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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Ein spätes Geschenk für Putin

    Ein spätes Geschenk für Putin

    Dass Minsk als der weitgehend neutrale Ort erscheinen konnte, an dem einst noch Friedensgespräche geführt und Abkommen zum Krieg in der Ost-Ukraine getroffen wurden, ist 2021 kaum noch vorstellbar. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat die Vermittlerrolle spätestens mit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste in seinem Land verspielt. Die Demonstrationen begannen nach den ​​offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020. Sowohl die EU als auch die Ukraine erkennen ihn seither nicht mehr als legitimen Präsidenten an.

    Der russische Präsident Wladimir Putin versucht dagegen, Belarus immer stärker an sich zu binden: Der Kreml betrachtet das Nachbarland, mit dem bereits im Jahr 1999 die Bildung eines Unionsstaates vertraglich vereinbart wurde, als seine Einflusssphäre. Bisher war das Vertragspapier geduldig. Teils besteht ohnehin schon eine enge Zusammenarbeit; im militärischen Bereich wurde sie zuletzt vertieft. Wirtschaftlich und finanziell ist das hoch verschuldete Belarus von Russland abhängig. Ob das Anfang November 2021 unterzeichnete Paket mit 28 Programmpunkten zum Unionsstaat tatsächlich den weiteren Weg ebnet, von dem es kündet, ist offen. 

    Ein weiteres Feld, auf dem sich Lukaschenko jahrelang zurückhielt, ist die Krim-Frage: Seit 2014 hatte er es stets abgelehnt, die durch Russland annektierte ukrainische Halbinsel als russisch zu bezeichnen. Womöglich hatte Lukaschenko Angst, dass ihm und Belarus ein ähnliches Szenario wie der Krim drohen könnte. Allerdings macht Lukaschenko seit einiger Zeit verbale Zugeständnisse an den Verbündeten, stellte Putin Anfang November auch eine Reise zur Krim in Aussicht. In einem Interview mit dem Generaldirektor der Staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, Dimitri Kisseljow, bezeichnete Lukaschenko die Krim nun erstmals auch als „von Rechts wegen russisch“. 

    Würde Lukaschenko – für ein Treffen mit Wladimir Putin – auf die Krim reisen, so wäre er dort das erste Mal seit der Landnahme durch den Kreml. Ein Schritt, der als offizielle Anerkennung gewertet werden könnte.  
    Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat bereits die Äußerungen Lukaschenkos so gedeutet. Hingegen erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zunächst, es komme darauf an, ob Lukaschenkos Worten auch Taten folgen würden – wovor er ausdrücklich warnte.

    Was ist von Lukaschenkos Kehrtwende zu halten? Wie sind in diesem Zusammenhang andere scharfe Äußerungen an die Adresse von EU und NATO zu lesen? Und warum rückt der Machthaber damit auch die Lage der Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze in den Hintergrund, während er die Krise zuvor als Druckmittel gegen die EU eingesetzt hat? 

    In einer Analyse für die Online-Plattform Carnegie.ru  geht der politische Beobachter Artyom Shraibman diesen Fragen nach. Dabei beleuchtet er auch, wie die kriegsgebeutelte Ukraine auf eine Krim-Reise reagieren könnte.

    In dem Interview mit Dimitri Kisseljow ließ Alexander Lukaschenko einiges selbst für ihn Sensationelles verlautbaren. Nach siebeneinhalb Jahren Drahtseilakt in Bezug auf die Krim sprach Lukaschenko endlich deutlich aus: „Die Krim ist de facto russisch. Nach dem Referendum wurde sie dann auch von Rechts wegen russisch“. 

    Außerdem kündigte er an, dass Minsk nach 25 Jahren Pause wieder um russische Atomwaffen bitten würde, sofern die NATO – wie Generalsekretär Jens Stoltenberg in Aussicht gestellt habe – Atomraketen von Deutschland nach Polen verlegt.

    Lukaschenko versprach zudem, im Fall eines Angriffs vonseiten der Ukraine „ökonomisch, rechtlich und politisch“ mit Russland an einem Strang zu ziehen, und kündigte gemeinsame Manöver an der ukrainischen Grenze an. 

    Das mit den Atomwaffen gehört natürlich in die Kategorie Hirngespinste. Die NATO hat bisher nicht vor, Atomraketen in Polen zu stationieren (Stoltenberg sprach über hypothetische Szenarien), und die Bereitschaft der Ukraine zu einem Angriff auf Russland hält sich in Grenzen. Doch diese Abfolge kriegerischer, antiwestlicher Statements sowie die maximale Annäherung an die russische Position zur Krim sind in erster Linie ein Signal  – dahingehend, dass Minsk jetzt seine außenpolitischen Prioritäten komplett neu aufstellt.  

    Doch diese Abfolge kriegerischer, antiwestlicher Statements und die maximale Annäherung an die russische Position zur Krim sind in erster Linie ein Signal – dahingehend, dass Minsk jetzt seine außenpolitischen Prioritäten komplett neu aufstellt

    Seit 2014 war Minsk dank Lukaschenkos uneindeutiger Position in der Frage „Wem gehört die Krim?“ nicht nur Verhandlungsort im Ukrainekonflikt, sondern gefiel mit seinem neuen, friedensstiftenden Gesicht auch dem Westen, vor allem mit dem gefährlichen Moskau im Hintergrund. 

    Doch diese Tauwetterzeiten sind vorbei. Die politische Krise seit den Wahlen 2020 das Flugverbot für europäische Flugzeuge im belarussischen Luftraum und Lukaschenkos prorussische Schlagseite machten Minsk als Verhandlungsort ungeeignet. 

    Die Errungenschaften aus den fünf Jahren, in denen Belarus aktiv eine multivektorale Außenpolitik (2014 bis 2019) betrieb, haben ihren Wert verloren. Die Vorteile, die die Distanzierung zu Russland brachte, gibt es nicht mehr. Und es wird sie angesichts des neuen Aufregers – der aktuellen Menschenrechtskrise – auch in absehbarer Zeit nicht geben. Erst recht mit Blick auf die Wucht, die er für den Westen entfaltet. Dafür besteht die Gefahr, Moskau zu verärgern, wenn man in der aktuellen Situation noch Neutralität vorschützt.   

    Heute hängt es vor allem vom guten Willen und den Spendierhosen des Kreml ab, wie friedlich Lukaschenkos verbleibende Jahre im Amt und der anschließende Machttransfer verlaufen werden. Somit hat es jetzt für Minsk Priorität, Moskaus Gunst zu erwerben, auch wenn man dabei ein Minimum an Souveränität preisgibt. 

    Lukaschenko will diese Gunst auf zwei Arten erwerben. Mit starken symbolischen Gesten wie der Anerkennung der Krim und indem er Russland noch tiefer in eine geopolitische Konfrontation mit dem Westen hineinzieht. Für eine belarussische Festung, die stolz den Feinden den Weg nach Moskau versperrt, wird viel lieber Geld gegeben als einem ewig schwankenden Bündnispartner, der einfach nur gut leben, nicht aber seine Wirtschaft reformieren will. 

    Daher achtet Lukaschenko darauf, dass seine Konfrontation mit dem Westen von Moskau nicht einfach nur als Gezanke zwischen kleinen osteuropäischen Staaten wahrgenommen wird, sondern als Teil eines großen Kreuzzugs der NATO gegen Russland und seine Freunde. Das ist der Grund, warum Lukaschenko jetzt so oft verbal mit russischen Säbeln rasselt und versucht, Moskau in seine Streitereien mit den Nachbarn zu involvieren.

    Zuerst erbittet (und bekommt) er ein S-400 Boden-Luft-Raketensystem an der polnischen Grenze, dann bittet er entlang dieser Grenze um regelmäßige Flugmanöver mit russischen Kampfjets – als Reaktion auf den Einsatz polnischer Soldaten an den Hotspots der Migrationskrise. Und schließlich droht er mit russischen Kernwaffen und einem gemeinsamen Krieg gegen die Ukraine, wenn diese zuerst angreift.  

    Es gibt zwei Erklärungen, warum sich solche Äußerungen gerade jetzt häufen und Lukaschenko zu Konzessionen bezüglich der Krim bereit ist. Erstens laufen Verhandlungen über einen neuen Drei-Milliarden-Dollar-Kredit für Minsk bei der Eurasischen Entwicklungsbank, die von Moskau kontrolliert wird.  

    Zweitens empfahl Putin kürzlich bei einer Rede im russischen Außenministerium der belarussischen Staatsmacht überraschend, einen Dialog mit der Opposition zu führen, nicht ohne hinzuzufügen, dass es im Land nach wie vor Probleme gebe, auch wenn sich die Lage äußerlich stabilisiert habe. Lukaschenko reagierte genervt und meinte, solle doch Putin zuerst mit Nawalny verhandeln.    

    Ähnlich wie viele Analysten verstand wohl auch die belarussische Staatsführung Putins Rat als Signal eines gewissen Unmuts. Der vielleicht darin wurzelt, dass Minsk versucht, die sich hinziehende, aber Moskau versprochene Verfassungsreform in einen Hebel zu verwandeln, der Lukaschenko den Machterhalt auf einem neuen Posten sichert. 

    Russland mit irgendetwas unzufrieden sein zu lassen, wäre jedenfalls nicht die beste Idee – jetzt, wo Kredite verhandelt werden und der Westen neue Sanktionspakete verhängt, die man mithilfe des Bündnispartners umgehen will.

    Hätte Lukaschenko die Krim vor 2020 als russisch anerkannt, hätte das bei den westlichen Staaten noch Befremden und bei der Ukraine Zorn hervorgerufen. Mittlerweile hat er in diesen Ländern ohnehin den Ruf eines verzweifelten und illegitimen Despoten erlangt, der im Kampf ums Überleben zu allem bereit ist. In dieser Logik des Abwärtsstrudels der Selbstisolierung war die Anerkennung der Krim unausweichlich.

    Die EU und die USA überhörten seine Worte über die Krim und die Atomwaffen genauso wie die anderen Drohungen

    Bei den Nachbarländern von Belarus – Litauen, Polen und Ukraine – gilt Minsk längst nicht mehr als eigenständiger Player. Aus deren Perspektive waren Lukaschenkos Äußerungen nur eine formale Anpassung des belarussischen Regimes an seine prorussische, marionettenhafte Haltung. Aufgrund der geringen Erwartungen fielen die Reaktionen auf Lukaschenkos Äußerungen auch sonst ziemlich mau aus. Die EU und die USA überhörten seine Worte über die Krim und die Atomwaffen genauso wie die anderen Drohungen. Stattdessen waren alle mit der Vorbereitung und Verabschiedung neuer Sanktionen als Reaktion auf das Organisieren dieser Migrationskrise beschäftigt.  

    Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba antwortete leicht scherzend, es sei sinnlos, auf Lukaschenkos Bewusstseinsstrom zu reagieren, man solle nach Taten urteilen. Offenbar bereitet sich Kiew auf einen diplomatisch deutlichen Einspruch vor, sobald Lukaschenko seine Versprechen hält und gegen ukrainische Gesetze verstoßend auf die Krim fährt.

    Konsequenzen wird es zwar geben, aber man darf keinen Abbruch der ukrainisch-belarussischen Beziehungen erwarten. Es ist durchaus möglich, dass Kiew seine Vertretung in Minsk zahlenmäßig herunterfährt, seinen Botschafter zurückruft und den belarussischen nach Hause schickt. Möglich sind auch neue personenbezogene Sanktionen für Reisen auf die Halbinsel und Handelskriege, doch auf den wichtigsten belarussischen Exportartikel für den ukrainischen Markt – Erdölerzeugnisse – wird Kiew nicht verzichten können.    

    Die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Länder auf dem Erdölsektor besteht seit vielen Jahren. Die belarussischen Raffinerien exportieren rund 40 Prozent ihrer Erdölprodukte – Benzin, Diesel und Bitumen – in das südliche Nachbarland. Im Jahr 2021 übersteigt die Exportsumme zwei Milliarden Dollar.    

    Ersatz ist für die Ukraine derzeit nicht in Sicht. Die eigene erdölverarbeitende Industrie wird gerade erst wieder auf die Beine gestellt. Eine Steigerung des russischen Imports anstelle des belarussischen wäre irrwitzig, wo es doch um die Krim geht. Und Erdölprodukte aus Polen wären zu teuer.  

    Wegen der Krim-Episode wird es höchstwahrscheinlich auch keine extra Sanktionen des Westens geben. Minsk spielt da bereits in einer anderen Liga – Sanktionen werden für die Gefährdung der regionalen Stabilität verhängt, etwa für die Entführung der Ryanair-Maschine oder die Situation mit den Flüchtlingen. Vor diesem Hintergrund sind Lukaschenkos Worte in Bezug auf Russlands Territorialstreitigkeiten mit den Nachbarn zweitrangig. 

    … eine Freundschaftsgeste aus einer Hilflosigkeit heraus, nachdem die multivektorale Außenpolitik keine Früchte mehr trägt, wirkt nicht gerade aufrichtig

    Vielleicht hat Lukaschenko gerade wegen der Erkenntnis, dass er gegenüber dem Westen und der Ukraine im Grunde nichts zu verlieren hat, den Mut aufgebracht, endlich diese vom großmachtsgläubigen Teil der russischen Elite so lang ersehnte Geste zu erbringen.

    Im heutigen Kontext werden Lukaschenkos Äußerungen auch in der Beziehung zum Kreml kaum zu einem Durchbruch führen. 

    Die Unterstützung der russischen Position in Bezug auf die Krim wäre dann entsprechend gewürdigt worden, wenn sie zu einer Zeit gekommen wäre, in der sie Minsk etwas gekostet hätte. Aber eine Freundschaftsgeste aus einer Hilflosigkeit heraus, nachdem die multivektorale Außenpolitik keine Früchte mehr trägt, wirkt nicht gerade aufrichtig.  

    Moskau freut sich natürlich über jede Krise zwischen Minsk und Kiew. Das macht ein abgestimmtes Handeln der beiden Transitländer in der Zukunft unwahrscheinlicher und verengt den Spielraum für Minsker Manöver, die Chance, wieder zu einer Art Multivektorialität zurückzukehren.  

    Bei Lukaschenkos Äußerung zur Krim gibt es, genauso wie bei ein paar weiteren Verbindlichkeiten, die er eingeht, noch ein anderes Problem – nämlich ihre Haltbarkeit nach einem Regierungswechsel.

    Lukaschenkos Legitimitätskrise bedeutet, dass die morgige oder übermorgige Staatsmacht versucht sein wird, sich von manchen Versprechen oder Schritten des vorangegangenen Regimes zu distanzieren. Immer mit Verweis darauf, dass sie ein Usurpator in seinem eigenen Namen unternommen hat. 

    Das ist schon heute aus der Rhetorik der belarussischen Opposition herauszuhören: Von den Verpflichtungen, die Lukaschenko nach August 2020 eingegangen ist, werden wir nur jene erfüllen, die sich für das belarussische Volk lohnen. 

    Und während man wegen der Kredite an Janukowitsch immerhin vor Gericht ziehen kann, so ist das mit einem politischen (und nicht völkerrechtskonformen) Akt wie der Anerkennung der Krim als russisch unmöglich

    Es wird sich zeigen, ob diese Geste aus Minsk Moskau zu finanzieller Freigebigkeit anspornen wird. Dem belarussischen Staat stehen im nächsten Jahr Rückzahlungen in Höhe von 3,4 Milliarden Dollar bevor, 2023 werden es über vier Milliarden Dollar sein. Bedenkt man die Auswirkungen der westlichen Sanktionen und den Stand der Währungsreserven, so wird man ohne neuerliche russische Darlehen nicht auskommen.     

    Im September hat Putin versprochen, Lukaschenko bis Ende 2022 eine Summe von 630 Millionen Dollar zu leihen, was ganz offensichtlich nicht genug ist. Mit Lukaschenkos Krim-Diplomatie und vor allem Putins Scheu davor, seinen Bündnispartner in Bankrott und Chaos zu stürzen, kann Minsk sich daher erlauben, auf mehr zu hoffen.

    Das Problem ist, dass Lukaschenko Moskau immer wieder seine Loyalität wird beteuern müssen, und nach der Anerkennung der Krim als russisches Territorium bleibt an rhetorischen und symbolischen Konzessionen nicht mehr viel übrig.  

    Als nächstes wird er entweder etwas ihm Heiliges opfern müssen – sei es Staatseigentum oder Teile der Souveränität. Oder er muss mit seinen Nachbarländern dermaßen eskalieren, dass der Kreml sich nicht mehr raushalten kann. Derzeit sieht es ganz danach aus, als tendiere Lukaschenko zu Letzterem, und das ist heute die größte Gefahrenquelle für die Region.

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  • „Wir sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein Volk“

    „Wir sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein Volk“

    Das Jahr 2021 stand in Russland im Zeichen zunehmender Repression – gegen die politische Opposition und gegen unabhängige Akteure generell. Das jüngste Vorgehen gegen die international bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial ist ein Ausdruck davon. Bedeutend stärker betroffen als in den Jahren zuvor sind auch Medien und sogar einzelne Journalisten. Mehr als 80 von ihnen wurden seit April auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. 

    Manche Medien – wie VTimes – stellten daraufhin den Betrieb ein, andere – wie Meduza, Republic oder Doshd – versuchen ihre Arbeit dennoch fortzusetzen. Auch einzelne Journalisten gehen unterschiedlich damit um, als „ausländischer Agent“ gelistet zu sein: Manche machen weiter, andere gehen ins Ausland oder suchen einen neuen Beruf. Das Label bedeutet bürokratische Hürden – so muss man zum Beispiel vier Mal im Jahr ein spezielles Meldeformular an das Justizministerium senden, wofür man als juristische Person registriert sein muss. Man ist verpflichtet, den Behörden Daten über Aktivitäten, Einnahmen und Ausgaben zu übermitteln, andernfalls drohen Geld- oder sogar Haftstrafen. „Ausländischer Agent“ zu sein ist aber vor allem ein soziales Stigma.

    Vor diesem Hintergrund ist auch die Entscheidung des Nobelkomitees umso bedeutender, das mit dem Friedensnobelpreis am kommenden Freitag, 10. Dezember, auch Dmitri Muratow auszeichnet. Muratow ist Chefredakteur der Novaya Gazeta, die seit den 1990er Jahren als Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Russland gilt.

    Meduza fragte Journalistinnen und Journalisten, auch solche, die selbst als „ausländischer Agent“ gelistet sind oder für „Agenten-Medien“ arbeiten: Warum arbeiten Sie weiterhin als Journalist? Und spüren Sie sowas wie journalistische Solidarität?

    Xenia Mironowa
    Korrespondentin von Doshd

    Xenia Mironowa vor dem Untersuchungsgefängnis Lefortowo / Foto © Soi für Meduza
    Xenia Mironowa vor dem Untersuchungsgefängnis Lefortowo / Foto © Soi für Meduza

    Ich weiß nicht, warum ich immer noch Journalismus betreibe. Mein Partner [der Journalist Iwan Safronow] sitzt wegen seiner journalistischen Arbeit seit eineinhalb Jahren in U-Haft [in Lefortowo]. Der Sender Doshd, bei dem ich arbeite, gilt als „ausländischer Agent“. Viele meiner Journalistenfreunde mussten das Land verlassen. Jeder normale Mensch hätte wohl schon längst den Beruf gewechselt. Aber ich kann nichts anderes – und vor allem will ich es gar nicht.

    Es ist schwer, über Folter zu schreiben und zu wissen, dass dafür wahrscheinlich niemand je zur Rechenschaft gezogen wird 

    Es ist schwer, wenn du kein direktes Ergebnis deiner Arbeit siehst. Du rettest keine Menschen aus brennenden Häusern. Hast nicht einmal das Recht, ihnen etwas zu versprechen – Hilfe, oder die Aussicht, dass alles gut wird. Es ist schwer, wenn du siehst, wie deine Interviewpartnerin während des Gesprächs bei lauten Geräuschen zusammenzuckt, weil ihr mit 18 Jahren Drogen untergeschoben wurden und sie statt an die Uni in eine Strafkolonie kam. Und du weißt, dass ihr diese Zeit und ihre Gesundheit niemand je ersetzen können wird. Es ist schwer, über Folter zu schreiben und zu wissen, dass dafür wahrscheinlich niemand je zur Rechenschaft gezogen wird. 
    Aber wenn du von einer Frau, die ihr Kind verloren hat, eine Nachricht bekommst, in der sie sich überschwänglich bei dir bedankt, dann vergisst du das nie. 

    Es gibt Fälle, wo es Journalisten gelang, ein Problem zu lösen oder etwas zum Besseren zu wenden. In Russland wird das natürlich mit jedem Monat schwieriger, aber daran sind nicht die Journalisten schuld. Auch im Schach kannst du nur schwer gewinnen, wenn du dich an die Spielregeln hältst, während der Gegner dir das Brett um die Ohren schlägt.  



    Jelena Kostjutschenko
    Korrespondentin der Novaya Gazeta

    Jelena Kostjutschenko im Büro der „Novaya Gazeta“ / Foto © Soi für Meduza
    Jelena Kostjutschenko im Büro der „Novaya Gazeta“ / Foto © Soi für Meduza


    Ich betreibe weiterhin Journalismus, weil ich das einfach gern mache. Du erlebst ganz Unterschiedliches, triffst unterschiedliche Leute, siehst, was in der Welt passiert. Darüber schreibst du dann und bekommst sogar Geld dafür. Ich finde das super. Eine tolle Arbeit. 
    Und die Bedrängnis, mit der wir konfrontiert sind, macht die Arbeit nicht weniger toll. Nur leider steigt der Preis. Ich bin bereit, diesen Preis zu zahlen. Noch dazu arbeite ich bei der Novaya Gazeta, bei uns war es immer schon ***** [schwierig//hart]. Wir hatten nie diese friedliche Zeit wie die Journalisten anderer Medien. 

    Ich sehe den Beweis, dass Solidarität unter Journalisten möglich ist und funktioniert

    Bei der Novaya Gazeta, wurden immer wieder Kollegen umgebracht. Zwei Frauen wurden getötet, die über Tschetschenien schrieben – direkt hintereinander: Zuerst Anna Politkowskaja, woraufhin Natalja Estemirowa das Thema übernahm, bis sie ebenfalls getötet wurde. Jetzt hat Elena Milashina ihren Job übernommen. Dass sie noch am Leben ist, sehe ich als Beweis dafür, dass Solidarität unter Journalisten möglich ist und funktioniert. 
    Journalistische Solidarität sieht bestimmt ziemlich radikal aus. Wenn ein Kollege getötet, inhaftiert oder sonstwie an seiner Arbeit gehindert wird, muss man seinen Platz einnehmen und das, was er gemacht hat, weiterführen. Auf diese Art zeigen wir den Leuten und den staatlichen Strukturen, die uns Journalisten am Arbeiten hindern wollen, dass es keinen Sinn hat, uns zu töten, Zeitungen zu schließen oder uns das Label „ausländischer Agent“ anzuhängen.          


    Iwan Golunow
    Korrespondent von Meduza

    Iwan Golunow / Foto © Soi für Meduza
    Iwan Golunow / Foto © Soi für Meduza

    Warum sollte man 2021 keinen Journalismus betreiben? Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Warum sollte ich jetzt nicht mehr sein? Auf diese Frage habe ich keine Antwort. 
    Eigentlich hat es immer Leute gegeben, die etwas gegen Journalisten haben. Denen nicht gefällt, wie sie schreiben und was sie schreiben. Das war immer schon so und wird immer so sein. Zu manchen Zeiten führt das zu mehr Repressionen, und manchmal ist der Druck geringer. Alle erinnern sich gern an die schönen 1990er Jahre, als angeblich Pressefreiheit herrschte, wie es aus heutiger Perspektive scheint. Man darf aber nicht vergessen, dass auch die Geschichten mit [den Morden an den Journalisten] Dimitri Cholodow, Larissa Judina und etlichen anderen in diese Zeit fallen. 

    Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Warum sollte ich es jetzt nicht mehr sein? Auf diese Frage habe ich keine Antwort


    Es gab also immer Leute, die irgendwie Einfluss auf die Medien nehmen wollten. Was soll man da machen? 25 Jahre warten? Ist doch auch blöd. Man muss tun, was man kann, soweit es die Situation erlaubt. 

    Was mir 2019 passiert ist, war ein wunderbares Beispiel für journalistische Solidarität. Damals haben sich alle Journalisten zusammengetan, egal, für welche Medien sie tätig waren – für unabhängige oder staatliche. [Ähnliches] geschieht mit der Haft von Iwan Safronow, da gibt es in den Regionen viele lokale Initiativen. Ich glaube an die journalistische Solidarität. Und an die Solidarität der Leser mit den Journalisten. Ich glaube sogar an die Solidarität der Personen, über die geschrieben wird, mit den Journalisten, weil ich das alles am eigenen Leib erfahren habe. 



    Maria Shelesnowa
    Redakteurin, die zum „Medium, das als ausländischer Agent fungiert“, erklärt wurde

    Maria Shelesnowa vor dem Justizministerium / Foto © Soi für Meduza
    Maria Shelesnowa vor dem Justizministerium / Foto © Soi für Meduza

    Warum ich immer noch als Journalistin tätig bin – eine schwierige Frage. Ich glaube, darauf kann ich jetzt keine hundertprozentig rationale Antwort geben. Wenn man logisch überlegt, wäre es wohl vernünftiger, was anderes zu machen.   
     
    Ich kann wahrscheinlich schwer auf etwas verzichten, was ich viele Jahre lang gemacht habe und sehr gerne mache. In meiner ganzen Zeit als Journalistin habe ich nie – freiwillig und ernsthaft – an einen anderen Beruf gedacht. Nichts anderes ist mir je so organisch vorgekommen – obwohl ich mir nach der Erklärung zum „ausländischen Agenten“ schon die Jobanzeigen für Supermarkt-Kassiererinnen angesehen habe. Sagen wir so, ich wollte mir und meinem Beruf noch eine Chance geben.   

    Überwindung professioneller Hürden bedeutet für mich vor allem, den Mut nicht zu verlieren und keine faulen Kompromisse mit mir selbst zu schließen

    Ich war als Journalistin nie besonders heroisch – ich war nie Kriegsreporterin, habe keine Korruptionsfälle aufgedeckt, die in ihrem Zynismus ungeheuerlich sind, habe mich nicht Hals über Kopf in den undurchdringlichen Unbilden unseres Lebens vergraben und so weiter. Überwindung professioneller Hürden bedeutet für mich vor allem, nicht den Mut zu verlieren und keine faulen Kompromisse mit mir selbst zu schließen, Euphemismen zu meiden und die Dinge beim Namen zu nennen.    

    Wenn ich aber doch an konkrete Dinge denke, dann waren meine unfreiwilligen Kündigungen das Schwerste. Wenn dir klar wird, dass das, was du tust und wofür du in diese Redaktion gekommen bist, aufgrund von Umständen, die außerhalb deiner Macht stehen, völlig unmöglich wird, und dir nichts anderes übrig bleibt, als deinen letzten Text abzugeben und zu kündigen. Und auch wenn du weißt, dass das die einzig richtige Entscheidung war, ist es trotzdem schwer, und dieses Gefühl trägst du lange mit dir herum. Ich glaube nicht, dass ich mit meiner Erfahrung allein bin, aber in den letzten zehn Jahren musste ich zweimal so vorgehen. Das letzte Mal 2020, als die Vedomosti, bei der ich gearbeitet habe, einen neuen Inhaber und einen neuen Chefredakteur bekam – und klar wurde, dass das jetzt eine ganz andere Zeitung wird. 

    Insgesamt hatte ich in zehn Jahren drei verschiedene Arbeitsplätze. Zweimal habe ich schweren Herzens selbst gekündigt, das Dritte war Projekt, dessen Tätigkeit unser Staat als „unerwünscht“ betitelte und kurzerhand dichtmachte. Tja, mein Resümee ist ein bisschen düster.  


    Ilja Asar
    Korrespondent der Novaya Gazeta

    Ilja Asar / Foto © Soi für Meduza
    Ilja Asar / Foto © Soi für Meduza


    Vor ein paar Tagen habe ich Material über den 15-jährigen Jaroslaw Inosemzew gesammelt, der beschuldigt wird, in einer Wolgograder Schule einen Terroranschlag vorbereitet zu haben. Ich schreibe dieses Jahr schon zum zweiten Mal über ihn. Nach dem ersten Bericht wurde Jaroslaw aus der Psychiatrie (wohin er aus der U-Haft überstellt worden war) nach Hause entlassen. Ich hoffte (naiv, wie ich war!), dass die Sache im Sand verlaufen würde, aber drei Monate später warfen sie ihn wieder in den Knast. Jaroslaws Mutter hat mir geschrieben, dass die Richterin nach dem – in meinen Augen absolut unmenschlichen – Hafturteil in ihrem Dienstzimmer saß und heulte.    
    Seit einer ganzen Weile schon geht mir das Bild dieser weinenden Frau in der Robe nicht aus dem Kopf, die einen Schüler in den Knast steckt (der niemandem etwas getan hat und es höchstwahrscheinlich auch nicht vorhatte), einfach weil der FSB so tun muss, als würde er Shootings vereiteln.

    Wir Journalisten sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein eigenes Volk

    Wir können über solche Dinge nicht schweigen – und erst nicht über Folter in Strafkolonien oder dem stalinistischen Regime in Tschetschenien und dergleichen. Wir müssen darüber schreiben. Wir Journalisten sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein eigenes Volk. Und ich sage das nicht um des Pathos’ willen – es ist leider die Wahrheit. Und man darf sich nicht einfach umdrehen, den Laptop zuklappen, weggehen und vergessen.  

    Deswegen habe ich die Frage „Warum betreibst du weiterhin Journalismus“, die mir Meduza gestellt hat, zehn Mal gelesen – und ihren Sinn nicht verstanden. Das ist doch absurd. Wieso „Warum“? Was denn sonst? Klar, wenn wir mit Kollegen bis nach Mitternacht in der Kneipe hocken, dann jammern wir gern über Erschöpfung und Burnout, über die unerträgliche Belastung durch fremdes Leid, über die Sinnlosigkeit unserer Arbeit, über die eigene Unzulänglichkeit und zu guter Letzt das mickrige Einkommen.
    Aber alles hinschmeißen und aufhören? Im Ernst? Und was dann? In die PR, ins Politconsulting, ins Business? Nein, wenn ich genauer überlege, habe ich diese Option nie ernsthaft in Betracht gezogen. Und je schwerer die Zeiten, desto höher die Motivation weiterzumachen.  

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch die MatKat-Stiftung

     

     

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  • Minsk-21, Transitzone

    Minsk-21, Transitzone
    Zichan Tscharnjakewitsch, 1986 in der süd-belarussischen Stadt Pinsk geboren, gilt als einer der bekanntesten Literaturkritiker und -kenner seiner Generation. In diesem Text beschreibt er die momentane Lage, in der sich viele seiner Landsleute nach einem Jahr der scharfen Repressionen befinden. Eine Lage, die einem Zwischenzustand gleicht, wie in der Transitzone eines Flughafens, in der man die Gedanken ordnend vor sich hindämmert, bevor man endlich seinen Weg fortsetzen und in die Zukunft aufbrechen kann.

    Russische Version auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Die Stadt ist alt geworden, das spürt man. Obwohl, verflixt – ich weiß nicht, wie ich es euch erklären soll. Vielleicht ist mir etwas ins Auge geraten – Staub, ein Spiegelsplitter, und plötzlich ist alles verkehrt. 

    In den Trolleybussen riecht es nach Kölnisch Wasser, nach süßlichen Fahnen von Obstwein, nach vergilbtem Mull selbstgebastelter Masken, nach warmem, feuchtem Kohlendioxid: Das schlägt sich an den geschlossenen Fenstern nieder und trägt den Tod in sich. Immer hustet jemand, ständig sitzt jemand ohne Maske da und hustet. Was hast du hier verloren, Jacques-Yves Cousteau, das erste Mal in deinem Tiefsee-U-Boot,  sehr unbequem, wie lang sich dieser Tauchgang wohl hinzieht. 

    Ich stürze aus dem Trolleybus und stehe vor einer Polizeistreife. Denn in letzter Zeit geht es mir immer so: Wenn ich aus dem Trolleybus steige, stoße ich unweigerlich auf eine Polizeistreife. Neulich ging ich beim Polizeirevier Perwomaiski die Bjalinskaha Straße entlang und sah, wie die Patrouillen losmarschierten: Jede Minute kamen drei aus dem Tor heraus, dann wieder drei, insgesamt dreißig Mann mit Schlagstöcken. Hätte man die Szene gefilmt, hätte sie eins zu eins in den Director’s Cut von The Wall gepasst. Wäre später natürlich rausgeflogen. Denn eigentlich ist das langweilig. Nichts Lebendiges, keine hyperboreische Freude in den Bewegungen, keine Sturmhauben und Munitionsgürtel mehr. Routine.  

    Das letzte Mal, dass einer der berühmten grünen Gefängnistransporter zielstrebig durch die Stadt rollte, war im Juli. Es war heiß, und die schwarzen Sturmhauben ragten aus den offenen Autofenstern, scannten angespannt die Umgebung. Es war der letzte Schultag und offenbar hatte sich jemand im Innenministerium gedacht, dass zumindest ein paar angenebelte Schulabgänger, die Fahnen von Eukalyptus und Menthol verströmten, sich mit inoffizieller Symbolik schmücken, regierungsfeindliche Parolen rufen, sich einer Festnahme widersetzen und an Uniformen zerren würden. Aber nein.    

    Was soll ich denn sagen über die Zukunft? Sie dauert schon lange. Zeitspannen haben mich schon früher beschäftigt. Einmal habe ich den Sohn von Jakub Kolas gefragt, was denn Janka Kupala für ein Typ war. Während ich mich mit ihm über die 1930er und 1940er Jahre unterhielt, spürte ich eine gigantische, kosmische Distanz. Denn Gewalt verdichtet das Zeitgefühl. Gefüllt mit Gewalt, vergehen die Tage langsamer, sind voller Leidenschaft, Schmerz, Moosbeersaft. Je mehr kaputte Seelen, desto größer die Amplitude. Und das Blut in den Adern fließt nicht mehr, sondern verklumpt, verstopft und sperrt dich ein zwischen Vergangenheit und Gegenwart.    

    Außerdem: Zukunft ist nur im Prozess ihrer Gestaltung möglich. Dafür braucht man Baumaterial und ständig erneuerbare Energiequellen. Modelle, Pläne, Programme, für die es Spielregeln gibt und die man befolgen und umsetzen kann. Besser: nicht nur umsetzen kann, sondern auch wirklich will. Gleich nach dem Aufstehen, ohne erst mal eine zu rauchen.   

    Noch will man nach dem Lesen der Morgennachrichten sofort eine Zigarette rauchen: Einer ist zu Hause umgebracht worden, einer im Gefängnis gestorben, einer kam aus dem Gefängnis, hatte plötzlich Krebs und starb; wieder ein anderer sitzt einfach und lebt noch, hat zehn Tage bekommen. Oder zehn Jahre. Gerade waren es noch 700 politische Gefangene, kaum schaust du dich um, sind es schon über 900. Gerade hieß es noch, ein paar tausend politische Strafprozesse, und bumm, plötzlich sind es 5000. Sind fünf noch ein paar? Keine Ahnung, ich bin kein Linguist.      

    Keiner meiner Freunde kauft Lebensmittel auf Vorrat. Das ist alles Luxus, den man vielleicht gar nicht brauchen wird. Ein halbes Dutzend Eier, zwei Syroki, ein kleiner Becher Schmand. Eine Packung Toastbrot wirkt schon merkwürdig. Planst du etwa für eine ganze Woche? Willst du 100 werden?


    Und immerzu hustet jemand. Gestern bin ich in die Stadt gegangen, um mir den chinesischen Impfstoff spritzen zu lassen, damit ich ein Zertifikat bekomme, mir ein Ticket an die nächstbeste Küste kaufen kann, wo ich mitsamt der Kleidung ins Meer steige und vielleicht gleich dort abkratze. Im Stadtzentrum tummelten sich scharenweise Migranten, manche sogar mit Dolmetschern. Sie schienen bester Stimmung. „Ungefähr so werde ich auch drauf sein, wenn ich das Meer sehe“, dachte ich. Aber den chinesischen Impfstoff gab es nirgends, es gab nur noch Sputnik. „Ist hier vielleicht der chinesische aufgetaucht?“ habe ich bei den Impfstationen im ZUM und im GUM gefragt. „Noch nicht, kommen Sie morgen wieder. Alle fragen danach – Sie sind viele, und ich bin hier ganz allein.“

    „Hätte ich ihr Geld zustecken sollen, oder Konzertkarten für Gasmanow?“, so die trostlosen Gedanken eines Menschen, der sich in der Fernsehgeräteabteilung des ZUM umschaut. Auf zwanzig Bildschirmen  gleichzeitig die Übertragung einer Sendung über die Entwicklung strukturschwacher Regionen. Es wurde vorgeschlagen, irgendwo Geld aufzutreiben und es großzügig in die Erneuerung der bestehenden Ordnung zu stecken.

    Alle Regionen, die in der Sendung rückständig genannt wurden, würden im Fall einer Grenzziehung im Osten in den unteren und mittleren Schichten der Atmosphäre bestimmt zu Schmugglerparadiesen und bei Aufstiegsströmungen zu Freihandelszonen. Doch solange es keine Grenze gibt, fahren die Bewohner lieber auf Baustellen nach Moskau, um Estrich zu gießen und wer das nicht kann, um sich die Kehle zu füllen. Ich behielt meine Gedanken aber für mich. Wer weiß, was für Gerätschaften in dieser Fernseherabteilung noch herumstehen. Wozu habe ich überhaupt diesen ganzen Absatz geschrieben? Ich interessiere mich doch eigentlich gar nicht für Politik.    

    Auf den Bildschirmen läuft jetzt ein Fußballspiel. Doch für Fußball interessiere ich mich auch nicht. Ja klar, ich habe davon gehört, dass letztes Jahr bei der Nationalmeisterschaft im Finale, in den letzten entscheidenden Sekunden, jemand den Ball von der Spielfeldmitte direkt ins Tor des amtierenden Meisters befördert hat. Doch der Schiedsrichter hat das Tor für ungültig erklärt. Als die Mannschaft daraufhin rebellierte, hat der Schiedsrichter alle einsperren lassen, die Fans im Stadion mit Granaten beworfen und dann ebenfalls festnehmen lassen. Die, die die Übertragung verantworteten, wurden auch eingesperrt, und jetzt buchtet man die ein, die die Übertragung gesehen haben. Ich habe das Spiel natürlich nicht gesehen, ich habe nur davon gehört. Ich besitze ja nicht einmal einen Fernseher. Wie gesagt, ich interessiere mich nicht für Fußball.

    Die Stadt ist voll gelbem Ahorngestöber. Instagram ist voll bunter Blätter und in Vorstadtwäldern gefundenen Steinpilzen und Rotkappen. Es gibt auch Fans von Täublingen und Milchlingen, aber das ist eine Kaste für sich, viele Likes bekommen sie nicht. Der Schwarze Milchling ist außerdem ein Vorratspilz – da zeigt sie sich wieder, die Zukunft, die es nicht gibt. Und auch Spielregeln gibt es nicht. Nicht wie beim Angeln – fangen, ausnehmen, braten, essen. Das ist schon näher dran an der Realität.


    Wie dem auch sei, man muss das Leben genießen. Ich halte mein Gesicht in die Sonne. Nichts hindert die letzten warmen Strahlen, nichts bremst die Lichtgeschwindigkeit, denn ich stehe neben dem neuen Gebäude des Obersten Gerichtshofes. Der Platz davor ist eine riesige Ödnis ohne Bäume. Ich bin gerade arbeitslos geworden; im Land wurden mehrere hundert Organisationen aufgelöst, und heute war unsere an der Reihe. Angeblich haben wir irgendwelche Vorschriften im „globalen Computernetzwerk Internet“ ignoriert und den Kontrollinstanzen Dokumente vorenthalten. Dass sie die Hälfte dieser Dokumente bei der Durchsuchung konfisziert und die andere Hälfte zusammen mit dem Büro versiegelt haben, hat niemanden interessiert. Ich stehe da und denke nach über das „globale Computernetzwerk Internet“. Ist es wirklich so global? Und geht es überhaupt um Computer, und wenn ja, warum?

    Wenn Prousts Held sich schlaflos im Bett wälzt und seine blassen Beine betrachtet, denkt er an die Frauen, mit denen er es gut hatte. Wenn ich nicht schlafen kann, denke ich eher an das, was der in Ungnade gefallene Schauspieler Alexander Schdanowitsch einmal gesagt hat: „Jetzt in Belarus zu bleiben, ist wie in einem Zimmer zu wohnen, in dem sich unter dem Bett eine giftige Schlange versteckt.“ Eine Freundin von mir, sie ist Künstlerin, erwiderte, das Leben sei grundsätzlich eine Schlange unter dem Bett, nur sei es in Belarus eine schwarze Mamba. Ehrlich gesagt, wenn du schon ein Jahr chronisch an Schlafstörungen leidest, kommt es dir so vor, als würde unter deinem Bett ein ganzes Schlangennest hausen.

    Wenn einem etwas scheint, dann muss man sich bekreuzigen, so ein Sprichwort. Schließlich kann man seine subjektiven Wirklichkeiten, die einen in Form von Empfindungen überkommen, nicht anderen Menschen aufzwingen. Ja, hier in dieser Stadt, wo zwölf deiner Freunde schon im Gefängnis gesessen haben und weitere Angehörige immer noch sitzen, kann man Lebensfreude nur imitieren. Andererseits musst du sie auch imitieren, sonst frisst dich die Brut auf, die unter deinem Sofa zischt.


    „Na, Sie waren ja ewig nicht mehr zum Haareschneiden hier, bestimmt zwei Monate. Ist schon völlig rausgewachsen. Heute kam ein merkwürdiger Typ hier rein, der wollte unbedingt die Haare auf Pump geschnitten bekommen, hatte wohl sein Geld versoffen und kam dann her. Bei uns im Wohnheim wimmelt es von denen, wollen mal dies, mal das, und dann kommt noch dein Göttergatte, bettelt rum. Welches Wohnheim? Na, das für Energietechniker. Warum soll ich Energietechniker sein, ich bin kein Energietechniker, ich weiß gar nicht, wie viele es bei uns noch gibt von denen, vielleicht gar keine mehr, alle möglichen wohnen da, seit letztem Jahr sind es weniger geworden, die haben alle Rot-Weißen rausgefischt und auf die Straße gesetzt, wissen Sie, woran sie die erkennen? An den Augen. Als die auf die Straßen gekommen sind, da wurden ja die Augen gefilmt, und so haben sie nachher alle erkannt. Bei uns wurden vierzig Leute rausgeworfen. Aber jetzt ist kein Platz mehr, natürlich sind dafür Neue nachgekommen, sogar ein stellvertretender Minister hat bei uns gewohnt, als der alte entlassen wurde. Aus Witebsk kam der neue, hat immer gelächelt, unsere Mädels waren gleich Feuer und Flamme, aber dann kam seine Frau übers Wochenende, hat sie gesehen, und gesagt „Schluss, morgen ziehe ich hierher“. Die hat dann niemanden gegrüßt. Aber jetzt haben sie irgendeine Dienstwohnung bekommen. Aber klar, unsere Mädels sind heiß. Ach was, die sind keine Energietechnikerinnen. Die haben alle drei, vier Kinder, leben vom Kindergeld. Draußen findet man gar keinen Parkplatz mehr, die kaufen sich alle einen Geely auf Kredit, die Kinder lassen sie barfuß im Flur rumlaufen, in dreckigen T-Shirts, stehen alle rum und rauchen, sagen Hi!, die Kinder sind bis abends sowieso wieder durchnässt, das härtet ab, da braucht man keine Schuhe zu kaufen, wenn sie barfuß rumrennen Und dann immer: Hast du einen Bonbon für mich, manchmal geb ich ihnen eins. Haben Sie auch Kinder? Ja? Ach so.“


    Insgesamt glaube ich nicht, dass sich alles auf Dauer beruhigt hat. Nur die Ordnung hat sich verändert im direkten wie im übertragenen Sinn. Die Belarussen waren schon immer Meister im Universum des Überlebens, diese Fähigkeit kann ihnen niemand nehmen. Ein vernünftiger Mensch denkt strategisch, das mag die Staatsmacht nicht. Denn das strategische Denken – das zukunftsgerichtete Denken, das Denken in großen Begriffen – spielt nie auf der Seite der Gewalt. Jede Thrombose wird früher oder später bereinigt, der Organismus versteht die Notwendigkeit, sich selbst zu heilen, damit das Blut normal fließen kann.

    Aber bis dahin, bis dahin rauche ich in der Dunkelheit und atme die Fäulnis der Ebbe ein.     

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    Bystro #29: Wurde der Protestwille der Belarussen gebrochen?

  • Gefährlicher Bluff

    Gefährlicher Bluff

    Nicht in Brüssel, sondern in Riga – also deutlich näher an Moskau und Minsk gelegen – kommen heute die NATO-Außenminister für ein zweitägiges Treffen zusammen. Seit Wochen berichtet das Bündnis über einen verstärkten russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine. Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wird als Gast bei dem Treffen dabei sein.

    Die Beziehungen zwischen Russland und der NATO liegen auf Eis, Russland hat im November die Arbeit seiner Vertretung in Brüssel komplett eingestellt. Damit gibt es keine Gesprächskanäle mehr. So beschäftigt die russische Truppenkonzentration nahe der Ukraine auch internationale Beobachter: Alles nur Säbelrasseln? Oder droht ein Szenario wie 2014, als „grüne Männchen“ auf die Krim einmarschierten und Russland die Halbinsel schließlich angliederte?

    Es gebe allen Grund zur Sorge, meint etwa die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja auf Telegram. Die Ukraine sei für Russland ein wichtiger Schauplatz in der Auseinandersetzung mit dem Westen. Auch ohne „Provokationen“ von ukrainischer Seite gebe es die Bereitschaft, „die Welt zu erschüttern“, und damit über den Status quo zu siegen, der seit den Minsker Protokollen von 2015 vorherrscht. 
    Dimitri Trenin sieht auf Carnegie.ru im Vorgehen Russlands dagegen eine Art Abschreckung nach (gegenseitigen) Provokationen. Deren Erfolg hänge davon ab, „wie plausibel die Bedrohung wahrgenommen wird“. 

    Ähnlich argumentiert Julia Latynina in der Novaya Gazeta: Es werde keinen Krieg gegen die Ukraine geben – weil es dem Kreml dabei vor allem um die Aufmerksamkeit der USA gehe.

    Die Nachrichtenplattform Bloomberg veröffentlichte letzte Woche einen Plan Russlands über eine mögliche Invasion in der Ukraine. Der US-Geheimdienst hatte ihn seinen europäischen Bündnispartnern übermittelt.
    An der Invasion sollen 100 Bataillons- und Kampfgruppen mit 100.000 Mann teilnehmen, von denen die Hälfte „bereits Stellung bezogen“ habe. Der Schlag solle von drei Seiten aus geführt werden: vom russischen Festland, von der Krim und von Belarus. Als voraussichtlicher Zeitpunkt der Invasion wird Anfang nächsten Jahres genannt. „Amerika sagt damit nicht, ein Krieg sei unvermeidlich, oder auch nur, man wisse mit Sicherheit, dass Putin wirklich angreifen wolle. Vielmehr heißt es, er sei wahrscheinlich noch unentschlossen, was er tun werde“, schreibt Bloomberg.  

    Die aktuelle militärische Aufrüstung an der ukrainischen Grenze ist schon die zweite Geschichte dieser Art innerhalb kurzer Zeit. Die erste, im Sommer 2021, handelte ebenfalls von Truppenverschiebungen und endete mit einem Treffen zwischen Biden und Putin
    Die jetzige steht im Kontext bedenklich sinkender Umfragewerte der russischen Regierung, der totalen Vernichtung der Opposition sowie einer Krise an der polnisch-belarussischen Grenze, im Zuge derer Lukaschenko Warschau mit einer Unterbrechung der Gaslieferungen drohte und seine Propagandisten russische Kampfflugzeuge in Aussicht stellten. 
    Und jetzt folgt mein Erklärungsversuch, warum eine solche Invasion gar nicht möglich ist.   

    Erstens: Der Kreml hat bisher nie richtige Kriege geführt, sondern nur hybride 

    Erstens: Der Kreml hat bisher nie richtige Kriege geführt, sondern nur hybride. Ein richtiger Krieg wird geführt, um zu siegen. In einem solchen Krieg ist der Abgleich mit der Realität sehr wichtig, und wenn man da zu lügen beginnt, kann man, wie der japanische Admiral Yamamoto einmal sagte, „den Krieg schon als verloren betrachten“.  

    Ein hybrider Krieg wird nicht geführt, um zu siegen, sondern um ein Bild zu erzeugen. Dabei ist die Lüge eines der wichtigsten Werkzeuge.  
    In einem richtigen Krieg wird alles daran gesetzt, die Verluste des Feindes zu maximieren.
    Bei einem hybriden Krieg geht es zum Teil auch darum, Informationen über angebliche Verluste in den eigenen Reihen zu maximieren. Manchmal wird ein hybrider Krieg nur geführt, um zu erzählen, wie die israelische Kriegsmaschinerie ein Kind getötet oder ukrainische Faschisten einen Jungen gekreuzigt haben. 

    Zweitens: Der Kreml hat bisher bei allen Kriegen auf die Möglichkeit der Verleugnung gebaut

    Zweitens: Der Kreml hat bisher bei allen Kriegen auf die Möglichkeit der Verleugnung gebaut. „Das ist nicht Russland. Das sind Privatleute.“ So kann man jede Verantwortung für bewaffnete Gar-nicht-Dorts von sich weisen und im Fall militärischer Verluste das Risiko minimieren. Wäre es Marschall Haftar in Libyen gelungen, Tripolis zu erobern, hätten unsere Skabejewas den Sieg auf allen Kanälen in die Welt hinausposaunt. Nachdem aber türkische Bayraktar-Drohnen Haftar und seinen russischen Söldnern den Garaus gemacht hatten, konnte man genauso gut schweigen. 

    Und schließlich drittens: Alle Kriege des Kreml haben dem Westen immer die Option gelassen, neutral zu bleiben

    Und schließlich drittens: Alle Kriege des Kreml haben dem Westen immer die Option gelassen, neutral zu bleiben und keine unumkehrbaren Entscheidungen zu treffen. „Das ist alles kompliziert dort. Ein innerukrainischer Konflikt. Das sind Freiwillige“, und so weiter. Solche Spielräume, die dem Westen erlauben, sein Gesicht zu wahren und dabei untätig zu bleiben, waren immer fixer Bestandteil der Kriegsstrategie des Kreml.     
    Eigentlich gehört alles Obengenannte zu den Merkmalen eines hybriden Kriegs – eines Kriegs, in dem es nicht um den Sieg geht, sondern ums Lügen und Schädigen – der Feind soll geschädigt und das eigene Volk belogen werden. Der ideale Krieg war für den Kreml immer ein computergeneriertes Bild, auf dem Russland Raketen auf Florida feuert. 

    Trotz solcher Bilder und des Versprechens, die USA „zu Atomstaub“ zu pulverisieren, hat der Kreml jeden echten Krieg immer tunlichst vermieden. 

    Als die USA im Februar 2018 bei Deir ez-Zor eine Kolonne mit russischen Söldnern bombardierten, hat der Kreml nicht nur nicht reagiert, sondern einfach so getan, als wäre das gar nicht passiert.  

    Als die Amerikaner im selben Jahr die syrische Infrastruktur in die Luft sprengten, verkündete Russland zwar lautstark, es werde keine US-Aggressionen dulden, verhielt sich aber dann fein artig hybrid: Man präsentierte im Fernsehen einen Haufen erdichteter Vergeltungsschläge und versuchte, diesen unangenehmen Zwischenfall, der die absolute Überlegenheit der US-Raketen vor Augen führte, alsbald zu vergessen. 
    Anders gesagt, jedes Mal, wenn das Gespenst eines richtigen Kriegs durch den Kreml spukt, in dem man nicht mehr mit Fernsehbildern von gekreuzigten Kindern und abgeschossenen Raketen auskommen würde, tut Moskau so, als würde es das alles nichts angehen. 

    Wahrscheinlich, weil sich der Kreml im Grunde des tatsächlichen Zustands der russischen Kriegstechnik bewusst ist. Er weiß nur zu gut, in welchen Situationen schon von einem „kleinen, siegreichen Krieg“ die Rede war, der dann weder klein noch siegreich war.  

    Es liegt auf der Hand, dass eine Invasion in der Ukraine von drei Seiten mit Luftstreitkräften und 100.000 Mann starken Truppen, wie in dem Plan formuliert, nicht unter die Definition eines hybriden Kriegs fällt. Und sich gegen eine solche Invasion zu verteidigen, wäre für die Ukraine nicht schwerer, sondern leichter. 

    Die Verteidigung gegen eine solche Invasion wäre für die Ukraine nicht schwerer, sondern leichter

    Die ganze Stärke von Noworossija bestand darin, dass prorussische Kämpfer sich als „unterdrückte Lokalbevölkerung“ ausgaben und hinter Zivilisten verschanzten. Unter solchen Bedingungen traf jeder Schuss auf einen Kämpfer wirklich die Zivilbevölkerung, und der Westen konnte vor diesem komplexen Problem erleichtert die Augen verschließen. Die Invasion einer 100.000 Mann starken Armee böte diese Chance nicht.     
    Eine solche Invasion zu legitimieren, nachdem man auf russischem Territorium eine „rechtmäßige Regierung Janukowitsch“ eingesetzt und in deren Namen um Hilfe gebeten hat, wird unmöglich sein. Auf diese Weise eroberte Gebiete könnte man nicht legal an Russland angliedern. Die Auswirkungen eines solchen Krieges auf die Gesellschaft wären katastrophal. Krim nasch war ja genau deshalb so populär, weil es keine Toten gab. 100.000 Rekruten, die man Bayraktar-Drohnen und unbemannten US-Kampfflugzeugen zum Fraß vorwirft, blieben wohl kaum vollzählig unversehrt. 

    „Das tiefe Volk“ würde wie im Afghanistan-Krieg vor den Todesnachrichten und die Elite vor den Sanktionen des Westens erschaudern, die den Wert ihrer Beute mindern. 

    Aber das zentrale, das fundamentale Problem ist: Dies wäre ein echter Krieg und das heißt, man kann ihn verlieren. Einen hybriden Krieg kann man prinzipiell nicht verlieren. Wenn es mit Noworossija klappt – wunderbar. Werden es nur die Volksrepubliken Donezk und Luhansk – was soll’s, stopfen wir dieses Krebsgeschwür eben zurück in den Leib der Ukraine, auch gut. Mit anderen Worten, alles, was passiert, ist ein Bluffen. Es ist immer noch derselbe hybride Krieg. Eine Nötigung zum Dialog. Eine Reaktion auf die Sanktionen. Eine Reaktion auf das Vorhaben, künftig auf russisches Öl und Gas zu verzichten. Auf den Vertrag zwischen den USA und der Ukraine. Auf die Weigerung der Ukraine, die Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu den Bedingungen des Kreml zu akzeptieren. Und es ist eine Reaktion auf die sinkenden Umfragewerte und auf den gescheiterten Versuch, Europa mithilfe Lukaschenkos zu erpressen

    Die USA und Europa haben zwei Möglichkeiten, auf diesen Bluff zu reagieren. Sie können sich einschüchtern lassen und „einen Dialog beginnen“. Oder sie können klarmachen, dass die Ukraine im Fall eines vom Kreml begonnenen Krieges so viel militärische Unterstützung erhält wie nötig, um einen Sieg Russlands zu verhindern. 

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  • Warum der Schlag gegen Memorial ein Schlag gegen Deutschland ist

    Warum der Schlag gegen Memorial ein Schlag gegen Deutschland ist

    Warum Memorial, und warum geht es gleich um die Liquidierung der Organisation? Diese Fragen beschäftigen derzeit (nicht nur) Russlands Zivilgesellschaft: Am 25. November beginnt der Prozess am Obersten Gericht gegen die unabhängige Menschenrechtsorganisation, die sich seit der Perestroika wie keine zweite der Aufarbeitung der Stalinzeit und dem Einsatz für Menschenrechte verschrieben hat. Seit bekannt wurde, dass die russische Generalstaatsanwaltschaft den Antrag auf Liquidierung gestellt hat – offiziell wegen Nichteinhaltung der Regeln für sogenannte „ausländische Agenten“ – wird diskutiert, warum es zu diesem massiven Schlag kommt, warum es in einem von heute auf morgen anberaumten Prozess darum gehen soll, die älteste russische Menschenrechtsorganisation aufzulösen.
    „Das ist keine juristische, sondern eine politische Entscheidung von ganz oben“, sagt Memorial-Mitbegründerin Irina Schtscherbakowa im Podcast von Memorial Deutschland.

    Spätestens seit den Solidaritätsprotesten für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr und angesichts der Dumawahl im Herbst geht der Kreml massiv gegen unabhängige Akteure vor. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja konstatiert bereits im Mai: „Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet, zur Zielscheibe wird alles, was die Macht als eine Form von Anti-Regime-Verhalten empfindet, ob individuell oder institutionell.“ So wurden sämtliche Organisationen Nawalnys – wie etwa sein Antikorruptionsfonds – für „extremistisch“ erklärt, seit Beginn des Jahres wurden aber etwa auch mehr als 70 unabhängige Medien und einzelne Journalisten als „ausländische Agenten“ diffamiert. Auch Irina Schtscherbakowa sieht im Vorgehen gegen Memorial das Signal: „Ihr müsst alle Angst haben!“. Es gehe an alle, die mit der offiziellen Politik nicht einverstanden sind oder „überhaupt ihre Stimme erheben gegen etwas, was ihnen nicht passt“.

    Gleichzeitig geht es bei Memorial um die Organisation der historischen Aufarbeitung, die seit 30 Jahren ein umfangreiches Archiv aufgebaut, eine Datenbank mit rund 3,5 Millionen Biographien angelegt und mit zahlreichen Aktionen wie der Rückgabe der Namen ein Gedenken an die Opfer des politischen Terrors in der Sowjetunion initiiert hat, – die Liste ließe sich fortsetzen. So sieht der Journalist Oleg Kaschin im Vorgehen gegen Memorial eine „Bestrafung des historischen Erinnerns“ und den Versuch des Kreml, die Deutungsmacht über die Geschichte zu monopolisieren. Das explizite Benennen von Opfern wie Tätern wäre demnach im offiziellen Geschichtssynkretismus, bei dem Zarenfans wie Sowjetnostalgiker gleichermaßen bedient werden, selbst in Nischen ausdrücklich nicht mehr erwünscht. 

    Maxim Trudoljubow fügt solchen Thesen auf Meduza eine weitere hinzu: Er sieht das Vorgehen gegen die international renommierte Organisation als asymmetrische Antwort auf Sanktionen des Westens. Auch Schtscherbakowa von Memorial sagt im Podcast, das Signal „Wir sind durch nichts geschützt, die Macht kann mit uns machen, was sie will“ gehe an unabhängige Akteure und ihre Unterstützer im Westen gleichermaßen.

    Die drohende Vernichtung von Memorial durch die Behörden wird als schwerer Schlag empfunden – sowohl gegen die Menschenrechte im heutigen Russland als auch gegen den offenen Diskurs über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, für die der Staat die Verantwortung trägt. Eine Gesellschaft, die eine Organisation wie Memorial hat, und eine, die das nicht hat, sind zwei unterschiedlich reife Gesellschaften. Die russische Gesellschaft ist eine reife Gesellschaft. Noch. Doch der politischen Führung in Russland geht es nicht um den Reifegrad der Gesellschaft. Für die Akteure im Kreml ist Memorial die bekannteste russische Organisation in Deutschland und deswegen ein Instrument der Einflussnahme auf deutsche und europäische Politiker. Das ist einer der Knöpfe – und wenn man sie drücken kann, dann drückt man sie auch.

    Zwei Mythen der russischen Politik

    Über seine Innen- und seine Außenpolitik erzählt der russische Staat zwei dem Sinn nach entgegengesetzte Geschichten, zwei Mythen: Innerhalb des Landes, sagen uns Regierungsvertreter und Staatsmedien, herrsche Frieden, Harmonie und Stabilität. In der Welt da draußen gebe es hingegen weder Frieden noch Harmonie noch Stabilität. Russland habe es da gezwungenermaßen mit Feinden zu tun, die es an seinen Grenzen bedrängen, in seiner Entwicklung behindern und seinen Einfluss in der Welt schmälern wollten. Einzelne Probleme habe Russland zwar, sie seien jedoch eine Folge der Konflikte im Außen, sagen uns die Staatsmedien. 

    Für innere Probleme Ursachen im Außen zu suchen, ist eine althergebrachte Technik der Macht, die schon während der gesamten Sowjetära angewendet wurde und die es erlaubt, die Regierung auf rhetorischer Ebene jeglicher Kritik zu entheben. Als Boten des üblen Einflusses von außen nennt die russische Regierung diverse „Andere“, die sich inmitten der einigen russischen Gesellschaft verschanzt hätten. Diese spürt der Staat auf und erklärt sie zu „ausländischen Agenten“, „unerwünschten“ und „extremistischen“ Organisationen.

    Innere Probleme – nur Folgen externer Konflikte

    Die Geschichte vom Frieden im Land ist, wie auch die vom Krieg in der Außenwelt, ausgedacht und hat mit der Realität sehr wenig zu tun. Die russische Gesellschaft ist in zahlreichen Fragen nicht einig, sondern heterogen und polarisiert – angefangen beim Umgang mit dem sowjetischen Erbe bis hin zu den Präferenzen hinsichtlich der Zukunft des Landes (das heißt, dem Weg, den das Land beschreiten soll). Existierten in Russland Parteien und Organisationen, die tatsächlich die Ansichten der Bürger widerspiegeln, würde der politische Machtkampf im Land zu unvorhersehbaren Wahlergebnissen führen und intensive, glühende Debatten über eine Vielzahl von Themen auslösen.

    Nichts dergleichen findet derzeit statt: Die öffentliche Sphäre bleibt der Staatsmacht überlassen, die ständig bemüht ist, die realen inneren Konflikte zu vertuschen und äußere zu erschaffen. Sowohl die Einigkeit im Inneren als auch die Konflikte im Äußeren werden künstlich konstruiert – mit Hilfe von Propaganda, der Unterstützung durch bestimmte Bevölkerungsgruppen, und durch manipulierte Meinungsumfragen und Wahlen.

    Der Krieg zwischen Russland und der Außenwelt ist ein zentraler politischer Mythos. In Wirklichkeit sind die, die der Staatsmacht am nächsten stehen, gleichzeitig am besten in die Außenwelt integriert. Studien über die russische Elite zeigen, dass ihre Einstellung westlichen Ländern gegenüber zwar negativ und von Ressentiments und Unzufriedenheit mit der ihnen entgegengebrachten Gastfreundschaft geprägt ist, aber sie orientieren sich dennoch am Westen.

    Die Abgeordneten des russischen Parlaments verteidigen seit vielen Jahren das Recht, Immobilien im Ausland zu besitzen. Für die, die von der jetzigen Situation in Russland am meisten profitieren, ist der Weg in den Westen praktisch alternativlos – denn ihre Vermögen werden von den westlichen Rechtssystemen besser geschützt, ihren Kindern wird an westlichen Universitäten eine bessere Bildung geboten, und auch der angestrebte Grad an persönlicher Sicherheit ist nur außerhalb des Landes realisierbar.

    In der Konfliktstrategie, die Russland verfolgt, geht es nicht um den tatsächlichen Einsatz von Gewalt, sondern vor allem um Drohungen und vielsagende Gesten

    Russland ist als Abnehmer von Industrieerzeugnissen und High-Tech-Produkten fest in die Weltwirtschaft integriert. Sowohl die russische Gesellschaft als auch die politische Führungsriege sind persönlich von ausländischen Finanz-, Rechts- und digitalen Infrastrukturen abhängig. Aus einer solchen Position heraus ist es schwierig, auf Unabhängigkeit und eine Führungsrolle in internationalen Beziehungen zu bestehen.
    Aber Russlands Regierung will ihre Unabhängigkeit und Führungsrolle trotzdem behaupten. Und weil es nicht gelingt, das mit positiven „Trümpfen“ – etwa ökonomischem Gewicht und Einfluss – zu erreichen, spielt sie negative aus, die auf die eine oder andere Art mit Konflikten zu tun haben. Gerade in Konfliktlagen weiß Russlands Führungsriege um die wirksamsten Knöpfe, die sie im internationalen Dialog drücken kann. In der Konfliktstrategie, die Russland verfolgt, geht es nicht um den tatsächlichen Einsatz von Gewalt, sondern vor allem um Gewaltpotenzial – um Drohungen und vielsagende Gesten.

    Werte versus Preise

    Bei einer solchen Herangehensweise eignet sich absolut alles als Waffe oder Konfliktwerkzeug, was den „Partnern der Gegenseite“ wehtut: Zum Einsatz kommen da Truppenmanöver an der ukrainischen Grenze, Meldungen über neue Waffenarten und andere Kampfansagen. Russland ist für Westeuropa einer der wichtigsten Energielieferanten – also wird auch dieser Hebel in Bewegung gesetzt. Alexander Lukaschenkos Missbrauch von Flüchtlingen als Waffe gegen die EU löst dort Proteste aus – also wird Russland dieses grausame Spiel zumindest nicht verhindern. In diesem Fall wird der belarussische Diktator selbst zu einer Waffe in russischer Hand. Was überaus praktisch ist: Man kann eine Beteiligung an dem Konflikt jederzeit von sich weisen.

    Bedeutende Organisationen und Personen innerhalb Russlands, einschließlich Memorial, werden ebenfalls zur gültigen Währung. Alle Mittel, mit denen man Aufsehen erregen und ein öffentliches Gefecht mit dem Gegner provozieren kann, sind recht. Im Fall von Memorial geht es den russischen Politmanagern nicht so sehr darum, was diese älteste Menschenrechtsorganisation Russlands im Einzelnen tut, als vielmehr um deren Bekanntheit in Europa, vor allem in Deutschland, wo die Verbrechen des Totalitarismus ebenfalls ein sehr wichtiges – und schmerzhaftes – Thema sind. Diese Bekanntheit „funktioniert“ bereits: Die Drohung, Memorial aufzulösen, hat in Deutschland öffentliche Reaktionen ausgelöst. Der Außenminister gab eine scharfe Erklärung ab (allein die Möglichkeit einer Schließung dieser Organisation bezeichnete er als erschütternd), und Personen des öffentlichen Lebens, Russlandforscher und Historiker haben bereits offene Briefe zur Unterstützung ihrer russischen Kollegen verfasst.       

    Je prominenter eine Person oder Organisation ist, desto schwerer wiegt sie in der Konfliktstrategie. Dabei wäre es falsch zu glauben, dieser Handel verlaufe geradlinig: Wir geben euch eine Spielfigur, ihr gebt uns eine – wie beim Austausch von Spionen oder der Ausweisung von Diplomaten. Natürlich hätte Russland gern, dass Deutschland Nord Stream 2 noch unter der aktuellen Kanzlerin zertifiziert. Russland weiß aber auch, dass es aus formalen Gründen diesen Prozess nicht beschleunigen kann, der noch dazu aufgrund anhaltender Diskussionen in und außerhalb der EU erschwert wird (in das Wortgefecht rund um die Pipeline hat sich jetzt auch Großbritannien eingeschaltet).

    „Ausländische Agenten“ und „unerwünschte“ Organisationen als Geiseln

    In der Konfliktstrategie, die die derzeitige Führungsriege des russischen Staates gewählt hat, muss den Gegnern deutlich gemacht werden, dass auf Sanktionen und andere Druckmittel seitens des Westens eine Reaktion erfolgt. Diese Reaktion kann in der Regel nicht symmetrisch sein, dafür ist Russlands ökonomisches und politisches Gewicht zu gering. Trotzdem kann die Antwort schmerzhaft sein, denn „ausländische Agenten“ und „unerwünschte“ Organisationen erinnern an Geiseln. Die Einstufung von Alexej Nawalnys Organisation und Regionalbüros als extremistisch erfolgte im vergangenen Frühling direkt nachdem die USA ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland angekündigt hatten. Mit dieser Geste wälzte die russische Regierung einen Teil der Verantwortung für das Schicksal des Politikers und seiner Anhänger auf den Westen ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Kreml als Reaktion auf den Druck von außen Jagd auf einen westlichen „Agenten“ im eigenen Land veranstaltet.

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  • Blick in das Innere von Belarus

    Blick in das Innere von Belarus

    Bunt bestickte Kissen und Tücher, Teppiche an den Wänden, grelle Fototapeten und Plüschtiere, Gardinen mit traditionellen Mustern und Ornamenten – dazwischen ältere Frauen mit Kopftüchern oder Männer mit Schirmmütze. Ein belarussische Fotograf reist seit Jahren durch seine Heimat und fotografiert die traditionellen Inneneinrichtungen und Wohnräume von Dorfbewohnern, die sich durch eine Mischung aus Folklore, Tradition und Modernität auszeichnen und viel über das ländliche Belarus erzählen. Es ist eine Kultur, die zusehends verschwindet. 

    Der Fotograf, der mehrfach für seine Arbeit mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, hat sich vorgenommen, diese Kultur fotografisch zu bewahren. In seiner Fotografie und Kunst beschäftigt er sich häufig mit Fragen von Identität, Brauchtum und archaischen Ritualen in seiner Heimat. 

    Mohnblumen auf Tassen und Tischdecken: Bei Wjaljanzіna Wassiljeuna Tscharnuschewitsch, zuhause im Dorf Chwajensk im Süden von Belarus / Foto © Anonym

    dekoder: Wie ist Ihr Fotoprojekt  Traditioneller Wohnraum entstanden?

    Fotograf: Vor etwas mehr als zehn Jahren konnte ich bei der Arbeit an anderen Fotoprojekten wie beispielsweise Pahanstwa (dt. Heidentum) beobachten, wie das belarussische Dorf sozusagen visuell verschwindet: die Farben der Häuser und Einrichtungen, die alte Art, Wohnraum gemütlich zu gestalten, die Wände mit den Familienfotos. Damit verschwindet auch die Bedeutung der Familie, in der die Traditionen und ein bestimmtes Wertesystem wichtig waren. In jedem Haus gab es eine Bilderwand mit Ikonen und Fotos aller Verwandten; gestickte oder handgenähte Ruschniki und Bilder, handgewebte oder handgeknüpfte Wandteppiche. Diese Kultur verschwindet zusehends, zusammen mit der ältesten Generation. Wenn die Großmutter stirbt, werfen die Kinder und Enkel praktisch alles weg und renovieren das Haus nach ihrem Geschmack, bis die alte Ästhetik vollständig zerstört ist. 
    Und mir als Fotograf ist klar: Wenn dieses Thema in Belarus niemand aufgreift, wenn das niemand dokumentiert und systematisiert, dann wird eine riesige Inselwelt der visuellen Kultur verlorengehen. Im Moment liegt das Projekt wegen Corona natürlich brach: Wenn ich, Gott behüte, infiziert in ein Dorf kommen würde, dann würde im schlimmsten Fall das ganze Dorf sterben.

    Wie finden Sie die Häuser mit solch außergewöhnlichen Einrichtungen?

    In jedem meiner Projekte gibt es eine Art Lotsen. In diesem Fall begann alles mit der alten Kazjaryna Pantschenja aus dem Dorf Pahost, das im Südosten von Belarus liegt. Mit ihr verbindet mich eine herzliche Freundschaft. Ihr stehen im Umkreis von 50 Kilometern alle Türen offen! Als Respektsperson kommt sie wirklich überall rein, alle kennen sie. Sie sagt dann einfach mal: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“
    Für mich ist das ein großes Glück, weil ich nicht stundenlang alles erklären und Vertrauen aufbauen muss. Das verkürzt die Aufwärmphase auf fünf Minuten, und das ist viel wert: So kann ich pro Tag sieben bis zehn Fotos machen. Wenn ich einfach die Dörfer abklappern würde, würde ich eine, höchstens zwei Sessions pro Tag schaffen. 
    Außerdem ist es wichtig, überraschend bei den Leuten aufzutauchen, dann sieht das Inventar natürlich aus. Manchmal verwandelt sich ein Haus vor deinen Augen in ein mustergültiges Vorzeigearrangement, alles wird aufgeräumt und geputzt – aber solche Fotos passen nicht in mein Projekt, die mache ich nur so und schenke sie den Hausbewohnern. Die Traditionellen Wohnräume sind etwas anderes. 
    Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie. Ich möchte vielmehr zu den Wurzeln der Fotografie zurückkehren, den Dreck und die Details einfangen, die man normalerweise nicht sieht. Ganz zu Beginn war das der wichtigste Unterschied der Fotografie zur erhabenen Kunst der Malerei – das Festhalten und die Produktion von Realität in ihrer authentischen Form. 

    Wie ist diese spezielle Form der Inneneinrichtung in Belarus entstanden?

    Man kann sagen, es ist eine Kombination aus den materiellen und kreativen Möglichkeiten der Hausleute und den jeweiligen regionalen Traditionen. Aber es gibt definitiv immer Elemente, die in ganz Belarus gleich sind: sehr viele Familienfotos in einem gemeinsamen Rahmen, die praktisch alle Generationen zeigen, gestickte traditionelle Ornamente oder Alltagsszenen. Die Farben der Wände sind dagegen überall anders. Während man im östlichen Belarus immer bunte Tapeten hat und viele bunte, handgewebte Wandteppiche und Ruschniki aufhängt, sind die Wände im Westen einfarbig, meistens grün oder blau. Und weil zwei Kriege nicht nur die Menschen getötet, sondern auch ihre Holzhäuser zerstört haben, sind die Möbel und Einrichtungsgegenstände ärmlich und spärlich und wiederholen sich oft von Haus zu Haus.

    Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land – findet man diese Form der Einrichtung nur in Dörfern oder auch in Städten?

    Wie in anderen Ländern ist auch in Belarus der Prozess der Urbanisierung, der vor allem am Ende des Zweiten Weltkrieges von der sowjetischen Führung vorangetrieben wurde, noch nicht abgeschlossen. Derzeit leben nur 25 Prozent der Menschen in Dörfern, drei Viertel der Bevölkerung sind Städter. 
    Spricht man über die Dynamik, so war das in den letzten 60 Jahren eine Revolution: 1959 haben noch 5,5 Millionen Menschen im Dorf gelebt und 2,5 Millionen in der Stadt. Das heißt, heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Es kommt deswegen vor, dass die Kinder der Dorfbewohner die visuelle Kultur der älteren Generation auch in die Stadt mitgebracht haben. 

    Wie reagieren die Leute, wenn Sie sie in ihrem Wohnzimmer fotografieren wollen?

    Na ja, für sie bin ich irgendein Herr Wichtig aus Minsk, der mit einem fertigen Foto im Kopf ankommt und nur ins Haus reingehen muss, den Bewohner hinsetzen, die Fenster schließen, damit das Licht stimmt – und fertig. Die Aufnahmen selbst sind schnell gemacht, fünf bis zehn, maximal 15 Minuten. Es gibt daher auch nicht wirklich ein Gespräch: Drehen Sie den Kopf, setzen Sie sich aufs Bett, danke für die Aufnahmen. Und wohin soll ich die Fotos schicken – denn praktisch alle Teilnehmer bekommen entwickelte Fotos geschenkt. In vielen Fällen waren die Leute schon gestorben, wenn ich ihnen ein paar Monate später die Fotos bringen wollte … 

    Findet man auch bei der jüngeren Generation solche Inneneinrichtungen?

    Ich glaube, es gibt bei uns kein Traditionsbewusstsein, und angesichts des rasenden Tempos der Urbanisierung fehlte das vielleicht schon von Anfang an. Jede Generation der letzten 100 Jahre hat gelernt, an einem neuen Ort zu leben, unter neuen Bedingungen und mit einem anderen Lebensstandard, und vor allem: immer in einem neuen Haus. Die Großeltern lebten in einem Holzhaus im Dorf, ihre Kinder zogen in ein Zimmer im Wohnheim oder in eine Chruschtschowka, deren Kinder wiederum wohnten erst mal in einer Mietwohnung und erwarben oft erst später Eigentum. Aber bevor sie einzogen, machten sie auf jeden Fall Euroremont, kauften Möbel von IKEA und brachten Hängedecken aus Plastik an. So ganz pauschal gesagt. Niemand wollte das alte Zeug erben, wo man sich doch in Belarus für eine ländliche Herkunft immer geniert hat, was ein zusätzlicher Grund dafür war, die visuelle Kultur des Dorfes hinter sich zu lassen. 
     

    Zwischen bestickten Kissen auf dem Sofa: Wolha Nikalauena Mahnawez und ihr Ehemann, der das Dorfoberhaupt ist, in Kudrytschy / Foto © Anonym

     

    In Chwajensk: Tamara Lukjanauna Tscharnuschewitsch in ihrem Wohnzimmer / Foto © Anonym

     

    Matrona Filipauna Kaschkewitsch vor einer Panorama-Fototapete, in Pahost, mehr als 100 Kilometer östlich von Minsk / Foto © Anonym

     

    Ruschniki, Kissen, Plüschtiere – Kazjaryna Pantschenja in Pahost. Wie der Fotograf im Interview erzählt, öffnete sie ihm viele Türen in den Dörfern im Umkreis: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“ / Foto © Anonym

     

    In Pahost Iwan Zimafejewitsch Shochna an einem Holztisch, hinter ihm ein Wandbild mit Fransen / Foto © Anonym

     

    Im Süden von Belarus, im Dorf Chlupin: Hanna Akimauna Totschka. Unter dem Rahmen mit Familienbildern hängt ein Zettel mit groß gedruckten Notrufnummern / Foto © Anonym

     

    Hanna Ryhorauna Shuk vor einer modern tapezierten Wand. Auf den Sesseln liegen traditionelle Häkeldeckchen, Saruddse / Foto © Anonym

     

    Im Dorf Láchauka: Hanna Kirylauna Tschapjalewitsch auf ihrem Sofa / Foto © Anonym

     

    Schwerer Wandteppich, leichte Kissen: Maryja Michailauna Sankewitsch in Pahost / Foto © Anonym

     

    Mit Zierkissen und Stickdecken lieber zurückhaltend: Iwan Iwanawitsch Lewanjuk in seinem Haus / Foto © Anonym
    Vor Kissenburgen: Wolha Dsmitryjeuna Jakuschewitsch im Dorf Tschernіtschy / Foto © Anonym

     

    Rotes Telefon, geblümte Gardinen: Maryja Paulauna Holad in Chwajensk  / Foto © Anonym

     

    „Im Westen sind die Wände einfarbig“, sagt der Fotograf. Bei Maryja Filipauna Mamai im Dorf Saruddse sind sie in Brauntönen gehalten / Foto © Anonym

     

    Iryna Franzauna Simnizkaja in ihrem Haus im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Litauen vor holzvertäfelter Wand in Grün / Foto © Anonym

     

    „Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie“, sagt der Fotograf. Krywitschy: Dorfbürgermeister Mikalai Serafimawitsch Lewadouski in seinem Haus / Foto © Anonym

     

    Kanstanzinauka im Nordwestenvon Belarus: Nadseja Iwanauna Katowitsch auf ihrem Sofa, das mit Häkeldeckchen dekoriert ist / Foto © Anonym

     

    Maryja Michailauna Kusmitsch mit ihrer Katze in ihrem Haus in Pahost / Foto © Anonym

     

    Ikonenbilder umhüllt von einem Ruschnik: Natalja Dsmitryjeuna Kusmitsch vor ihrer Küchenwand in Pahost / Foto © Anonym

     

    Zwischen geblümten Vorhängen: Michail Sacharawitsch Tschetschko in Pahost / Foto © Anonym

    Fotos: Anonym
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Text: dekoder-Team (das Interview wurde schriftlich geführt)
    Veröffentlicht am 18.11.2021

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    Heiliger Bimbam

    Ein Mädchen kniet vor einem Mann, er blickt in die Kamera, sie kehrt dem Betrachter den Rücken zu, gut sichtbar auf ihrer Jacke die Aufschrift „Polizija“. Das Bild soll Oralsex imitieren. Nachdem es im Internet veröffentlicht worden war, wurden beide festgenommen: Der Blogger Ruslan Bobijew und seine Freundin Anastasia Tschistowa. Gegen beide wurde schließlich ein Strafverfahren wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ eingeleitet. Denn links im Hintergrund des Bildes gut sichtbar ist die Kathedrale auf dem Moskauer Roten Platz (die inzwischen übrigens hauptsächlich als Museum dient, nur ab und zu finden Gottesdienste statt). Ein Moskauer Bezirksgericht verurteilte den Blogger Ruslan Bobijew und seine Freundin Anastasia Tschistowa schließlich zu 10 Monaten Haft. Zudem, so berichtet die NGO OWD-Info, soll Bobijew nach Verbüßung der Haftstrafe nach Tadshikistan abgeschoben werden. 

    Nur kurz darauf musste das Instagram-Model Irina Wolkowa in Sankt Petersburg in einer Anhörung vor Gericht aussagen – sie hatte auf einem inzwischen gelöschten Post im Stringtanga vor der Petersburger Isaakskathedrale posiert, sie kniete am Boden, rechts neben ihr blickte ein Mann in die Kamera, der der Kirche den Rücken zukehrte. Wolkowa wurde ebenfalls wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ angeklagt, ihr droht eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr.  

    Nun kann man darüber streiten, wie geschmackvoll solche Fotos sind, meint Kirill Martynow in der Novaya Gazeta – aber inwiefern verletzen sie tatsächlich religiöse Gefühle? Und was steckt eigentlich hinter einer solchen Anklage?

    Mit dem Fall Bobijew-Tschistowa wird ein Exempel statuiert. Er steht für die Tendenz der willkürlichen Sakralisierung des öffentlichen Raums – und zwar da, wo dies der Staatsmacht nützt. 

    Im städtischen Alltag entstehen so etwas wie „Zonen“ und „Radien“ des Göttlichen, die in keinem Gesetz erfasst sind, aber nach den unausgesprochenen Regeln der Russischen Föderation ihre Rechte einfordern. 
    Religiöse Gefühle überlagern sich mit dem „Stolz der Uniform“, sakrale Bauten mit der Präsenz eines polizeilichen Geistes, der Schlagstock mit dem Kreuz. Sie unterstützen einander bei der Urteilsfindung und schaffen Präzedenzfälle für die Sakralisierung der Macht. 

    Zeitgleich posiert TV-Moderatorin Olga Busowa auf dem Balkon ihres Hotels in Wolgograd im Badeanzug. Im Bildhintergrund zu sehen ist die Alexander-Newski-Kathedrale, doch Anklage gegen Busowa wurde bisher Gott sei Dank keine erhoben. In diesem Fall gilt die Regel, dass die Kirche einfach nur eine städtische Kulisse ist, dass das Heiligtum nicht in das Foto eingedrungen ist und keiner der Gläubigen Schaden genommen hat, zumindest nicht von strafrechtlicher Relevanz.  

    Wer diese Gläubigen eigentlich genau sind, bleibt ein Rätsel. Ohne Bastrykin Tipps geben zu wollen, wie er die Aufklärungsquote systematisch verbessern und zugleich auch die Bravheit der Bevölkerung erhöhen kann – aber: Fotos von halbnackten Menschen vor Russlands historischen Sehenswürdigkeiten, einschließlich Kathedralen, gibt es im Internet zu Tausenden.     

    Das Hauptproblem an der Sache ist, dass es keine klare Auflistung gibt, was jetzt neben Kirchen beziehungsweise mit Kirchen im Hintergrund verboten ist. Genauso wie es keine Antwort auf die Frage gibt, was für Formen der Verletzung religiöser Gefühle den Strafverfolgungsbehörden noch einfallen werden. Soll der öffentliche Verzehr eines Schaschliks während der Fastenzeit strafbar sein? Intuitiv würde man sagen, das wäre absurd, aber kann uns ein Experte erklären, worin sich ein Schaschlik in der Fastenzeit von einem Stringtanga vor einer Kathedrale unterscheidet? Und ob sich etwas ändert, wenn man vor einer Kathedrale während der Fastenzeit einen Schaschlik isst und sich dabei fotografieren lässt? Schreckliche, verdammte Fragen.     

    Die offizielle Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche scheint in diesem Kontext zu sein, dass das alles sehr notwendige, richtige und aktuelle Themen sind, die die Position der Kirche als geistliches Machtorgan stärken. Die biblische Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin hat keine Gültigkeit: Die anonymen Gläubigen haben genug Steine, und schmeißen sie auf jedes Ziel entlang der schwankenden Linie des Ermittlungskomitees.   

    Es bleibt aber nicht bei den Kathedralen. Vor einem Monat wurde in der Oblast Tscheljabinsk ein Obdachloser festgenommen, weil er am Ewigen Feuer seine Kleidung trocknen wollte. Allem Anschein nach befindet er sich nach wie vor in U-Haft – offenbar das einzige Dach über dem Kopf, das der Staat ihm anzubieten hat.    
    Oder auch das Beispiel des RGGU-Studenten Gleb Marjassow. Er hatte bei einer Protestaktion am 23. Januar im Alleingang „die Fahrbahn blockiert“ und dafür die berühmten zehn Monate Straflager aufgebrummt bekommen.

    Es zeichnet sich grundsätzlich eine Tendenz ab, Angeklagte in minderschweren, pseudopolitischen Fällen zu Freiheitsstrafen zu verurteilen. Auch wenige Monate Straflager sind besser als nichts – das ist die Devise der Gerichte. 

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  • Corona: „Die Leute sind desorientiert“

    Corona: „Die Leute sind desorientiert“

    Corona hat Russland derzeit fest im Griff: Nahezu täglich werden neue Negativrekorde bei Neuinfektionen und Sterbezahlen gemeldet, am gestrigen Donnerstag erst verzeichneten die Behörden mit 1159 Toten einen neuen Höchstwert, landesweit gab es mehr als 40.000 Neuinfektionen. Ab dem 30. Oktober soll es russlandweit arbeitsfreie Tage geben, einzelne Regionen führten sie schon ab dem 25. Oktober ein. Seit gestern ist auch Moskau bereits weitestgehend im Lockdown: Schulen und Geschäfte sind zu, Restaurants und Cafés dürfen Speisen und Getränke nur zum Mitnehmen anbieten.

    Behörden und Regierung versuchen so, die vierte Welle in den Griff zu bekommen. Denn die offizielle Impfquote in Russland ist mit rund 35 Prozent (Stand 22.10.2021) nach wie vor niedrig – und das, obwohl mit Sputnik V im August 2020 der weltweit erste Impfstoff gegen das Coronavirus registriert wurde.

    Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada, spricht im Interview mit RFE/RL zu den möglichen Gründen für die hohe Skepsis, mit der die russische Gesellschaft auf die Impfung reagiert. Lewada veröffentlichte den Text auch auf der eigenen Seite und ergänzte ihn um aktuelle Informationen.

    RFE/RL: Als das Lewada-Zentrum im April 2021 eine Studie über die Einstellung der Russen zur Impfung veröffentlichte, waren weniger als zehn, eher nur fünf Prozent der Bevölkerung Russlands vollständig geimpft. Jetzt sind es etwas mehr als 30 Prozent [offiziell etwa 35 Prozent am 22.10.2021 – dek], doch die tägliche Zahl der Toten, die damals irgendwo um die 100 lag, ist inzwischen sogar den offiziellen Daten zufolge zehnmal so hoch. Warum führt die katastrophale Situation mit Ansteckungen und der hohen Sterblichkeit durch Corona bei den Russen nicht zum massenhaften Wunsch, sich impfen zu lassen?

    Denis Wolkow, Lewada: Solche Studien haben wir später wiederholt, zum Beispiel im Juli, aber die Einstellung zur Impfung ist in Russland sehr stabil. Generell will sich die Mehrheit – rund 50 Prozent – eben nicht impfen lassen. Nur Anfang Sommer, nach einer großen Kampagne, kam ein klein wenig Bewegung rein, ein bisschen mehr Leute erklärten sich bereit zur Impfung.
    Aber auch wenn die Leute durchaus beunruhigt sind, auch wenn sie erzählen, dass rundherum Bekannte und Verwandte sterben, wollen sich viele trotzdem nicht impfen lassen, weil sie den Worten der Staatsmacht nicht glauben – erstens, dass diese Krankheit gefährlich sei, und zweitens, dass die Impfung schütze.

    Warum das passiert? Ich glaube, dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens das bei bestimmten Themen fehlende Vertrauen in die Staatsmacht – es sind bis zu 40 Prozent, die der Regierung stillschweigend misstrauen und ihre Entscheidungen nicht mittragen. Das heißt automatisch, dass sie alles, was von der Regierung kommt, jede ihrer Initiativen ablehnen. Jene, die der Staatsmacht misstrauen, trauen weder der Impfung, noch dem elektronischen Wahlsystem, noch der Installation von Kameras [in Wahllokalen – dek]. Jede Initiative stößt auf Widerstand.

    Sie glauben den Worten der Staatsmacht nicht – erstens, dass diese Krankheit gefährlich sei, und zweitens, dass die Impfung schütze

    Zweitens sind in Russland zu wenige Beamte, einschließlich Präsident und Gouverneure, mit gutem Beispiel vorangegangen. Sie haben es versäumt, sich vor laufender Kamera impfen zu lassen, um zu zeigen, dass das wichtig ist, dass sie es auch selber machen, dass es ungefährlich und notwendig ist. In Fokusgruppen haben wir oft gehört: „Na, wenn sie sich nicht mal selbst impfen lassen, warum verlangen sie es dann von uns.“

    Ein dritter wichtiger Grund ist, dass zu Beginn der Impfkampagne über einen langen Zeitraum sehr widersprüchliche Informationen verbreitet wurden. Es wurden komplett unterschiedliche Signale gegeben, auch im Fernsehen. Obwohl das mittlerweile nachgelassen hat, gibt es das immer noch, dass zum Beispiel jemand sagt, die Impfung sei unnötig, die natürliche Immunität reiche aus, und die müsse man daher mit Atemübungen und dergleichen stärken. All diese Botschaften wiederholen die Leute in den Fokusgruppen. Es gab von Anfang an kein eindeutiges Signal, dass die Impfung unbedingt notwendig ist, dass nur sie wenigstens irgendwie die Gefahr entschärfen kann. Die Leute waren desorientiert, viele sind immer noch desorientiert.

    Zu Beginn der Impfkampagne wurden über einen langen Zeitraum sehr widersprüchliche Informationen verbreitet. Es wurden komplett unterschiedliche Signale gegeben

     

    Daher glaube ich, dass nur eine allgemeine Impfpflicht funktionieren kann – aber die Regierung kann sich noch nicht dazu entschließen, weil sie fürchtet, an Popularität zu verlieren. Und das kann tatsächlich passieren, weil der Wunsch, sich nicht impfen zu lassen ja in einem stabilen Ausmaß fortbesteht.

    Corona-Impfung in Moskau. „Die meisten Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, sind keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn.“ / Foto © mos.ru CC BY 4.0

    Hier muss man wissen, dass die meisten Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn sind, sondern Leute, die sich nicht festlegen können, die sich in dieser widersprüchlichen Informationsflut nicht mehr zurechtfinden und sagen: „Nein, warten wir lieber ab, das dauert noch ein wenig, das braucht noch ein paar Studien.“ So geht das schon seit einem Jahr, und im Grunde ändert sich nichts.

    Sie erwähnen Misstrauen gegenüber der Staatsmacht. Mein Umfeld ist natürlich soziologisch nicht relevant, aber wenn wir uns Leute ansehen, die in Opposition zur Regierung stehen, die sogenannten Liberalen, dann sind von denen fast alle geimpft. Wie passt das mit dem zusammen, was Sie erzählen?

    Stimmt, das gibt es. Ich betone noch einmal, ich spreche von der Masse, von der Bevölkerung als ganzer. Und ja, es gibt unter jenen, die der Regierung misstrauen, Geimpfte, und es gibt Ungeimpfte unter jenen, die der Regierung sehr wohl vertrauen.

    Die Mehrheit jener, die sich nicht impfen lassen wollen, sind keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn, sondern Leute, die sich nicht festlegen können, die sich in dieser widersprüchlichen Informationsflut nicht mehr zurechtfinden

    Das, was Sie beschreiben, ist eine ziemlich dünne Gesellschaftsschicht, für die medizinische und wissenschaftliche Autorität einen hohen Stellenwert hat. Das sind Leute, die die Impfung und ihre Gefährlichkeit selbst einschätzen können. In der Masse können die Leute diese Entscheidung aber nicht selbständig treffen: Sie brauchen Rat, sie brauchen ein Signal von oben, dass es unbedingt erforderlich ist, ungefährlich etc. Ohne solche eindeutigen Signale ist der Mensch in der Masse nicht impfbereit, weil er sich selbst kein Urteil bilden kann und die Entscheidung immer weiter aufschiebt.

    Woher nehmen die Impfgegner die Informationen, die sie ihre Entscheidung gegen die Impfung treffen lassen? Sieht man sich Publics und Gruppen von „Hardcore-Impfgegnern“ an, dann findet man dort massenhaft Links auf ausländische Versionen von Russia Today, wo zum Beispiel die Notwendigkeit der Impfung ständig in Zweifel gezogen wird und Fälle breitgetreten werden, in denen Menschen nach der Impfung starben oder mit Komplikationen zu kämpfen hatten. Außerdem wissen wir von dem Skandal, dass eine regierungsnahe russische Werbeagentur versucht hat, westeuropäische Blogger für Kritik am Impfstoff von Pfizer zu bezahlen. Dass Russland sozusagen ein doppeltes Spiel spielt und einerseits die Impfung im Westen zu torpedieren versucht, andererseits die eigene Bevölkerung zu einer Impfung mit Sputnik bewegen will, trägt das dazu bei, dass Russland jetzt bei der Durchimpfungsrate hinterherhinkt?

    Ich glaube, das spielt schon auch eine Rolle. Dazu muss man noch nicht einmal auf Russia Today gehen. Die Strategie, im Rahmen derer es hieß, nur unsere, nur die Impfung aus Russland sei gut und alle anderen schlecht, „also lasst euch mit dem russischen Impfstoff impfen“, ging nach hinten los. Wie reagieren die Menschen auf diesen unlauteren Wettbewerb, in Russland und bis zu einem gewissen Grad bestimmt auch im Westen?

    Mit Sarkasmus: „Na klar, alles lauter Deppen rundherum, nur wir sind so schlau.“

    „Die Strategie „die einzige gute Impfung ist unsere“ ging nach hinten los“

    Die schmutzige Kampagne gegen ausländische Impfstoffe versetzte dem eigenen einen Schlag. Die Leute sagen, alles sei schlecht, alles sei unfertig, roh, man müsse das alles noch weiter testen, prüfen und erst dann könne man dem Impfstoff vertrauen, wahrscheinlich auch dem eigenen. Deswegen brauchen wir sowohl europäische als auch internationale Nachweise der Wirksamkeit jedes verfügbaren Impfstoffs. Das wird natürlich auch nicht alle sofort überzeugen, aber es wäre ein Argument: Seht, die Weltgemeinschaft hat den russischen Impfstoff anerkannt, und wir haben andere Impfstoffe anerkannt. Das würde den Leuten, die meinen, nichts sei fertig, nichts wirke, man müsse noch abwarten, einen Teil ihrer Ängste nehmen. Wichtig ist die Botschaft, dass wir nicht mehr warten dürfen, dass die Impfung jetzt vorgenommen werden muss.

    Gibt es Leute, denen es wichtig ist, womit sie geimpft werden, mit Sputnik oder mit westlichen Impfstoffen, die offiziell in Russland bisher nicht oder nur in extrem begrenzten Mengen verfügbar sind?

    Ja, die gibt es, aber diese Gruppe ist klein. Grundsätzlich ist es so, wenn das Vertrauen in die Impfung fehlt, dann betrifft das alle Impfstoffe. Aber es gibt ein paar Prozent, die bereit wären, sich mit ausländischen Impfstoffen impfen zu lassen, und wahrscheinlich würden diese paar Prozent auch einen gewissen Effekt erzielen. Es ist wichtig, mit allen Gruppen zu arbeiten, verschiedene Gruppen reagieren auf verschiedene Botschaften. Wir müssen jeden erreichen, für jede Gruppe die richtigen Argumente finden.

    Wenn das Vertrauen in die Impfung fehlt, dann betrifft das alle Impfstoffe

    Am Anfang der Impfkampagne waren die Signale, wie Sie sagen, wirklich widersprüchlich, aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Putin gab offiziell bekannt, dass er sich mit Sputnik impfen ließ, und appelliert an alle, das auch zu tun. Viele Beamte haben sich wie ihre Kollegen im Westen vor laufender Kamera impfen lassen, aber trotzdem zeigt sich keine Wirkung. Von diesen 50 Prozent, die sich nicht impfen lassen wollen – wie viele von denen sind prinzipielle Impfgegner, und auf wie viele haben diese Signale aus anderen Gründen keinen Effekt?

    Schwer zu sagen, aber anhand unserer Daten gehe ich davon aus, dass etwa 15 Prozent der Impfunwilligen überzeugte Impfgegner sind, die auch alle anderen Impfungen ablehnen und ihre Kinder nicht impfen lassen. Aber der Großteil sind Leute, die sich nicht festlegen können, die den aktuellen Aufrufen keinen Glauben schenken, weil gerade noch ganz andere Aufrufe galten.

    Der Großteil sind Leute, die sich nicht festlegen können, die den aktuellen Aufrufen keinen Glauben schenken, weil gerade noch ganz andere Aufrufe galten

    Noch etwas ist wichtig: Im Vergleich zu anderen Ländern wurden in Russland zum Beispiel die strengen Beschränkungen nur sehr kurz und nur ganz zu Beginn der Pandemie verhängt. Dann wurden sie aufgehoben, zum Teil, glaube ich, weil die Wirtschaft ziemlich schwach ist, und zum Teil, weil die Leute diese Beschränkungen sehr schlecht aufgenommen haben – die Umfrageergebnisse verschlechterten sich, angesichts dieser Beschränkungen gab es viele negative Bewertungen. Keine Beschränkungen sind auch eine Art Signal an die Leute. Die Leute sagen: „Na, und jetzt? Nichts passiert. Nichts ist verboten. Wieso sollen wir eigentlich etwas tun, wenn es sowieso keine Beschränkungen gibt, wenn das Leben ganz normal weitergeht, wenn es schon ein paarmal geheißen hat, wir hätten die Pandemie besiegt?“

    Keine Beschränkungen sind auch eine Art Signal

    Das Ausbleiben strenger Beschränkungen, die die Leute vor die Wahl stellen würden: entweder Impfung und Rückkehr in ein normales Leben oder weiter im Lockdown sitzen – auch das motiviert die Leute nicht zur Impfung.

    Kann man den Schluss ziehen, dass die Menschen in Russland mehr oder weniger genauso gestrickt sind wie in anderen Ländern? Dass die Russen keine historischen Ressentiments gegen die Impfung haben, aber in Russland wurde eben von Anfang an alles falsch gemacht, und jetzt lässt sich das sehr schwer korrigieren?

    Ja, irgendwie so scheint es zu sein.

    Sie sagen, rund 35 Prozent der Menschen wollen sich Ihren Daten zufolge „noch“ nicht impfen lassen, weil sie sich noch nicht dazu entschieden haben. Das bedeutet, dass man zu den ca. 30 Prozent, die aktuell geimpft sind, gut und gern noch mindestens 20 Prozentpunkte dazurechnen kann, dann läge die Impfrate gegen das Coronavirus in Russland ungefähr bei 50 Prozent.

    Ja, so kann man das sehen, nicht unbedingt „gut und gern“, aber in absehbarer Zukunft ist das schon eine Ressource, die wir haben. Immerhin sehen wir, dass sich im Sommer die Einstellung der Russen zur Impfung ein kleines bisschen verändert hat. Während die Zahl derer, die die Impfung kategorisch verweigern, fast ein Jahr lang 60 Prozent betrug, sank sie über den Sommer immerhin um 10 Prozentpunkte. Das heißt, man kann die Situation verändern, man braucht eben einfach viele Ressourcen, Überzeugungsarbeit, es braucht eine Informationskampagne, an der Beamte teilnehmen, der Präsident, Leute, denen die Russen vertrauen, Künstler zum Beispiel. Wobei es auch unter den Künstlern viele gibt, die sich nicht impfen lassen wollen, weil sie ja auch Menschen sind wie alle anderen.

    Es braucht eine Informationskampagne, an der Beamte teilnehmen, der Präsident, Leute, denen die Russen vertrauen

    Ohne eine solche Kampagne wird man die öffentliche Meinung natürlich nicht ändern können. Aber ändern kann man sie, es ist nur besonders schwierig, weil zu Beginn die erwähnten Fehler unterlaufen sind. Trotzdem, es ist möglich, man muss es nur mit mehr Entschlossenheit angehen.

    Kann man zusammenfassend sagen, dass es ein Bündel an Maßnahmen gäbe – Lockdowns, die Erweiterung bestimmer Bevölkerungsgruppen, die der Impfpflicht unterliegen, eine weitere Überzeugungskampagne, dass sich alle impfen lassen sollen – die, wenn man sie sofort ergreifen würde, Russlands Durchimpfungsrate auf ein mit anderen europäischen Ländern vergleichbares Niveau anheben könnten, also auf etwas mehr als 50 Prozent?

    Ja, diese Möglichkeit besteht, nur würde es viel länger dauern als in anderen Ländern, vor allem, wenn man Russlands Dimensionen bedenkt. Wir müssen daher mehr und bessere Überzeugungsarbeit leisten, mehr in Kampagnen investieren, vielleicht braucht es irgendwo Zwang, vielleicht irgendwo ein zusätzliches Angebot wie etwa Impfstoffe aus dem Ausland. Wenn das Ziel eine Durchimpfungsrate von 50 bis 60 Prozent ist, dann muss man das alles im Komplex anwenden, aber das wird nicht einfach sein.


     

    Am 19. Oktober räumte auch Wladimir Putins Pressesprecher Dmitri Peskow die Verantwortung der russischen Regierung für das langsame Impftempo ein. In seinem Kommentar zur Aussage von Pjotr Tolstoj, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Staatsduma, dass „der Staat die Informationskampagne zur Covid-Impfung verspielt“ habe, erklärte Peskow, die Regierung „spüre und kenne ihren Teil der Verantwortung“ für diese „Misere“.

    Gleichzeitig wurden einige Details zu den „arbeitsfreien Tagen“ in Russlands Hauptstadt bekannt. So müssen ungeimpfte und nicht Covid-genesene Moskauer über 60 Jahren sowie Menschen mit chronischen Krankheiten für einen präzedenzlos lang andauernden Zeitraum einen Modus der Selbstisolierung einhalten – bis 25. Februar 2022. Für denselben Zeitraum müssen alle Moskauer Arbeitgeber mindestens 30 Prozent ihrer Mitarbeiter (Geimpfte und Genesene wieder ausgenommen) auf Teleworking umstellen, und Dienstleistungsunternehmen müssen bis 1. Januar die Impfung von mindestens 80 Prozent ihrer Angestellten gewährleisten.

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  • Das Zauberding

    Das Zauberding

    Plötzlich gab es das Karussell in Moskau. Nicht irgendeins. Autor Schura Burtin ist aufgesprungen. Colta zeigt Fragmente eines durchgedrehten Sommers.
    Das Karussell war auch beim Burning Man 2019 in der Wüste Nevadas. Wann es sich in Moskau das nächste Mal dreht, erfahrt ihr hier.

    © Instagram/carouselzarya
    © Instagram/carouselzarya


    Gesehen habe ich das Karussell zum ersten Mal im Mai, obwohl ich schon lange davor von ihm gehört hatte. Siggi sagte, Sanjok und er hätten es endlich nach Moskau gebracht, zu irgendeiner Fabrik, ich könne ja kommen und ihnen helfen. Als ich ankam, war das Karussell zerlegt – die beiden Jungs hatten die Hinterachse eines Autos ausgebaut, an der eine Kurbel befestigt wurde, und da schweißten sie Metallringe dran. Von oben aus den Fenstern einer Loft-Bar sahen ihnen angeheiterte Mädchen zu. Siggi überwand seine Verlegenheit und winkte ihnen mit seiner ölverschmierten Hand zu. 

    Es dämmerte schon, als die Jungs die Kurbelwelle wieder einsetzten und die Schrauben anzogen. Im Halbdunkel holte Sanjok ein rotes Pferdchen aus der Garage, stellte es aufs Karussell und setzte sich drauf. Siggi brachte die große Kurbel in Schwung, und das Karussell begann sich zu drehen. Da war mir plötzlich alles klar – nachdem mir zwei Jahre lang verschiedene Freunde davon erzählt hatten und ich nie verstanden hatte, was auf einmal dieser Heckmeck um ein Karussell soll. Ich kletterte auch aufs Karussell, rundherum drehten sich die erleuchteten Fenster, unten schaukelte Siggis knochiges Gesicht, Sanjok lachte glücklich. Die Welt, die sich langsam um uns drehte, war bunt und verheißungsvoll. Einfach, weil Siggi die Kurbel drehte.   

    © Instagram/Carouselzarya
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    Es waren an die 150 Zuschauer da. Es war schon dunkel, Sanjok hatte die Girlande angeknipst. Andrej Figa, ein Petersburger Sänger, den ich noch nie gehört hatte, sang auf dem Karussell wunderschöne Lieder, zwischendurch bat er lachend um einen Richtungswechsel. Siggi und ich standen auf dem Dach der Garage und sahen, dass Sanjok ein Wunder vollbracht hatte – zu unseren Füßen wurde ein berückendes, faszinierendes, irgendwohin führendes Fest gefeiert. Die Leute wussten nicht, woher das alles kam und dass ich vor einer Stunde noch gedacht hatte, das würde alles nichts. Es war einfach schön, ihre Gefühle füllten den Raum. Dann stieg das Publikum auf das Karussell und tanzte zur Musik des DJs, der in der Mitte mit einem riesigen Sperrholz-Laptop rotierte. An der Kurbel des Karussells standen Freiwillige Schlange. „Ich glaube, ich hab noch nie was Schöneres gesehen …“, sagte mein halbwüchsiger Sohn.
    Ich dachte, wenn das Karussell elektrisch wäre, dann wäre nichts besonderes dabei: Der ganze Spaß besteht darin, dass die Leute sich gegenseitig drehen. Das ist wie eine Metapher: Hier kannst du ganz konkret, physisch spüren, dass sich ohne dich nichts bewegt. Mitten in dieser Stadt, in diesem Leben, wo alles auch ohne dich wunderbar läuft. 

    © Instagram/Carouselzarya
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    Am nächsten Tag hatte ich ein Mitteilungsbedürfnis. Ich schickte Nachrichten an ein Dutzend Freunde, aber hatte dasselbe Problem wie alle, die versuchten, von Sarja (dt. Abendrot) zu erzählen. Es klang so banal: In einer Toreinfahrt wird ein Karussell aufgestellt, ein Konzert findet statt, dann wird getrunken und getanzt. Ich wusste nicht, wie ich die Freude rüberbringen konnte, die ich erlebt hatte. Wenn man es sich überlegte, war auch der rotierende Mechanismus aus Metall banal. Ich rief Siggi an. 

    „Du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional“

    Siggi, dreht die Kurbel des Karussells:
    „Ich weiß auch nicht, wie man das in Worte fassen kann. Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Shenja Sergijenko hatte mir ein Ohr abgekaut, dass ich unbedingt hinfahren und es mir anschauen muss. So, wie er es beschrieb, hatten irgendwelche Hippies, mit denen ich ästhetisch nicht viel anfangen kann, irgendein Faschingsdingsbums gebaut. Was geht mich das an? Ich wimmelte ihn immer wieder ab, aber dann hat er mich rumgekriegt. Und dann noch dieses graue, fade Moskau, dieser Halbregen, und ich musste bis nach Tschuchlinka hinaus, und es war spät und ich war schlapp und ich fuhr, schimpfte schrecklich in mich hinein, dass ich nachgegeben hatte, und ich musste lang auf den Bus warten und hasste schon alles, dann verirrte ich mich auch noch in dieser Industriezone. Da stieß ich plötzlich hinter einer Ecke auf das Karussell und dachte: „Meine Fresse.” Weil es mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte, als würde es Zeit und Raum aufbrechen. Weißt du, du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional. Nur kannst du kleiner Depp dir mit deinem zweidimensionalen Bewusstsein nicht erklären, was da los ist – aber du spürst es.“ 

    „Das Karussell ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus“

    Sanjok, Erfinder des Karussells:
    „In Lipezk gab es im Park ein Kino, das Sarja hieß, so eines aus der Sowjetzeit. Meine Eltern erzählten mir, wie sie da in ihrer Jugend hingingen, und ich war später mit Mama oft dort. Dahinter hat man einen wunderbaren Ausblick auf einen Bruch in der Landschaft, weil dort die mittelrussische Platte in die Oka-Don-Ebene übergeht. Der Himmel ist unendlich, der Horizont phänomenal. 
    Na, und das Karussell Sarja ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus. Das Ding steht und läuft gratis. Ich bin auf die moderne Welt nicht wirklich vorbereitet, das ist einfach nicht meins. Mich zieht es immer eher in die Vergangenheit, mit mehr Analogem, mehr Kontakt, ohne Internet, Artificial Intelligence und alldem, was sich in der Welt so tut. Ich mag gern rostiges Eisen.   
    Außerdem ist mir sehr wichtig, dass es hier um Kindheit geht, um ursprüngliche Erfahrungen, Unmittelbarkeit, Artistik, kindliche Phantasie.
    Ich kann das nicht konkret formulieren. Für die ästhetischen Grundlagen ist bei uns Jurka zuständig, frag ihn.“    

    „Es ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür“

    Jura, DJ:
    „Ich lege auf, was sich in den letzten 30 Jahren angesammelt hat. Experimentelle elektronische Musik gab es in den 1990ern und 2000ern massenhaft, in der Zeit habe ich viel aufgestöbert. Nach 2010 dann weniger, weil ich zwei Abschlüsse hatte, Arbeit, Privatleben … Aus den 2010er Jahren hab ich leider nicht so viel Mucke, obwohl ich ab 2013 wieder mehr gesucht habe. Es ist schön, was komplett Neues zu finden, das mit nichts und niemandem in Verbindung steht.     
    Das Karussell ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür und nehme es längst als selbstverständlich hin. Was einem taugt, das muss man auch machen – was es kostet, ist eine andere Frage. 

    Ich frage Jura, ob er zur nächsten Party kommt.

    „Nein, ich werde da ja nicht auflegen, und meine ganze Freizeit brauche ich, um Musik aufzustöbern. Die Ausbeute ist derzeit sehr gering. Letztes Wochenende hab ich 20 Gigabyte gehört, aber nur 15 Tracks gefunden. 15 Tracks nach drei Tagen pausenlosem Hören“, seufzt Jura.
      
    Erst bei diesem Satz merke ich, was für ein völlig abgespaceter Nerd er ist.  

    Aufruf zum Hutwettbewerb und etwas Inspiration dafür auf Instagram © Instagram/Carouselzarya
    Aufruf zum Hutwettbewerb und etwas Inspiration dafür auf Instagram © Instagram/Carouselzarya

    „Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt“

    Olelis:
    „Ich hasse das Wort Publikum. Und wollte schon lange davon weg. Das Karussell weicht die Grenzen auf. Durch das Drehen kann man sich auf jeden Moment einlassen – den Musiker auf dem Karussell sorgsam, feierlich und sanft drehen. Das erzeugt geradezu einen ehrfürchtigen Schauer des Einbezogenseins. Wenn ich die Musiker drehe, fühle ich mich auf wertvolle Weise an dem Prozess beteiligt, möchte im Einklang mit der Musik kurbeln.
    Der sichtbarste Effekt: Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt. Und dann bin ich auf der Bessonniza plötzlich zu einem Lieblingstrack abgehoben – und hab gecheckt, wie das geht, mit dem ganzen Körper, ohne darauf zu achten, wie man aussieht, ob man es kann oder nicht. Es ist eine Art Trance, der Körper bewegt sich von selbst.           

    Die Miete zahlt Sanjok aus eigener Tasche – wobei er sehr auf Unterstützung von Freunden hofft. Wenn zum Beispiel jeder, der bei der Eröffnung war, einmal im Monat fünfhundert Rubel [ca. 6 Euro – dek] beisteuern würde, dann würde das Geld für die Miete und die Künstlerhonorare reichen. Und wir hätten den ganzen Sommer lang dieses Zauberding. Von Gewinn kann sowieso keine Rede sein.“

    Flugblatt-Marketing © Instagram/Carouselzarya
    Flugblatt-Marketing © Instagram/Carouselzarya

    „Das Moskauer Meer“

    „Ich muss zugeben“, schreibt Siggi, „dass wir gar nicht darauf aus sind, noch eine Konzertbühne in Moskau mit Veranstaltungen, Partys, Facebook-Events und Presseaussendungen zu machen. Wir sind für mehr gedruckte Plakate auf grobem Papier, mehr echte menschliche Stimmen, für Mundpropaganda und einfach Zufälle.

    Als Kind träumte ich davon, dass in Moskau ein Meer gebaut würde. Dann wurde ich größer und verstand, dass es hier nie ein Meer geben wird. Aber ein Karussell ist möglich – ein Stückchen romantischer Kommunismus auf einem kleinen Flecken Asphalt. Genau so muss man es sehen.“

    © Instagram/Carouselzarya
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