hat lange Haare. Weil Olessja manchmal auf der Bühne steht und lange Haare schön sind und den Gästen des Heims gefallen. Ein paar kinnlange, ein paar Kurzhaarschnitte, der Rest, auch die Omas, kahlgeschoren.   

    Die Frauen sehen mich genau an. ‚Was du für schöne Zähne hast. Was für schöne Zähne es gibt‘, sagt schließlich eine.

    Nicht alle gehen in die Kantine. Acht Personen frühstücken auf der Station. Die Bettlägerigen, die Blinde und jene, die wegen Rabiatheit das Recht darauf, in die Kantine zu gehen, eingebüßt haben. 
    Die Türen gehen auf, und alles strömt die Treppe hinunter. Drei Frauen bleiben an der Wand stehen, um auf Männer aus dem Trakt gegenüber zu warten. Auch deren Türen öffnen sich, und die Männer strömen heraus. Die Paare küssen sich rasch und gehen gemeinsam bis zur Kantine. Eine kurze Zeit des Zusammenseins. So wie bei den Spaziergängen im Garten (wenn sie Glück haben und die Männer gleichzeitig mit den Frauen hinaus dürfen) und in der Diskothek – jeden Mittwoch.

    Beziehungen nennt man hier „befreundet sein“.

    Die Männer und Frauen schicken einander Tütchen und Briefchen. In den Tütchen ist Kaffee (eine absolute Kostbarkeit) oder Tee (die zweite Währung hier, wird zu einem Kurs von fünf Säckchen Tee für eine Zigarette gewechselt) und kleine Mitteilungen. Wer „befreundet“ ist, macht einander Essensgeschenke. 
    Ich versuche, die Butter zu streichen, aber die Butter ist keine Butter. Ich esse die andere Brotscheibe und trinke etwas Braunes – ohne Aroma, aber warm und süß.

    Der Brei riecht eindeutig nach Chlor. ‚So riechen Hygiene und Gesundheit‘, sagt der Oberarzt im Vorbeigehen. Offenbar nimmt er es mir übel, dass ich den Brei nicht esse.

    Dieses PNI (Psychoneurologisches Internat) ist stolz auf seine Küche. Ich bekomme eine kleine Birne und beiße hinein. 

    Als ich zurückkehre, kommen die Frauen der Reihe nach in mein Zimmer und legen mir Birnen auf den Tisch. Das ist eine Art, Freundschaft zu schließen. Sie wollen mit mir befreundet sein. Ich gehöre zur Außenwelt, ich habe Zigaretten und ein Handy.  

    Die Krankenschwester teilt die Tabletten aus. Die Frauen bilden eine Schlange. Sperren die Münder auf wie junge Krähen. Wenn man dabei erwischt wird, dass man die Tablette nicht schluckt, bekommt man sie das nächste Mal in Wasser aufgelöst. Weigert man sich, die Lösung zu trinken, kriegt man Spritzen. Wenn man sich dagegen wehrt, kommt man auf die K. oder I. – in die Klapse. 

    Eine beleibte Frau geht an der Schlange vorbei und stellt sich ganz vorne hin. Sie heißt Nastja. Sie ist fröhlich und stark – die Chefin der Station. Sie hat die Fernbedienung vom Fernsehapparat. Den Sender wechseln kann nur sie und der, dem sie die Erlaubnis erteilt.

    Sie verwendet nie ihr eigenes Shampoo, sondern nimmt es einfach von einer anderen, wie es ihr gerade gefällt. Vor der Neujahrsfeier hat sie den Schwächsten die Bonbons weggenommen und bei allen, die wollten, gegen Zigaretten eingetauscht. Dafür ist sie der Verwaltung gegenüber loyal, und wenn jemand überwältigt und festgehalten werden muss, macht das Nastja, Nastja ist stark. Während meiner Anwesenheit müssen die Pflegerinnen selber die Böden wischen, statt, wie üblich, einer Bewohnerin eine Zigarette dafür zu zahlen. Eine Zigarette für einen geschrubbten Flur und saubere Klos.   
    Alleinsein gibt es nicht. In jedem Zimmer schlafen drei oder vier Personen. In der Toilette sind zwei Kabinen, wo immer irgendjemand sitzt. Die Klotüren haben Riegel, aber niemand schließt ab. „Wir sind es gewohnt.“

    Die Frauen warten nervös auf ihre Zigaretten. „Die haben uns vergessen, einfach vergessen.“ Endlich kommt die Krankenschwester, die die Pflegedienstleitung innehat. Die Frauen umringen sie. Sie gibt jeder zwei Zigaretten in die zitternden ausgestreckten Hände. 

    Endlich dürfen wir aus dem Haus hinaus. Ob wir spazieren gehen? Das entscheidet die Oberschwester. Die Oberschwester mag keinen Niederschlag, kann nasse Schuhe und Jacken nicht leiden. Am Morgen hat es geregnet, aber auch schon wieder aufgehört, nur, was ist mit den Pfützen? Was sagt die Oberschwester zu den Pfützen?
    Wir gehen spazieren! Mit den Männern!

    In der Garderobe wird gedrängelt. Jacken gibt es genauso viele wie Frauen, nur sind nicht alle gleich gut: Hier ist der Reißverschluss kaputt, da fehlen die Knöpfe. In großer Größe gibt es nur eine Jacke, aber groß sind drei der Frauen. Schließlich reißt eine die Jacke an sich und geht weg, die anderen werfen sich Regenhäute über und hoffen, dass die Krankenschwester das nicht merkt und sie hinauslässt. Auch Mützen gibt es nicht genug, und manche wickeln sich Kopftücher um. 

    Ein verschließbarer Knauf öffnet die Tür zur Treppe. Die Treppe führt in den „Garten“, einen kleinen Auslaufplatz zwischen den einzelnen Gebäuden und einer Mauer. Der Ausgang aus dem Hof ist vergittert und abgesperrt. Zwei Lauben, eine davon zum Rauchen, und acht Birken. 124 Schritte im Umfang. 

    Manche beginnen, im Kreis zu gehen.

    Wir setzen uns in die Raucherlaube – wir sind reich. Aus dem anderen Trakt kommen die Männer heraus. Shenja ist dringeblieben, und Olessja schäumt vor Wut. Sie wendet sich an Jura:
    „Sag ihm, ich verlasse ihn. Kaffee hab ich ihm gegeben! Und den trinkt er jetzt mit seinen Kumpels, oder was? Will er mich auf die Palme bringen? Er könnte doch mal raus und Luft schnappen. Ich persönlich hab die Nase voll davon, die Welt durch ein Gitter hindurch zu sehen. Was glaubt er denn – dass ich ihn um Kippen anschnorre? Hab ich doch selber! Bei Zigaretten denkt er nur an sich selbst, die sind ihm mehr wert als ich.“ 

    Jura nickt und küsst Marina. Marina hat bleigraue Haare bis zu den Schultern und rote Wangen. Stimmen haben ihr gesagt, dass sie gefüttert wird und Kinder über Kinder kriegen wird. Die Stimmen sagten, anstelle von Milch würden Joghurt und gezuckerte Kondensmilch aus ihren Brüsten fließen.   

    Jura schiebt ihr die Hand zwischen die Beine. Marina sagt: „Lass uns lieber rauchen.“ Jura nickt und holt zwei Zigaretten heraus – eine für sie, eine für sich. Ich denke, dass die Männer hier genauso wie draußen mehr finanzielle Möglichkeiten haben. 
    Jura fasst Marina an den Busen, Marina seufzt verlegen.
    „Gerade, dass er dich nicht ***“, sagt Olessja. „Im Sommer wird er dich ausziehen und ***.“
    Daneben versucht eine Alte, sich von einer anderen eine Zigarette zu leihen: „Ich geb sie dir zurück. Ich schwöre bei Jesus Christus, ich geb sie dir beim Abendessen, lass mich nicht hängen.“ 

    Auf jeder Bank sitzt ein Pärchen. Wer keinen Platz hat, spaziert im Kreis herum. Man hat die Wahl: im Uhrzeigersinn spazieren oder gegen den Uhrzeigersinn. 

    „Na gut, sag ihm doch nicht, dass ich ihn verlasse. Jur, hörst du? Sag ihm: Olessja ist beleidigt, weil du nicht herausgekommen bist.“
    Von der Tür ein lautes Rufen – der Auslauf ist beendet. 50 Minuten Außenwelt sind vorüber. Wir steigen die Treppe hoch. Ein Mann küsst eine Frau, schon auf der Station, eine Sanitäterin stößt ihn weg, und er macht sich schnell davon.  

    Im Fernsehen sieht man einen Verrückten, der einer Frau ein Messer an den Hals setzt, die Omas wiehern. Werbepause. Kaffeemaschinen, schöne Menschen, Schmuck. Nachrichten.

    Die hinkende Katja (Ingenieurin in einem Radiowerk, Schizophrenie, seit 26 Jahren im Heim, Selbstmordversuch, aber nur die Beine gebrochen und für unmündig erklärt worden) fragt: „Lena, wenn Putin spricht, sieht er dann alle an? Mir kommt es vor, er sieht nur mich an. Ist das meine Krankheit? Oder ist das wirklich so?“

    Mittagessen. Es gibt warme Suppe, Leber, Salat und Nudeln. Die Leute essen schnell, stopfen das Essen regelrecht in sich hinein. Dann verstehe ich den Grund für diese Eile: Unten gibt es ein gratis Telefon, davor eine kurze nervöse Schlange. Von hier aus kann man nur innerhalb der Stadt auf Festnetz anrufen. Sanitäter treiben die Insassen zurück auf die Station, bevor sie telefonieren können – es ist Zeit, die Türen abzusperren.

    Wieder werden die Böden gewischt, die Pflegerin schwingt wütend ihren Schrubber. Auch das dritte Mal Wischen wird ihr Job sein, spätabends. 

    Ljuba beeilt sich, Rosa zu füttern, aber aus einem anderen Zimmer ertönt ein klägliches „Ljubotschka“. Eine bettlägerige Greisin bittet sie, ihr die Pampers zu wechseln. 

    ‚Na warte, du Miststück, ich lass dich die Scheiße fressen‘, sagt Ljuba, während sie der Alten zwischen die Beine fasst. ‚Wo ist die nass? Da geht nicht mal was durch.‘

    Für die Bettlägerigen sind drei Pampers pro Tag vorgesehen. „Wenn sie sehr nass sind, wechsle ich sie, oder wenn sie angeschissen sind. Und einmal abends, nach dem Essen. Sie sind stumpf, meistens sagen sie nichts. Man muss kontrollieren – morgens, mittags, abends. Aber die ist trocken, wieso lügt sie? Auch wenn sie eingepinkelt hat, kann sie ja noch mal reinmachen.“
    „Tablettenausgabe!“, schreit eine auf dem Flur. Die Frauen stehen sofort auf und gehen hin. 

    Nach den Tabletten bekommen die Frauen noch zwei Zigaretten und gehen auf den Balkon hinaus. Die morgendliche Nervosität ist weg, und sie überlassen den Alten ein paar Züge.

    Sie reden über Selbstmorde und Selbstmordarten. Sich unter den Bedingungen des Heims auf Nummer sicher umzubringen, ist keine leichte Aufgabe. 
    Aus der Toilette hört man Schreie. Eine Krankenschwester läuft hin, aber noch bevor sie da ist, kommt Nastja mit zufriedener Miene heraus, hinter ihr entwischt eine dünne Frau, die am Morgen von einer Pflegerin gejagt wurde. 
    „Das war ja Paramonowa“, seufzt die Schwester. „Paramonowa! Ich werde dich gleich dem Arzt zeigen!“

    „Hat geschrien wie am Spieß“, lachen die Alten. 

    Nastja wird von Mädchen umringt und lacht. 
    „Ich habe auf dem Klo gesessen. Und die hat angefangen, mit ihren Händen vor meiner Nase rumzufuchteln. Da hab ich sie eben ***! Sie ist mir schon am  Nachmittag auf die Pelle gerückt. Irgendwann bring ich dich um ey!“, sagt Nastja.   

    ‚Sie hat mir ins Gesicht geschlagen!‘, sagt Paramonowa zur Krankenschwester und weint.

    „Du provozierst aber auch alle! Und kein Mensch schlägt dich“, sagt die Schwester, obwohl Nastja durch den ganzen Flur posaunt. 
    „Die schwarzen Raben haben den weißen zerhackt!“, sagt Paramonowa und flattert mit den Armen. 
    „Na, geh auf dein Zimmer!“, sagt die Schwester und geht weg.

    Sie kehrt mit einer anderen Schwester zurück, die eine Spritze in der Hand hält. Paramonowa soll eine Spritze bekommen, weil sie „aufgeregt“ ist. Jede hat in ihrem Behandlungsblatt stehen, dass sie bei Aufregung eine Spritze bekommt. Bei Paramonowa ist es Aminasin//Chlorpromazin.  

    „Das sind Vitamine“, sagt die Krankenschwester. 
    „Ich will keine Spritze, ich gehe!“
    „Auf ärztliche Anordnung“, sagt die Schwester. „Gegen deine Grunderkrankung.“ 
    „Ich bin nicht krank!“, ruft Paramonowa und schlüpft aus dem Zimmer auf die Toilette.

    „Ruf einen Sanitäter“, sagt die Schwester zur Pflegerin. Diese nickt. 
    Der Sanitäter, ein kräftiger Kerl, stellt sich vor die Toilettentür und schielt zu mir rüber. „Ich kann ihr doch nicht auf die Toilette nach.“
    „Sie wird ja nicht ewig drin bleiben. Warten wir“, sagt die Schwester mit der Spritze und stellt sich ebenfalls an die Wand. 
    „Sie hat sich auch in der Kantine schlecht benommen. Und Nastja geschlagen“, sagt die zweite. 
    Paramonowa kommt aus der Toilette heraus. Beäugt den Sanitäter und die Krankenschwestern. 

    „Ich komm schon von selber. Ich komme schon“, sagt sie.
    Sie kommt. Hinter ihr die Frau mit der Spritze. Der Sanitäter bleibt in der Tür stehen.
    Als ich einen Blick in das Zimmer werfe, liegt Paramonowa zugedeckt da, das Gesicht zur Wand. Sie rührt sich nicht. 

    Was ist Unmündigkeit 

    Unmündigkeit ist die Unfähigkeit eines Staatsbürgers, durch seine Handlungen staatsbürgerliche Rechte zu erlangen und auszuüben, sowie staatsbürgerliche Pflichten auf sich zu nehmen und sie zu erfüllen. So steht es im Gesetz. Kinder sind unmündig. Ein erwachsener Mensch, der aufgrund einer psychischen Störung seine Handlungen nicht versteht oder nicht steuern kann, kann per Gericht entmündigt werden. Das Gericht gibt ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag und stimmt meist mit dessen Ergebnissen überein.  

    Die Anwesenheit der betreffenden Person bei Gericht ist obligatorisch. Es reicht jedoch ein ärztliches Attest, dass die Person „aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht in der Lage ist, an der Verhandlung teilzunehmen“, und ihr Schicksal wird ohne ihr Beisein besiegelt. 

    Für die entmündigte Person wird ein Vormund bestimmt. Sie verliert einige Rechte: ihr Recht, über Eigentum zu verfügen, ihr Wahlrecht, ihr Recht auf Eheschließung und die Erziehung von Kindern, ihr Recht, Anträge an Behörden zu stellen, Eigentum zu vererben, Geschäfte abzuschließen oder Kinder zu adoptieren. Ohne ihre Zustimmung kann ihre Ehe geschieden, können ihre Kinder zur Adoption freigegeben werden und ihre persönlichen Daten verarbeitet werden.   
    Alle anderen Rechte bleiben bestehen. 
    Was passiert mit einer entmündigten Person in einem PNI?

    Das Heim ist zugleich Vormund und Dienstleister. Es ist sowohl Auftraggeber als auch Ausführender. Das eröffnet unglaubliche Möglichkeiten.

    Beginnen wir beim Geld. Auf den persönlichen Konten der 404 Entmündigten, die hier im Heim leben, liegen 98.956.665 Rubel [etwa 1,13 Mio. Euro – dek]. Das sind ungefähr 245.000 [rund 2800 Euro – dek] pro Person. Entmündigte bekommen in der Regel eine Behindertenrente, und diese Summe wächst. 75 Prozent der Rente behält das Heim – für den „Kundenservice“. Die restlichen 25 Prozent darf das Heim zum Wohle ihres Mündels verwenden – mit Erlaubnis der Pflegschaftsbehörde.   

    Warum hat Ljuba dann keine Batterien im Player? Warum müssen die Bewohnerinnen dann für eine Extrazigarette den Boden wischen?
    Ganz einfach: Die tatsächlichen Bedürfnisse des Mündels bestimmt ja ebenso das Heim. Natürlich hieß es mir gegenüber, die Insassen müssten nur darum bitten, und der Sozialarbeiter stellt einen Antrag, woraufhin das Gewünschte innerhalb maximal eines Monats bei der jeweiligen Person eintreffe. Praktisch ist das unmöglich. Auf 436 Bewohner und Bewohnerinnen kommen sieben Sozialarbeiter. Auf manchen Stationen wurden sie seit Jahren nicht gesehen. Einen direkten Draht zu den Sozialarbeitern haben die Bewohner nicht. Die Bitte muss über eine Krankenschwester erfolgen, alles Weitere liegt in deren Ermessen.

    Tatsächlich sind die Sozialarbeiter damit beschäftigt, sogenannte Lebensmittelpakete einzukaufen und zu verteilen. Mit Tee, Keksen, Zucker, Sprudel und Dauerwurst. Für privilegierte Bewohnerinnen – jene, die dem Personal helfen, auf den Stationen „Ordnung zu halten“ – darf es auch etwas anderes sein, etwa Schinken oder Käse. Etwas einfacher ist das alles in der Rehabilitationsabteilung. Dort sind die Sozialarbeiter physisch vor Ort, und mit Genehmigung der Stationsleitung kann man sie zum Beispiel darum bitten, einen Player zu kaufen.

    Wie viel kosten diese Lebensmittelpakete? Kein Bewohner weiß das. Wie viel bleibt jedem von seiner Rente? Auch das weiß keiner. Wer nach seiner Rente fragt (wen soll man auf einer geschlossenen Station überhaupt fragen?), kann zu hören kriegen, „wir verlegen dich“. Es gibt immer einen Ort, an dem es schlimmer ist, es gibt die 3-A [die Station mit der höchsten Stufe der Sicherheitsverwahrung], es gibt die psychiatrischen Anstalten, das wissen alle. 
    Aus demselben Grund haben die Leute auch keine Mobiltelefone. Die Juristen des Heims sehen keine Notwendigkeit, das Risiko einzugehen, mit einer entmündigten Person einen Handyvertrag abzuschließen. Ein Handy kann nur von Angehörigen geschenkt werden. 

    Dasselbe gilt für Bargeld. Die Entmündigten bekommen nie welches zu Gesicht und geben nie welches aus. Auch das eine Zwickmühle: Möchte man seine Entmündigung aufheben, wird man vor Gericht auf jeden Fall gefragt, wie man Geld abhebt, wie man die Miete bezahlt, was ein Busticket kostet und wie viel der Milchpreis im Laden beträgt.    
    Der Weg in die Außenwelt bleibt den Entmündigten verwehrt. Ich habe eine Frau getroffen, deren größter Traum es war, zum nächsten Markt zu fahren (drei Häuserblocks vom Heim entfernt), um Schuhe anzuprobieren und zu kaufen.  

    Wer entmündigt ist, darf das Heim nicht mehr verlassen. Außer, es findet sich draußen ein anderer Vormund.

    Nach Meinung des Oberarztes (er ist neu und gilt als progressiv) ist das Heim berechtigt, für seine Bewohner buchstäblich alles zu bestimmen. Weil ein Entmündigter seine Handlungen nicht lückenlos verantworten kann – der Vormund weiß es besser.   

    In den Krankenakten aller hier Wohnenden gibt es ein wunderbares Beispiel für diesen Ansatz – eine Zustimmung zur Behandlung, unterschrieben von der Heimleitung. Die Direktion ist „informiert über die Art der psychiatrischen Störung, über die Ziele, Methoden und Dauer der Behandlung sowie über das Schmerzempfinden, mögliche Risiken, Nebenwirkungen und die zu erwartenden Ergebnisse“ und ist mit absolut allem einverstanden. Das ist gegen das Gesetz, das vorschreibt, dass die betreffende Person informiert werden muss – doch das passiert nicht. Die Leute brauchen nicht zu wissen, welche Tabletten sie kriegen und was ihnen gespritzt wird. Die Frauen werden nicht gefragt, ob sie eine Abtreibung wollen, und erfahren es nicht einmal, wenn eine Sterilisation vorgenommen wird. Viele kennen ihre Diagnosen nicht (und trauen sich nicht, danach zu fragen). Ich habe eine junge Frau getroffen, die mit 26 Jahren zu menstruieren aufgehört hat. Sie wurde untersucht, und etwas wurde in ihre Krankenakte eingetragen, aber erklärt wurde ihr nichts, und sie hatte Angst nachzufragen. Warum traut man sich nicht zu fragen? Eine Frage kann einem als Unzufriedenheit ausgelegt werden. Und jede Unzufriedenheit kann bzw. wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Verschlimmerung gewertet – und das heißt Spritze oder 3-A oder Psychiatrie, je nach Schweregrad der Handlung.   

    Auch das ist eine Spielart der Hölle: die Unmöglichkeit, sich nicht wohl zu fühlen, die Unmöglichkeit, zornig zu werden oder zu weinen, die Unmöglichkeit, Gemeinheiten und Grausamkeiten beim Namen zu nennen. Will man sich selbst schützen, muss man lächeln oder zumindest „ausgeglichen“ bleiben – gleichgültig und ruhig, egal, was sie einem antun oder mit anderen machen. 

    In ihren Interpretationen von Unmündigkeit nutzen die Mitarbeiter sämtliche Spielräume aus. Entmündigte können die Länge ihrer Haare nicht selbst bestimmen – so die Meinung der Heimfriseurin, einer netten Dame mit freundlichem Lächeln, die Frauen wie Männern fraglos die Köpfe rasiert. 

    Entmündigte können nicht entscheiden, was sie in ihren Nachtkästchen aufbewahren – so die Meinung der Pflegerinnen. Entmündigte können den Boden wischen oder Waren abladen, können dafür aber kein Gehalt beziehen – so die Meinung der Heimjuristen. 
    Entmündigte haben kein Recht, sich an den Direktor, ihren unmittelbaren Vormund, zu wenden – so die Meinung der Sozialarbeiter, die den Querulanten mit „Verlegung“ drohen.  
    Nina Bashenowa wurde während eines Krankenhausaufenthalts entmündigt. Sie sagt: „Ein Mann hat mir erklärt, was Unmündigkeit ist. Mir wurde klar, dass ich alles verloren habe. Das Leben hat überhaupt keinen Sinn mehr. Ich habe keinerlei menschliche Rechte mehr.“

    ‚Das war ein Schlag. Angst stieg in mir hoch. Angst, nicht mehr als Mensch zu gelten. Dass jeder sagen kann: ‚Wer bist du denn? Niemand bist du.‘ So hab ich das verstanden. Und im Grunde stimmt das auch.‘

    Rehabilitationsabteilung

    Hier wohnen 49 Menschen, die großes Glück hatten. Das ist die freieste Abteilung des Heims. Die Tür wird nur nachts zugesperrt. Daher kann man die Heimbibliothek aufsuchen (eigenständig, ohne Begleitung, inklusive Computer), den Fitnessraum nutzen oder Tennis spielen. In der Abteilung gibt es eine Dusche, die allen offensteht, eine Küche, und man kann sich Geschirr zum Kochen ausleihen. Zigaretten bekommt man alle zwei Tage eine ganze Packung. In einem Aquarium leben drei lebendige Rotwangen-Schildkröten – die sind zwar bissig, aber egal. 
    Der Abteilungsleiter ist kein Psychiater, sondern eine Psychologin, mit der man reden kann. Die Rehabilitation hat ihren Auslauf nicht in einem geschlossenen Hof mit 124 Schritten Umfang, sondern vor dem Haus. Das Gebäude ist lang. Man kann da richtig spazieren gehen.       
    Die Abteilung ist gemischt, wenn auch Männer und Frauen getrennt schlafen. Man kann auf dem Sofa sitzen und kuscheln, man kann schmusen – bloß nicht vor den Augen der Krankenschwester –, man kann sogar „die Gelegenheit nutzen“. 

    Die Kehrseite des Glücks: permanente, unbezahlte Arbeit. Die Mädels schrubben die Böden im ganzen Gebäude, arbeiten in der Wäscherei, die Jungs laden Kisten mit Lebensmitteln ab und schieben und waschen Rollstuhlfahrer. In der Rehabilitation können Mitarbeiter aller Stationen „Leute ausborgen“. Ein paar wenige mündige Arbeitsfähige sind zu einem Viertel angestellt, alle anderen arbeiten – besser gesagt: „durchlaufen eine Arbeitsrehabilitation“ – für das Recht, im Paradies zu sein. 

    Die Rehabilitationsabteilung wurde auf Erlass des Gouverneurs 2001 erschaffen. Sie soll die Heimbewohner auf ihre Entlassung vorbereiten.
    Seitdem (also in den letzten 20 Jahren) sind vier Personen „in die Freiheit“ gegangen. Eine begann zu trinken und starb, mit einem riss der Kontakt ab, die anderen beiden sind verheiratet und gehen arbeiten.   
    Wanja lebt seit zwei Jahren im Heim. Er ist 26 Jahre alt.
    „In Freiheit“ hat er eine Lehre als Schweißer abgeschlossen und gearbeitet.

    Ich gebe seine Geschichte detailgetreu wieder. Die Grenze zwischen Freiheit und Heim ist extrem dünn. 

    Als Wanja 15 war, starb seine Mama. Zwei Jahre später starb auch sein Vater – er hatte nach dem Tod seiner Frau zu trinken begonnen. Dann starb auch noch die Großmutter. So blieb Wanja allein zurück. Er besaß einen Anteil an der Wohnung, in der er wohnte, die Einzimmerwohnung seines Vaters und die Dreizimmerwohnung seiner Oma. Aber nicht lange. 
    Denn Mamas Schwester trat auf den Plan – eine Maklerin. 

    Die Tante bat ihn, seinen Anteil an der Wohnung ihr zu überschreiben – ihre Tochter wollte eine Hypothek aufnehmen: „familiäre Unterstützung“ war gefragt. Wanja willigte ein. Dann musste die Dreizimmerwohnung verkauft werden, um eine Sanierung der Einzimmerwohnung zu finanzieren. Auch da stimmte Wanja zu. Es folgte eine komplizierte Geschichte mit dem Kauf einer Datscha, dem Verkauf der Datscha, dem Verkauf der Einzimmerwohnung und dem Übergang der neuen Wohnung in den Besitz der Tante.   

    Wanja bekam von diesem Immobilienhandel kaum etwas mit. Nach dem Tod seiner ganzen Familie war er „entgleist – rauchte Spice, nahm Drogen“. Er erinnert sich, dass er zugedröhnt getanzt und ein fremdes Auto zu Schrott gefahren hat. 
    „Dann hab ich Harry Potter und die Kammer des Schreckens gesehen. Und dachte – womöglich gibt es den Basilisken wirklich? Ich hatte einen richtigen Horrortrip. Und landete auf der Psychiatrie. Von da an wurde ich immer wieder eingeliefert. Mal sah ich Vampire, mal sonst was. Mir wurde Schizophrenie diagnostiziert. In dem Krankenhaus gab es einen Arzt, mit dem sich die Tante unterhielt. Er riet ihr: ‚Entmündige ihn und steck ihn ins Heim.‘ Genau das machte sie.     
    Am Anfang kam ich auf 2-D. Gleich auf den ersten Blick hatte ich genug gesehen. Ich sagte: ‚Was soll das, hol mich raus.‘ Aber sie so: ‚Ich kann das nicht verantworten. Womöglich stellst du was an, dann geh ich wegen dir in den Knast.‘ Manchmal besucht sie mich. Die Wohnung? Ist glaub ich vermietet. Wieso fragen Sie nach der Wohnung?“ 

    Seit Wanja keine Drogen mehr nimmt, sind die Halluzinationen weg. Trotzdem nimmt er weiter Medikamente: Cyclodol, eine halbe Haloperidol und abends zwei Sonopax. Von den Präparaten blinzelt er oft, aber das ist er „schon gewohnt“. Die Stationsärzte zweifeln an Wanjas Diagnose. Haben es aber nicht eilig, die Schizophrenie zu revidieren und seine Mündigkeit wiederherzustellen – mit der Maklertante prozessiert es sich leichter, wenn Wanja entmündigt ist. 

    Wanja geht mit Nina – das ist die, die im Prinzessinnenkleid gesungen hat, die durch ihre Entmündigung „alles verloren hat“. Sie ist schon ewig im Heim: 15 Jahre. In dieser Zeit hat sie ein Kind verloren, durch eine Abtreibung, zum Glück ohne Sterilisation, Ausschabung in einem frühen Stadium, „sie haben mich nicht aufgeschnitten“. Nina träumt davon, eines Tages mit Wanja in einem eigenen Haus zu wohnen. „In meinen Garten zu fahren und einfach da zu leben. An der frischen Luft, mit einem traditionellen Ofen im Haus. Sechs Ar Grund, eine eigene Banja. Seit 15 Jahren weiß ich nicht, wie es da draußen aussieht. Natürlich werde ich Männerhände brauchen. Wanja ist noch jung, der kann das noch nicht. Oder schaffst du das, Wanja?“ Auch hier träumt man von ganz normalen Dingen, denke ich bei mir.

    Was verbindet die Menschen, die im PNI wohnen? Was verbindet Tjoma und Sweta, Wanja und Dima, die Frauen aus der Station Nr. 1, die Frauen, die keine Kinder mehr bekommen können? Nicht die Diagnosen sind es – die sind ganz verschieden, und offenbar stimmen nicht alle. 
    Was sie verbindet, ist, dass ihre Angehörigen sich von ihnen abgewandt haben. Ihre sozialen Verbindungen sind abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit reduziert. 
    Wenn die Menschlichkeit verschwindet, bleibt nur mehr der Staat.  

    Mein Staat ist das PNI. Nicht die Impfung mit Sputnik-V, nicht die Olympiade, nicht die Raumfahrt. Mein Staat ist hier, ich sehe sein Gesicht.

    Was denke ich nach zwei Wochen PNI?

    Dass ich nur an der Oberfläche der Hölle gekratzt habe. 

    Wir befanden uns unter speziellen Bedingungen im Heim. Hinter dem Zaun, dessen Vorderseite mit lustigen Rhomben verziert ist, galten für uns besondere Regeln. Gemäß den Vereinbarungen, die die Novaya Gazeta mit der Heimleitung getroffen hat, darf ich weder die Anstalt noch die Region nennen. Die Namen der Personen, die dort eingesperrt sind oder arbeiten, musste ich ändern.  

    Dieses Heim wurde kürzlich 50 Jahre alt. Nach Meinung von Freiwilligen und des hiesigen Sozialministeriums ist dieses Internat weder schlecht noch gut. Es ist Durchschnitt. Normal. 

    In den Psychoneurologischen Internaten Russlands leben derzeit 155.878 Menschen. In speziellen Kinderheimen wohnen 21.000 Kinder, denen das PNI blüht. Jeder 826. Russe verbringt und beendet sein Leben im Heim.  

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  • Strenges Schulregime

    Strenges Schulregime

    Am 1. September beginnt in Belarus wie in vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken traditionell die Schule. „Der Tag des Wissen“ (russ. Den Snanii), an dem die Schulanfänger feierlich eingeschult werden und an dem die Hochschulen wieder ihre Arbeit aufnehmen, war im vergangenen Jahr auch der Beginn der Studenten-Proteste in Belarus, die sich mit den landesweiten Demonstrationen gegen Wahlfälschungen und Gewalt solidarisierten. Seit vielen Jahren wird das Schulsystem sowie auch die Lehrpläne den autoritären Vorstellungen der Machthaber um Alexander Lukaschenko angepasst. In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta erklärt die belarussische Journalistin Irina Chalip, wie das genau geschieht und welche Folgen die Umerziehung für die belarussische Gesellschaft hat. 

    Gehirnwäsche ist an belarussischen Schulen schon lange Teil des Lehrplans. Ab kommendem Schuljahr wird es auch eigens dafür zuständige Bereichsleiter geben: Mit dem 1. September 2021 wird das Amt des Leiters des Lehrbetriebs für militärisch-patriotische Erziehung eingeführt. Einfacher gesagt: ein Politoffizier. Oder ein Politruk. Oder – ganz altmodisch gesagt – ein Kommissar.  
    Speziell für die Schul-Politruks stellt der Staat Geld für 2000 Gehälter bereit. Wobei kein zusätzlicher Unterricht geplant ist. Mit dem Zeigestab an der Tafel stehen, Hefte kontrollieren oder die Klassenleitung übernehmen werden die neuen Chefs nämlich nicht (was auch offen gestanden besser ist). Sie haben eine kniffligere Aufgabe: „Die Implementierung der Ideologie militärischer Sicherheit in Bezug auf die staatsbürgerliche und patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen“. Außerdem die „Entwicklung der für die Verteidigung des Vaterlandes notwendigen moralisch-psychologischen Qualitäten bei Jungen und Mädchen“. So steht es zumindest im Allgemeinen Qualifikationshandbuch für Staatsbedienstete. Die akute Notwendigkeit für solche Kommissare entstand offenbar im vergangenen Schuljahr, dessen Beginn mit dem Höhepunkt der Protestaktivität in Belarus zusammenfiel.    
    Absolventen verschiedener Jahrgänge hängten ihre Goldmedaillen und Zeugnisse an die Zäune der Schulen, um durch nichts mehr mit jenen Mauern verbunden zu sein, hinter denen am 9. August die Wahlergebnisse so schamlos gefälscht wurden. Eltern unternahmen Protestaktionen auf Schulhöfen. Lehrer drehten Videos, in denen sie an ihre Kollegen appellierten, Fälschungen zu verweigern und die Wahrheit zu erzählen. Diese Lehrer verloren dann ihre Jobs. Die Eltern von Grundschülern nahmen ihre Kinder massenweise aus den staatlichen Schulen und schlossen sich zu sogenannten Elternkooperativen zusammen: Mehrere Familien mieten zusammen einen Raum und suchen selbst Lehrer für ihre Kinder, die sie ohne jegliche Schulideologie unterrichten. Dieser Trick ist allerdings nur für die Grundschule erlaubt: Will man sein Kind von der Schule befreien, muss man es zum individuellen Unterricht anmelden. Ob dies genehmigt wird oder nicht, entscheidet die jeweilige Schulleitung. Und während man in den ersten Schulstufen diese Genehmigung noch kriegen kann, wird dies später praktisch unmöglich. Heranwachsende Belarussen müssen zumindest einem qualifizierten Leiter des Lehrbetriebs unterstehen. Im Idealfall ist es einer für militärisch-patriotische Erziehung.

    Belarussische Geschichte im Schnelldurchlauf

    Diese Erziehung beginnt für jeden Schulanfänger sofort, gleich am 1. September. Seit vielen Jahren bekommen alle Erstklässler an allen belarussischen Schulen feierlich das Buch Belarus – unsere Heimat überreicht. Auf dem Umschlag steht unter dem Buchtitel: „Geschenk des Präsidenten der Republik Belarus A. G. Lukaschenko zum Schulanfang“. In dem Buch kommt A. G. Lukaschenko selbst reichlich vor, fast auf jeder Doppelseite. Zudem sind darin wie auf Schautafeln die historischen Meilensteine des unabhängigen Belarus angeführt:

    1991: Ausrufung der unabhängigen Republik Belarus
    1994: Beschluss einer neuen Verfassung der Republik Belarus
    1994: Wahl Alexander Grigorjewitsch Lukaschenkos zum Präsidenten der Republik Belarus

    Damit ist die Geschichte der Republik Belarus in diesem Buch auch schon zu Ende, und für die Kinder beginnt das Schuljahr. Einmal wöchentlich gibt es in allen Klassen, von der ersten bis zur elften, Politinformationen. Offiziell heißt das „Informationsstunde“ – an diesem Tag beginnt der Unterricht eine halbe Stunde früher. Alles Weitere hängt von den Lehrenden ab. Die einen nehmen den Auftrag wörtlich und erzählen den Kindern jedes Mal, was für ein märchenhaftes Glück sie haben, in Belarus mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen und seiner politischen Stabilität zu leben. Andere sabotieren die Sache unauffällig, indem sie den Kindern erlauben, in dieser Zeit ihre Hausaufgaben zu machen. Doch im Klassenbuch wird bei allen Schülern klar und deutlich abgehakt: Informationsstunde erfolgt, Patriotismus gefördert. In den höheren Schulstufen gibt es außerdem Unterricht in vormilitärischer Ausbildung. Dort hören die Schüler der oberen Klassen nichts mehr von Stabilität, sondern im Gegenteil – man erklärt ihnen, dass Belarus von Feinden umzingelt sei, und zwar auch von inneren. 

    Nach dem Unterricht beginnen außerschulische Veranstaltungen. Ältere Kinder werden im Winter scharenweise in die Eispaläste getrieben, wo Lukaschenkos Jüngster, Nikolaj, Eishockey spielt, und im Sommer stellen alle, die nicht das Glück hatten, die Stadt zu verlassen, auf der Parade zum 3. Juli ihre glückliche Kindheit zur Schau. Die Jüngeren werden auf „patriotische“ Exkursionen geschleppt. Zum Beispiel hat es die Klasse meines Sohnes innerhalb eines Schuljahres geschafft, sowohl die OMON als auch die Sondertruppeneinheit 3214 zu besuchen, die landläufig längst Todesschwadron genannt wird. In der Polizei-Zeitung stand danach, die Kinder hätten „viel Spaß dabei gehabt, kugelsichere Westen, Helme und Schlagstöcke auszuprobieren“.  

    In der vierten Klasse werden aus den Oktjabrjata Pioniere, aus den roten Halstüchern werden rot-grüne / Foto © Zuma/tass
    In der vierten Klasse werden aus den Oktjabrjata Pioniere, aus den roten Halstüchern werden rot-grüne / Foto © Zuma/tass

    Ein weiteres beliebtes Exkursionsziel für Minsker Schüler ist die KGB-Schule, die mittlerweile Institut für nationale Sicherheit heißt. Dort dürfen sie schießen üben, und sie hören die Heldengeschichte der Bildungsanstalt, die viele herausragende Persönlichkeiten absolviert haben. Namen werden allerdings keine genannt – wahrscheinlich ein Militärgeheimnis. Und sie bekommen das Tschekistendenkmal zu sehen, das irgendwo in einer Nische steht, verborgen vor fremden Blicken. Anscheinend gehen die Offiziersschüler dahin, um zu beten und still zu trauern.  
    Auch schon in der ersten Klasse kommen die belarussischen Kinder zu den Oktjabrjata, der Vorstufe der Pioniere. Bei einer Feier in der Aula sprechen sie dem Sozialpädagogen den Schwur nach. Wer in der Sowjetunion Pionier war, kennt den Text. Er wurde, dem Willen des großen Lenin folgend, nie verändert.  
    In der vierten Klasse werden aus Oktjabrjata Pioniere. Nur tragen sie keine roten Halstücher mehr, sondern rot-grüne. Sonst bleibt alles beim Alten. In der Oberstufe kommen sie dann zur BRSM – der Belarussischen Republikanischen Jungen Union, im Volksmund „Lukamol“. 
    Zum Lukamol wird man sowohl mit der Peitsche getrieben als auch mit Zuckerbrot gelockt. Die Peitsche – das ist die Androhung eines schlechten Abschlusszeugnisses und die Warnung, ohne Mitgliedschaft in der BRSM nicht an der Universität aufgenommen zu werden. Das Zuckerbrot sind Rabatte bei Diskotheken und Konzerten und erleichterter Zugang zu Sommerjobs. Eine Bekannte erzählte mir, wie ihre jüngere Schwester sich um ein Haar hätte verführen lassen. Sie kam von der Schule nach Hause und sagte zum Vater, sie werde wohl der BRSM beitreten, weil  die ihr einen Sommerjob versprochen hätten. Der Vater sagte: „Das hast du dir ganz richtig überlegt, Tochter. Eine Arbeit wirst du nämlich brauchen, wenn du zum BRSM gehst, weil ein Dach über dem Kopf wirst du keines mehr haben.“

    Ein Aufseher für militärisch-patriotische Erziehung

    Früher waren die Eltern, die ihren Kindern alles richtig und wie Erwachsenen erklärten, in der Minderheit. Die Mehrheit schluckte angeekelt den Beitritt ihrer Sprösslinge zu all diesen Vereinen, um ihnen bloß nicht den Abschluss zu versauen. Nicht einmal den Jungen OMON-ler redeten sie ihnen aus – auch den gibt es in Belarus. 
    Doch das letzte Schuljahr hat Kinder wie Eltern verändert. Jetzt verbringen die Kinder ihre Zeit nicht mehr beim Jungen OMON-ler, sondern schreiben „Es lebe Belarus!“ auf den Asphalt. Oder sie sitzen auf der Polizeistation, weil sie wegen eines rot-weißen Regenschirms festgenommen wurden. Oder sie warten, dass ihre Eltern aus dem Gefängnis zurückkommen. Oder sie flüchten mit ihnen nachts über die Grenze. Sie werden jedenfalls schnell erwachsen – wie immer im Krieg.  

    Um dieses Erwachsenwerden und das Denken zu stoppen, um die Kinder wieder auf Linie zu bringen, verordnet ihnen der Staat nun einen Schulpolitruk für militärisch-patriotische Erziehung. Als Mutter eines Schülers, die sich mit seinen Klassenkameraden und Freunden sowie deren Eltern unterhält, sage ich felsenfest überzeugt: Da kann man das Geld gleich zum Fenster hinauswerfen. Was für ein erbärmliches und sinnloses Projekt, zum Scheitern verurteilt. Die Kinder stellen sich nicht mehr in Reih und Glied, und die Eltern werden nicht mehr den Mund halten, nur weil sie ein schlechtes Zeugnis fürchten. Nur Witze über diese Schulpolitruks werden in Belarus wie Pilze aus dem Boden schießen, sodass sich der Turn- und der Werklehrer von blöden Sprüchen endlich mal erholen können. 

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  • „Entweder man sucht ein Übereinkommen mit den Taliban oder man baut eine Mauer“

    „Entweder man sucht ein Übereinkommen mit den Taliban oder man baut eine Mauer“

    Die tragischen Bilder vom Flughafen Kabul machen viele Menschen weltweit fassungslos. Für den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier sind sie „beschämend für den politischen Westen“. Neben hämischen Kommentaren in russischen Staatsmedien fragen unterdessen auch vermehrt einzelne unabhängige Stimmen, inwieweit der Westen überhaupt noch Vorbild für Russland sein kann.

    Russland führt Gespräche mit den Taliban – die offiziell als Terrororganisation gelten –, belässt einen Teil seiner Diplomaten in Kabul und schickt gleichzeitig zusätzliches Militärgerät nach Tadshikistan, wo es einen Stützpunkt unterhält.

    Diese Haltung kommentiert der russische Journalist Michail Koshuchow, der von 1985 bis 1989 Kriegskorrespondent in Afghanistan war, im Interview mit Znak. Er greift tief in die Geschichte, um die heutigen Probleme Afghanistans zu erklären und dessen mögliche Zukunft zu vorhersagen. Dabei kommt er teilweise zu überraschenden Ergebnissen, betont gleichzeitig aber auch die Sinnlosigkeit von Kriegen. 

    Ignat Bakin/Znak: Als wäre es das Normalste der Welt führt Russland offizielle Gespräche mit den Taliban – die uns noch Anfang der 2000er Jahre den Krieg erklärt und diese Erklärung bis heute nicht annulliert haben. „Schizophrenie der gegenwärtigen russischen Diplomatie“ nennt das etwa Andrej Serenko, der Leiter des Zentrums zur Erforschung des modernen Afghanistan (ZISA). Noch viel ungeheuerlicher erscheinen diese Gespräche vor dem Hintergrund, dass in Russland Journalisten, Oppositionelle und Organisationen, die alles andere als terroristisch sind, zu „ausländischen Agenten“ erklärt und verboten werden.

    Michail Koshuchow: Das stimmt zwar, aber wir haben genau zwei Möglichkeiten: Entweder versucht man ein Übereinkommen zu erreichen, oder man folgt dem Traum von Ex-US-Präsident Donald Trump und baut an der Grenze zwischen Afghanistan und Tadshikistan eine Mauer. Einen dritten Weg sehe ich nicht.Der ehemalige Kriegskorrespondent Michail Koshuchow © Facebook Michail Koshuchow/Znak

    Außenminister Sergej Lawrow hat erklärt, Russland werde keine Truppen nach Afghanistan schicken. Es gibt aber schon Informationen, dass wir Kriegsgerät nach Tadshikistan verlegen, wo Russlands Militärstützpunkt Nr. 201 Dienst tut. In den sozialen Netzwerken erkundigen sich Leute nach den Bedingungen für eine Entsendung als Vertragssoldat nach Tadshikistan. Wie bewerten Sie diesen Feuereifer unserer Landsleute?

    Zu allen Zeiten wurden Ackerbauern, Dichter und sonstige Talente geboren, aber eben auch Krieger. Auch bei uns. Und dann gibt es welche, die gern in den Krieg ziehen, schließlich ist das leichter, als Felder zu bestellen. Wenn also irgendwo ein Schuss fällt, sammeln sich sofort die unterschiedlichsten Leute. Einige kämpfen vielleicht für eine Idee, doch denke ich, dass sich die meisten von profaneren Motiven leiten lassen.

    „Wenn irgendwo ein Schuss fällt, sammeln sich sofort die unterschiedlichsten Leute“

    Die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass es vielen egal ist, auf wen sie schießen. Für Geld sind sie bereit, in jeden Krieg zu ziehen. Das ist 2014 mit dem Krieg im Donbass endgültig klar geworden.

    Könnte es passieren, dass die Taliban Tadshikistan angreifen und für die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien zu einer unmittelbaren Gefahr werden?

    Das ist nicht völlig unwahrscheinlich. Allerdings steht diese Frage heute nicht auf der Agenda. Die Menschen in Afghanistan haben vorläufig genug mit sich selbst zu tun. Wir müssen aber natürlich ernsthaft darüber nachdenken, was morgen passieren kann.

    Es hat sich historisch ergeben, dass beträchtliche Abschnitte der afghanischen Grenze zu Tadshikistan und Usbekistan unbewacht sind. Dort gibt es sehr hohe Berge, die man ohne Bergsteigerfähigkeiten und entsprechende Ausrüstung nicht überqueren kann. Die Einrichtung vollwertiger Grenzschutzanlagen würde unglaubliche Anstrengungen und Investitionen erfordern. Selbst zu sowjetischen Zeiten musste man sich damit begnügen, in diesen Abschnitten ab und zu mobile Grenzschutzbrigaden abzusetzen, um Flagge zu zeigen: Man konnte nur so tun, als würde man eine Staatsgrenze bewachen. In einigen Abschnitten der tadshikisch-afghanischen Grenze ist der Amu-Darja nur wenige Meter breit. Dort kann selbst ein Jugendlicher sein Bündel ans andere Ufer werfen. Das macht auch den Schmuggel von afghanischem Heroin möglich, der für viele Länder immer noch eine beträchtliche Gefahr darstellt.

    Pressekonferenz von Vertretern der Taliban in Moskau, Januar 2021. Foto © Igor Iwanko/Kommersant

    Wie wahrscheinlich ist ein neuer Krieg in Afghanistan unter Beteiligung der Supermächte dieser Welt?

    Wenn ein militärischer Konflikt ausbricht, finden sich immer und überall Generäle, die die Ärmel hochkrempeln, denen es in den Fingern juckt: Schließlich bedeutet Krieg für sie Orden, Karriere und neue Waffen. Das ist ihr Leben. Und sie finden meist Argumente, um die Politiker davon zu überzeugen, sie schießen zu lassen. Ich habe dennoch die Hoffnung, dass die kollektive Vernunft der Menschheit die Oberhand gewinnt und das Problem auf andere Weise gelöst wird.

    „Wenn ein militärischer Konflikt ausbricht, finden sich immer und überall Generäle, die die Ärmel hochkrempeln, denen es in den Fingern juckt“

    Was meinen Sie, belagern unsere Generäle bereits Wladimir Putin mit der Forderung nach einem Einmarsch in Afghanistan oder einer Beteiligung an einem Grenzkonflikt?

    Sollten sie noch nicht an die Tore des Erlöserturms des Moskauer Kreml klopfen, so hegen sie doch höchstwahrscheinlich solche Gedanken, grübeln und kratzen sich ihre Generalsnacken.

    Worum geht es Russland in Afghanistan? Um wirtschaftliche und politische Beziehungen, weil Afghanistan an der Grenze zu Zentralasien und dem Nahen Osten liegt? Oder ist das eine Region, in der kriegerische Auseinandersetzungen permanent zum Zerfall des Landes und zu Radikalisierung führen und in der immer wieder neue terroristische Gruppierungen entstehen?

    Sowohl als auch. Russland hat seit Jahrhunderten sehr enge Beziehungen zu Afghanistan. Natürlich mussten bestimmte Strukturen in letzter Zeit aufgegeben werden, aber es gibt auf beiden Seiten Menschen, die intensiv zusammenarbeiten und Handelsbeziehungen pflegen. Die geografische Nähe legt nahe, dass die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit solcher Verbindungen im Vordergrund steht. Außerdem grenzt Afghanistan an die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, und alles, was dort passiert, betrifft auf die eine oder andere Art auch unsere Interessen.  

    „Alles, was dort passiert, betrifft auf die eine oder andere Art auch unsere Interessen“

    Es ist nicht auszuschließen, dass der Wind aus Afghanistan die Saat des religiösen Extremismus nach Tadschikistan, Usbekistan und sogar noch weiter trägt. Niemand kann garantieren, dass in Moskau nicht demnächst Gastarbeiter auftauchen, die solchen Ideen anhängen.  

    Wenn wir von Afghanistan sprechen, denken wir unweigerlich an den längsten Krieg in der sowjetischen Geschichte: den Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Ein Kontingent sowjetischer Truppen unterstützte damals die Streitkräfte der afghanischen Regierung im Kampf gegen die Mudschaheddin. Die militärische Präsenz der UdSSR ist bis heute umstritten, genauso wie die Sinnhaftigkeit der Unterstützung der USA für die Mudschaheddin. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen war der Bürgerkrieg in Afghanistan nicht beendet, sondern flammte mit neuer Kraft auf. Was meinen Sie, war der sowjetische Einmarsch ein Fehler?

    Man kann es drehen und wenden, wie man will, es gibt nicht den geringsten, nicht einmal einen mikroskopisch kleinen Anlass, das Urteil anzuzweifeln, das der Erste Kongress der Volksdeputierten 1990 über den Afghanistankrieg fällte: Er war ein tragischer und verhängnisvoller Fehler. Da gibt es keine Diskussion.

    „Der Afghanistankrieg war ein tragischer und verhängnisvoller Fehler. Da gibt es keine Diskussion”

    Als Sie für die Komsomolskaja Prawda arbeiteten, haben Sie sich aber freiwillig für Afghanistan gemeldet.

    Ich bin ein Vertreter einer romantischen Generation. Trotz unserer Enttäuschung durch das sowjetische Regime hatten sich viele von uns eine romantische Illusion bewahrt: Wenn sich die „lichte Zukunft“ bei uns nicht einstellt, heißt das noch lange nicht, dass die Sache hoffnungslos ist. Viele, vor allem Offiziere, sind freiwillig nach Afghanistan gegangen. Aber schon nach den ersten Tagen dort war von meinen Illusionen nicht mehr viel übrig. Und nicht nur von meinen – dieser Krieg war sinnlos. 

     „Die Jahre, die ich in Afghanistan verbrachte, waren die besten meines Lebens”

    Wobei die Jahre, die ich dort verbrachte, die besten meines Lebens waren, die Zeit, in der ich beruflich maximal gefordert war. Ich danke dem Schicksal für alle Menschen, denen ich in der Armee begegnet bin. Und alles, was ich jetzt über diesen Krieg sage und denke, beruht auf meiner Einschätzung seiner Sinnhaftigkeit und seiner Folgen, gilt aber keinesfalls für die Soldaten, ihre treuen Dienste und ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung.     

    Was sind die Ziele der Taliban, die Anfang des Jahrtausends von US-Truppen ja beinahe vernichtet worden waren? Wollen sie in Afghanistan nun einen islamischen Staat aufbauen, der auf den Gesetzen der Scharia basiert?

    Ich habe ihre Statuten, wenn man das so nennen kann, nicht gelesen. Aber eines weiß ich: Der Kampf um die Macht in Afghanistan, auch der bewaffnete, war schon vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Gange. Doch hat erst die Anwesenheit unserer Truppen aus diesen kleinen Streitereien einen heiligen Krieg des ganzen Volkes gemacht – einen Dschihad. Wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wäre unsere Armee nicht in Afghanistan einmarschiert. Fakt ist aber, dass diese unüberlegte Entscheidung des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU der Grund war, warum sich dieser Kampf zu einem Dschihad mit all seinen Folgen auswuchs. An vorderster Front standen die Glaubenskrieger, die Mudschaheddin oder, wie wir sie nannten, die Duschmany.

     „Erst die Anwesenheit unserer Truppen hat aus kleinen Streitereien einen heiligen Krieg des ganzen Volkes gemacht“

    Auf den Schultern der Mudschaheddin sind mit kolossaler Finanzierung der Amerikaner, mit chinesischer Hilfe und unmittelbarer Beteiligung Pakistans die Taliban entstanden. Aus den Taliban ging Al-Qaida hervor. Das Banner der Al-Qaida hat dann der IS übernommen. Die Kausalität ist für mich hier offensichtlich. Ohne das eine hätte es auch das andere nicht gegeben. 






     

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  • Feldschery – die Dorfdoktorinnen

    Feldschery – die Dorfdoktorinnen

    Bei Geburten und Todesfällen, medizinischen Notfällen oder etwa auch zur Impfung gegen das Coronavirus werden sie gerufen: Feldscherinnen wie Gulgena, Alfira und Nursilja. Feldscher – das deutsche Lehnwort und auch das Berufsbild stammen aus dem Militär. Im Russischen meint feldscher allerdings eine zivile, ausgebildete – nicht studierte – medizinische Fachkraft, die Diagnosen stellt, Patienten behandelt und nur notfalls an einen Facharzt überweist. Die feldschery sind quasi die Dorfdoktoren und ersetzen diese gerade in weitläufigen, dünn besiedelten Gegenden – wie dem Rajon Archangelsk in Baschkirien. Dort hat die Dokumentarfotografin Natalja Madiljan sechs von ihnen für Republic mit der Kamera begleitet.

    Foto © Natalja Madiljan
    Foto © Natalja Madiljan


    Morgens um 5.30 Uhr aufstehen. Bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit macht, muss die Feldscherin Gulgena Chissmatullina noch die Kühe melken und die Milch verarbeiten: Quark, Sahne und Butter macht sie selbst. Um acht Uhr morgens verlässt sie das Haus, um auf dem Weg zum Gesundheitszentrum noch bei zwei Familien vorbeizuschauen. Im Gepäck hat sie ein Dreiliterglas Milch und Hammelfleisch aus der eigenen Wirtschaft – Sadaqa, eine muslimische Gabe der Barmherzigkeit für eine junge Familie, die kürzlich ein neues Haus bezogen und ein eigenständiges Leben begonnen hat.      

    Feldscherin Gulgena Chissmatullina

    Im Dorf Maxim Gorki, Gulgena beginnt ihren Arbeitstag / Foto © Natalja Madiljan
    Im Dorf Maxim Gorki, Gulgena beginnt ihren Arbeitstag / Foto © Natalja Madiljan

    Gulgena arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Feldscherin. Sie leitet das Gesundheits- und Geburtshilfezentrum von Arch-Latyschi, das zwei Dörfer versorgt: Maxim Gorki und Gorny. Die Feldscherin empfängt in dem Zentrum Patienten, fährt zu Notfällen und kommt zur Pflege von Kindern und schwangeren Frauen ins Haus. In Gorki gibt es eine große Schule und ein Wohnheim der Veteranen – auch das fällt in die Zuständigkeit der Feldscherin. Insgesamt kümmert sich Gulgena um 1250 Menschen.  

    Gulgena auf Hausbesuch bei einem alten Ehepaar / Foto © Natalja Madiljan
    Gulgena auf Hausbesuch bei einem alten Ehepaar / Foto © Natalja Madiljan

    Pro Tag kommen 10 bis 15 Patienten in das Gesundheitszentrum. Am Morgen findet die medizinische Pflichtuntersuchung für Fahrer der Dorfverwaltung, Fahrer von Schulbussen und Landmaschinen statt. Die Zahl der Patienten im Dorf ändert sich mit den Jahreszeiten: Im Mai hat niemand Zeit zum Kranksein – man ist mit Aussaat und Gartenarbeit beschäftigt. Im Winter geht‘s. 

    Tag der Covid-Impfung, Dorf Maxim Gorki, Versorgungszentrum von Arch-Latyschi / Foto ©  Natalja Madiljan
    Tag der Covid-Impfung, Dorf Maxim Gorki, Versorgungszentrum von Arch-Latyschi / Foto © Natalja Madiljan

    Die Feldscherin hier auf dem Land kennt längst alle ihre Patienten: Geburten, Todesfälle, Krankheiten, Freud und Leid, alles läuft über den Dorfdoktor.
    „Sie erzählen uns alles, und manchmal verstehen wir gut, warum ein Mensch genau jetzt krank geworden ist, welche Probleme und welchen Stress er durchmacht. Dann muss man auch Psychologin sein“, sagt Gulgena.  

    Jede Feldscherin hat ihre eigenen Strategien zur Erholung nach der Arbeit – Gulgena macht Gymnastik, versucht, viel spazieren zu gehen und besucht die Moschee.

    Feldscherin Alfira Nugamanowa 

    Eine Feldscherin auf dem Land hat keinen freien Tag, ihre Tasche ist immer gepackt: „Wir sind jederzeit startklar. Wenn man uns ruft, kommen wir und helfen.“ Die Feldscherin Alfira Nugamanowa lebt und arbeitet im Dorf Kisgi. Ein unfassbar malerischer, entlegener Ort im Vorland des Ural, an einer Biegung des Flusses Inser. Das Gesundheitszentrum von Kisgi ist ein Holzhaus mit Ofenheizung. Es ist zur Gänze Aufgabe der Feldscherin, zu putzen und den Hof in Schuss zu halten, sie muss ohne Hilfe auskommen. 

    Versorgungszentrum im Dorf Kisgi: Die Feldscherin Alfira Nugamanowa an ihrem Arbeitsplatz / Foto © Natalja Madiljan
    Versorgungszentrum im Dorf Kisgi: Die Feldscherin Alfira Nugamanowa an ihrem Arbeitsplatz / Foto © Natalja Madiljan

    Alfira ist schon seit über 40 Jahren Feldscherin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und Enkelkinder, die alle in Neftekamsk wohnen. Während des muslimischen Fastenmonats Ramadan nimmt sich Alfira Urlaub: In ihrem Alter ist es schon zu anstrengend, gleichzeitig zu fasten und zu arbeiten. Doch einen Teil der Arbeit muss sie auch im Urlaub machen – derzeit laufen die Impfungen gegen Covid, und auch Erste Hilfe müssen die Dorfbewohner immer bekommen können. Während der Vorbereitungen zum Zuckerfest in der Moschee kommt ein Mann zur Feldscherin, um seinen verletzten Finger zu untersuchen und verbinden zu lassen. 

    An einem normalen Arbeitstag ist eine Feldscherin bis zum Mittag im Gesundheitszentrum und nachmittags bei Noteinsätzen und Hausbesuchen. Eigentlich hat sie keine festen Arbeitszeiten: Morgens wie abends kommen Patienten, um ihre Spritzen zu kriegen, und es gibt nächtliche Notrufe. Die Telefonnummer der Feldscherin steht auf der Liste mit den wichtigsten Nummern. Insofern ist Dorfdoktor nicht nur ein Beruf, sondern Berufung. 

    Die Feldscherin hat eine große Hauswirtschaft, um die sie sich vor und nach der Arbeit kümmern muss. Um sechs Uhr morgens melkt Alfira Nagumanowa die Kühe / Foto © Natalja Madiljan
    Die Feldscherin hat eine große Hauswirtschaft, um die sie sich vor und nach der Arbeit kümmern muss. Um sechs Uhr morgens melkt Alfira Nagumanowa die Kühe / Foto © Natalja Madiljan
    Nursilja Chairetdinowa bei einem Noteinsatz im Dorf Kurgasch / Foto © Natalja Madiljan
    Nursilja Chairetdinowa bei einem Noteinsatz im Dorf Kurgasch / Foto © Natalja Madiljan

    „Wenn du siehst, dass ein Mensch, der oft bei dir war, krank ist und im Sterben liegt – natürlich ist das schwer. Oder ein Patient hat einen Infarkt und kriecht vor Schmerzen auf dem Boden, aber der Rettungswagen kommt nicht. Und selber kannst du ihn nicht fahren, weil er nicht transportfähig ist. Du musst ihm also das leben retten: Dann lebt er weiter und freut sich, und du freust dich auch.“  

    Feldscherin Natalja Shaworonkowa

    Natalja Shaworonkowa hält im Gesundheitszentrum von Krasny Silim die perfekte Ordnung. Sanitäterin hat sie keine, eine Putzfrau auch nicht, also lastet die Aufrechterhaltung der Ordnung genau wie die Behandlung der Patienten auf den Schultern der Feldscherin.  
    Natalja wurde in der Oblast Uljanowsk geboren und kam nach Baschkirien, als sie einen jungen Mann aus dem Dorf Silim heiratete. Dort begann sie 1983 ihre Tätigkeit als Feldscherin.  

    Die Feldscherin Natalja Shaworonkowa war kürzlich schwer an Covid erkrankt, hat die Folgen überwunden und arbeitet jetzt wieder  / Foto © Natalja Madiljan
    Die Feldscherin Natalja Shaworonkowa war kürzlich schwer an Covid erkrankt, hat die Folgen überwunden und arbeitet jetzt wieder / Foto © Natalja Madiljan

    Das Versorgungszentrum von Krasny Silim ist für drei weitere Dörfer zuständig: Magasch, Kusnezowka und Lukinsk. Um 7.30 Uhr verlässt Natalja das Haus, um vor Beginn ihres Arbeitstages die Fahrer zu untersuchen. „Bis acht Uhr abends versorge ich Notfälle, aber wenn jemand später kommt, kann ich ihn auch nicht wegschicken“, sagt Natalja. Zu Notfällen geht die Feldscherin zu Fuß.   

    Die Arbeit einer Feldscherin auf dem Land besteht nicht nur in Erster Hilfe und Hauskrankenpflege. Im Sommer muss das Gras gemäht werden, im Winter der Schnee geschaufelt, und auch die Raumpflege ist Pflicht der Feldscherin und der Sanitäterin, sofern es eine gibt. In manchen Gesundheitszentren wird mit einem Ofen geheizt und es gibt keine Wasserleitung. 

    Feldscherin Nursilja Chairetdinowa

    Das Gesundheitszentrum in Terekly befindet sich in einem Gebäude mit der Dorfbibliothek / Foto © Natalja Madiljan
    Das Gesundheitszentrum in Terekly befindet sich in einem Gebäude mit der Dorfbibliothek / Foto © Natalja Madiljan

    Die Feldscherin Nursilja, die das Versorgungszentrum von Terekly leitet, wurde im benachbarten Asow geboren, hat 1985 die Medizinische Fachschule von Belorezk abgeschlossen und als Medizinerin in Ufa und in der Oblast Tscheljabinsk gearbeitet. Als sie einen Mann aus Terekly heiratete, begann sie hier ihre Tätigkeit als Feldscherin – zuerst ab 2003 im Nachbardorf Kurgasch und ab 2010 in Terekly.  
    Nursilja hat fünf Kinder – drei Söhne und zwei Töchter. Die älteren Kinder studieren in Ufa, der mittlere Sohn dient in der Armee, und die jüngeren wohnen noch bei den Eltern und gehen zur Schule.  

     Bevor sie am Morgen zur Arbeit geht, bereitet Nursilja die Wabenrähmchen für die Bienenstöcke vor, während ihr jüngster Sohn vor der Schule noch lernt / Foto © Natalja Madiljan
    Bevor sie am Morgen zur Arbeit geht, bereitet Nursilja die Wabenrähmchen für die Bienenstöcke vor, während ihr jüngster Sohn vor der Schule noch lernt / Foto © Natalja Madiljan

    Nursiljas Tag beginnt wie bei vielen Feldscherinnen um sechs Uhr – sie muss die Kühe melken, die morgendlichen Aufgaben im Haushalt erledigen, dann bringt sie die Kinder zur Schule und fährt selbst zur Arbeit. Auf dem Weg zum Gesundheits- und Geburtshilfezentrum schaut sie bei alten Frauen rein, die ihre Spritzen brauchen, und am Abend kommen Mütter mit Kindern zur Behandlung zu ihr nach Hause. Auch Notrufe gibt es: „Außerhalb der Arbeitszeit fährt eigentlich nur der Krankenwagen, aber manchmal kommen sie her, bringen einen Patienten, oder man läuft eben hin. Und wenn‘s durch den Fluss geht, dann eben in Watstiefeln“, erzählt Nursilja. 

    Nursilja Chairetdinowa nimmt jederzeit Patienten auf –  am Abend kommen Mütter mit Kindern zur Behandlung zu ihr nach Hause / Foto © Natalja Madiljan
    Nursilja Chairetdinowa nimmt jederzeit Patienten auf – am Abend kommen Mütter mit Kindern zur Behandlung zu ihr nach Hause / Foto © Natalja Madiljan

    Ein typisches Gesundheits- und Geburtshilfezentrum – das sind mehrere Räume in einem Verwaltungsgebäude, in dem oft auch die Regionalverwaltung untergebracht ist oder die Post, eine Bibliothek, ein Museum oder ein Kindergarten. Manchmal ist es ein frei stehendes Gebäude, dann ist es meistens aus Holz und renovierungsbedürftig. Die Toilette ist immer draußen, bisweilen in katastrophalem Zustand. Wenn der Zustand des Gebäudes zu erbärmlich ist, dann empfängt die Feldscherin ihre Patienten bei sich zu Hause, auch das kommt vor. 
    Hier in der Region läuft wie überall in Russland ein Programm, in dessen Rahmen in den Dörfern neue Versorgungszentren in Fertigbaucontainern eingerichtet werden. In der Region Archangelsk sind es zwei. 

    Feldscherinnen Saituna Mussina und Ramsija Bikbulatowa

    Gesundheits- und Geburtshilfezentrum im Dorf Absanowo. Die Feldscherinnen Saituna Mussina und Ramsija Bikbulatowa machen sich zu Krankenbesuchen und Hauspflegeeinsätzen  auf  / Foto © Natalja Madiljan
    Gesundheits- und Geburtshilfezentrum im Dorf Absanowo. Die Feldscherinnen Saituna Mussina und Ramsija Bikbulatowa machen sich zu Krankenbesuchen und Hauspflegeeinsätzen auf / Foto © Natalja Madiljan

    Das Gesundheitszentrum im Dorf Absanowo ist ein Holzhaus, schon das dritte seit Dienstantritt der beiden Feldscherinnen: Saituna Mussina, die das Zentrum leitet, und die Hebamme Ramsija Bikbulatowa. Beide sind seit 42 Jahren im Dienst. Das Einzugsgebiet umfasst 850 Menschen, im Sommer werden es mehr, denn dann kommen die Datschenbesitzer

    Fast alle „Mädels“ betätigen sich neben ihren medizinischen Aufgaben und der Hausarbeit auch noch kreativ – viele singen in Folklore-Ensembles, helfen in der Moschee, engagieren sich ehrenamtlich und bemühen sich, auch für sich selbst Zeit zu finden. Alle haben eine Landwirtschaft und machen selber Butter, Sahne und Quark und helfen auch noch anderen. Fast sieht es so aus, als hätte der Tag einer Feldscherin doppelt so viele Stunden wie der anderer Menschen.  

    Feldscherin Saituna Mussina bei einem Hausbesuch in Absanowo / Foto © Natalja Madiljan
    Feldscherin Saituna Mussina bei einem Hausbesuch in Absanowo / Foto © Natalja Madiljan

    Die durchschnittliche Dienstzeit einer Feldscherin beträgt 35 Jahre. Die Feldscherinnen witzeln: Unser jüngstes Mädel ist 45, aber das sind Einzelfälle, die meisten von uns sind über 55. In Russland läuft seit 2018 das Programm Feldscherin auf dem Land, bei dem Mediziner, die aufs Land ziehen, 500.000 Rubel [knapp 5800 Euro – dek] und eine Reihe von Vergünstigungen erhalten. Allerdings wird die Umsetzung dieses scheinbar attraktiven staatlichen Projekts deutlich durch die Schwierigkeiten behindert, mit denen die Neuankömmlinge konfrontiert sind.  

    Haupt-Transportmittel im Dorf – zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Feldscherin Saituna Mussina auf ihrem Weg zu einem Hausbesuch / Foto © Natalja Madiljan
    Haupt-Transportmittel im Dorf – zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Feldscherin Saituna Mussina auf ihrem Weg zu einem Hausbesuch / Foto © Natalja Madiljan

    „Mit zunehmendem Alter begann ich zu verstehen, dass man den Menschen mehr Gutes tun muss, und danach lebe ich jetzt. Wenn einer kommt, während ich Feierabend oder Urlaub habe, verweigere ich nie meine Hilfe. Ich freue mich, wenn Kinder zur Welt kommen, wenn Frauen schwanger werden, wenn jemand zu trinken aufhört. Den Menschen Gutes tun und Liebe schenken – ich bin stolz darauf, in einem Heilberuf tätig zu sein. Ich bin weder reich noch arm, aber ich lebe und freue mich über jeden neuen Tag“, sagt Gulgena Chissmatullina. 

    Gulgenas Arbeitstag endet mit einem Blumenstrauß von Patienten / Foto © Natalja Madiljan
    Gulgenas Arbeitstag endet mit einem Blumenstrauß von Patienten / Foto © Natalja Madiljan

     

    Text und Fotos: Natalja Madiljan
    Original veröffentlicht am 20.07.2021 auf
    Republic
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    veröffentlicht am 13.08.2021

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  • „Glaube ihnen nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts und lache – das ist mein Prinzip“

    „Glaube ihnen nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts und lache – das ist mein Prinzip“

    Seit Mittwoch, 4. August 2021, wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht. Die Oppositonelle sitzt seit September 2020 in Untersuchungshaft. Die Flötistin Maria Kolesnikowa, die auch lange Zeit in Stuttgart lebte und perfekt Deutsch spricht, leitete im vergangenen Jahr zunächst den Wahlkampfstab von Viktor Babariko und hatte sich nach dessen Verhaftung schließlich dem Frauentrio rund um Swetlana Tichanowskaja angeschlossen. Als die Behörden Anfang September 2020 versuchten, Kolesnikowa gewaltsam außer Landes zu bringen, zerriss sie an der Grenze ihren Pass. Ihre beiden Mitstreiterinnen Swetlana Tichanowskaja und Maria Zepkalo waren unterdessen gezwungen gewesen, Belarus zu verlassen.
    In dem Prozess, der vergangenen Mittwoch begann, wird Kolesnikowa und dem Anwalt Maxim Snak, ebenfalls Mitglied im Koordinationsrat der belarussischen Opposition, unter anderem die Gefährdung der nationalen Sicherheit vorgeworfen.


    Kurz vor Prozessbeginn hat der unabhängige russische Fernsehsender Doshd mit Kolesnikowa ein schriftliches Interview geführt und sie gefragt, wie sie zu den Vorwürfen steht und welche Zukunft sie für sich selbst und für Belarus sieht.


    Update am 06.09.2021: Am Montag, 6. September 2021, verurteilte das zuständige Minsker Gericht Maria Kolesnikowa zu einer Haftstrafe von elf Jahren. Die 39-jährige belarussische Oppositionelle wurde der Konspiration zur verfassungswidrigen Machtergreifung und der Gründung und Führung einer extremistischen Vereinigung für schuldig befunden. Außerdem habe sie zu Handlungen aufgerufen, die der nationalen Sicherheit der Republik Belarus schaden. Zu zehn Jahren Haft wurde der Jurist Maxim Snak, ebenfalls Mitglied des oppositionellen Koordinierungsrates, verurteilt. Der Prozess gegen beide fand seit 4. August unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Frühere Anwälte von Kolesnikowa und Snak war im Vorfeld die Lizenz entzogen worden. Die derzeitigen Anwälte mussten eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben und durften in der Öffentlichkeit nicht über den Prozess berichten. Trotz des Versammlungsverbotes hatten sich vor dem Gericht dutzende Menschen eingefunden.

    Seit dem 4. August 2021 wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht / Foto © Tatyana Belaeva/Sputnik RIA Novosti
    Seit dem 4. August 2021 wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht / Foto © Tatyana Belaeva/Sputnik RIA Novosti

    Maria Borsunowa/Doshd: Was können Sie derzeit über die Anklage sagen?

    Maria Kolesnikowa: Es ist eine absurde Anklage, nach der Maxim Snak und mir bis zu 12 Jahre Haft drohen für etwas, das wir nicht gemacht haben – das zeugt von der rechtlichen Willkür eines Polizeistaats. 

    Sie haben mir vorgeschlagen, einen Film à la Roman Protassewitsch zu drehen

    Die Staatsmacht hat panische Angst vor einem öffentlichen Prozess, bei dem alle sehen, dass die zentrale Gefahr und Bedrohung für die Belarussen, für Belarus und die nationale Sicherheit von der Staatsmacht ausgeht.  

    Haben Sie ein Angebot zur Kooperation bekommen? Vielleicht, ein Gnadengesuch zu schreiben oder ein Schuldeingeständnis im Tausch gegen Freiheit?

    Ja, in unterschiedlicher Form, aber schon während sie mir das anboten, glaubten sie nicht so recht an meine Zustimmung. Ich selber versuche, einen Dialog zu initiieren, Verhandlungen, um den Widerstand in der Gesellschaft zu beenden. Sie haben mich „angehört“ und vorgeschlagen, einen Film à la Roman [Protassewitsch] zu drehen. Ich sagte, Markow (Marat Markow, Chef des staatlichen belarussischen TV-Senders ONT – Anm. Doshd) kann gern kommen, und ich erzähle die schockierende Wahrheit über meine Entführung, die Ermittlungen gegen mich und den Wahnsinn im Gefängnis. Irgendwie kommt er nicht. 🙂 Und weil ich unschuldig bin, lehne ich es ab, ein Gnadengesuch zu schreiben.    

    Wenn Ihnen das vorgeschlagen würde, wie würden Sie reagieren?

    Das ist eine Bande fieser, feiger Hütchenspieler, es wäre merkwürdig, ihnen zu glauben. Die lügen doch immer. Glaube ihnen nicht, fürchte Dich nicht, bitte um nichts und lache – das ist das mein Prinzip bei der Kommunikation mit ihnen. 

    Was denken Sie über Menschen, die solche Bedingungen akzeptieren, um ihre Freiheit zurückzukriegen?

    Auf keinen Fall würde ich deswegen jemanden verurteilen. Jeder von uns trifft seine Entscheidung je nach den Umständen, in denen er sich befindet, und trägt allein die Verantwortung dafür, vor allem vor sich selbst.   

    Das ist eine Bande fieser, feiger Hütchenspieler, es wäre merkwürdig, ihnen zu glauben

    Gelingt es Ihnen, an Nachrichten zu kommen? Können Sie irgendwie verfolgen, was im Land passiert?

    Teils über Anwälte, teils über staatliche Zeitungen und Fernsehen. Manchmal ist allerdings nicht so klar, ob das BT (das belarussische Staatsfernsehen – Anm. Doshd) eine Außenstelle des KGB ist oder umgekehrt. Lustig, wie sie nun schon seit über einem Jahr einander um die Wette beweisen, dass sie die Mehrheit sind und nicht nur drei Prozent. 🙂

    Sie haben bestimmt vom Urteil gegen Viktor Babariko gehört (Kolesnikowa  war Koordinatorin von Babarikos Wahlkampfteam – Anm. Doshd). Haben Sie so eine lange Haftstrafe erwartet?

    Ich hatte keinen Zweifel, dass die Strafe hart wird. Denn je schwächer das Regime, desto grausamer das Urteil. Viktor Dimitrijewitsch ist schon über ein Jahr inhaftiert, aber seine Umfragewerte sind hoch, er hat eine Partei gegründet, ist sich selbst treu geblieben, hat keine Kompromisse mit seinem Gewissen geschlossen, obwohl sein Sohn, seine Familie und sein Team quasi in Geiselhaft sind. Sie haben Angst vor ihm, weil sie selber nichts können als Gewalt auszuüben. 

    Je schwächer das Regime, desto grausamer das Urteil

    Bald ist Ihre Verhaftung ein Jahr her. Haben Sie erwartet, dass Sie so lange in U-Haft sein werden? 

    Ich wusste, wenn ich nach dem 9. August in Belarus bleibe, wird es ganz bestimmt nicht einfach. Aber dazu war ich bereit. Und am 7. September (dem Tag, an dem Kolesnikowa verhaftet wurde – Anm. Doshd) war ich mir gar nicht sicher, ob ich am Leben bleibe und ob das nicht der letzte Montag meines Lebens sein wird. Ein Jahr später lebe ich noch – wie könnte mich das nicht freuen!

    Bereuen Sie im Nachhinein irgendetwas? Denken Sie manchmal, es wäre besser gewesen wegzugehen?

    Nein, ich bereue nichts, ich finde, es war die einzig richtige Entscheidung, meinen Pass zu zerreißen und damit meine Ausweisung zu verhindern. Wie sich zeigte, waren alle Gerüchte über die Macht des KGB maßlos übertrieben, und eine einzige Handbewegung reichte aus, um ihre feigen Pläne in Luft aufzulösen. Das Böse spielt sich immer selbst ins Aus. 

    Ein Jahr nach den Wahlen: Mit welchen Gefühlen erinnern Sie sich an jenen August und an das, was weiter passierte? Sind Sie enttäuscht, oder, im Gegenteil, gerade gar nicht?

    Der ganze Sommer hatte einen enormen Drive, es war ein Meer von positiver Stimmung, von Wärme, Lächeln und Liebe. Es war schwer, aber es hat sich gelohnt. 

    Das Böse spielt sich immer selbst ins Aus

    Enttäuschung spüre ich keine, dafür einen Ozean an Begeisterung! Ich bin begeistert von den unglaublichen Belarussen und ihrem unbeirrten Streben nach Freiheit, ihrer Bereitschaft, dafür zu kämpfen.

    Wie kann es weitergehen? Was muss passieren, damit sich die Situation in Belarus ändert?

    Die Situation ändert sich so rasant – mitten in den Turbulenzen lässt sich nichts vorhersagen. Es ist klar: Die herzlosen Aktionen der Staatsmacht – Repressionen, Säuberungen im Medien- und Infobereich, die Boeing-Geschichte (die Landung des Flugzeugs mit Protassewitsch – Anm. Doshd), die Migranten, die Vernichtung des Unternehmertums sowie die pathologische Unfähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns wenigstens ein, zwei Schritte vorauszuberechnen – werden vor dem Hintergrund des absoluten Mangels an Vertrauen und Rückhalt seitens der Bevölkerung unweigerlich zum Zusammenbruch [der Staatsmacht] führen.   

    Verlassen Sie sich in dieser Hinsicht auf irgendjemanden oder irgendetwas?

    Ich glaube, dass die Belarussen ihre Probleme auch jetzt schon selbst lösen könnten, aber das braucht politischen Willen, Weisheit und Mut. Einen Dialog mit dem Volk zu beginnen – das ist das Einzige, was offensichtlich allen recht wäre und das Land wegführen würde vom Rand des Abgrunds, an den uns die Staatsmacht so unerbittlich drängt.  

    Können die europäischen Sanktionen das Geschehen irgendwie beeinflussen? Sollen die westlichen Länder auf die Ereignisse in Belarus reagieren, und wenn ja, wie?

    Für die Belarussen ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sehr wichtig, nämlich zu wissen und zu spüren, dass wir mit diesem Terror und mit dieser wildgewordenen Dampfwalze nicht allein sind.   

    Die russische Regierung unterstützt Alexander Lukaschenko, zumindest auf offizieller Ebene. Wie groß ist die Rolle Russlands beim aktuellen Geschehen in Belarus und dabei, dass Alexander Lukaschenko im Amt bleibt? 

    Niemand kommt auf die Idee, dass die Führung Russlands Lukaschenko vertraut oder seinen Versprechungen auch nur ein Jota glaubt. Wir wissen nicht, ob es tatsächlich Unterstützung gibt und worin die besteht, abgesehen von Gesprächen darüber. 

    Für die Belarussen ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sehr wichtig – zu wissen, dass sie mit dieser wildgewordenen Dampfwalze nicht allein sind

    Die harten Fakten: Die Bank der Gazprom (Gazprom und Gazprombank sind Aktionäre der Belgazprombank – Anm. Doshd) ist vernichtet, die Top-Manager sitzen hinter Gittern, [die Freundin von Roman Protassewitsch und russische Staatsbürgerin Sofia] Sapega ist in Minsk, Flüge auf die Krim gab es dann doch keine, und so weiter. Alle Gespräche über „Unterstützung“ sind Schaumschlägerei. Aber es ist auch klar, dass es für Lukaschenko einfacher ist, auf Knien um „Unterstützung“ zu betteln, als den Widerstand in Belarus zu beenden. Offenbar hat er vergessen, dass er nicht mit Putin zurechtkommen muss, sondern mit den Belarussen.  

    Haben Sie am Anfang mit Russlands Unterstützung gerechnet?

    Nein. Als Babarikos Wahlkampfteam waren wir strikt gegen eine Einmischung anderer Länder in innere Angelegenheiten der Republik Belarus. Als Lukaschenko den Krieg gegen uns anfing, schlugen wir vor, einen Dialog zu beginnen, entweder aus eigenen Kräften oder mit Vermittlung Russlands, der EU und der OSZE. Das ist unsere ehrliche und konsequente Position. Ich bin auch jetzt der Meinung, dass wir die Krise nur durch einen Dialog überwinden können.

    Was würden Sie den Belarussen gern sagen? 

    Ich glaube an die Belarussen, und ich liebe Belarus. Ich bin in Sorge um alle , weiß aber, dass das Böse sich selbst ins Aus spielen und das Gute siegen wird. Unsere kleinen Schritte führen zu großen Siegen. Für die Freiheit und die Zukunft von Belarus lohnt es sich zu kämpfen. Gemeinsam werden wir siegen! 

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  • Grenzverschiebungen

    Grenzverschiebungen

    „Wir werden niemanden aufhalten“, sagte Alexander Lukaschenko Anfang Juli bei einem Treffen seiner Regierung in Minsk. Damit meinte der langjährige Autokrat Flüchtlinge vorwiegend aus dem Irak, aus Syrien oder Afghanistan, die versuchen, über Belarus in die EU zu gelangen. Tatsächlich sind seit Anfang des Jahres fast 4000 Flüchtlinge nach Litauen gelangt, täglich werden es mehr. Sie laufen durch die Wälder und Moorgebiete, die Belarus und Litauen auf einer Länge von 680 Kilometer voneinander trennen – es sind im Übrigen Fluchtwege, die zum Teil auch Belarussen nutzen, die aus politischen Gründen ins Nachbarland flüchten.

    In den vergangenen Tagen demonstrierten mehrere hundert Litauer in Vilnius gegen einen Plan der EU-Kommission, die Migranten in einem Camp im Grenzort Dieveniškės unterzubringen. Auch im Grenzort Rudninkai protestierten Menschen gegen ein bereits errichtetes Zeltlager. Das kleine Litauen steht unter hohem politischen Druck. Das drei Millionen Einwohner-Land hatte bereits Anfang Juli den Notstand ausgerufen. Über 30 Soldaten der EU-Grenzbehörde Frontex wurden nach Litauen geschickt, um die dortigen Grenzbehörden zu unterstützen, auch bei der besseren Sicherung der Grenze zu Belarus. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis beschuldigte Lukaschenko, die Flüchtlinge als „hybride Waffen gegen die EU“ zu benutzen – sozusagen als Strafe für die Sanktionen, die die EU am 21. Juni gegen die belarussischen Machthaber beschloss. Auch Politiker der belarussischen Opposition wie beispielsweise Pawel Latuschko warfen Lukaschenko vor, die Migranten gezielt in Richtung EU zu schleusen. Die litauische Regierung gehört zu den schärfsten Kritikerinnen Lukaschenkos. Anfang Juli hatte Litauen der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich mit ihrem Team in Vilnius aufhält, einen offiziellen Status zuerkannt, worauf es zu einer diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern kam.

    Aus welchen Ländern kommen die Flüchtlinge? Was sind ihre Beweggründe zu fliehen? Wer organisiert ihre Flucht vor Ort und in Belarus? Wie gelangen sie über die Grenzen? Das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich in einer aufwändigen Reportage und Recherche mit diesen Fragen.

    Bagdad und Minsk verbindet ein recht belebter Luftweg. Bis vor Kurzem flog diese Strecke nur die Iraqi Airways – ein- bis zweimal pro Woche, je nach Saison; jetzt fliegt sie mittwochs und freitags. Doch seit dem 10. Mai hat sich die Zahl der Flüge zwischen der irakischen und der belarussischen Hauptstadt verdoppelt. Denn auch Fly Baghdad fliegt jetzt die Strecke – montags und donnerstags. [Inzwischen fliegt Iraqi Airways nach Informationen von Zerkalo.io (ehemals tut.by) vier Mal pro Woche von Bagdad nach Minsk, im August gibt es außerdem weitere Verbindungen von Sulaimaniyya, Basra und Erbil nach Minsk – dek].
    Seit Frühling 2021 preisen irakische Reisebüros massenhaft Urlaub in Minsk an. Die Kosten solcher Pakete variieren zwischen 560 und 950 Dollar. Im Preis inbegriffen sind Flugtickets, Visum, Versicherung, Unterbringung im Hotel und mehrere geführte Touren. 

    Die irakische Reiseagentur Jood Land wirbt für Reisen nach Belarus / Foto © Screenshot Reform.by
    Die irakische Reiseagentur Jood Land wirbt für Reisen nach Belarus / Foto © Screenshot Reform.by

    Solche Pauschalreisen aus dem Irak nach Belarus sind in den letzten Monaten deutlich billiger geworden. Das erwähnte im Gespräch mit Reform.by auch Jelena K. – eine Belarussin, die im irakischen Kurdistan lebt und mit einem Einheimischen verheiratet ist. 

    Lange Zeit plante das Paar eine Reise in Jelenas Heimat, konnte sich diese aber nicht leisten. Laut Jelena hätte noch im letzten Jahr ein Ticket nach Belarus und zurück mit Umsteigen in Istanbul rund 850 Dollar gekostet. Eine Pauschalreise wäre auf etwa 1000 Dollar pro Person gekommen. Jetzt, sagt Jelena, kann man Reisen nach Belarus ab 500 Dollar pro Person finden.

    Im August 2020 bot die irakische Reiseagentur Jood Land achttägige Touren nach Belarus an, von denen die billigste 949 Dollar kostete. Reform.by hat die Agentur kontaktiert und nach dem aktuellen Preis gefragt. Die Antwort: Eine achttägige Reise mit Unterbringung im Doppelzimmer kostet für eine Person 570 Dollar. In der Agentur betonte man, dass es jetzt viel mehr Iraker als früher gebe, die Belarus besuchen wollen.  

    Ich habe mein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen

    Angesichts der Preise für Pauschalreisen ist es nur logisch, dass viele Iraker sich für Belarus interessieren. Das beweisen auch die Facebook-Kommentare zu Werbungen von Reisebüros. Wir haben einige Iraker kontaktiert, die in FB-Kommentaren nach den Kosten für Belarus-Reisen fragten. 
    Gleich der erste junge Mann aus Bagdad erklärt: Er habe eine Werbung gesehen, von den vier Angeboten habe ihm Belarus am besten gefallen, daher wolle er hinfahren – nur als Tourist, zur Erholung. In Belarus sei er noch nie gewesen, und er kenne auch niemanden, der schon mal dort war. Doch schon ein paar Minuten später fragt er: „Wissen Sie überhaupt, wie es im Irak zugeht? Kennen Sie sich vielleicht mit Migration in die EU aus? Wenn ich nach Belarus fahre und dort heiraten würde, könnte ich dann legal im Land bleiben?“
      
    Wie uns der Iraker Amin (Name geändert) erzählt, wurde Alexander Lukaschenkos Verlautbarung, Belarus werde Flüchtlingen, die in die EU wollen, keine Steine mehr in den Weg legen, mehrere Tage hintereinander im irakischen Fernsehen gesendet. Und überhaupt würden die irakischen Medien Nachrichten zum Thema Migration viel Aufmerksamkeit schenken und jetzt oft über Belarus berichten. Daher würden viele Iraker, die permanent auf der Suche nach Möglichkeiten seien, das Land zu verlassen, diese Chance sofort nutzen.

    Für Migranten sei Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen

    Amins Karte / © Reform.by 
    Amins Karte / © Reform.by 

    Amin ist 25. Der junge Mann sagt, er habe sein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen, er nennt den Irak die Hölle auf Erden. Als er im Fernsehen von Belarus erfahren habe, hätten er und seine Freunde beschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen. Er sagt, für Migranten sei eine Reise nach Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen.   
    „Schlepper kassieren meistens ein paar tausend Dollar für eine Lkw-Fahrt in ein europäisches Land“, sagt Amin.
    Er meint, nach Lukaschenkos Worten sei im Irak die Nachfrage nach Belarus-Reisen deutlich gestiegen. Er selbst und vier seiner Freunde haben im Reisebüro Al Qimma Travel and Tourism für 700 Dollar pro Person gebucht. Im Preis inkludiert sind PCR-Test, Visum, Unterkunft und mehrere Ausflüge. Ein Visum für zehn Tage bekam Amin gleich auf dem Nationalen Flughafen in Minsk ausgestellt.     

    Noch vor seiner Ankunft in Belarus erzählt uns Amin: Seine Freunde und er verfolgen Meldungen über Festnahmen illegal Reisender an der litauischen Grenze und markieren die jeweiligen Orte auf einer Karte. Den Grenzübertritt planen die jungen Männer in der Region Grodno – weil dieses Gebiet auf Satellitenkarten bewaldet aussehe. Außerdem suchen sie Informationen darüber, mit welchen Transportmitteln sie bis zur Grenze kommen und wo sie litauische SIM-Karten kaufen können. Amin und seine Freunde entscheiden sich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis Lida zu fahren und von dort mit dem Taxi zur Grenze. 

    Mit dem Taxi bis zur Grenze

    Zuerst hatte die Gruppe vor, etwa drei Tage in Minsk zu bleiben, aber als sie am 10. Juli ankommen, wollen sie lieber keine Zeit verlieren und am selben Tag noch bis zur Grenze fahren. Dann passiert etwas Kurioses, das illustriert, wie illegale Einwanderer in Belarus – wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen – absolut auf sich gestellt und ohne jegliche Organisation und Hilfe agieren. Die Jungs verlassen das Hotel und gehen zur nächsten Bushaltestelle, wo Amin dem Journalisten, mit dem er Kontakt hat, ein Foto des Fahrplans schickt und fragt: „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“
    Im Endeffekt fahren sie mit dem Taxi. Wahrscheinlich sind sie über der Grenze, als unser Kontakt zu Amin abreißt. Soweit wir wissen, werden den Leuten in den Auffanglagern während der Quarantäne die Handys abgenommen und nur zu bestimmten Zeiten ausgehändigt.

    „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ / Foto © Reform.by
    „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ / Foto © Reform.by


    Die Fluchtbewegung nach Litauen besteht nicht nur aus Irakern. Mansur (Name geändert) ist ein 23-jähriger Syrer, er hat in der Türkei einen Uni-Abschluss als Energieingenieur gemacht. Jetzt wird er zur Armee einberufen und hat beschlossen, das Land zu verlassen.  
      
    „Von Migration über Belarus habe ich in der Zeitung gelesen, in Syrien liest man aufmerksam alle Nachrichten zum Thema Migration. Ich habe von der Situation in Belarus und von Lukaschenkos Aussage über Einwanderer gehört, daher wollte ich die Chance nutzen“, erzählt der junge Mann. 
    Da Mansur in der Türkei studiert hat, hat er eine doppelte Staatsbürgerschaft: die syrische und die türkische. Türkische Staatsbürger haben das Recht, sich bis zu 30 Tage ohne Visum in Belarus aufzuhalten. Daher braucht Mansur kein Visum zu beantragen.

    Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken

    Dreiländereck Polen, Litauen, Belarus / © Reform.by
    Dreiländereck Polen, Litauen, Belarus / © Reform.by

    „Vom Flughafen fuhr ich mit dem Bus nach Minsk und ging zum Bahnhof, wo ich dem Schalterbeamten auf meinem Handy den Satz ‚Ich möchte ein Ticket Minsk–Grodno kaufen‘ auf Russisch zeigte. So fuhr ich nach Grodno. Auf der Karte hatte ich gesehen, dass es in der Nähe der polnischen und der litauischen Grenze liegt, daher wollte ich sofort in diese Stadt. Hier wohne ich bis auf Weiteres in einem Hotel im Zentrum und tüftle mir eine Route aus. Ich überlege, wo ich am besten hingehe, sehe mir diesen Ort an“, Mansur zeigt uns einen Screenshot. 

    „Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken. Aber ich muss erst herausfinden, wie ich zur Grenze komme, wie das hier mit dem Taxi ist“, erzählt Mansur weiter.
    Der junge Mann gibt zu, große Angst vor der belarussischen Miliz zu haben. Das letzte Mal haben wir am 7. Juli mit Mansur gesprochen, seitdem war er nicht mehr telefonisch erreichbar und nicht mehr online.

    Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor

    Wie wir von unseren Gesprächspartnern wissen, haben Migranten, die durch unser Land flüchten, generell große Angst vor Begegnungen mit der Miliz: Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor. Sollte es dennoch passieren, wollen sie sich als Studenten der Universität Grodno ausgeben. Ihrer Meinung nach klingt das glaubwürdig und kann sie vor Festnahmen bewahren. 

    Keiner der Migranten erzählt uns (obwohl sie recht gesprächig sind), dass sie in Belarus Anweisungen bekommen hätten, wo sie hinfahren und was sie dort sagen sollen, schon gar nicht von Grenzbeamten. Daraus schließen wir, dass sie vor allem untereinander ihre Erfahrungen weitergeben. Sie verkehren in unzähligen Social-Media-Gruppen und Telegram-Chats für Flüchtlinge – in der Regel geschlossenen, in die man schwer reinkommt, aber uns ist es gelungen. 

    Hast du es geschafft – dann hilf dem Nächsten

    Samir, der eine solche Community gegründet hat, erzählt uns, dass solche Gruppen in erster Linie dazu da sind, Informationen über möglichst ungefährliche Transitrouten nach Europa zu teilen. Mit dem Ziel, dass sich möglichst wenige Leute dem Risiko aussetzen, in Booten das Meer zu überqueren oder sich in mit Menschen vollgestopften Lastwagen über den halben Kontinent karren zu lassen und dafür noch Unsummen hinzublättern. 
    Jetzt entstehen spezielle Gruppen, in denen es darum geht, wie man über Belarus nach Europa gelangt. 

    Tausende Dollar für Europa?

    Samid (Name geändert) ist Kurde. Er will über Belarus nach Polen, um dann nach Deutschland weiterzureisen. Von ihm haben wir die Kontaktdaten eines kurdischen Schleppers bekommen, der die Leute von Litauen nach Deutschland bringt.

    „Sie bringen die Leute von Litauen nach Deutschland, pro Person kostet das 85.000 US-Dollar. Außerdem haben sie noch jemanden an der Grenze, der den Weg erklärt, vielleicht ein Einwohner Litauens“, erzählt Samid.

    Laut Samid sind in dem Preis ein Visum und andere Dokumente enthalten, die für die Einreise nach Belarus und den Transit zur Grenze nötig sind. An der Grenze werde den Leuten erklärt, wohin sie gehen müssen. Nach dem Grenzübertritt würden sie in Litauen von jemandem empfangen und nach Deutschland gebracht. 

    Samids Bericht ist die einzige uns vorliegende Quelle, die sich mit den Informationen überschneidet, die sich mittlerweile vielfach in den Medien finden: Dass viele Migranten bis zu 15.000 Dollar bezahlen würden, um über Belarus nach Litauen zu gelangen. In den Chats von irakischen Migranten haben wir diese Informationen nicht gefunden, und auch von unseren Interviewpartnern, die überwiegend aus dem Irak stammen, wurden sie nicht bestätigt.

    Interessant ist, dass in den vergangenen Jahren illegal reisende Migranten (auch aus dem Irak) Belarus gemieden und sogar davor gewarnt haben, über dieses Land in die EU einzureisen, weil die Grenze zu streng bewacht werde.

    Wir haben einen Post von 2017 gefunden, in dem Iraker darüber diskutieren, warum es gefährlich sei, die belarussische Grenze zu passieren. In den Kommentaren schrieb ein Syrer namens Hatim, Belarus sei als ein Staat bekannt, in dem jeder verhaftet würde, man solle diese Variante lieber nicht in Betracht ziehen.

    Eine offene Grenze

    Warum gilt der belarussische Korridor also jetzt als eine nahezu sichere Möglichkeit, in die EU zu gelangen? Das liegt nicht nur an den gesunkenen Preisen für Flüge und touristische Reisen. Aus den Berichten aller unserer Interviewpartner geht klar hervor, dass sich das Verhalten der Grenzbeamten grundlegend geändert hat. Das sagen nicht nur Migranten, sondern auch Belarussen. Diese Angaben wurden uns außerdem von zwei Grenzbeamten bestätigt, die bereit waren, anonym mit uns zu sprechen.

    Ein anonymer Informant von Reform.by, der an einem Grenzkontrollpunkt arbeitet, erzählt von der gegenwärtigen Situation an der belarussisch-litauischen Grenze:

    „Derzeit passieren ziemlich erstaunliche Dinge. Früher wurde man dafür belohnt, wenn man einen Zigarettenschmuggler erwischt hat, jetzt ist das nicht gern gesehen. Und was die Illegalen angeht, die Grenzbeamten verhaften zwar welche, doch neuerdings gibt es den Befehl von oben, dass die Beamten ihre Patrouillen nach einem festen Plan durchführen sollen, so dass gewisse Fenster entstehen, durch die die Illegalen hindurchkönnen. Es gibt keinen konkreten Befehl, aber wenn du zum Beispiel deinen Vorgesetzten sagst, die rechte Flanke der Grenzzone ist nicht abgedeckt, heißt es, das sei nicht weiter schlimm, und keiner unternimmt etwas.“

    Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration geöffnet sind

    „Früher hat ein Grenzbeamter einen Illegalen festgenommen und dafür 200 Rubel [knapp 70 Euro – dek] Prämie bekommen, aber wenn ein Grenzbeamter heute trotz allem noch jemanden festnimmt, bekommt er gar nichts mehr. Kollegen, die neulich Gruppen von je 14 und fünf Irakern festgenommen haben, haben gerade mal 20 Rubel bekommen.

    Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration jetzt geöffnet sind. Sogar die festgenommenen Illegalen bekommen jetzt nur eine kleine Geldstrafe und werden wieder freigelassen. Früher wurde ein Protokoll erstellt, Anklage erhoben, sie wurden in spezielle Abschiebelager gebracht. Das Ergebnis ist ein starker Beamtenschwund, viele verlängern ihre Verträge nicht.“

    Roman (Name geändert) ist Grenzbeamter an der belarussisch-litauischen Grenze in der Oblast Grodno. Auch er bestätigt die Informationen über den Beamtenschwund im Grenzdienst.

    Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen

    „Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen, sie nur festzunehmen, wenn sie extrem dreist werden, quasi direkt über den Grenzkontrollpunkt marschieren. Normalen Grenzbeamten gefällt das natürlich gar nicht, sie versuchen trotzdem, die Gesetzesbrecher festzunehmen. Dann gibt es einen Stempel, ein Protokoll, eine Geldstrafe und die Illegalen werden mit ihren Sachen in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Wobei sie oft nur einen Rucksack dabeihaben oder gar keine Sachen, keine Ahnung, wo sie die lassen.

    Übrigens werden statt Grenzbeamten derzeit OSAM (Spezialeinheiten der Grenztruppen) auf Grenzpatrouille geschickt – schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen.“

     

    Belarussische Grenzschützer bei der Arbeit / Symbolbild © gpk.gov.by

    Auch Belarussen bemerken an der Grenze Gruppen von Migranten. Anfang Juli posten viele Anwohner der Grenzregion in Telegram-Kanälen, dass sie immer wieder Busse zur Grenze und wieder zurückfahren sehen und dass die Beamten keine Passkontrollen bei den Nichteinheimischen mehr durchführen.

    Wir sprechen außerdem mit einem Belarussen, der Ende Juli ins Ausland geflohen ist, um einer politisch motivierten Gefängnisstrafe zu entgehen. Zunächst hat er knapp eine Woche in der Nähe von Lida gewohnt und auf den richtigen Moment gewartet. Er sagt, er hätte von Einheimischen gehört, dass sie oft Kleinbusse mit zugezogenen Vorhängen sehen – ihrer Meinung nach werden darin Migranten transportiert. Unser Interviewpartner hat auch selbst einen solchen Bus gesehen.

    Schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen

    Unmittelbar hatte er nur beim Grenzübertritt mit Migranten zu tun. Er berichtet, er und seine Begleiter hätten kurz vor der Grenze, unweit der Stelle, an der sie das Land verlassen wollten, ein militärisches Zeltlager mit Grenzbeamten gesehen. „Als würden sie auf jemanden warten, oder sich abseits halten, um nicht zu stören“, sagte er. Deswegen entschieden er und seine Begleiter sich, nicht an dieser Stelle, sondern direkt, wo sie waren, über die Grenze zu gehen. Sie mussten also durch den Sumpf fliehen, überquerten die Grenze und trafen dort auf litauische Grenzbeamte. Eine Viertelstunde später kam auf demselben Weg eine Gruppe von Migranten: knapp zwölf arabisch aussehende Menschen. Sie erklärten den Grenzbeamten, sie wären Studenten der Universität Grodno, wurden verhaftet und in ein Lager gebracht.

    Außerdem wissen wir von einem Mann, der Anfang Juli nach einer Festnahme durch Sicherheitskräfte aus Belarus geflohen ist. Er berichtet, ein befreundeter Grenzbeamter hätte ihm zu einem Grenzübertritt in der Oblast Grodno geraten, denn „dort achtet gerade keiner auf die Grenze“. Tatsächlich konnte unser Interviewpartner die Grenze bei Lida problemlos überqueren. Er sagt auch, er habe an dem Grenzabschnitt noch vier arabisch aussehende „Kollegen“ gesehen, die auf der belarussischen Seite ebenfalls nicht aufgehalten worden seien.

    Migranten als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten

    Alena Tschechowitsch ist Juristin bei Human Constanta, einer öffentlichen Beratungsstelle für Migranten und staatenlose Menschen. Sie kommentiert für Reform.by die Situation aus Sicht des Migrationsrechts. Tschechowitsch ist der Meinung, dass Migranten, die die politische Situation in Belarus nutzen wollen, in einer sehr gefährlichen Lage sind:

    „Nach polnischem und litauischem Recht können die Migranten, die in diesen Ländern Asylanträge stellen, nicht abgeschoben werden, bevor über diese Anträge entschieden wurde. Diese Gesetze gelten für alle Asylsuchenden, unabhängig davon, ob sie legal oder illegal ins Land gekommen sind. Wenn die Migranten nicht nachweisen können, dass ihnen im Herkunftsland Gefahr droht, wird ihnen das Asyl verweigert, dann können Polen oder Litauen sie nach ihren jeweiligen internen Verfahren abschieben. In der gegenwärtigen Situation, also angesichts der hohen Zahl von Ankommenden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass die litauischen und polnischen Behörden die Anträge auf Asyl und einen Flüchtlingsstatus unbegründet ablehnen. 

    Zudem hat das litauische Parlament die gestiegene Fluchtbewegung über die belarussische Grenze als hybride Kriegsführung bezeichnet. Das Parlament fordert, die Migranten aus Drittstaaten, die illegal über die litauische Grenze einreisen und keine Papiere haben – ausgenommen sind Frauen mit Kindern, behinderte Menschen und Kinder unter 16 – , als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Wenn die litauische Regierung diesem Gesetzesentwurf zustimmt, könnten sich hunderte Menschen in einer sehr gefährlichen Lage wiederfinden, ohne den ihnen zustehenden Schutz.“

    Am 21. Juli wurde der Gesetzesentwurf vom litauischen Präsidenten unterzeichnet.

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  • „Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein.“

    „Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein.“

    Gegen die Organisationen des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny begann am Montag die Hauptverhandlung vor dem Moskauer Stadtgericht: Ihnen wird Extremismus vorgeworfen. Die Sitzung wurde nach wenigen Minuten auf den 9. Juni verlegt. Betroffen sind neben dem Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) auch die regionalen Wahlkampfbüros, die Nawalnys Team landesweit aufbaute. Über diese schtaby wurden Straßenproteste organisiert, aber auch das sogenannte Smart-Voting – das Verfahren sieht vor, dem aussichtsreichsten Oppositionskandidaten die Stimme zu geben und so die Machtfülle der Regierungspartei Einiges Russland zu brechen.

    Ist eine Organisation als extremistisch eingestuft, so ist deren Finanzierung verboten, führende Köpfe müssen mit mehrjährigen Freiheitsstrafen rechnen.

    Im Meduza-Podcast Schto slutschilos (dt. Was war da los?) hat Konstantin Gaase mit Nawalnys Wahlkampfchef Leonid Wolkow, der im Exil lebt, darüber gesprochen, wie es mit den Regionalbüros nun weitergeht – und ob das Smart-Voting bei der Dumawahl im September trotz allem funktionieren kann.

    Konstantin Gaase: Seit 2012, als Sie befasst waren mit den Wahlen zum Koordinationsrat, gab es ein ganz einfaches Schema für die Beteiligung am oppositionellen Protest: Leute, wir geben euch die Möglichkeit in unterschiedlichen Abstufungen mitzumachen – von der anonymen Spende über Cube-Aktionen bis hin zur Mitarbeit im Team. Das heißt, im Grunde sagten Sie Ihren Sympathisanten: Wir bieten eine Plattform, der ihr euch anschließen könnt, wie es euch passt. 
    Jetzt gibt es keine Plattform mehr, und auch die Beteiligung am Protest in der Form, wie Sie sie für ungefährlich halten, gibt es nicht mehr. Haben Sie das bei Nawalnys Rückkehr nach Russland besprochen? Hielten Sie ein solches Szenario für wahrscheinlich?

    Leonid Wolkow / © Andrej Lukowski/Kommersant
    Leonid Wolkow / © Andrej Lukowski/Kommersant
    Leonid Wolkow: Eine schöne Formulierung, das mit den abgestuften Möglichkeiten, weil wir das auch immer so gesehen haben.
    Bei Unterstützer-Treffen habe ich das oft als Pyramide visualisiert: eine Million Anhänger; davon hunderttausend, die spenden können; davon zehntausend, die agitieren können; davon tausend, die aktiv mitarbeiten; hundert, die bereit sind, einen Tag in Haft zu sitzen [per Verwaltungsarrest]; zehn, die bereit sind, verurteilt einzusitzen; und ein Alexej Nawalny.   

    Und es war klar, dass das Team und diese ganze Struktur es allen ermöglichen soll, etwas beizutragen. Denn obwohl wir selber Aktivisten sind und Aktivisten lieben und schätzen, ist ja klar, dass man mit einer Million Anhängern, die täglich je 15 Minuten Zeit investieren, ohne dabei Risiken einzugehen, eine viel größere politische Wirkung erzielen kann. Und diese 15 Millionen Minuten vermögen immer noch mehr, als die eingefleischtesten und risikofreudigsten Aktivisten auf der Straße mit wundgelaufenen Füßen zusammensammeln. Aktivisten gibt es ja viel weniger. 
    Aber so vorzugehen, dass aus diesen 15 Millionen Menschenminuten etwas Sinnvolles entsteht, ist sehr schwierig. Das erfordert eine riesige Infrastruktur und eine ziemlich geschickte Planung.

    Alles, was wir gemacht haben, war, die Aktivisten, die es [zum Kampf] drängte und die zu den verschiedensten kreativen Protestformen bereit waren – dass wir die zu ziemlich öden bürokratischen Tätigkeiten verdonnert haben, um eine Angebotsstruktur für jene aufzubauen, die weniger aktiv waren. 

    Und jetzt hat genau dieser Teil einen  Schlag versetzt bekommen. Unsere Millionen Anhänger sind immer noch da; die Hunderttausende, die zu Spenden und Reposts bereit sind, ebenfalls. Eins draufgekriegt haben die Zigtausend, die zu Demonstrationen gehen, und die Tausend, die aktiv mitarbeiten.  

    Jenen, die bereit waren zu Demonstrationen zu gehen, hat man gesagt: Ihr werdet gleich alle im Verwaltungsarrest sitzen. Damit hat man das Risiko ihres Einsatzes um zwei Stufen verschärft, dazu waren sie nicht bereit. Und die Tausend, die [im Team] mitarbeiteten, bekamen zu hören: Ihr bekommt gleich alle eine Haftstrafe aufgebrummt. Also wurde auch das verschärft – auch dazu waren die Leute nicht bereit.
    Somit haben sie [die russische Staatsmacht] uns durch die drastische Erhöhung des Risikos die Grundlage für unsere Struktur zerstört. Weswegen wir jetzt die Infrastruktur ins Internet verlegen. 

    Durch die drastische Erhöhung des Risikos haben sie unsere Struktur zerstört

    Wir wissen, dass die Unterstützung an der Basis nicht weg ist, das ist in Umfragen erfassbar. Wir müssen sie nur online neu aufbauen. Also, dafür sorgen, dass die Leute, die 15 Minuten täglich investieren wollen, [weiterhin] etwas Sinnvolles beitragen können. 
    Natürlich sinkt die Effektivität. Natürlich wird die Arbeit anders sein, aber im Kern bleibt alles gleich. Die fundamentalen Gründe für die Proteststimmung in Russland sind ja ganz offensichtlich immer noch da und werden nicht so schnell verschwinden.    

    Putin kann zehn Personen einsperren lassen – davon wird aber das Sonnenblumenöl nicht billiger. Putin kann alle Räumlichkeiten, in denen jemals Nawalnys Team gearbeitet hat, mit Baggern zerstören. Und alle Hotels, in denen Nawalny je eingecheckt hat. Auch damit wird er die Korruption nicht besiegen. Ganz zu schweigen davon, dass [der Unmut darüber nicht sinkt, dass] Putin seit 22 Jahren im Amt ist.  
    Wir führen Umfragen durch und sehen: Die Unterstützung ist nicht zurückgegangen, dafür hat das Mitgefühl zugenommen.  

    Sie sagen, Sie sind bereit, weiterhin dasselbe zu tun – wenn auch weniger effektiv und online. Bedeutet das, dass Sie die Grundhypothese beibehalten, dass diese ein bis zehn Millionen Anhänger von sich aus nicht bereit sind, das Risiko zu erhöhen und auf die Straße zu gehen? Sie glauben also nicht, dass die Stärke des Protestes ohne Ihr Zutun von selber zunimmt?  

    Lustigerweise hat Nawalny in einer seiner letzten Nachrichten aus Wladimir eine Metapher aus Alice im Spiegelland benutzt: dass man schnell rennen muss, um auf der Stelle zu bleiben  – wobei er das Zitat fälschlicherweise [dem ersten Band] Alice im Wunderland zuschrieb. Am selben Tag kam auf Znak ein Interview mit mir heraus, in dem ich dieselbe Metapher benutzte. Wir hatten uns nicht abgesprochen, aber offenbar empfinden wir das sehr ähnlich. Genau so ist es: Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur damit wir auf der Stelle bleiben.    

    Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur um auf der Stelle zu bleiben   

    Das Risiko beim Straßenprotest ist um ein Vielfaches gestiegen. Niemand denkt mehr daran zurück, aber vor zehn Jahren war das Schlimmste, was auf einer nicht genehmigten Demonstration passieren konnte, 15 Tage Haft für Organisatoren und 500 Rubel [2011 rund 13 Euro – dek] Strafe für Teilnehmer. Irgendwelche Festnahmen (geschweige denn Haftstrafen). Schon allein Ausweiskontrollen schienen damals auf genehmigten Demonstrationen undenkbar. Und das vor nur zehn Jahren – in der fast guten alten Zeit.   

    Unsere Proteststärke und -energie ist in diesen zehn Jahren nicht gestiegen, aber auch nicht weniger geworden. Jetzt, wo die Teilnahme an einer Demo bis zu 300.000 Rubel [etwa 3.300 Euro – dek] kosten kann, wo 30 Tage Haft drohen, ein Strafverfahren, ein reales Risiko, seinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz zu verlieren et cetera – sehen wir, dass die Leute trotzdem landesweit in [mit vorher] vergleichbarer Zahl demonstrieren gehen.     

    Unter diesen Bedingungen zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre wishful thinking

    Alles, was wir unter diesen Bedingungen tun können, ist, schnell genug zu rennen, um an Ort und Stelle zu bleiben und das Entschlossenheitslevel der Menschen aufrechtzuerhalten. Aber unter diesen Bedingungen auch noch zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre Wishful Thinking.   

    Putin hat auf Lukaschenko [und die belarussischen Proteste 2020] geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern. Er hat signalisiert, dass er auch bereit ist, diesen Spielraum zu nutzen – was natürlich eine unangenehme Überraschung ist. Jetzt wissen wir, dass unsere Bemühungen nicht auf einen großangelegten Straßenprotest abzielen können. Den nächsten Massenprotest zusammenzutrommeln hat derzeit, milde ausgedrückt, nicht oberste Priorität.      

    Putin hat auf Lukaschenko geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern

    Das heißt aber nicht, dass wir Straßenproteste ausschließen. Die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand, in dem sie die Ungerechtigkeit des Geschehens sehr deutlich wahrnimmt. Und dieses Gefühl der Ungerechtigkeit wächst an: die Ursachen [der Proteststimmung] sind immer noch da. Daher kann es durchaus passieren, dass ganz von allein irgendein Schwarzer Schwan daherfliegt oder ein Goldener Hahn, der dem Zaren in den Kopf pickt, und das war’s. Aber darauf eine politische Strategie aufzubauen – das scheint mir unmöglich.    

    Früher war der Rhythmus so: ein Video als Trigger, der offline seine Fortsetzung findet. Okay, angenommen, ihr stützt euch nicht auf den Straßenprotest. Doch wie soll dann diese Koppelung laufen? Gleichzeitig wird klar – unmittelbar vor unserem Gespräch haben Sie bekannt gegeben, dass die Regionalbüros schließen –, dass es keine Infrastruktur für die Produktion [von investigativen Filmen] mehr gibt, aber Filme brauchen Produktion. 

    Bezüglich der Regionalbüros habe ich sehr deutlich gesagt: Wir lassen sie frei schwimmen, wir haben dieses Netz über vier Jahre aufgebaut, haben den Leuten etwas beigebracht, die Leute haben selbst etwas gelernt, haben sehr intensiv gearbeitet. Das Ergebnis ist eine absolut handlungsfähige politische Struktur, die zu selbständiger politischer Tätigkeit in der Lage ist. Und die infrastrukturelle Basis des Protests bleibt ja bestehen. 

    Aber Sie investieren sie in lokale Agenden. Im Grunde sagen Sie: Geht los und widmet euch dem lokalen Protest.      

    Sie waren sowieso mit lokalen Agenden befasst. Geschichten wie der Park in Jekaterinburg, Sergej Furgal und Kuschtau haben dem Kreml natürlich heftig Angst eingejagt.

    Ich gehe davon aus, dass der Kreml das Netzwerk unserer Büros als größeres Problem und größere Bedrohung empfand als den Fonds für Korruptionsbekämpfung. Der FBK existierte einfach und veröffentlichte Studienergebnisse. Der Kreml war bis zuletzt der Meinung, dass das alles sowieso nur ein Internetphänomen ist. 

    Das Büronetzwerk war jedoch vor Ort aktiv, und während der Kreml Proteste in Moskau mit Gummiknüppeln bis zur Bewusstlosigkeit niederschlagen konnte, ging er mit regionalen Protesten immer viel milder um. Zum einen, weil er Angst hatte, dass der Protest im ganzen Land aufflackern und außer Kontrolle geraten könnte, zum anderen, weil in der Moskauer Bevölkerung die Konzentration der Silowiki viel höher ist als in Jekaterinburg, Ufa und dergleichen.

    Unser Netz von Büros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor

    Alexej Nawalny wurde vergiftet, als er in den Regionen unterwegs war. Und seine Beschattung begann, als er 2017 anfing, aktiv die Regionen aufzusuchen, um ein landesweites Netzwerk aufzubauen. Als er im Sommer 2020 neuerlich die Regionen bereiste, wurde die Bespitzelung wieder aufgenommen.   

    Dieses Netz von Regionalbüros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor, weil das die infrastrukturelle Basis ist. Das sind Leute, die Kompetenzen in sich tragen, die wissen, wie man einen Protest organisiert, wie man mit Freiwilligen arbeitet, wie man was am besten macht. 
    Na, und natürlich das Smart-Voting, die Regionalwahlen – Sachen, die manchmal gelangen, manchmal nicht, die aber in den Regionen besonders wehtaten.  

    Natürlich haben sie [die Behörden] es sich prinzipiell zur politischen Aufgabe gemacht, unsere Struktur in den Regionen zu zerstören. 

    Ich glaube an die Theorie, dass der Entschluss, Alexej [Nawalny] mit Nowitschok zu vergiften, folgendermaßen gefasst wurde: Im Juli 2019 erging der politische Befehl, das Team zu zerstören. Damit wurde [der Chef des Ermittlungskomitees, Alexander] Bastrykin betraut. Bastrykin bildete eine Gruppe aus 141 Ermittlern in besonders wichtigen Angelegenheiten, die sich ans Werk machten, unsere Konten sperren und die Technik mitgehen ließen, bla, bla, bla.   

    Ein Jahr später sagte man ihm bei irgendeiner Rechenschaftslegung: „Alexander Iwanowitsch, sie haben doch vor einem Jahr einen Auftrag bekommen. Aber irgendwie arbeitet das Team immer noch. Schon wieder dieses Smart-Voting, schon wieder mischen sie sich mit dem Geld von CIA und Mossad in unsere tollen und ehrlichen Wahlen ein. Wie kommt es, dass Sie, Alexander Iwanowitsch, damit nicht fertig werden?“ Er so: „Mi-mi-mi, geben Sie mir noch drei Monate, dann.“ Da kommt irgendso ein Nikolaj Platonowitsch um die Ecke und sagt: „Wisst ihr was, ich habe da eine Idee. Mir scheint, es ist Zeit für Plan B – für radikalere Methoden, wenn Sie schon ein Jahr damit herumtun. Wir haben da eine Spezialabteilung, wo sie für solche Fälle spezielle Mittelchen brauen.“      
    Das ist natürlich eine dichterisch ausgeschmückte Rekonstruktion. Aber vom zeitlichen Ablauf und der Logik her erscheint sie mir plausibel.

    Von unseren 40 Regionalbüros werden etwa 30 versuchen, als gesellschaftlich-politische Organisationen zu funktionieren

    Vor diesem Hintergrund wiederhole ich: Alle Medien haben jetzt zwar die Nachricht „Regionalbüros aufgelöst“ gepusht – doch das war nicht der Sinn meiner Mitteilung, sondern der, dass von unseren 40 Regionalbüros etwa 30 versuchen werden, als gesellschaftlich-politische Organisationen selbständig zu funktionieren. Manche werden das natürlich nicht schaffen.   

    Die Regionalbüros sind vielleicht eine gute Investition in lokale Agenden. Was das Smart-Voting betrifft, ist es ja kein Geheimnis: Dort, wo es funktioniert hat, waren die politischen Partner [von Nawalnys Team] die Kommunisten.

    Nein. Ich als derjenige, der für das Smart-Voting zuständig ist, kann bestätigen, dass das nicht der Fall war. Es gab keine Absprachen im Sinne von „Lasst euch von uns unterstützen“ oder „Wir für euch und ihr für uns“.

    Haben Sie nie mit den Kommunisten gesprochen?

    Ich persönlich habe nie [mit ihnen] als Institution gesprochen. In den Regionen kommen ständig nicht nur Kommunisten zu uns, [sondern auch Mitglieder] von LDPR, SR, Jabloko und fragen: „Was müssen wir tun, um ins Smart-Voting zu kommen?“ Die hören immer dieselbe Antwort: „Steht alles auf der Website. Arbeiten Sie viel und gut. Werden Sie der beste Kandidat und der stärkste Opponent der Regierung in Ihrem Gebiet, und wir werden Sie unterstützen.“
       
    Haben sich die Regionalteams am Verhandlungsprozess beteiligt, damit man einander nicht in die Quere kommt?
          
    Ja. Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen. Und umgekehrt ist es gut, wenn ein starker Kommunist in dem einen Wahlkreis ist und ein starker Jablotschnik in einem anderen. Nachdem wir in diesem Prozess als unparteiische Vermittler auftreten, sind sie natürlich zu uns gekommen.

    Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen 

    So etwas ist in Sankt Petersburg passiert, in Jekaterinburg und in jenen Regionen, wo es eine erkleckliche Menge unverwüstbarer Charismatiker und strahlender Regionalpolitiker gibt. Wo es Gesprächsstoff und genug aufzuteilen gibt.  

    In 80 Prozent der Fälle ist die Aufgabe des Smart-Votings leider, wenigstens irgendwen zu wählen. Moskau nimmt hier natürlich eine Sonderstellung ein. Da herrscht Konkurrenz zwischen starken Politikern. 

    Wenn wir uns ansehen, wie viele Kandidaten im Smart-Voting formal zu einer Partei gehörten, wie die Kräfteverteilung zwischen politischen Parteien in Russland aussieht (ohne Einiges Russland), dann sind das rund 50 Prozent KPRF, 20 Prozent Sprawedliwaja Rossija, 20 Prozent LDPR und 10 Prozent Jabloko. Entsprechend sind auch die Wahlerfolge der Kandidaten im Smart-Voting verteilt.       

    Sie werden also das Smart-Voting fortsetzen. Und den Regionalbüros, die Sie jetzt frei schwimmen lassen, überlassen Sie die Entscheidung, wen sie unterstützen wollen?   

    Nein. Die Entscheidung über die Unterstützung von Kandidaten im Smart-Voting treffen wir immer ausschließlich in einem zentralen Analysezentrum. Bei aller Liebe zu den Regionalbüros hatten sie diesbezüglich nie ein Stimmrecht, unter anderem – bei allem Respekt –, weil Korruption ein Faktor ist. Wir lieben unsere Regionalbüros und vertrauen ihnen, aber auch Personen, denen ich bedingungslos vertraue, sind schon zu uns gekommen und haben erzählt: „Da hat mir einer drei Millionen Rubel für einen Platz im Smart-Voting angeboten.“ Das ist tatsächlich passiert, und nicht nur ein- oder zweimal. Ich kann nur raten, wie oft das vorgekommen sein mag, ohne dass wir davon erfahren haben.  

    Bei aller Liebe zu den Regionalbüros  – sie hatten nie ein Stimmrecht, und ein Faktor dabei ist die Korruption

    Damit sich keiner einschleichen kann, haben wir immer gesagt: „Leute, ihr habt Beratungsfunktion: Geht bitte durch die Wahlbezirke und berichtet uns, wer mehr Werbung hat, wer mehr Material verteilt.“ Man kann auch einfach in einem Mailing über die Datenbank des Smart-Votings die Unterstützer fragen, wessen Kampagne ihnen am meisten auffällt. Hauptsächlich stützen wir uns auf Analysen vergangener Wahlen.  

    Wie wird das dieses Jahr bei den Wahlen zur Staatsduma ablaufen? Das provisorische Zentralkomitee befindet sich im Ausland, es gibt Regionalbüros, die Ihnen ein Bild der Lage vor Ort vermitteln können, denen Sie aber vielleicht nicht hundertprozentig vertrauen. Und noch dazu wird sich die Wahl im September über drei Tage ziehen.

    Wir vertrauen natürlich unseren Regionalbüros – die in Russland als keine Ahnung was für Organisationen gelten – in dem Punkt absolut, dass sie uns ein objektives Bild liefern, auf das wir uns sehr gerne stützen. Nur war die Information aus den Regionalbüros immer nur ein Teil des Bildes. Wir werden es aus verschiedenen Stückchen zusammensetzen. 
    Im Kontext der Staatsduma wird die Bedeutung von soziologischen Methoden [zur Bestimmung des Kandidaten, den das Smart-Voting unterstützt] viel höher sein. In einem kleinen Wahlkreis für den Stadtrat kann man ja keine sinnvollen Umfragen durchführen. Bei den Wahlen zur Staatsduma mit über 500.000 Wählern pro Wahlkreis in Großstädten aber können wir Aspekte aus Umfragen einbeziehen.    

    Das ist eine neue Komponente des Smart-Votings, die wir früher nicht hatten, weil uns die Messgeräte fehlten, um in Bezirken mit zigtausenden Wählern Umfragen durchzuführen. Niemand hatte die. Und wer behauptet, sie zu haben, lügt einfach.  

    Also sind  das die Komponenten des Smart-Votings: Eine Einschätzung der Lage durch das Team, Ihre eigenen Erhebungen in wichtigen Wahlkreisen und schließlich die gezielte Unterstützung einer von Ihnen bestimmten Person ?

    Ja.  

    Aber es wird keine flächendeckende Wahlkampagne im ganzen Land geben? Wird es 225 Kandidaten im Smart-Voting geben?

    Ja, die wird es geben. 2019 und 2020 haben wir rund 800 beziehungsweise 1100 Empfehlungen abgegeben. Jetzt geben wir rund 1500 Empfehlungen ab, weil weitere 225 Bezirke dazukommen.    

    Zurück zum 23. Januar [2021, als in Russland Demonstrationen gegen Nawalnys Festnahme stattfanden]. Was war der Plan?

    Geplant und vorausgesehen haben wir ungefähr das, was auch passiert ist. Also, dass Alexej Nawalny am 17. Januar zurückkommt. Wir wussten, dass er höchstwahrscheinlich verhaftet wird und dass das mit einem schwerwiegenden Angriff auf unsere ganze Struktur einhergehen wird.
    Aber hätten wir vorhersagen können, wie brutal das alles wird? Das nicht. Dass sie den Extremismusparagraphen bemühen werden – nein, das haben wir, ehrlich gesagt, nicht kommen sehen.      
     
    Wir sind immer noch da. Unsere Recherchen und unser Smart-Voting sind immer noch da. Und bald kommen noch ein paar neue Projekte dazu. Es ist schwer, ja. Haben wir gewusst, dass es schwer wird? Ja. Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein. Darüber denke ich eigentlich nicht so viel nach. 

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    Russian Woman heißt der Song, mit dem Sängerin Manizha Russland beim diesjährigen ESC vertreten wird. Darin singt sie in einer musikalischen Mischung aus Folklore, Rap und Pop auf Russisch und Englisch über starke Frauen, die jede Mauer durchbrechen können. Manizha selbst wurde 1991 in Duschanbe geboren, während des Bürgerkriegs in Tadshikistan floh sie mit ihren Eltern nach Moskau.
    So viel hybride Identität trifft nicht nur auf Liebhaber, sondern polarisiert: Auf den ESC-Vorentscheid folgten begeisterte Reaktionen genauso wie Anfeindungen. Neben fremdenfeindlichen Kommentaren gab es auch Kritik am Feminismus der Sängerin, die sich außerdem öffentlich mit der LGBTQ-Community in Russland solidarisiert. 

    Manizha, die bereits vor ihrer ESC-Teilnahme in Russland erste Erfolge feierte, hat sich vor allem auf Instagram eine Fangemeinde von rund 400.000 Followern aufgebaut, die Abrufe ihrer aufwändigen Musikvideos auf YouTube erreichen mitunter Millionenhöhe. Forbes zählte sie 2020 zu den aussichtsreichsten russischen KünstlerInnen unter 30. 

    Meduza nahm dies 2020 zum Anlass für ein ausführliches Interview. Die Kulturjournalistin Katerina Gordejewa sprach mit Manizha über die Kindheit in Duschanbe und Moskau, die Anfänge ihrer Karriere, die sie auch nach London führten, und die starken Frauen in ihrer Familie.

    „Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin“ – Sängerin Manizha tritt für Russland beim ESC an / Foto © EBU/Andres Putting
    „Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin“ – Sängerin Manizha tritt für Russland beim ESC an / Foto © EBU/Andres Putting

    I. Manizha und Instagram

    II. Manizha und Social Impact

    III. Kindheit in Tadshikistan


    Katerina Gordejewa: Mit wem verbringst du den Lockdown?

    Manizha: Meine ganze Familie lebt derzeit zusammen in einem Haus. In „friedlichen Zeiten“ waren wir ausgeschwirrt und hatten zu tun, aber jetzt sind wir alle unter einem Dach vereint. Und weißt du, irgendwie sieht man jetzt klarer. Alles, worauf man in der Hektik nicht achtet, die Eigenschaften der Menschen, die einen umgeben. 

    Die Zeit vergeht langsamer und erlaubt es einem, seine Stärken und Schwächen zu analysieren und aufzuspüren: Woran sollte man arbeiten, woran lieber nicht.

    Ich esse ständig und bewege mich nie. Ich mache keine Challenges und keine Trainings per Skype

     Außerdem ist es schön, dass man auf einmal wieder jemanden anrufen kann, der einem wichtig ist, ein bisschen quatschen, fragen, was sich tut, ein bisschen in den Hörer schweigen oder schnaufen. Das hat es lang nicht gegeben: Wir sind die ganze Zeit gerannt.


    I. Manizha und Instagram

    Wann begann dein Erfolg?

    Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin, aber die Haltung meiner Verwandten hat sich verändert, ich bin jetzt Lieblingsschwester, Lieblingsnichte, Lieblingsenkelin.

    Fühlst du dich eigentlich immer noch fremd in Moskau?

    Ich habe Moskau lange Zeit abgelehnt. Ich wollte immer weg von hier. 

    Eine Zeitlang hast du in Petersburg gelebt.

    Ja, in Petersburg und in London. Aber vor etwa drei Jahren habe ich begriffen, dass Moskau meine Stadt ist. Ich liebe Moskau. Für jeden Stein, für die ganze Scheiße, die hier passiert, die ganze Liebe, den Hass. Ich musste lange davor flüchten, mich verstecken, um es zu gewinnen.

    Warum hast du dich dazu entschlossen, deine Karriere über Instagram zu machen? Es gibt ja naheliegendere Arten: Wettbewerbe, Konzertagenturen, Fernsehen. 

    Wegen der Freiheit. Aber da muss ich ausholen: Mit 15 Jahren war ich ein Superstar, gewann das Goldene Grammofon, spielte bei Firmenfeiern und ging auf Tournee. Meine Managerin war damals – und ist es bis heute – meine Mutter: Sie investierte Zeit und Geld in mich, fand Sponsoren und Promoter. Alle wollten, dass alles schön, glamourös, erfolgreich ist. Sie haben mir die Haare kürzer geschnitten und blondiert und mir ein rotes Tutu und ein Korsett angezogen und mich auf die Bühne gestellt. Das brachte Erfolg. Das brachte Geld.

    Sie haben mir die Haare blondiert und mir ein rotes Tutu angezogen

    Aber das war nicht ich. Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt. Aber die Producer sagten: Wer braucht hier Englisch, spinnst du? Also, mein Erfolg dauerte von 15 bis 17, dann bin ich durchgedreht und habe gesagt, dass ich hasse, was ich mache. Und habe offiziell damit aufgehört. 

    Und was haben die Producer gesagt?

    Die zuckten ratlos die Schultern. Mama war natürlich schockiert, aber sagte: „Gut. Dann zeig mir, dass du es selbst kannst.“ Und ich schwamm los.

    Ich packte meine Sachen und fuhr nach Petersburg. Ich studierte an der Uni [Psychologie – dek] und gründete parallel eine Band. Die ganze Zeit dachte ich: „Ich werde Mama beweisen, was ich kann!“ Aber in mir drin wusste ich, dass das Bullshit war. Ich trat in irgendwelchen versifften Underground-Clubs auf, mit scheußlichen Bühnen und miesem Sound, und alles wurde immer schlimmer. Mir wurde klar, dass ich aufhören musste, das ging hier alles den Bach runter. 

    Und dann kommt unser letztes Konzert, und ich weiß, dass ich danach mit all dem aufhören werde, weil es einfach nicht geklappt hat. Ich schlief unterdessen im Auto meiner Freundin, weil ich keinen Schlafplatz hatte, nichts zu essen und kein Geld, und heulte nächtelang. 

    Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt

    Ich trete also ein letztes Mal auf, und nach dem Konzert kommt so ein seriöser Typ im Anzug auf mich zu, neben ihm irgendein durchgeknallter Musiker. Die sagten: „Wir möchten Sie zum Casting einladen, als Sängerin in einer europäischen Musikshow. Wir machen eine Tour: Spanien, England, New York.“ Ich habe nichts zu verlieren, also fahre ich nicht nach Hause, sondern gehe zum Casting. Stelle mich ans Mikrofon und singe. Und da kommt dieser Typ im Anzug rein und sagte: „Mein Gott, wie cool, wie toll! Ich find die gut, die nehmen wir!“

    So begann mein Leben als Prinzessin! Alle wuselten um mich herum, ich war Teil dieser unglaublichen Show. 

    Irgendwann war das aber vorbei – offiziell, weil sie nicht genug Geld hatten. Unterdessen hatte ich in London [den Producer] Michael Spencer kennengelernt, dessen Label mir einen Vertrag anbot. Ich las den Vertrag – der war richtig lausig. Keine Rechte für mich, dafür hätten sie uneingeschränkte Macht über mich gehabt. Ich weiß nicht, woher ich die Eier hatte, aber ich lehnte ab und ging zurück nach Russland. 

    Du hast dich für die Freiheit entschieden?

    Die große Freiheit, die ich so unbedingt wollte, hatte mir eine handfeste Depression beschert. Nach diesem weiten Weg war ich wieder bei Null. Alle rundherum sagten: Du musst dich weiterentwickeln … Aber ich lag tatsächlich tagelang auf dem Sofa und starrte auf Instagram. Und dann fiel mir um drei Uhr nachts plötzlich auf: „Warum stellt keiner Videos auf Instagram?“ Ich sah noch mal nach, und wirklich – kein einziges Video. So, also war ich die erste auf Instagram, die Videos gepostet hat. Ich hab gepostet und gepostet, und kurze Zeit später hatte ich – ohne Fernsehen, ohne Producer, ohne Label und ohne viel Geld – ein Publikum beisammen, das nur meins war. 

    Dann fiel mir plötzlich auf: ‚Warum stellt keiner Videos auf Instagram?‘

    Mein Song Wanja entstand nach einem Ritual bei Indianern in Amerika. Ich hatte bei einem Gentest erfahren, dass ich unter anderem indianische Vorfahren habe, daher bin ich dahin gereist und habe ein Ritual gemacht, das hatte drei Hauptaspekte: Freiheit, Wahrheit und Vertrauen. „It‘s all about the trust.“ Dann begann das Ritual. Ich hatte das Gefühl, 20 Minuten da dringewesen zu sein, aber es waren dreieinhalb Stunden. Als wir danach vom Reservat ins Hotel fuhren, schrieb ich gleich im Auto den Song Wanja

    Mein Song Wanja entstand bei Indianern in Amerika

    Das Lied zog aber überhaupt nicht. Es war das am wenigsten gehörte Lied meiner ganzen Geschichte. Ein richtiger Flop. Ich hab so geweint, ich kann‘s dir gar nicht sagen. Ich war wahnsinnig enttäuscht, wo ich diese Sache doch mit so viel Herzblut angegangen war und sich alles so schön gefügt hatte … Und dann so ein Flop, verstehst du? 

    Wie bist du da rausgekommen?

    Ich wurde sehr krank. Ich versuchte, die Situation loszulassen, weil ich mich auf ein großes Konzert in der Crocus City Hall [im Februar 2020 – dek] vorbereiten musste, aber mir war elend, und ich war völlig kraftlos. Und plötzlich Anfang Januar – ohne mein Zutun – veröffentlicht Juri Dud einen Post. Ich konnte es kaum glauben, als ich auf meinem Handy sah „Juri Dud hat Sie markiert“. Er schrieb, dass ihm Wanja gefallen habe. Was da abging! Die Views stiegen und stiegen! Einen Tag später wurde ich zur Talkshow Wetscherni Urgant eingeladen. Kurz gesagt, das Schicksal des Songs drehte sich um 180 Grad. 

    Warum war dir das Konzert in der Crocus City Hall so wichtig?

    Weil Moskau eine unbezwingbare Stadt ist. Diese Stadt mit einem großen Konzert zu bezwingen ist ein enormer Kraftakt und ein unfassbares Glück. Stell dir vor, in dieser überforderten Stadt, wo alle ums Überleben kämpfen, gelingt es dir, über 4000 Menschen in einem Raum zu versammeln und in einer Idee zu vereinen – sie singen. Und du weißt ganz genau, dass sie sich dir an diesem Abend hingeben. Und du gibst dich ihnen hin. 

    Crocus ist nicht als Ort wichtig – obwohl er heute der einzige ernstzunehmende Saal in ganz Moskau ist –, sondern als Ereignis. Eine so riesige Menge Leute sind für mich als Sängerin, die nicht-kommerzielle Musik macht, ein Geschenk und ein Fest. Dieses Konzert war ein absolutes Glück. Alles lief super.

    Wie und warum hast du dich dazu entschieden, keine kommerzielle Sängerin zu werden, sondern eine Künstlerin mit einer sozialen Botschaft? 

    Mir haben meine Fans geholfen, ins Licht zu treten – ich befinde mich in einem ständigen Dialog mit ihnen. Ich beantworte alle Kommentare, frage: „Was soll ich am Montag singen? Was gefällt euch?“ Ich unterhalte mich mit ihnen, und ich interessiere mich wirklich dafür, was sie beschäftigt, wie ich ihnen helfen kann. Ich bin überzeugt davon, dass Musik heilen kann. Mich hat irgendwann Thom Yorke mit seinen blöden Manifesten aus der Depression geholt. Ich finde, Musik ist eine Schulter zum Anlehnen, wenn es dir schlechtgeht. Wir können der Kunst unseren heftigsten Schmerz anvertrauen und ihn gemeinsam mit ihr durchleben.


    II. Manizha und Social Impact

    Das erste soziale Thema in deinem Werk war häusliche Gewalt. Warum? 

    Erstens wurde ich darum gebeten. Und zweitens weiß ich genug darüber, dass ich das Recht habe, davon zu singen. Ich habe oft genug häusliche Gewalt miterlebt, war in muslimischen Familien oft damit konfrontiert. Am schlimmsten ist, dass die Frauen das okay finden – die Mutter sagt zur Tochter: „Ich wurde geschlagen, und du wirst auch geschlagen. Das hältst du aus.“ In östlichen Familien werden Mädchen so erzogen, dass das Wichtigste ist zu heiraten. „Papa, ich will ein Tattoo.“ – „Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.“ „Papa, ich will singen.“ – „Kannst du, wenn du verheiratet bist.“ 

    ‚Papa, ich will ein Tattoo.‘ – ‚Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.‘

    Das Wichtigste ist, dass der Mann ein braves, ordentliches Mädchen kriegt und er dann entscheidet, ob sie sich ein Tattoo stechen lassen, singen und tanzen darf – oder eben nicht. Und die Gesellschaft akzeptiert das. 

    War es in Tadshikistan in der Sowjetzeit einfacher?

    In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund, es hing mehr davon ab, in was für einer Familie man lebte. Jetzt ist der Islam strenger geworden: Schon kleine Mädchen tragen Hidjab; die Religion wurde viel mehr zum Kontrollmittel. Noch dazu ist die Lage in Tadshikistan zum Heulen, weil alle Männer zum Geldverdienen ins Ausland fahren. 

    Was passiert mit Tadshiken in Russland?

    Sie trifft absolute Rechtlosigkeit – sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder. Es gibt sehr viele verlassene und aus staatlicher Sicht inexistente Frauen, und noch mehr solcher Kinder.

    Auf Instagram postest du viele Fotos von dir ohne Schminke, Photoshop und ohne all das, was ein Star angeblich sonst noch braucht. War es leicht für dich, so selbstsicher zu werden?

    Würde ich nicht sagen. Aber ich bemühe mich. Ich bemühe mich zu lernen, mich selbst so zu lieben, wie ich bin. Das ist nicht einfach. In Russland gibt es eine Riesenmenge selbstsicherer Frauen. Doch nur ein geringer Prozentsatz würde auf die Straße hinausgehen ohne männliches Feedback.

    Unbedingt ein männliches Feedback? 

    Ja, unbedingt von einem Mann. Uns ist wichtig, wie uns die Männer bewerten. Weil wir mit dem Paradigma groß geworden sind, dass wir Hälften eines großen Ganzen sind, dass wir für uns genommen nicht genug sind. Das macht mich rasend. Ich will etwas Ganzes sein und will einen ganzen Menschen an meiner Seite haben. 

    In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund. Jetzt ist der Islam strenger geworden

    Erst gestern bin ich durch den Gemüsegarten gegangen und habe ein paar Zeilen zu diesem Thema gedichtet: „Ich dachte nie, nur ein Stück zu sein, zum Glück. Ich bin für mich ein Teil, ein ganzes.“ 

    Ist das der Ursprung deiner Body-Positivity?

    Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe auf Instagram mein allerschönstes Foto gepostet, und die Leute haben kommentiert: „Manizha, bist du schwanger?“ 

    Warst du sauer?

    Früher haben mich solche Kommentare sehr getroffen, gekränkt. Aber dann hab ich verstanden, dass ich mich nicht mehr so sehe wie früher. Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial. Body-Positivity – das ist schon seit der Schule mein Thema. Das ist, wie wir uns als Teenager sehen, wie wir uns in Erinnerung haben. 

    Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial

    Ich war eine Außenseiterin. Noch dazu war ich bucklig, hatte früh einen Busen und lauter Komplexe. Deswegen trug ich weite Kleidung und tat alles, damit man meinen Busen und überhaupt meine Figur auf keinen Fall sehen konnte. Insofern ist Body-Positivity meine Geschichte, ich habe mir selbst die Challenge gestellt: mich so zu sehen, wie ich bin, und gern zu haben. 

    Hast du keine Angst vor Instagram-Sucht? Vor Abhängigkeit vom Publikum, seinen Fragen, Kommentaren, Reaktionen? Ich erinnere mich an deinen Post zur Unterstützung von LGBT und wie du im nächsten Post beklagt hast, dass nach diesem öffentlichen Statement tausend oder sogar noch mehr deiner Follower ihr Abo gelöscht haben. 

    Ja, eine schlimme Sucht ist das, ein schwarzer Spiegel. Aber Instagram ist auch nichts anderes als Fernsehen. Wozu ist man bereit, um seine Popularität zu fördern? Du erwähnst meine Unterstützung für dieses LGBT-Projekt … Ich habe in die Hölle gestarrt, die sich in den Kommentaren zu diesem LGBT-Post auftat, und habe die ganze Zeit gedacht, in was für einer schiefen Welt wir leben: Viele meiner Mitstreiter im Show-Business verbergen ihre Orientierung. Sie singen Lieder für die Hausfrauen in ganz Russland und verdienen Geld damit. Und lügen ihnen was vor. 

    In den Kommentaren zu diesem LGBT-Post habe ich in die Hölle gestarrt

    Ihr ganzes Leben leben sie mit diesen Lügen. Das heißt, du betrittst die Bühne, versammelst da eine riesige Menge und singst, wie doll du sie geliebt hast. Dabei hast du dein Leben lang nicht sie, sondern ihn geliebt! Du hast einen Partner und ein Kind von einer Leihmutter! Warum verrätst du deine Familie? Die Antwort ist ernüchternd: Die Leute haben einen Riesenbammel, ihre Fans zu verlieren – und damit ihre Einnahmen. 

    Das ist Heuchelei, verstehst du? Ich sitze bei einer Preisverleihung, und rundum sitzen Manager und PR-Leute von Stars, die ihre Orientierung verbergen und mit homophoben Witzen um sich schmeißen. Und dann meinen sie noch, ich verteidige Gay Rights nur, weil ich keine Kinder habe. So ein Schwachsinn! Sie glauben, ihre Kinder vor Schwulen zu schützen, dabei arbeiten sie selber für welche. Kohle machen ist okay, aber sonst sind Schwule eine Gefahr für die Gesellschaft. 

    Findest du, dass Russland ein homophobes Land ist?

    Ich finde, dass Russland ein heuchlerisches Land ist. In Russland denkt man immer das eine und sagt das andere. Und das geht seit Urzeiten so. Man hat immer Angst zu sagen, was man denkt, um nicht zu verlieren, was man hat. 

    Hast du auch diese Angst?

    Nein. Wenn du alles sagst, was wahr ist, dann kriegst du ein Publikum, das deins ist, weil du du bist. Ja, manches akzeptieren sie nicht. Nach dem LGBT-Projekt ist, genauso wie nach dem Clip über häusliche Gewalt und den über Schönheit und Selbstliebe, ein Haufen seltsamer, zum Teil aggressiver Kommentare gekommen. Aber das ist besser als Lügen. Einfacher.


    III. Kindheit in Tadshikistan

    Kannst du uns von Tadshikistan erzählen?

    Ja. Ich würde mich an Tadshikistan gern in so bunten Farben erinnern, wie es in meiner Kindheit war. Aber das geht nicht.

    Warum?

    Meine Kindheit zerfällt in zwei Teile – zuerst Tadshikistan, mein Anfang, dann kommt ein gigantisches Loch, und dann Russland. Und das ist bereits ein anderes Ich. Als ob das Leben von Neuem begonnen hätte.

    Woran erinnerst du dich noch aus der Zeit in Tadshikistan? 

    An den Hof. Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Ich habe ein bescheuertes Kleid an und ein Gerstenkorn am Auge. Im Hof steht ein riesiger Behälter mit Wasser, kein Pool, aber so etwas Ähnliches. Es ist heiß draußen, und das Wasser ist eiskalt. Ich gehe hin und tauche meine Hand ins Wasser. Die Hitze lässt nach.

    Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich habe ein bescheuertes Kleid

    In meiner Kindheit war es sehr schön. Viel Grün, viel Sonne und Früchte, eine Insel vollkommenen Glücks. Als meine Großmutter noch lebte, war ich oft dort, aber sie ist vor zehn Jahren gestorben. Seit zehn Jahren kann ich nicht mehr nach Hause fahren. 

    Nur im November 2019 war ich in Duschanbe, um einen Clip für Nedoslawjanka zu drehen. Ich setzte mich am Flughafen in ein Taxi und begriff während der Fahrt, dass das nicht mehr meine Stadt ist. Eine tolle, schöne Stadt voller Leute, die nichts davon wissen, wie es hier gekracht hat, wie geschossen wurde. Sie haben keine Ahnung davon, sie leben hier einfach. Aber ich – ich kann nicht. Die ersten zwei, drei Tage habe ich sehr gelitten, dann habe ich losgelassen. Man muss weitergehen. Den Ort meiner Kindheit gibt es nicht mehr.

    Erinnerst du dich daran, wie ihr aus Duschanbe weggezogen seid?

    Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Das war ein Riesenstress. Ich wollte nicht weg, hatte Angst. Offenbar hat mein Unterbewusstsein alles gelöscht. Als würde man die Augen schließen und wieder aufmachen – und plötzlich ist man in Moskau. Eine Einraum-Mietwohnung mit Kakerlaken, in der wir zu viert leben: Mama, Papa, ich und mein kleiner Bruder. Dann hat Mama sich von Papa scheiden lassen und die drei Kinder ihres Bruders zu uns genommen.

    Erzähl mal von deiner Mutter.

    Meine Mutter ist sehr schön und begabt. Als wir noch in Tadshikistan lebten, war Mama ein richtiger Star. Sie wurde zum Schönheitswettbewerb Miss World eingeladen, sie hatte eine tolle Stimme, sie sang. Aber sie musste arbeiten und fuhr nicht zum Wettbewerb. Seit sie 16 war, nähte sie großartige Mode. Zu ihr kamen die Gattinnen von Ministern und Präsidenten: Wir brauchen etwas zum Anziehen, ein Kleid – nur von Ihnen! Sie hat ziemlich gut verdient. Sie erzählte mir, dass sie sich damals teure Parfums und Jeans leisten konnte, alles, was Mangelware war. Und sie konnte selbst entscheiden, wie sie leben wollte. Ich weiß nicht, wie ich neben ihr keine Feministin hätte werden können. 

    Warst du mit deiner Großmutter per Sie?

    Ja, auch mit Mama. 

    Warum?

    Das ist Tradition. Ich bin gar nie auf die Idee gekommen, sie zu duzen. In Russland habe ich lange gebraucht, mich daran zu gewöhnen, zu Älteren du zu sagen.

    Wie war deine Beziehung zur Großmutter?

    Ich war jeden Sommer drei Monate bei ihr. Meine Großmutter hat mich in Computerkurse geschickt. Ich hab gebrüllt: „Wozu brauch ich das?“, aber sie blieb ganz ruhig: „Du musst das lernen, du musst dich mit Photoshop auskennen, mit Adobe, mit Adobe Premiere und Fotomontage.“ Und: „Du musst Persisch lernen, du musst Englisch lernen. Sprachen sind das Allerwichtigste.“ Ich habe damals nicht verstanden, wozu das alles, aber jetzt schneide ich meine Videos und bearbeite den Sound selber. Ich spreche fließend und schreibe Songs auf Englisch. Also, es ist alles aufgegangen, was meine Oma gesät hat. 

    Meine Großmutter hat mir beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht

    Aber das Wichtigste ist die Freiheit. Sie hat mir mit ihrem Denken und Verhalten beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht. Von meiner Großmutter haben wir unser freies Verhältnis zum Thema Entscheidung, zum Thema Körper, zum Thema Glauben.

    Im muslimischen Tadshikistan ein freies Verhältnis zum Glauben?

    Meine Mutter hatte immer eine Faszination für Buddhismus – niemand hat sie aufgehalten oder davon abgehalten. Mein Papa wird jetzt immer mehr zum Muslim, aber das kam erst in Russland. Trotzdem ist er sehr modern und nicht radikal eingestellt. 

    Warum haben deine Eltern beschlossen wegzugehen?

    Weil Krieg war. Unser Krieg war wahrscheinlich ganz ähnlich wie das, was in der Ukraine passiert ist und nach wie vor passiert. Die Leute versuchten, ganz normal weiterzuleben, aber ob sie wollten oder nicht, der Krieg brach in ihr Leben herein. Einmal landete eine Granate in der Wohnung, die meine Eltern zur Hochzeit bekommen hatten. 

    Wie durch ein Wunder war meine Mama eine Minute zuvor mit mir hinausgegangen zum Wäsche aufhängen. Von der Wohnung ist nichts übriggeblieben. Und genauso ist vom bisherigen Leben nichts übriggeblieben. 

    Vom bisherigen Leben ist nichts übriggeblieben

    Menschen wurden getötet. Niemand brauchte mehr Mamas schöne Kleider und Kostüme, Mamas Schönheit, die Welt brach zusammen. Und Papa und Mama beschlossen, nach Russland zu flüchten. 

    Sprachen sie Russisch? 

    Mama konnte Russisch und auch sehr gut Englisch. Sie war hervorragend gebildet. Aber in Russland musste sie putzen gehen, sie putzte Treppenhäuser und verkaufte in der Unterführung T-Shirts.

    Weil sie Tadshikin ist?

    Es lag nicht daran, dass sie Tadshikin ist. Sie haben in einer neuen Stadt, einem neuen Land, von Null begonnen. Sie mussten ohne Staatsbürgerschaft überleben. Wenn ein hungriges Kind vor dir steht, tust du alles, um es zu füttern. Du arbeitest wahnsinnig viel, legst dich ins Zeug und versuchst, dass wenigstens dein Kind eine Chance hat. So hat es meine Mutter gemacht. 

    Du legst dich ins Zeug, damit wenigstens dein Kind eine Chance hat

    Ich weiß noch, wie ich mit acht Jahren zu ihr gesagt habe, dass ich Sängerin werden will …

    Hast du da schon gesungen?

    Ich habe schon mit fünf Jahren gesungen, und meine Großmutter hat immer gesagt: Manizha muss Sängerin werden. Sie vermietete in Tadshikistan eine Wohnung, legte das Geld in einen Briefumschlag und schickte es nach Moskau. Auf dem Brief stand: „Für die Gesangsstunden meiner lieben Enkelin“. Und Mama schleppte mich, zum Umfallen müde, in die Musikschule, wo damals eine Unterrichtsstunde 50 Dollar kostete.

    Wie ging es dir in der Schule?

    Ich war ein Stubenhockerin, war nie viel draußen, dadurch wurde ich automatisch zur Außenseiterin, weil das nicht den Vorstellungen meiner Mitschüler entsprach. Ich tat mich auch mit Jungs nicht leicht, war schüchtern, hatte Angst. In der Schule war es richtig krass, von moralischer Erniedrigung bis zu Raufereien unter Einsatz von Flaschenhälsen gab es alles. Ich war nicht einmal beim Letzten Läuten dabei, auch nicht auf dem Abschlussball, so mies war mein Verhältnis zu meiner Klasse. Ich wollte niemanden sehen und will es bis heute nicht. 

    Waren das nationalistische Anfeindungen?

    Das auch, natürlich. Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt, beleidigt und gedemütigt worden. Anfangs konnte ich einfach deswegen nicht Paroli bieten, weil ich kein Russisch konnte. 

    Hast du Russisch im Kindergarten gelernt?

    Ja. Ich hab mich in einen Jungen verliebt. Also, ich bin auf ihn zugegangen, ich hab gedacht, das ist ein Mädchen. Er sagte, er sei „eigentlich Mischa“. Da hab ich mich verliebt, warum auch immer. Aber ich bin mir so mickrig vorgekommen, weil ich nicht mit ihm reden konnte. Das heißt, Russisch hab ich gelernt, aber der Spott ist geblieben – im Kindergarten, im Hof, im Bus, in der Schule. Aber mein Glück ist, dass meine Mama Eier aus Stahl hat. 

    Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt worden

    Wenn ich weinte, sagte sie: „Weißt du, was für gebildete Leute die Tadshiken sind? Was wir für einen Stammbaum haben, davon können die nur träumen. Unsere Verwandten – Tadshiken mit dem blauesten Blut, das es nur geben kann – leben über die ganze Welt verstreut, das sind angesehene, ehrenwerte und einflussreiche Familien, die so viel erreicht haben. Nicht, wegen des nationalen Erbes, sondern weil sie von klein auf gelernt haben. Lerne!“ 

    Wann wurde alles anders?

    An der Universität. Da habe ich auch begonnen, kreativ zu sein – anscheinend hatte ich kapiert, wohin mit meiner Energie. Ich war da schon aktive Künstlerin, sang in einem Pop-Projekt und verdiente gar nicht schlecht.

    Und dann hast du Psychologie studiert.

    Ich hätte die Wahl gehabt zwischen der Gnessin-Musikakademie und dem Institut für Schlager und Jazz.

    Warum hast du das nicht gemacht?

    Ich wollte das ganz grundsätzlich nicht. Ich darf mich nicht auf eine einzelne Sache beschränken. Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren. Plus – ich wollte meinen eigenen psychischen Problemen auf den Grund gehen. 

    Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren

    Meine Mama hat nach ein paar Jahren Arbeit als Putzfrau eine Baufirma geleitet und dann noch ein Psychologiestudium an der MGU und eine Psychotherapieausbildung abgeschlossen, woraufhin sie zu Hause als Psychotherapeutin tätig war. Daher sah mein Leben in den letzten Schuljahren so aus: Ich kam nach Hause, ging in die Küche, und da daß schon jemand und wartete, dass Mama im Zimmer die vorangehende Sitzung abschließen würde. Mama hat mir beigebracht, den Wartenden Tee, Kaffee oder Wasser anzubieten. Das tat ich auch, setzte mich dazu, und wir begannen zu reden. 

    Ich habe an der RGGU Psychologie studiert. Ich hatte keine Erwartungen an die Universität. Ich dachte, dass sich die Hölle mit meinen Klassenkollegen auf irgendeine Art hier fortsetzen würde. Aber dann waren es fünf fantastische Jahre voller Liebe. Ich habe meine Universität geliebt, jeden Tag meines Studiums. Über Persönlichkeitspsychologie kam ich zur Kinderpsychologie, da habe ich mich viel mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen beschäftigt. Meine Diplomarbeit schrieb ich zu Besonderheiten der Mutterschaft bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Russland und Tadshikistan. Ich fuhr von Dorf zu Dorf, sprach mit Frauen, die keinen Zugang zu Hilfszentren, Psychologen und Therapeuten haben. 

    Warum hast du das gemacht?

    Ich wollte wissen, woher sie die Kraft nehmen. Mir fiel auf, dass in diesen Dörfern ohne jegliche Therapieangebote die Frauen und ihre Familien mit behinderten Menschen viel sensibler umgehen. Vielleicht ist das etwas Nationales, vielleicht etwas Transnationales, Menschliches, jedenfalls leben sie mit der Überzeugung, dass wenn ein Mensch mit Besonderheiten geboren wird, dann ist er für irgendetwas in diese Welt gekommen, dann hat er eine Bestimmung. Menschen mit Behinderung werden dort verehrt.

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