Es ist Tag acht im russischen Krieg gegen die Ukraine. Aber ist es nur Wladimir Putins Krieg? Bei aller Ohnmacht müssen alle jetzt herausfinden, wo die eigene Verantwortung liegt – und was nötig ist, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können. Der russische Soziologe Grigori Judin spricht darüber im Interview mit Meduza, das hier in Ausschnitten zu lesen ist – und in dem er auch seine Einschätzung zur Proteststimmung darlegt. Er selbst ist am 24. Februar bei einem Antikriegsprotest in Moskau zusammengeschlagen worden.
Swetlana Reiter: [Die unterschwellige Unzufriedenheit, die wir sehen,] steigt langsamer als der militärische Konflikt.
Grigori Judin: Ja, sie steigt nicht schnell genug, aber sie steigt, und es steigt auch die Zahl der öffentlichen Personen, die sich dagegen aussprechen: Abgeordnete, verschiedene Verbände. Prominente versuchen zwar zu schweigen, äußern sich mittlerweile aber immer öfter dagegen als dafür. Das bringt zwar nicht viel, aber immerhin. Sollten diese Äußerungen der subelitären Kreise auf die elitären, näher an der russischen Führung befindlichen übergehen, dann ist klar, was das für Putin heißt. Dann sieht plötzlich alles wie ein irrwitziges Abenteuer mit grauenhaften Folgen aus und einer unausweichlichen Niederlage am Horizont. Deswegen stehen wir jetzt an einem Wendepunkt: Die Welt, in der wir im jetzigen Moment leben, wird es nur sehr kurz geben …
Mir ist klar, dass das Land noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert war. Aber können Sie als Soziologe trotzdem eine Prognose versuchen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir nach diesem Wendepunkt, an dem wir derzeit stehen, den erfreulicheren Weg einschlagen oder das Gegenteil?
Das ist für die ganze Weltgeschichte eine nie dagewesene Situation – nie hat es etwas Derartiges gegeben. Die ganze Welt steht in diesem Augenblick auf der Kippe zu einer ungeheuren Katastrophe, daher verfügen wir über keinerlei logisches Wissen, auf das wir uns stützen könnten. Schon jetzt wird der Welt bewusst, dass am 24. Februar die lange Nachkriegsepoche zu Ende gegangen ist, eine neue Ära ist angebrochen. Das hat Deutschlands Kanzler Olaf Scholz ganz richtig festgestellt: Unter anderem werden wir in dieser neuen Ära auch ein neues Deutschland sehen, das bereit ist, eine neue Verantwortung zu übernehmen.
Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen
Wir stehen heute am Rand eines riesigen Krieges. Seine potenziellen Teilnehmer verfügen über Atomwaffen, und es gibt jemanden, der sogar schon ganz offen damit droht. Wörter wie „Nazis“ und „Entnazifizierung“ sind alles andere als harmlos – in der heutigen Sprache haben sie das Potenzial einer völligen Entmenschlichung und bilden die Grundlage für eine „Endlösung des Problems“. Es ist nicht auszuschließen, dass da etwas Vergleichbares zurückschallen wird … Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39. Aber damals war die Welt gespalten und am Ende, heute findet sie zusammen. Vielleicht nicht vollständig, aber der Ernst der Lage wird von Tag zu Tag immer klarer erkannt. Deshalb stehen wir, wie mir scheint, an einer auf Jahrzehnte hinaus bestimmenden Wegscheide, an der die ganze Welt und vor allem die drei Völker stehen, die jetzt Geiseln von Leuten sind, die Waffen auf sie gerichtet haben und sie gegeneinander aufhetzen wollen. Das sind Belarus, Russland und die Ukraine.
Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen und jetzt schlicht zu Kampfhandlungen gegen alle drei Völker übergegangen ist.
Fühlen Sie sich in solchen Momenten eher als Mensch oder als Wissenschaftler? Oder ist das eine zu dumme Frage? Lassen Sie es mich anders sagen: Soll man analysieren oder sich in Sicherheit bringen?
Die Frage ist keineswegs dumm, sie liegt in entscheidenden historischen Momenten auf der Hand. Man muss verstehen, dass das zwei Haltungen sind, die sich in jedem Wissenschaftler finden und die miteinander in Kontakt kommen müssen. Du musst dir bewusst machen, woran du glaubst und zu welchem Zweck du deine Analysen vornimmst: Wenn du einfach nur auf Befehl oder Auftrag hin arbeitest, kannst du eine Elwira Nabiullina [die Chefin der Zentralbank der Russischen Föderation] werden und möglicherweise als Kriegsverbrecher enden.
Sie halten Elwira Nabiullina für eine Kriegsverbrecherin?
Albert Speer war ein Kriegsverbrecher.
Ist sie nicht eine Geisel der Situation?
War Adolf Eichmann eine Geisel der Situation? Ganz im Ernst: Irgendwann muss man aufhören, sich zum Rädchen zu machen und zu einer inneren moralischen Haltung finden. Und dann seine analytischen Fähigkeiten in den Dienst dieser Haltung stellen.
Es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen
Und hier kommt es darauf an, kritische Distanz zu gewinnen, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren. Aber es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen.
Wie sehr kann man darauf hoffen, dass jeder Mensch in sich selbst Halt findet? Und was muss getan werden, damit Elwira Nabiullina und, sagen wir, Sergej Schoigu ihr Verhalten ändern?
Das ist eine Frage ihrer Beziehung zu Gott. Wissen Sie, wir sind jetzt an einem Punkt, der bei allem, was daran einmalig ist, doch an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert. Hannah Arendt hat dazu sehr richtig gesagt, dass es Zeiten gibt, in denen man sich eingestehen muss, dass man die Welt im Ganzen nicht ändern kann. Man muss herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt – was man tun muss, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können.
Durch kleine Aktionen mit deutlicher Wirkung lässt sich die Angst kurieren – und dann zeigt sich, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird
Das ist die wichtigste Frage, und jeder Mensch muss diese Frage für sich selbst beantworten – im Bewusstsein, dass die Dinge sich nach dem schlimmsten überhaupt vorstellbaren Szenario entwickeln können und die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist.
Und wie bekämpft man in diesem Fall die eigene Angst?
Es gibt da bekannte Methoden, die immer funktionieren: kleine Aktionen, die eine deutlich messbare Wirkung haben. So lässt sich die Angst kurieren, und dann zeigt sich immer wieder, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird. Wenn man eine Grundsatzposition einnimmt, wenn man die moralische Herausforderung annimmt, nicht so tut, als ob nichts wäre und man sowieso nichts machen könne, sondern begreift, dass man vor eine ungeheure moralische Aufgabe gestellt ist, auf die jeder Mensch reagieren muss, dann kann man sich nicht vormachen, dass man einfach nur Zuschauer ist. Man muss überlegen, wie man mit kleinen Aktionen eine messbare Wirkung erzielt.
Selbstanklagen, Scham … Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln
Theodor W. Adorno hat einmal den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe zitiert: „Nichts als nur Verzweiflung kann uns retten“. Viele Russen, die unter dem Geschehen leiden, reagieren gerade mit Selbstanklagen, Scham, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsversuchen. Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln. Dies ist letztlich kein Krieg, den das russische Volk gegen die Ukraine führt. Dieser Krieg wird den Russen nichts bringen. Sie werden auf die furchtbarste Weise verlieren. Das wird eine ungeheure Katastrophe für das Land, die uns allgemeinen Hass, eine zerstörte Wirtschaft, eine niedergewalzte Gesellschaft und vermutlich eine besiegte Armee einträgt.
Wir müssen diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen
Letztlich verlieren wir die unerschütterliche Grundlage für das Ansehen, das bei den Menschen auf der ganzen Welt immer Respekt hervorgerufen hat: Das Image des Befreiers, des Landes, das im denkbar schrecklichsten Krieg heldenhaft gesiegt hat. Deshalb müssen wir diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen. Nun ist es so gekommen, dass die Ukrainer das auf ihre Art tun und die Belarussen und Russen auf ihre eigene Weise handeln müssen – so, dass wir uns später ruhig in die Augen schauen können.
Ich weiß, es ist merkwürdig, diese Frage an Sie zu richten, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, wenn wir die Ereignisse vom 27. Februar analysieren?
Eine solche Möglichkeit besteht. Nach Putins Aussagen zu urteilen, würde ich sie bisher nicht als unmittelbare und unabwendbare Gefahr betrachten. Bislang ist das eine Maßnahme, die zeitgleich mit der Anreise zu den Verhandlungen erfolgte – die natürlich rein dekorativen Charakter haben, es sind keine echten Verhandlungen. Aber diese Aussage (in Bezug auf die Waffen) ist eher eine Erpressungsmaßnahme, um die eigene Verhandlungsposition zu untermauern.
Doch allein die Tatsache, dass diese Drohung ausgesprochen wurde – und das unter diesen Umständen, als Putin und seine Mannschaft deutlich machten, dass sie bereit sind, alles zu tun, um ihren Willen zu kriegen – macht die Nuklearfrage relevant. Zudem sollten wir die Risiken des Einsatzes taktischer Kernwaffen nicht vergessen.
Ich habe immer geglaubt, dass der Mensch vor allem vom Selbsterhaltungstrieb geleitet wird. Die Entscheidung, Atomwaffen einzusetzen, wäre, gelinde gesagt, selbstmörderisch.
Der Mensch ist ein interessantes Wesen, das viele Denker gerade über seine Fähigkeit definiert haben, Selbstmord zu begehen. Aus irgendeinem Grund ist der Mensch imstande zu sagen: „Ich sage Nein zu meiner physischen Existenz.“ Sei es, weil er seine weitere Existenz als unvereinbar mit dem eigenen Selbst empfindet, sei es der Wunsch nach Prestige, nach Ruhm – solche Dinge haben Menschen in der Geschichte dazu gebracht, Selbstmord zu begehen.
Allerdings hatten die keinen Atomknopf – aber was ändert das letztlich? Auch die, die nuklearen Selbstmord begehen, sind Menschen und also dazu imstande.
Entschuldigung, ich muss mich verabschieden – gerade ruft meine Frau an, die vermutlich bei einer Antikriegsaktion festgenommen worden ist.
„Diejenigen, die sehen, was passiert, können keine Rechtfertigung für diesen Angriff auf die Ukraine finden“ – so wurde ein Vertreter der russischen Delegation bei einem UN-Klimatreffen am 27. Februar zitiert. Oleg Anissimow sagte demnach in einer nicht-öffentlichen Online-Runde, er wolle „im Namen aller Russen für die Unfähigkeit, diesen Konflikt zu verhindern, um Entschuldigung bitten“, wie nach der Abschlusssitzung der 195 Mitgliedsstaaten des Weltklimarates berichtet wurde. Ein westlicher Journalist hatte Anissimows Worte öffentlich gemacht – die Nachricht ging um die Welt. Zuvor hatte seine ukrainische Kollegin Swetlana Krakowskaja in einer leidenschaftlichen Rede den Stopp „dieses wahnwitzigen Krieges“ gefordert.
Wer sich öffentlich gegen Russlands Krieg in der Ukraine positioniert – oder einfach nur den Krieg als Krieg bezeichnet –, der begibt sich in Russland derzeit in Gefahr und muss mit Konsequenzen rechnen: Laut OWD-Info sind bei russlandweiten Anti-Kriegs-Protesten seit dem 24. Februar mehr als 7500 Menschen festgenommen worden. Und doch sind es nicht nur durch ihre Bekanntheit „geschützte“ Personen des öffentlichen Lebens wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die sich öffentlich gegen den Krieg aussprechen, sondern zunehmend auch Fach- und Berufsverbände, sowie Privatpersonen auf ihren Social-Media-Kanälen. Und auch in den Hinterzimmern der Macht herrscht keineswegs allgemeine Kriegsbegeisterung. Zumindest legt das ein kürzlich erschienener Artikel der Journalistin Farida Rustamowa (zuvor bei Doshd und Meduza) nahe, in dem sich ranghohe Staatsbeamte hinter vorgehaltener Hand sehr kritisch und besorgt über die Lage äußern. Einige Oligarchen ließen auch öffentlich Kritik durchblicken, äußerten sich zum Teil sogar deutlich, darunter die Milliardäre Oleg Deripaska und Oleg Tinkow.
Oleg Anissimow sorgte mit seinen einfachen Worten und seiner Entschuldigung gegenüber der Ukraine für weltweite Aufmerksamkeit und Hoffnung. In einem Protokoll auf Meduza spricht er über die Geschichte hinter der Nachricht, über Schuld, Angst und Verantwortung.
Es war eine Klausur von Klimaexperten. Die gesamte interne Atmosphäre, alles, was wir dort besprechen, unterliegt absolutem Stillschweigen. Es gab einen Leak [über eine Diskussion des Kriegs], so was kommt vor. Aber damit Sie verstehen: Bei nicht-öffentlichen Veranstaltungen werden Dinge gesagt, die nicht nach außen dringen sollen.
Zweitens: Ich bin nicht der Leiter der russischen Delegation. Das hat der französische Journalist [berichtet hat die Nachrichtenagentur AFP – dek] erfunden, der als erster von meinem Redebeitrag berichtet hat. Der hatte irgendwo irgendwas gehört, was ihm dann irgendjemand bestätigt hat. Ein bisschen paparazzimäßig.
Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt. Wir hatten zwei Wochen lang intensiv gearbeitet, es tagte der UNO-Sicherheitsrat. Das ist ja eine ziemlich große Sache: der Bericht der UN-Klimaexpertengruppe. Alle Länder sind da, und die Vertreter der Delegationen verhandeln dort Zeile für Zeile die Kurzfassung für die Politik. Das war unsere Aufgabe, sie ist von enormer Bedeutung – bisweilen haben wir um Positionen, die für jedes Land wichtig sind, heftig gestritten.
Im Rahmen der UNO sprechen die Delegationen der jeweiligen Länder in ihrer Landessprache, auch die russische Delegation führt ihre offizielle Position auf Russisch aus – das habe ich auch getan. Momentan findet diese Konferenz nicht im Präsenzmodus statt, sondern über Zoom, und man kann nicht auf den Flur hinausgehen und mit jemandem ein paar Worte wechseln. Ich nehme seit 1995 an diesen Konferenzen teil, ich habe da viele Kollegen und Freunde aus der ganzen Welt.
Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt
Als mit der Ukraine passierte, was mit der Ukraine passiert ist, traten natürlich alle Delegationen mit irgendeinem Statement zur Unterstützung der Ukraine auf. Das tat ich zu dem Zeitpunkt nicht. Habe ich einfach nicht gemacht. Habe geschwiegen. Na ja, weil ich – ich weiß auch nicht, wahrscheinlich war ich zu kleinmütig.
Es ist auch so, dass am Dienstag [22. Februar] meine Mutter gestorben ist, sie war 97. Und am Donnerstag [24. Februar] wurde das alles diskutiert. Sie verstehen bestimmt, dass ich, obwohl ich meine Arbeit fortsetzte, mit meiner Aufmerksamkeit auch woanders war. Vielleicht habe ich es einfach überhört und nicht ganz mitbekommen, als sich alle geäußert haben. Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt – ich war ja dort nicht der einzige Experte aus Russland.
Wir setzten unsere Arbeit fort. Heute [27. Februar – dek] war der letzte Tag. Wissen Sie, normalerweise war bei diesen Sitzungen immer auch jemand leger gekleidet: Die Teilnehmer leben in verschiedenen Zeitzonen, bei den einen ist Tag, bei den anderen Nacht. Doch heute trugen die meisten Anzug und Krawatte. Und heute war auch Swetlana Krakowskaja wieder im Zoom – sie ist Mitglied der ukrainischen Delegation. Wir kennen uns schon lange, sie war bei unseren Antarktis-Expeditionen dabei und ist eine ziemlich bekannte Wissenschaftlerin. Sie machte eine Erklärung vornehmlich wissenschaftlicher Natur – was für ein großes Stück Arbeit wir alle geleistet hätten und dass die Ukraine aus bekannten Gründen in den letzten Tagen nicht an der Konferenz habe teilnehmen können – es kein Internet gebe und so weiter und so fort. Und sie hoffe, dass diese Arbeit einen Beitrag zum Frieden leiste.
Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören
Dann begann sie, über russische Themen zu sprechen – über den Krieg und all das. Dann verstummte sie, es trat eine Pause ein, das war jetzt der nicht-offizielle Teil. Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören.
Ich habe dann folgendes getan: Ich sagte den nächsten Satz auf Englisch. Gearbeitet hatten wir die ganze Zeit auf Russisch – wenn du als offizielle Person auftrittst, wirst du gedolmetscht. Ich sagte auf Englisch, dass ich jetzt nicht als Mitglied der russischen Delegation auftrete, sondern als Mensch, der in Russland lebt und sein Mitgefühl mit der Ukraine zum Ausdruck bringt sowie sein Bedauern, dass wir diesen Angriff nicht verhindern konnten.
Außerdem habe ich gesagt: „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes. Ich schäme mich, dass wir es nicht geschafft haben, in unserem Land zivilgesellschaftliche Institutionen aufzubauen, die auf Entscheidungen des Präsidenten und der Regierung Einfluss nehmen könnten. Dass wir einfach vor die Tatsache gestellt wurden – genauso wie die Bevölkerung der Ukraine. Wir wurden vor die Tatsache gestellt, dass wir, die Bürger Russlands, in einen militärischen Konflikt hineingezogen werden.“
Das ist alles, was ich gesagt habe. Ich wiederhole, in einer nicht-öffentlichen Sitzung. Es war davon auszugehen, dass das in diesem Plenum verbleibt, aber irgendjemand hat etwas nach außen dringen lassen, dann ist es leicht verzerrt in die Medien gelangt, und schon ging es um die ganze Welt. Jetzt sehe ich es.
Verstehen Sie, ich bin jetzt in den Medien bekannt, dabei bin ich einfach ein Wissenschaftler, der als russischer Bürger seine Meinung gesagt hat. Die sehr simpel ist: Erstens, nein zum Krieg. Und zweitens: Ich schäme mich für mich selbst und für meine Mitbürger dafür, dass wir in unserem Land keine Gesellschaft aufbauen konnten, die uns ein friedliches Leben ermöglichen würde – uns und unseren Nachbarländern.
Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt
Ich befürchte, dass meine Aussage meine Karriere beeinträchtigen wird. Natürlich befürchte ich das. Aber hören Sie mir zu, ich bin 64, in zwei Wochen 65. Ich lebe in Russland und will nicht flüchten, meine Heimat verlassen, nur weil ich etwas befürchte. Aus Sicht eines Bürgers des Landes habe ich nichts gesagt, was diesem Land Schande bringen würde. Ja, ich habe nichts Derartiges gesagt. Und alle meine Befürchtungen sind nichts im Vergleich zu der Zufriedenheit, die ich verspürt habe, als ich meinen Standpunkt geäußert habe. Wissen Sie, es gelingt einem nicht jeden Tag, von allen Ländern der UNO gehört zu werden.
Vielleicht war das nicht auf besonders hohem politischen Niveau, vielleicht kann man mich mit Greta Thunberg auf eine Stufe stellen, die ja auch vor der UNO gesprochen hat.
Man kann vielleicht auch sagen: „Der spinnt.“ Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt.
Ich gebe Ihnen einen Rat: Machen Sie keine Symbolfigur aus mir. Hören Sie, ich bin nicht der einzige im Land. Manche sprechen es aus, viele schweigen. Wer spricht, wird nicht immer gehört – weil es kein Sprachrohr gibt. Das war einfach eine Situation, in der ich eine Plattform hatte und somit ein Sprachrohr. Aber im ganzen Land gibt es solche Äußerungen, die davon zeugen, dass nicht alle Russen mit dem, was passiert, einverstanden sind. Dass das nicht alle unterstützen. Das ist auch ganz logisch – es wäre seltsam, wenn es anders wäre, dann würde ich meinen Respekt vor Russland verlieren.
Es ist sehr einfach, aus mir Greta Thunberg zu machen. Sie wissen ja, wie geschickt der Staat manipuliert: „Der Mann ist nicht ganz bei Trost, bei allem Respekt für seine Verdienste, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste, außerdem ist seine Mutter gerade gestorben.“ Dann sehe ich aus wie ein Psycho. Dabei ist alles ganz anders.
Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 hat Russland die gesamte Ukraine angegriffen. Sämtliche diplomatische Bemühungen, die es seit Dezember 2021 auf internationaler Ebene gegeben hat, als Russland von der NATO und den USA weitreichende „Sicherheitsgarantien“ gefordert hatte, sind damit komplett gescheitert. Zuvor hatte sich die Entwicklung massiv zugespitzt: Schon beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar hatte Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine geprochen. Am Montag, 21. Februar, erkannte Russland die Separatistengebiete im Osten der Ukraine als unabhängig an, verbunden damit, dass Putin Truppen losschickte. In einer TV-Rede, ausgestrahlt am Montagabend, nur Stunden vor dem Ingangsetzen der Militärkolonnen, hatte Putin der Ukraine ihre eigene Staatlichkeit abgesprochen. Ein „Meisterwerk der Demagogie“, nannte der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel den Auftritt.
Worum aber geht es dem Kreml, worum geht es Moskau? Wirklich um Kränkungen durch den Westen, vermeintlich nicht eingehaltene „Versprechen“ und Sicherheitszusagen aus den 1990er Jahren? Die Politikanalystin Tatjana Stanowaja schrieb nach Putins Rede: „Heute ist der Tag, an dem Wladimir Putin auf die dunkle Seite der Geschichte übergewechselt ist. Es ist der Anfang vom Ende seines Regimes, das sich nur noch auf Waffen stützt.“ In einem langen Analysestück auf Vashnyje Istorii skizziert Kirill Rogow ein Regime, das auf Repression und Rohstoffe setzt, aber keine wirkliche Zukunftsperspektive zu bieten hat. Und so zum Aggressor wird. Einen Tag vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde der Text veröffentlicht.
Wofür braucht Putin einen Krieg? Wissenschaftler suchen nach einer Erklärung für den exzentrischen und aggressiven außenpolitischen Kurs des Kreml, versuchen, die Logik dahinter und seine wahren Ziele zu erklären. Diese Versuche führen allerdings zu einer anderen, allgemeineren Frage: Was leitet autoritäre Regime überhaupt bei der Wahl ihres außenpolitischen Kurses? Sind die Eskalation des Konflikts mit dem Westen und die Vorbereitung eines realen Krieges gegen die Ukraine [Text vom 23.02.22 – dek] eine Reaktion auf äußere Bedrohungen – oder werden sie von innenpolitischen Gründen diktiert?
Einige Vorteile einer Eskalation sind mit dem bloßen Auge erkennbar. Wer war Putin noch vor einem Jahr? Er war jemand, dem die Welt einen Mordversuch mit einer verbotenen Chemiewaffe am Anführer der Opposition vorwarf. Selbst der amerikanische Präsident unterstrich diesen Vorwurf mit einem Wort. In Russland haben zig Millionen Menschen den Film [von Alexej Nawalny – dek] über Putins Palast gesehen, der ihn als im Pomp versinkenden Mafiaboss zeigte.
Sind die Eskalationen Reaktion auf äußere Bedrohungen – oder von innenpolitischen Gründen diktiert?
Derselbe Putin erscheint heute als jemand, der bereit ist, einen großen Krieg zu führen, um die russischen Interessen zu verteidigen und die „Umzingelung Russlands durch die NATO“ aufzuhalten. Die Machthaber dieser Welt statten ihm einer nach dem anderen Besuche ab und diskutieren betont respektvoll über seine Sorgen und Forderungen. Niemand erwähnt den Palast, den Anschlag auf Alexej Nawalny oder die im ganzen Land zunehmenden Repressionen. Wenn das mal kein überzeugender Nutzen einer Eskalation ist. Fighting Fire with Fire, oder klin klinom wyschibat, einen Keil mit dem anderen rausschlagen, wie es auf Russisch heißt.
Aber es gibt auch eine tiefer gehende Perspektive, die die Dynamik der Putinschen Eskalationen erklärt. 2011, als Putin verkündete, in den Präsidentensessel zurückkehren zu wollen, sah er sich zum ersten Mal mit Massenprotesten konfrontiert. Sein berühmtes Rating, seine Beliebtheitsskala, sank auf einen Tiefstand. Anti-Putin-Äußerungen wurden zu einem wesentlichen Bestandteil im innenpolitischen Geschehen. Der Kreml reagierte darauf mit verstärkter Kontrolle der Medien, gezielten Repressionen und einer Verschärfung der Demonstrationsgesetze. In der Folge wurde 2013 das organisatorische Potential der Opposition gesprengt, die Demonstrationswelle verebbte. Doch die Umfragewerte blieben unten. Putins Legitimität als autoritärer, alternativloser Herrscher wurde nicht wiederhergestellt. Erst nach der Annexion der Krim und den entfachten Kämpfen im Donbass schnellte das Rating wieder in die Höhe. Der „schwache Putin“ löste sich auf im Rauch eines siegreichen Krieges.
Als Putin Ende 2020/Anfang 2021 erneut mit einer Reihe von ernstzunehmenden Herausforderungen konfrontiert wurde – der aufgedeckte Mordanschlag, der Film über den Palast, Massenproteste, die diesmal auch die Provinz ergriffen –, holte er wieder zum Gegenangriff auf die Opposition und die unabhängige Presse aus, schickte Dutzende von Oppositionellen ins Gefängnis oder vertrieb sie aus dem Land, und erklärte Nawalnys Organisationen für illegal. Und wieder gelang es ihm, das Potential der Opposition erfolgreich zu sprengen. Doch genau wie beim letzten Mal führte das nicht zur Wiederherstellung der Legitimität Putins als autoritärer Leader. Das Rating blieb auf demselben Niveau, und die Proteststimmen bei den Wahlen im vergangenen Jahr konnten lediglich mithilfe von Fälschungen abgefangen werden. Das heißt, das Problem war nur halb gelöst.
Es ist an der Zeit, sich die Wechselbeziehungen zwischen der Innen- und der Außenpolitik genauer anzuschauen
Doch diese Argumentation überzeugt jene nicht so recht, die in den Handlungen des Kreml ein Bekenntnis zu den nationalen Interessen sehen. Und es ist an der Zeit, sich diese Interessen und die tieferen Wechselbeziehungen zwischen der Innen- und der Außenpolitik genauer anzuschauen.
In Russland existieren schon seit Jahrhunderten zwei große Narrative, die seine Beziehungen zur Außenwelt beschreiben.
Zwei große Narrative
Das erste sieht Russland als ein riesiges, an Territorium und natürlichen Ressourcen außerordentlich reiches Land, was sein Potential als Großmacht sozusagen von Anbeginn an definiert. Die Länder, die Russland umgeben, sind demzufolge neidisch auf diesen Reichtum und fürchten sein Potential, und deshalb trachten sie danach, Russland zu spalten, von innen heraus zu unterwandern oder seine Möglichkeiten zur vollen Entfaltung dieses Potenzials einzuschränken. Russlands primäre Aufgabe besteht in diesem Narrativ darin, sich diesen feindlichen Handlungen unter Einsatz seiner inneren Kräfte zu widersetzen. Das ist das Narrativ von Schutz und Verteidigung.
Das zweite Narrativ ist wohl nicht weniger historisch verankert und praktisch jeder Russe, jede Russin kennt es. Es beschreibt Russland ebenfalls als ein an Territorium und an Ressourcen reiches Land mit einem riesigen Potential, welches es nicht vollends entfalten kann – allerdings, weil das Land nicht genügend entwickelt ist und technisch, wirtschaftlich wie gesellschaftlich hinter dem Westen zurückbleibt. Das Land muss also unbedingt eine Kraftanstrengung unternehmen und den Westen einholen, damit sich sein Potential vollends entfalten kann. Dieses Narrativ ist das der Modernisierung und der aufholenden Entwicklung.
„Schutz und Verteidigung“ versus Modernisierung
Diese zwei Narrative stehen in der öffentlichen Meinung in ständiger Konkurrenz, wobei sie die Prioritäten der nationalen Interessen, der entsprechenden politischen Ziele und notwendigen Handlungen auf unterschiedliche Weise definieren. Was meistens bei der Analyse durchrutscht, ist, dass diese zwei Narrative und die politischen Prioritäten, die sie implizieren, grundsätzlich unterschiedliche Kompetenzen von den Leadern und Eliten auf den Kommandoposten erfordern.
Im ersten Fall sind das die Kompetenzen der Verteidigung und der Bewahrung von Ordnung – also Kompetenzen der Gewalt. Im zweiten Fall ist es die Kompetenz, Technologien und Institutionen zu übernehmen und sie anzupassen sowie Allianzen zu schließen und Handel zu treiben. Die zwei Narrative führen nicht nur zu einer Konkurrenz, was die priorisierten Ziele in der öffentlichen Meinung angeht, sondern auch zu einer Konkurrenz zwischen zwei Typen von Eliten, die auf unterschiedliche Kompetenzen und Mechanismen in der Verwaltung, in den Institutionen ausgerichtet sind.
Löwen und Füchse
In Phasen, in denen in Russland das erste Narrativ populär ist, dominiert an der Spitze der Führungspyramide jener Typ von Elite, den Vilfredo Pareto in Anlehnung an Machiavelli als „Löwen“ bezeichnete und die wir hierzulande als Silowiki kennen. Dominiert das zweite Narrativ, betreten die Bühne diejenigen, die Pareto und Machiavelli als „Füchse“ bezeichneten. Ändert sich das dominierende Narrativ, kommt es unweigerlich zu einer Umgestaltung der Eliten.
Betrachtet man Russlands Geschichte der letzten Jahrzehnte aus diesem Blickwinkel, kann man sagen, dass seit Gorbatschows Reformen Mitte der 1980er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre in der russischen Politik die Füchse dominierten, die ein Aufholen in der Entwicklung und eine pragmatische Kooperation mit dem Westen in den Vordergrund der nationalen Interessen stellten. In diese Zeit fielen die massenhaften Privatisierungen, und die Füchse, die feste politische Posten innehatten, wussten diese für ihren eigenen Vorteil zu nutzen.
Mit Putin kamen die Löwen
Doch mit Putins Einzug in den Kreml im Jahr 2000, betraten immer mehr Löwen, oder Silowiki, wie man sie in Russland nennt, die politische Bühne. Ab 2012 dominierten sie das Regierungssystem vollends. Wir dürfen nicht vergessen, dass in Putins 20-jähriger Amtszeit eine massive Umschichtung privatisierter Vermögenwerte stattgefunden hat, überwiegend zum Vorteil der Löwen. Jetzt stehen sie genau wie Putin vor der Frage, wie sie ihre Vorherrschaft festigen und zusammen mit dem erbeuteten Reichtum an die nächste Generation von Politikern und Eigentümern weitergeben können: an ihre Kinder und Erben.
Während es in den 2000er Jahren zunächst danach aussah, als würden Putin und seine Regierung über Kompetenzen sowohl des ersten als auch des zweiten Typs verfügen – also als würden sie sowohl die Wirtschaft ankurbeln als auch Ordnung schaffen – geriet das Wirtschaftswachstum 2010 beträchtlich ins Stocken. Das stellte die Fähigkeiten der Putinschen Elite auf diesem Gebiet in Frage und holte den Modernisierungsbedarf wieder zurück auf die Tagesordnung. Das heißt, es eröffnete den Füchsen wieder die Chance, ihre Positionen in der russischen Politik zu stärken. Davon zeugten sowohl die Modernisierungsrhetorik während Medwedews Präsidentschaft als auch die Proteste 2011 und 2012, bei denen soziale Gruppen neue Forderungen stellten, die über die Ideale von Sicherheit und Stabilität hinausgingen.
Dies ist der Hintergrund, vor dem die Krim-Wende in der russischen Politik vonstatten ging. Die Annexion der Krim kam wie die symbolische Rückkehr eines sowjetischen Elysiums mit dem Titel Supermacht daher. Und sie schuf nicht nur ein unlösbares Problem in Russlands Beziehungen zum Westen, sondern blockierte auch jeden Versuch, das Land wieder auf den Weg der Modernisierung zu bringen. Die Annexion der Krim und der Konflikt mit dem Westen wurden zum Hebel, mit dem die Füchse an den Rand gedrängt und ihr politischer Einfluss untergraben wurde. Damals wie heute provozierte der hohe Konfrontationsgrad den Westen zwingend zu einer Reaktion, die es wiederum erlaubte, das Narrativ vom sich verteidigenden Russland als alternativlos und einzig möglich darzustellen – und dieses Narrativ als eine einvernehmliche Doktrin nationaler Interessen durchzusetzen.
Die Isolation Russlands ist keine Nebenwirkung der Konfrontation, sondern ihr Ziel, so paradox das auch klingen mag
Vertreter der Elite ersten Typs – Löwen, Silowiki – besetzen heute die politischen Spitzenpositionen der Herrschaftspyramide und aller weiteren Ebenen, sowie die Schlüsselpositionen der Wirtschaft und Geschäftswelt. Eine antiwestliche Haltung und der Isolationismus sind für sie nicht nur ein formaler, sondern ein realer ideologischer Identifikationsrahmen, der durch ihre entsprechenden Kompetenzen (Kontrolle, Bewachung, Unterwerfung, Repression) und institutionellen Präferenzen gestützt wird.
Die Isolation Russlands ist daher keine Nebenwirkung der Konfrontation, sondern ihr Ziel, so paradox das auch klingen mag. Sie soll den Modernisierungseffekt aus zweieinhalb Jahrzehnten prowestlicher Orientierung des Landes nivellieren. Sie sichert das Funktionieren eines geschlossenen wirtschaftlichen Umverteilungsmodells, in dem der durch Rohstoffexport erzielte Gewinn zum überwiegenden Teil in den Händen des Staates landet und die Dominanz der Löwen festigt. Diese Ressourcen reichen aus, um notwendige technische Ausrüstungen anzuschaffen und einen riesigen Sicherheitsapparat zu unterhalten. Gleichzeitig lässt dieses Modell keinen nennenswerten Zufluss von ausländischem Kapital zu. Das würde nicht nur dem inländischen Kapital und den traditionellen Patronage-Eliten Konkurrenz machen, sondern auch die Position der Modernisierungs-Eliten stärken, die für den Austausch mit anderen Ländern besser geeignet sind.
Russlands wirtschaftliche Interessen zu opfern, wirkt gar nicht so irrational – wenn man bedenkt, dass es um den Erhalt der herrschenden Stellung in der russischen Politik und um die Weitergabe von erbeutetem Vermögen an die Nachfolger geht. Sanktionen, die politische und wirtschaftliche Isolation, begleitet von einer drastischen Schwächung der rivalisierenden Eliten und deren politischer Narrative – all das sichert eine reibungslose und sichere Weitergabe.
Nach fünfeinhalbstündigen Videoanhörungen in der Nacht zum Montag hat der Sportsgerichtshof CAS entschieden: Die 15-jährige russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa darf weiter an Olympia teilnehmen. Am 8. Februar – ausgerechnet einen Tag, nachdem die russische Mannschaft im Teamwettbewerb Gold gewonnen hatte – war die Nachricht gekommen, dass Kamila Walijewa am 25. Dezember vergangenen Jahres positiv auf Trimetazidin getestet worden war.
Dies hatte für viel Aufsehen gesorgt. Sowieso können russische Athleten bei Olympia nicht unter russischer Flagge antreten, sondern als Vertreter des ROC (Russischen Olympischen Komitees) – weil Russland wegen der Manipulation von Doping-Daten von der Welt-Doping-Agentur (Wada) gesperrt wurde. Zudem gilt die positiv getestete 15-jährige Walijewa als Eiskunstlauf-Ausnahmetalent. Im Teamwettbewerb brillierte sie mit gleich zwei Vierfachsprüngen, was Kommentatoren zu Vergleichen mit den Eislauf-Männern hinriss; nach ihrem Kurzprogramm jubelte auch Hollywood-Star Alec Baldwin auf Instagram: „Ein Lied. Ein Gedicht. Ein Gemälde.“
Der Sportsgerichtshof hat nun allerdings nur über eine Sperre Walijewas und nicht über den Dopingfall generell entschieden. Es kann immer noch passieren, dass dem ROC-Team wie auch Walijewa im Nachgang zu den Olypmpischen Spielen Medaillen aberkannt werden. Die Aufregung um die 15-jährige Walijewa – die als Minderjährige im Sinn des Welt-Anti-Doping-Codes als „geschützte Person“ gilt – hat außerdem eine Debatte um das Alter der Eiskunstläuferinnen ausgelöst. Die ehemalige Eiskunstläuferin und zweimalige Olympiasiegerin Katarina Witt schrieb auf Facebook: „Vielleicht sollte das Alter für die Teilnahme auf der olympischen Weltbühne auf 18 Jahre festgelegt werden. Wäre es nicht richtig, ein Kind reifen zu lassen?“ Für 15-Jährige seien die Youth Olympic Games ins Leben gerufen worden.
Auch in russischen Medien hat der Fall Kamila Walijewa eine Debatte über die zunehmend jungen Athletinnen ausgelöst, die auch in Sozialen Medien lebhaft geführt wird. Für Kirill Schulika auf Republic ist diese Frage die entscheidende.
Für Kamila Walijewas Trainerin Eteri Tutberidse gibt es noch schlimmere Nachrichten als Walijewas Dopingtest: Beim internationalen Eislaufkongress der ISU 2022 soll darüber beraten werden, die Altersgrenze im Eiskunstlauf schrittweise anzuheben. In der nächsten Saison soll das Eintrittsalter zum Erwachsenen-Wettbewerb in allen Disziplinen noch bei 15 Jahren bleiben, dann soll es nach und nach erhöht werden: in der Saison 2023/24 auf 16 Jahre, 2024/25 auf 17. Damit will die Union Tutberidses „Kindergarten“ einen niederschmetternden Schlag versetzen. Fans ihres Trainerinnen-Talents halten das natürlich für eine Verschwörung der Konkurrenz. Zumal diese Trainerin in Russland über jede Kritik erhaben ist. Ja, manchmal gibt es Zoff mit dem mehrfachen Eislauf-Olympiasieger Jewgeni Pljuschtschenko und vor allem seiner Frau Jana Rudkowskaja, aber das wirkt eher wie ein banaler Social-Media-Hype um Gnom Gnomytsch, [Spitzname vom] Sohn der beiden. Warum aber darf man Tutberidses Methoden nicht öffentlich anzweifeln? In der Sportwelt herrscht die Meinung, sie werde von der Eiskunstläuferin Tatjana Nawka protegiert – die ist die Gattin von Putins Pressesprecher Dmitri Peskow.
„Tutberidse entwickelt keine großen Sportlegenden. Sie trainiert Sprünge“
Aber wenn im Wettbewerb der Erwachsenen eine 15-Jährige die olympische Eisfläche betritt, scheint es doch, als würde Tutberidse ihre Schützlinge nicht trainieren, sondern dressieren. Und, oh weh, später geraten diese Sportlerinnen dann leider in Vergessenheit. Wer kennt jetzt noch Julia Lipnizkaja [geboren 1998, war 2014 Europameisterin und mit der russischen Mannschaft Olympiasiegerin als bis dahin jüngste Eisläuferin – dek]? Sie ist gerade mal 23, hat ihre Karriere aber schon mit 19 beendet! Auch die Olympiasiegerin von 2018 in Pyeongchang Alina Sagitowa stand mit 19 Jahren am Ende ihrer Laufbahn. Während etwa die legendäre Italienerin Carolina Kostner bis ins Alter von 32 aktiv war.
Offenbar ist aus dem Frauen-Eiskunstlauf mittlerweile ein Kinderwettkampf geworden. Tutberidse entwickelt auch keine großen Sportlegenden wie Kostner oder Pljuschtschenko. Sie trainiert Sprünge, damit ihre Zöglinge die höchsten Punktzahlen und Preise absahnen. Die olympische Idee ist eigentlich eine andere. Das Geheimnis von Tutberidses Erfolg liegt einzig und allein im Alter ihrer Sportlerinnen. Vierfachsprünge schaffen nur Mädchen, deren Körper noch nicht vollständig entwickelt sind. Wenn also ein solcher Sprung zu einem Element wird, ohne das man keine großen Wettbewerbe mehr gewinnen kann, dann ist der Eiskunstlauf für Mädchen über 18 vorbei.
Außerdem muss eine Eiskunstläuferin enorm viel Kraft aufwenden, um bei einem Vierfachsprung den Moment des vertikalen Absprungs von der Eisfläche mit dem Beginn der Drehung zu verbinden. Die nötige Rotation kann aufgrund des weiblichen Körperbaus – breitere Hüften und geringere Sprungkraft als bei den Männern – nicht erreicht werden, sodass Frauen bei Vierfachsprüngen den Rumpf schon vor dem Absprung zu drehen beginnen, was sehr gefährlich für die Wirbelsäule ist.
„Dem System ist ganz egal, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird“
Die finnische Eiskunstläuferin Kiira Korpi, die nach dem Ende ihrer Karriere Sportpsychologin wurde, formuliert noch einen weiteren für Kinder gefährlichen Aspekt des Eiskunstlaufs: „Ich kenne viele Sportler, die emotional und körperlich gebrochen sind, weil dem System ganz egal ist, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird, solange es ein paar gibt, die den Ansprüchen gerecht werden. Aber am schlimmsten ist, dass auch jene, die es schaffen, nur wenige Jahre dabeibleiben und dann ebenfalls aussortiert werden – weil sie angeblich zu alt sind, weiterzumachen. Eteris ‚Kinderfabrik‘ ist einfach nur eine Folge der unmenschlichen Kultur unserer Sportart. Das war nicht ihre Idee. Viele Trainer arbeiten auf ähnliche Art und Weise, und viele Verbände begrüßen solche Methoden des Nachwuchstrainings“, meint Korpi.
Jetzt kümmern sich anscheinend auch die Sportfunktionäre um dieses Problem. Russland wird sicher dagegen sein und möglicherweise seine lobbyistischen Ressourcen im ISU einsetzen. In der Öffentlichkeit werden uns alle, von Tatjana Nawka bis zu Tatjana Tarassowa, von einer Verschwörung gegen den russischen Sport und vom Neid auf die Erfolge „unserer Mädels“ erzählen. Und wenn der Skandal um Walijewa weiter an Fahrt aufnimmt, dann werden wir bestimmt auch zu hören kriegen, dass ihr die verbotene Substanz heimlich verabreicht oder die Blutprobe vertauscht wurde, um die russische Schule der Eiskunstläuferinnen in Verruf zu bringen.
Nichts kann jedoch den russischen Sport nachhaltiger zerstören, vor allem wenn es praktisch um Kinder geht, als wenn Ärzte wie Philipp Schwetski mit im Boot sind, die nachgewiesenermaßen Sportlerinnen mit Dopingsubstanzen versorgt haben. Das Mindestalter der Eiskunstläuferinnen wird bestimmt angehoben. Und eines der Argumente dafür wird die Geschichte von Kamila Walijewa und dem Trimetazidin sein, für dessen Einnahme sie [als unter 16-Jährige – dek] nicht bestraft und nicht einmal offiziell angeklagt werden darf.
Gerät Tschetschenien außer Kontrolle? Das zunehmend aggressive Vorgehen von Republikchef Ramsan Kadyrow gegen seine Kritiker beherrscht derzeit die Schlagzeilen in unabhängigen russischen Medien. Den ehemaligen Richter Sajdi Jangulbajew und dessen Familie hat Kadyrow zu „Terroristen“ erklärt. Er sieht die beiden Söhne als Verаntwortliche hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal.
Als „Terrorist“ bezeichnete Kadyrow außerdem auch den Menschenrechtler Igor Kaljapin, der die Familie nach der Flucht nach Nishni Nowgorod unterstützt hatte, und auch die Journalistin Elena Milashina. Milashina, die nach der 2006 ermordeten Anna Politkowskaja für die Novaya Gazeta über Tschetschenien berichtet, hat Russland aus Sicherheitsgründen nun verlassen. Zuletzt hatte sie in einer Recherche aufgedeckt, wie sich das tschetschenische Regime durch mehrere regimekritische Telegram-Kanäle herausgefordert fühle: Diese seien der „Feind Nummer 1“, den Kadyrow nicht mehr kontrollieren könne, schreibt Milashina.
Der tschetschenische Politiker Adam Delimchanow kündigte nun auf Tschetschenisch an, die Familie des in Misskredit geratenen Jangulbajew zu köpfen und drohte auch jenen, die seine Worte ins Russische übersetzen würden, mit „Feindschaft und Blutrache“. Delimchanow ist Mitglied der russischen Staatsduma und laut Medienberichten Cousin Kadyrows. Kreml-Sprecher Peskow jedoch fühlte sich nicht zuständig, die Äußerungen zu kommentieren, sondern verwies auf die Ethikkommission der Duma. Das Schweigen des Kreml zum Wüten Kadyrows lässt viele befürchten, dass Moskau jede Kontrolle über das tschetschenische Regime verloren hat. Dabei besorgt das Treiben Kadyrows viele, davon zeugt auch die Petition „Kadyrow soll zurücktreten“, die Oppositionspolitiker Ilja Jaschin startete und die bislang rund 195.000 Unterzeichner hat (Stand: 11.02.2022).
Seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) stufen Beobachter die islamische Teilrepublik Tschetschenien im russischen Nordkaukasus zunehmend als Staat im Staat ein, in dem das Moskauer Gewaltmonopol vielfach unwirksam sei. Auf Snob erklärt Konstantin Eggert, warum Putin auch jetzt in Tschetschenien ziemlich machtlos ist.
„Cops aus Texas stürmen in Chicago das Haus eines Bundesrichters und entführen seine Frau nach Dallas. Der Gouverneur von Texas kündigt an, jeden kalt zu machen, der den Bewohnern seines Bundesstaats etwas antut. Das Weiße Haus zieht vor, dem Ganzen keinen Glauben zu schenken.“
Dieses traurige Meme tauchte im Netz auf, fast unmittelbar nach der Nachricht, dass Sarema Mussajewa von der tschetschenischen Polizei entführt worden war. Die Ehefrau von Sajdi Jangulbajew, einem ehemaligen Richter am Obersten Gericht Tschetscheniens, wurde gewaltsam von Nishni Nowgorod nach Grosny gebracht. Es folgte eine nicht sehr überzeugende Anklage wegen Betrugs, sie bekam zwei Monate Haft. Die Söhne von Jangulbajew und Mussajewa sind dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow mit öffentlicher Kritik auf den Schlips getreten. Er behauptet, die Brüder Jangulbajew betrieben einen Telegram-Kanal, der die Vorgänge in Tschetschenien und die Regierung „beschmutze“. Ein Cousin von Kadyrow, Adam Delimchanow, der als Abgeordneter in der russischen Staatsduma sitzt, hat öffentlich gedroht, Mitglieder der Familie Jangulbajew zu köpfen. Dasselbe haben auch andere führende Beamte Tschetscheniens angekündigt.
Ein Cousin Kadyrows, der als Abgeordneter in der russischen Staatsduma sitzt, hat öffentlich gedroht, Mitglieder der Familie Jangulbajew zu köpfen
Ein paar Tage später traf sich Wladimir Putin plötzlich mit Kadyrow, um sich – wie es im Kommuniqué hieß – einen Bericht über die sozial-ökonomische Entwicklung von Tschetschenien anzuhören. Dieser Anlass wirkt wenig glaubhaft. Es bleibt zu hoffen, dass die Diabetikerin Mussajewa nach Kadyrows Gespräch mit Putin doch noch unter einem geeigneten Vorwand aus der Haft entlassen wird und zu ihrer Familie fahren kann. Diese hat bereits das Land verlassen, ohne neue Probleme abzuwarten.
Wurzel dieses Problems ist ein Umstand, den Russland nicht offiziell zugeben kann
Die Probleme des Richters und seiner Familie können vielleicht durch Emigration gelöst werden, doch die Probleme Tschetscheniens – konkret die Machenschaften der tschetschenischen Regierung – lassen sich sich in absehbarer Zeit nicht aus der Welt schaffen. Die tschetschenischen Sicherheitskräfte handeln weiterhin außerhalb der russischen Verfassung und Gesetzgebung und verfolgen schon jetzt die Feinde von morgen.
Wurzel dieses Problems ist ein Umstand, den Russland nicht offiziell zugeben kann: Zu Beginn unseres Jahrhunderts hat die Föderalmacht den zweiten Krieg in Tschetschenien verloren. Wie das genau passiert ist, ist eigentlich auch klar: Die Familie des ehemaligen Muftis von Tschetschenien, Achmat Kadyrow, wechselte auf die Seite der russischen Zentralregierung und bekam im Gegenzug für die Gewährleistung von „Frieden und Stabilität“ (egal mit welchen Mitteln) die Republik zur freien Verfügung und eine fast vollständige staatliche Finanzierung. Verschiedenen Daten zufolge stammen mehr als 90 Prozent des Haushalts der Republik Tschetschenien aus zweckgebundenen Transfers aus dem föderalen russischen Staatshaushalt.
Dass ein solcher Zustand die Struktur des russischen Staates aushöhlt, versteht sich von selbst. Es führt zu Spannungen in anderen Regionen, die weniger Glück mit der Finanzierung haben. Es erzeugt innerhalb der Sicherheitskräfte die verschiedensten Stimmungen – von „Könnten wir doch nur auch so wie die Jungs in Tschetschenien!“ bis „Was erlauben sich die!“. Und schließlich fördert es die Feindseligkeit gegenüber dem Nordkaukasus unter jenen, die nicht die Muße haben, sich mit den Feinheiten von Politik und Geschichte zu befassen. Was wiederum sehr schlecht ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eines zerfallenen Imperiums, das krankhaft nach einer neuen Identität sucht.
Die Entscheidung über diesen faktischen Sonderstatus der Republik Tschetschenien hat Wladimir Putin getroffen. Doch ihn zu ändern steht außerhalb seiner Macht, selbst wenn er es wollte. Zumal Kadyrow gegen jene kämpft, in denen auch der Kreml Feinde sieht – nämlich gegen die, die Korruption und Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Also, solange Putin im Kreml ist, wird Kadyrow mit seiner Familie Tschetschenien regieren.
Die Entscheidung über den faktischen Sonderstatus der Republik Tschetschenien hat Wladimir Putin getroffen. Doch ihn zu ändern steht außerhalb seiner Macht
Doch Putins Zeit läuft irgendwann ab. In Russland wird es freie Parlamentswahlen geben, und gleich in der ersten Sitzung wird eine Abgeordnete aus Woronesh oder ein Abgeordneter aus Weliki Nowgorod das Wort ergreifen. Er oder sie wird fragen, warum die Woronesher oder Nowgoroder nicht genauso viel aus dem föderalen Haushalt überwiesen bekommen wie Tschetschenien? Das wird niemand schlüssig beantworten können. Weil man dann beginnen müsste, das ganze unter Putin aufgebaute Beziehungsgeflecht zwischen der Republik und dem föderalen Zentrum in Moskau zu demontieren. Sogar die legitimste und demokratischste Regierung wird hier vor jeglichen Maßnahmen zurückschrecken. Denn keiner kann die Folgen einschätzen, und wahrscheinlich wird keiner bereit sein, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Also werden sie versuchen, das Thema unter den Teppich zu kehren. Vielleicht sogar erfolgreich.
Leidtragende dabei sind die Bewohner Tschetscheniens, die unter modernem Recht leben wollen und nicht im Feudalismus. Von ihnen gibt es bestimmt viele. Auch für die Nachbarn Tschetscheniens ist es nicht leicht, für Inguschetien etwa.
Aber in nächster Zeit wird sich daran nichts ändern lassen. „Frieden in Tschetschenien“ ist genauso ein historisches Erbe Wladimir Putins wie „Krim nasch – die Krim gehört uns“. Damit müssen wir leben.
Am 27. Februar 2022 wird in Belarus ein Verfassungsreferendum stattfinden, von dem wohl nur die wenigsten glauben, dass es die präsidiale Macht Alexander Lukaschenkos entscheidend beschränken wird. Bei seiner alljährlichen „Rede an die Nationalversammlung und das belarussische Volk“, die Lukaschenko Ende Januar im Palast der Unabhängigkeit in Minsk hielt, schwörte der Autokrat die mehr als 2500 Parlamentarier, Politiker, Funktionäre und Gäste auch auf die anstehende Abstimmung und die zu erwartenden Änderungen im politischen System ein.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich die Rede für das Online-Medium Naviny.by genauestens angehört. In seinem Beitrag analysiert er, ob die Verfassungsreform überhaupt darauf ausgerichtet ist, Lukaschenkos eingeschlagenen Radikalisierungskurs einzudämmen und ob Opposition, Medien und Zivilgesellschaft entsprechend auf erleichterte Rahmenbedingungen hoffen können.
Seiner Rhetorik nach zu urteilen, sieht Lukaschenko die Lösung für die innenpolitische Krise und die gespaltene Gesellschaft in Belarus eindimensional: „Diese verrückten Unglaublichen“, wie er die Protestteilnehmer nannte, müssen sich der brutalen Gewalt des Regimes fügen.
Machtwechsel als Krankheit
Obwohl er Verfassungsänderungen immer als Demokratisierung bewarb, offenbarte sich seine tatsächliche Haltung zur Demokratie in der Aussage: „Wenn wir uns, so wie einige andere postsowjetische Staaten, dem Fieber der Machtwechsel ergäben [Hervorhebung des Autors], wenn wir ein politisches und ideologisches Zurückweichen zuließen, dann wäre ein unkontrollierbarer Sturzflug nicht mehr aufzuhalten.“ Also gilt der in Demokratien übliche Prozess des Machtwechsels als Anomalie, als Krankheit.
Der (aktuelle) Auftritt hat gezeigt, dass Lukaschenko nicht beabsichtigt, sein autoritäres System im Kern zu ändern. Das Publikum, das ihm zuhörte, bezeichnete er als Prototypen der zukünftigen Allbelarussischen Volksversammlung (WNS), an die er sich in Zukunft mit solchen Botschaften wenden wolle. Da stellt sich die Frage: War denn das Volk an der Zusammensetzung dieses Publikums beteiligt? Eine rhetorische Frage. Im Saal waren natürlich Beamte und erprobte Loyalisten versammelt, die eine breit aufgestellte Volksvertretung imitieren sollten. Ein Gesetz, das die Kompetenzen, den Entstehungsprozess und die Tätigkeiten der Allbelarussischen Volksversammlung festlegt, soll innerhalb eines Jahres nach dem Referendum verabschiedet werden. Man kann jedoch unschwer annehmen, dass dieses zu gründende Organ, das gemäß der neuen Verfassung mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet werden soll, auf genauso intransparente und volksferne Art zusammengeschustert wird.
Nie der richtige Zeitpunkt für den Rücktritt
Eigentlich geht es bei der Idee der Allbelarussischen Volksversammlung darum, die Bürger noch weiter vom Staat zu entfernen. Die aktuell regierende Elite will ein von den Willenserklärungen der Bevölkerung isoliertes politisches Konstrukt schaffen, das es ermöglicht, alle staatlichen Schlüsselfragen im intimen Kreis zu entscheiden. Wobei fast kein Zweifel besteht, dass Lukaschenko auch Vorsitzender der WNS sein wird (diese Option ist ausdrücklich in dem Verfassungsentwurf vorgesehen) und die beiden Ämter mindestens bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 zu behalten gedenkt.
Mit seiner Rede hat Lukaschenko zum wiederholten Mal thematisiert, wie lange er vorhat, im Amt zu bleiben. Und wieder ist er einer direkten Antwort ausgewichen: „Alles je nach Situation. Wenn sie uns einen Krieg anhängen – was soll es dann für Wahlen geben, wie soll ich da abdanken? Wenn’s sein muss, nehm ich eine MG, und gehe voran … Wenn alles ruhig bleibt, sei’s drum, wenn unser Volk friedlich lebt und sich entwickelt – jederzeit.“ Damit gibt Lukaschenko erstens de facto zu, dass die Lage in Belarus alles andere als stabil ist. Wenn er zweitens die unermüdliche Suche nach Feinden fortsetzt, die Dämonisierung der Opposition, der benachbarten NATO-Mitgliedsländer, der Ukraine und der USA, wenn er die Atmosphäre einer belagerten Burg weiter hochpeitscht (und speziell davon war seine Botschaft durchdrungen), dann wird er immer sagen können, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt zu gehen.
Überhaupt strotzte Lukaschenkos gesamte Rede nur so von der Idee, er sei unersetzlich (oder gar von Gott erwählt). Als ob es ohne seine Entschlossenheit mit der MG in Händen im August 2020 am Höhepunkt der Proteste (die er Aufstand nennt) das Land gar nicht mehr gäbe: Die fünfte Kolonne hätte die Macht ergriffen und Belarus bereits dem Westen ausgeliefert (die NATO-Truppen „waren schon in Startposition“). Dieses Motiv – dass unter bedrohlichen Umständen ein erfahrener, starker Führer auf keinen Fall abdanken darf – wird er bestimmt weiter ausschlachten, zumal die Konfrontation mit dem Westen allem Anschein nach ernst werden und lang dauern wird. Und da eröffnet sich noch dazu die günstige Gelegenheit, dem Kreml zuzuspielen.
Echte Ideen zur Entwicklung fehlen dem Regime
Wobei die Redenschreiber sich offenbar bemüht haben, Ideen von Innovation und Entwicklung einzubauen, um den Redner nicht komplett rückschrittlich und reaktionär aussehen zu lassen. Allerdings mit wenig Erfolg. „Wir haben alle Möglichkeiten, Belarus zu einem sich dynamisch entwickelnden Land zu machen“, erklärte Lukaschenko. Doch hat er versucht eine Überarbeitung des Grundgesetzes, die das vom ersten Präsidenten geschaffene strenge und undemokratische System aufrechterhält, als politische Innovation zu verkaufen. Sogar in Bezug auf den kontrollierten Aufbau von Parteien (auf dessen Belebung sowohl der Kreml als auch ein Teil der Loyalisten gehofft hatten) verplapperte sich unser Staatsoberhaupt mit den Worten: „Wir werden diesen Prozess nicht forcieren.“
Desgleichen ließ er verlautbaren, dass in nächster Zeit ein Gesetz beschlossen werde, das definiert, was Zivilgesellschaft ist und was ihr Wesen, ihre Struktur ausmache. Doch die Formierung einer Zivilgesellschaft nach staatlichen Vorgaben ist per se Nonsens. Eine echte Zivilgesellschaft wächst von unten, auf Initiative der Bevölkerung. Noch dazu ist das wichtigste Ziel, wie ganz offen erklärt wurde, dass „die Basis der Zivilgesellschaft nicht schlafende Keimzellen nationaler Minderheiten werden, die 2020 das Land umstürzen wollten“. Mit anderen Worten, auf diesem durch die Repressionen verbrannten Feld sollen Attrappen geschaffen werden, GONGOs, die eine Zivilgesellschaft imitieren.
Kein Wort fiel zum Thema Wirtschaftsreformen. Im Gegenteil, Lukaschenko gab zu verstehen, dass er IT-ler und Unternehmer noch stärker in die Mangel nehmen kann – jene Berufsgruppen, die sich aktiv an den Protesten beteiligt hatten. Indessen sind es gerade diese fortschrittlichen Gesellschaftsschichten, die die Wirtschaft in Schwung bringen könnten. Aber wie wir sehen: Der Chef des Regimes will in erster Linie den Aufstand unterdrücken, wenn auch zum Schaden der wirtschaftlichen Entwicklung. Insofern sind Versprechungen dynamischer Transformationen schöne Worte und nichts dahinter. Faktisch opfert die Regierung, die um jeden Preis an der Macht bleiben will, die Entwicklung des Landes und versucht, jegliche Gegenstimmen in die Knie zu zwingen.
Mitte Dezember hatte Russland in einem Schreiben unter anderem ein Ende der Ausdehnung der NATO gefordert und auch einen Truppenabzug aus Ländern, die bis 1997 nicht Teil des Bündnisses waren. Ende vergangener Woche kamen die schriftlichen Antworten und fielen aus wie erwartet: Weder die NATO noch die USA können Russland die gewünschten Sicherheitsgarantien geben.
Unterdessen verlieh Putin im Telefonat mit dem französischen Präsidenten Macron den russischen Forderungen nochmal Nachdruck. Beide Länder erklärten sich zudem bereit, die Minsk II-Gespräche im Normandie-Format fortzusetzen. Der russische Außenminister Lawrow forderte ähnliche Garantien auch von der OSZE. Angesichts der hohen Konzentration russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine, auch in Belarus und auf der Halbinsel Krim, die Russland 2014 angliederte, stockten einzelne NATO-Mitgliedsländer ihre Truppen in Osteuropa auf, auch US-Präsident Biden kündigte an, das US-Militärkontingent aufzustocken.
Gleichzeitig warnte der ukrainische Präsident Selensky vor Panikmache und betonte, dass die Kriegsgefahr nicht größer sei als zuvor. Auch Nikolaj Patruschew, Chef des russischen Sicherheitsrats, sagte der Agentur Interfax zufolge: „Wir wollen keinen Krieg, wir brauchen ihn überhaupt nicht.“
Und nun? Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Center, sieht im Interview mit Kommersant – das er noch vor den Antworten der USA und der NATO gab – zwei mögliche Szenarien: ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt.
Jelena Tschernenko: Stehen wir kurz vor einem bewaffneten Konflikt?
Dimitri Trenin: Wenn wir von einer kurzfristigen Perspektive sprechen, vom nächsten Monat, dann glaube ich nicht. Was die langfristige Perspektive angeht, hätte ich Fragen an beide Seiten.
Die Frage an an den Westen wäre: Wird die Führung in Kiew, – seien es einzelne Abteilungen oder auch Akteure, die außerhalb ihrer Kontrolle stehen und mit Schattenfiguren zusammenarbeiten –, eine Provokation starten, um Russland in einen Krieg hineinzuziehen? Die Antwort auf diese Frage ist eher nein. Ein solches Szenario würde den Verantwortlichen in Kiew nicht sonderlich nützen. Denn eine solche Provokation kann nur mit einer Niederlage der ukrainischen Streitkräfte enden.
Alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht
Das Ausmaß der Niederlage könnte für die Ukraine unterschiedlich stark ausfallen. Aber egal, wie hoch der Preis dieses Sieges für Russland wäre, er könnte den kolossalen Schlag nicht wettmachen, den eine Niederlage der Ukraine der Reputation der Biden-Regierung versetzen würde – vor allem innerhalb der USA. Nach Afghanistan zum zweiten Mal einen prominenten regionalen Verbündeten zu verlieren, wäre für sie gerade innenpolitisch äußerst gefährlich. Hinzu kommt der ganze NATO-Kontext und das amerikanische Renommee in der Welt. Denn auch Länder wie China oder der Iran verfolgen die Situation ganz genau.
Mit anderen Worten, Sie halten das georgische Szenario für unwahrscheinlich?
Ja, ich habe den Eindruck, dass die Amerikaner genügend Kontrolle über die ukrainische Regierung und die dortigen Akteure haben.
Und welche Frage haben Sie an Russland?
Ich glaube, alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht. Und hier gibt es in der Tat viele Fragen, denn wir können nicht wissen, was genau Wladimir Putin sich dabei denkt. Welchen Plan verfolgt er? Was ist seine Strategie? Welche Optionen sieht er? Das lässt sich von außen sehr schwer beurteilen.
Wie könnte sich die Lage entwickeln?
Die erste Option wäre wohl recht logisch: Man erklärt, dass wir nie wirklich mit alldem (der Nicht-Erweiterung der NATO und so weiter – Anm. Kommersant) gerechnet haben – wir sind ja nicht blöd, wir verstehen das völlig, aber wir mussten endlich aus der Sackgasse heraus, diesen ganzen westlichen politisch-diplomatischen und militärischen Klüngel aufmischen, vor allem in Washington, und wollten den Ernst unserer Absichten demonstrieren – und haben ja auch etwas erreicht. Erstens haben sie unsere Vorschläge nicht grundweg zurückgewiesen, sondern darauf reagiert, sie haben sich sogar bereit erklärt, unsere Vorschläge schriftlich zu beantworten, und das bedeutet de facto, dass sie unsere Sorgen und Forderungen ernst nehmen.
Zweitens haben sie eingewilligt, über für uns wichtige Themen zu sprechen, die sie früher ignoriert haben. Zum Beispiel soll es Verhandlungen über ein Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen geben. Früher wollten sie überhaupt nichts davon wissen, jetzt wollen sie von sich aus darüber verhandeln. Außerdem sind sie jetzt bereit, über eine Einschränkung von Manövern in der Nähe unseres Staatsgebiets zu sprechen, all diese Marine- und Luftwaffenübungen, einschließlich der Simulation von Atomraketenstarts. Wir haben ihnen früher mehrfach gegenseitige Zurückhaltung auf diesem Gebiet angeboten, aber erst jetzt hören sie uns zu. Auch auf andere russische Initiativen gibt es eine Reaktion.
Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen
Die russischen Forderungen wurden so entschieden vorgebracht, um die westlichen Mächte, allen voran die USA, zu Sicherheitsgarantien zu bewegen, die für uns akzeptabel sind.
Es war für uns nicht nur wichtig, die Situation an unseren westlichen Grenzen zu entspannen, sondern auch, den Westen dazu zu bringen, endlich mit uns über Fragen der europäischen Sicherheit zu sprechen.
Das ist bereits durch die Tatsache geschehen, dass ein Dialog in Gang gekommen ist. Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen. Zwischen 1999 und 2021 hing diese Sicherheit vom Good oder Bad Will der USA ab, mit der NATO als ihrem Hauptinstrument. Jetzt verhandeln die USA und die NATO die europäische Sicherheit – genau wie in Zeiten von Jalta und Helsinki – mit Russland, und dadurch steht diese Sicherheit jetzt auf zwei Pfeilern statt auf einem.
Kann man davon ausgehen, dass der Westen und vor allem die USA in diesem Szenario dazu bereit wären, erheblichen Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie das Minsker Abkommen erfüllt?
Das hoffe ich sehr, aber davon ausgehen würde ich nicht. Die Vereinbarungen von Minsk sind ein diplomatischer Sieg für Russland, der auf dem militärischen Sieg aufbaut, den die Rebellen und die sie unterstützenden Kräfte über die ukrainische Armee im Februar 2015 errungen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob die USA verstehen, dass der Schlüssel, die Situation um die Ukraine zu entspannen, in der Erfüllung des Minsker Abkommens liegt, aber genau so ist es.
Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben
Im Prinzip lassen sich die Vereinbarungen noch umsetzen. Man könnte den Donbass immer noch unter den darin formulierten Bedingungen in die Ukraine reintegrieren, wonach die Rechte der Bewohner dieser Regionen gewährleistet und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine in durch Russland anerkannten Grenzen bewahrt würden. Aber bisher sehe ich keine Bereitschaft Washingtons, Kiew dazu zu bringen, das Minsker Abkommen zu erfüllen.
Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben. In den letzten Jahren zielt die Politik in Washington darauf ab, den Druck auf Russland zu erhöhen – und die Ukraine ist nur einer ihrer Hebel. Wenn ich die Strategie des Westens richtig verstehe, dann wird dieser Druck seinen Höhepunkt erreichen, wenn in Russland der Prozess des Machttransfers beginnt. In einer Konfrontation mit China brauchen die Amerikaner ein gefügigeres Russland. Aber das ist ein lang- und kein kurzfristiges Ziel.
Okay, das ist die erste Variante – kräftig aufmischen und nehmen, was man kriegt.
Ja, hier kann man sich in Erinnerung rufen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist, und noch viele andere Argumente vorbringen, die für diese Variante sprechen.
Die zweite Variante bedeutet, dass tatsächlich alles sehr ernst ist und wir uns bereits an einem Punkt befinden, an dem eine neue russische Politik die alte allmählich verdrängt. In meinem Buch New Balance of Power habe ich geschrieben, dass die russische Außenpolitik – sowohl unter Jelzin als auch unter Putin, einschließlich der Medwedew-Periode – auf den Schultern der Politik Gorbatschows steht. Es geht auf die eine oder andere Weise um eine Fortsetzung der Integration in die westliche Welt, um das Finden eines eigenen Platzes darin, um die Suche nach einem Gleichgewicht der Interessen in den Beziehungen zu den USA und anderen Ländern des Westens, wobei der Fokus auf der Zusammenarbeit liegt.
Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches Projekt zu verwirklichen?
Aber was, wenn dieser Kurs jetzt radikal revidiert wird? Und das betrifft nicht nur die Außenpolitik, sondern die Richtung, in die Russland sich insgesamt bewegt. Was, wenn wir die Periode hinter uns lassen, in der das wichtigste Ziel die Integration in eine geeinte Welt war, wenn auch zu eigenen Bedingungen? Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird, von dem Präsident Putin gesprochen hat, als er auf die Aussicht amerikanischer „Sanktionen aus der Hölle“ reagierte? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches (auch wirtschaftliches, gesellschaftliches und ideologisches) Projekt zu verwirklichen?
Vielleicht ist man bereits dabei, ein gesondertes „russisches Projekt“ aufzubauen, das nicht mehr darauf abzielt, sich in eine Welt einzuordnen, in der der Westen wenn nicht die dominierende, so doch immer noch die führende Rolle spielt?
Im Fall eines Bruchs mit dem Westen könnte Russland in weitaus engere Beziehungen mit bedeutenden nichteuropäischen Ländern treten, Bündnisse eingehen mit Ländern wie China, aber auch mit dem Iran und den Kontrahenten der USA in der westlichen Hemisphäre – Venezuela, Kuba und Nicaragua. In diesem Fall könnte Moskau anfangen, das zu tun, was man ihm im Westen gerne vorwirft.
Sie sprechen von der Errichtung von Einflusszonen?
Davon, und von dem Recht auf Gewaltanwendung, um unliebsame Regime zu beseitigen. Die USA haben zum Beispiel im Irak einen Diktator gestürzt. Sie haben dort zwar keine Massenvernichtungswaffen gefunden, aber im Großen und Ganzen ist man im Westen der Meinung, dass sie trotzdem etwas Gutes getan haben, weil der Diktator weg ist.
Und jetzt stelle ich fest, dass die russischen Diplomaten, allen voran der Außenminister, immer öfter den Begriff „Regime“ verwenden, wenn sie von der ukrainischen Regierung sprechen. Ein Regime ist etwas Unrechtmäßiges. Wenigstens aus moralisch-ethischer Sicht. Und wenn die Regierung illegitim ist, warum dann nicht den gesunden Kräften helfen, sie zu stürzen?
Russland könnte Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen
Ich habe das Gefühl, dass Russland nach einem neuen Ankerpunkt für den postsowjetischen Raum sucht. Hier sind verschiedene Varianten denkbar, zum Beispiel, ein erweiterter Begriff des Unionsstaates durch den Einschluss neuer Gebiete. Nehmen wir an, die russische Regierung kommt zu dem Schluss, dass das Minsker Abkommen nicht realisiert werden kann, dann könnten sie die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen. Hypothetisch gesehen könnten sie auch Abchasien und Südossetien dieser Union anschließen.
Das bezieht sich auf den Fall, dass Russland mit dem, was ihm nicht gefällt, bricht und nach dem Prinzip zu handeln beginnt: „Wenn es nicht im Guten geht, dann eben mit Gewalt.“ Die USA werden da nicht viel ausrichten können, in einen direkten Konflikt mit Russland werden sie nicht treten.
Sie haben zwei sehr unterschiedliche Szenarien beschrieben. Wenn man eine Analogie zum Schach zieht, ist die erste Variante ein raffiniertes Spiel mit im Voraus durchdachten Zügen und einkalkulierten Risiken. Während bei der zweiten Variante einer der Spieler das Brett mitsamt den Figuren einfach vom Tisch schleudert.
Ganz genau.
Aber welches Szenario wird nun umgesetzt?
Das weiß ich nicht. Diese Frage kann in unserem Land nur einer beantworten. Aber beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden. Im ersten Fall geht es um einen Verlust der Reputation – sowohl auf internationaler Ebene als auch innerhalb des Landes. Nimmt Russland von seinen Forderungen Abstand, die es als „absoluten Imperativ“ formuliert hat, dann kann man ihm vorwerfen, geblufft zu haben. Großmächte bluffen nicht. Wenn Russland blufft, verliert es an Status in der Welt. Aber selbst wenn ein Teil der Bevölkerung das negativ aufnimmt, ist das nicht besonders schlimm. Innerhalb des Landes ist die Staatsmacht stark genug. Es wäre eher Russlands internationaler Ruf, der darunter leiden würde, man würde es in Zukunft weniger ernst nehmen. Aber überleben kann man das.
Beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden
Das zweite Szenario, das auf militärische Stärke setzt, bringt einen schwerwiegenden Bruch der Beziehungen mit sich, auch innerhalb des Landes. Es wischt die Hoffnungen eines kleinen, aber einflussreichen Teils der russischen Elite vom Tisch, der immer noch darauf wartet, dass sich das Verhältnis zum Westen endlich normalisiert. In seiner radikalen Version – wie es einige westliche Analysezentren beschreiben – würde dieses Szenario auch für breitere Bevölkerungsschichten Russlands zu einer Belastungsprobe werden. Die Rede ist vom Szenario einer „Besetzung der Ukraine“.
Sie meinen, wenn es nicht bei der Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk bleibt?
Ja, wenn die russische Regierung zu dem Schluss kommt, dass die einzige Garantie dafür, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt und auf ihrem Territorium keine US-Raketen stationiert werden, in der unmittelbaren Kontrolle der Ukraine durch Russland besteht oder in der Installierung einer moskautreuen Regierung in Kiew. So oder so würde dieses Szenario ganz anders aussehen als die Krim, wo kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde.
Halten Sie dieses Szenario für auch nur irgendwie wahrscheinlich?
Eher nicht. Es brächte enorm viele negative Folgen mit sich, beträchtliche menschliche und finanzielle Verluste.
Also ist es das Worst-Case-Szenario?
Das kommt darauf an. Für die einen wäre es gut, für die anderen schlecht. Meiner Ansicht nach birgt es ein kolossales Risiko für Russland selbst.
Ihrem Buch nach zu schließen sehen Sie in der NATO-Osterweiterung keine so große Bedrohung für Russland. Verstehe ich Sie richtig?
Für die militärische Balance und das „Gleichgewicht des Schreckens“ ist eine Ausweitung der NATO unter anderem auf die Ukraine keine Bedrohung. Wenn die USA ihre Raketen bei Charkow stationieren, verschaffen sie sich keinen signifikanten militärisch-strategischen Vorteil gegenüber der Russischen Föderation.
Aber was ist mit der verkürzten Flugzeit, mit den berühmten „fünf bis sieben Minuten bis Moskau“?
Das widerspricht sich nicht. Denn was würde in dieser Situation passieren? Russland würde auf seinen U-Booten Hyperschallraketen stationieren, Zirkon zum Beispiel, und damit die US-Küste entlangfahren, womit es sich dieselbe Flugzeit bis zu den wichtigsten amerikanischen Zielen sichern würde. Das Gleichgewicht des Schreckens bliebe erhalten, nur eben auf höherem, gefährlicherem Niveau.
Ich halte eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung
Auch eine US-Einheit in Polen oder ein NATO-Bataillon im Baltikum können Russlands Sicherheit nicht ernsthaft bedrohen. Das Einzige, was Russland Probleme bereiten könnte, sind amerikanische Raketen-Abwehrsysteme in Rumänien und Polen. Alles andere ist nicht wirklich bedrohlich. Insofern halte ich eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung.
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Ein Land, das NATO-Mitglied wird, durchläuft eine tiefgreifende Umprogrammierung, die alle Bereiche des Lebens betrifft. Es passiert eine politische und ideologische Transformation. Solange die Ukraine nicht in der NATO ist, besteht immer noch die Möglichkeit, dass das Land als Ganzes oder teilweise beschließt, dass Dinge wie Slawentum, Russki Mir und so weiter doch wichtig sind, und die Beziehungen zu Russland können sich normalisieren, eine Annäherung ist möglich. Zumindest aus Moskaus Sicht bleibt diese Möglichkeit bestehen. Aber wenn das Land der NATO beitritt, dann ist der Zug abgefahren. In diesem Sinn existiert also sehr wohl eine Bedrohung, bloß ist es keine militärische, sondern eine geopolitische und geokulturelle.
Übrigens haben der Oberbefehlshaber und die militärisch-politische Führung unseres Landes, wenn man den offiziellen Mitteilungen glauben will, hierzu ganz andere Vorstellungen, die unbedingt zu berücksichtigen sind.
Russland hat dem Westen im Fall einer Absage an seine Forderungen mit einer „militärischen Reaktion“ gedroht. Was kann, abgesehen von dem, was Sie schon erwähnt haben, damit gemeint sein?
Wenn das Prozedere der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sich so entwickelt wie in Abchasien, dann könnten dort russische Truppen stationiert werden, Militärstützpunkte. Aber ich glaube, der Großteil der kriegstechnischen Reaktion wird in der Stationierung von Waffensystemen an Orten bestehen, wo bisher keine sind.
Zum Beispiel?
Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass Russland, wenn es in militärischer Hinsicht in Europa unzufrieden wäre, zusätzliche Iskander-Raketen in Kaliningrad positionieren könnte. Die Oblast Kaliningrad galt als Aufmarschgebiet an vorderster Front, von dem aus Russland jedem Widersacher drohen könnte. Doch Kaliningrad ist physisch getrennt vom restlichen russischen Territorium, dort etwas hinzuliefern und die Verbindung aufrechtzuerhalten ist besonders in Zeiten einer Feindschaft mit dem Westen ziemlich schwierig. Es geht, aber es ist nicht einfach.
Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China
Viel einfacher ist es, etwas im freundlich gesinnten Belarus zu stationieren, auf dem Territorium eines Bündnispartners, wo es bisher keine russischen Stützpunkte und Raketen gibt, schon gar keine Atomraketen. Noch dazu, wo der belarussische Präsident …
… das von sich aus anbietet?
Ja, er hat ein feines politisches Gespür und ist bereit, der Russischen Föderation zu einem unausgesprochenen, aber erahnbaren Preis diese Möglichkeit zu bieten. Das ist eine Option.
Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China, eine Koordination zwischen Moskau und Peking im militärischen Bereich, eine aktivere militärtechnische Kooperation zwischen beiden Ländern. Möglich ist im Hinblick auf militärische Fragen auch eine Annäherung an den Iran. Anlässlich der Krise rund um die Ukraine hat der russische Präsident auch mit den Staatsoberhäuptern Venezuelas und Kubas telefoniert.
Das heißt, Russland könnte den USA in einem potenziellen Konflikt mit China in die Quere kommen.
Ja, natürlich, auch das ist denkbar. Im Grunde wäre das die normale Vorgehensweise. Länder, die sich feindlich gegenüberstehen, so wie aktuell Russland und die USA, setzen sich gegenseitig unter Druck. So ist es nun mal. Nicht mit Überzeugung oder Argumenten, sondern mit Gewalt, wenn auch nicht unbedingt mit militärischer. Die Amerikaner haben, abgesehen von ihrem militärischen Potenzial, große finanz-ökonomische Macht und setzen diesen Hebel immer stärker gegen Russland ein. Russland hingegen ist vor allem in geopolitischer, energetischer, militärischer und kriegstechnischer Hinsicht stark.
Es gibt Mutmaßungen, Russland könnte Raketen in Venezuela und auf Kuba stationieren.
Wenn Moskau anfängt, die USA von Lateinamerika aus zu bedrängen, dann reagieren die USA in Europa, wo es eine ganze Reihe Länder gibt, die einer Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen auf ihren Gebieten bereitwillig zustimmen würden. Was würde das Russland bringen?
Was ist passiert, dass Sie und ich plötzlich über solche aufwühlenden Szenarien sprechen? Was ist denn plötzlich los mit der Welt?
Die Welt bewegt sich auf hochgefährlichen Wegen, aber wohin? Das kann ich nicht sagen. Die Geschichte zeigt uns sehr deutlich: Nach einem schweren Kampf – egal ob nach einem „heißen“ oder einem „kalten“ Krieg – bleibt eine Verliererseite zurück, die in ihrem Stolz verletzt ist und ihre Souveränität nicht aufgeben will.
Ich glaube dieser Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert
Wenn diese Verliererseite nicht zu Bedingungen, die auch sie zufriedenstellen, in ein neues Sicherheitssystem eingebunden wird, dann erstarkt sie in 20 bis 30 Jahren wieder und fordert Respekt für ihre nationalen Interessen ein.
Und dieser Moment ist jetzt gekommen?
Ja, ich glaube, der ist gekommen. 30 Jahre hat es gebraucht. Die Sieger des Kalten Krieges dachten erst, Russland habe seine frühere Bedeutsamkeit eingebüßt, und verloren ihr Interesse. Niemand wollte sich so recht mit der schwierigen Aufgabe seiner Integration in die westliche Welt befassen. Zudem wäre für eine solche Integration die Zustimmung der westlichen Länder, vor allem der USA, zu einer maßgeblichen Beschränkung ihres eigenen Einflusses notwendig gewesen, dazu, Russland ein entscheidendes Stimmrecht zu gewähren. Die USA waren dazu nicht bereit. Sie teilen ihre Vormachtstellung und ihr entscheidendes Stimmrecht nicht einmal mit ihren nächsten Verbündeten. Das letzte Wort muss immer Washington haben. Zu den vom Westen vorgeschlagenen Bedingungen einer ungleichen Partnerschaft wollte Russland selbst nicht in die transatlantische Zone integriert werden. Was damals aber sowieso niemanden störte – die russische Wirtschaft war schwach, die demografische Entwicklung rückläufig, das politische System instabil, und man hielt noch ein paar mehr Zusammenbrüche für möglich. Daher musste man da auch …
… keine großen Umstände machen?
Genau. Die Haltung gegenüber Russland hat sich nach der Krim und vor allem seit Beginn des Syrien-Einsatzes verändert. Sie erinnern sich, davor hatte US-Präsident Barack Obama Russland als „Regionalmacht“ bezeichnet. Aber dann haben alle gesehen, dass Russland sich nicht nur als Subjekt in internationalen Beziehungen erholt hat, sondern auch weit jenseits der eigenen Staatsgrenzen handeln kann.
Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu
Doch sofort liefen die Handlungen Moskaus den Interessen des Westens zuwider, Russland wurde als Gegner wahrgenommen, den man bestrafen und mit Druck, vor allem mit Sanktionen, auf seinen Platz verweisen müsse. Entgegenkommen oder Zugeständnisse an Russland wurden als Besänftigung eines Aggressors gedeutet. Der Westen, der seine eigene Schwäche spürte, war insgesamt viel weniger bereit, Kompromisse zu schließen und sich mit anderen, sagen wir, konkurrierenden oder sogar feindlichen Regimen an einen Tisch zu setzen und auf Augenhöhe zu verhandeln. Seit dem Zerfall der Sowjetunion verhandelt der Westen mit niemandem mehr auf Augenhöhe – nicht einmal mit China.
Man kann den Westen auch verstehen, er macht eine ziemlich schwierige Entwicklungsphase durch, und es geht ja tatsächlich um den Niedergang der westlichen Dominanz und langfristig seiner Führungsrolle in der Welt. Das ist für den Westen schwer. Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu. Eine gewisse Klarheit kann wahrscheinlich nach einem ernsthaften Kräftemessen in verschiedenen Regionen und in verschiedenen funktionellen Bereichen erzielt werden. Am Verhandlungstisch lässt sich das alles nicht lösen, aber dort kann man das erreichte Ergebnis dokumentieren und ausgestalten. So wird eine neue Weltordnung entstehen.
In ganz Russland wird rund um den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar eine „Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust“ veranstaltet. Der 27. Januar 1945 ist für Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion zudem ein symbolisches Datum: Es war die Rote Armee, die an diesem Tag das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit hat.
Im Vorfeld dieses Jahrestages war in Russland nun eine Debatte um das Gedenken an den Schulen im Land hochgekocht.
Was genau wird diskutiert?
Den Schulen kommt in Russland für die Gedenkwoche an den Holocaust eine gewichtige Rolle zu. Unterstrichen wurde das bisher dadurch, dass es einen vom russischen Bildungsministerium festgelegten Termin im offiziellen Bildungskalender gegeben hat – als Ausgangspunkt für Schulprojekte und Veranstaltungen zum Holocaust. Tatsächlich ist es so, dass viele Lehrerinnen und Lehrer sich stark nach solchen Vorgaben aus dem Ministerium, also „von oben“, richten.
Doch dieser Termin sollte zum aktuellen Schuljahr wegfallen – was unter Vertretern der jüdischen Gemeinde, Historikern und Bürgerrechtlern Empörung ausgelöst hat. Erst einen Tag vor dem weltweiten Gedenktag hat das russische Bildungsministerium seinen Beschluss revidiert und das Datum kurzfristig wieder aufgenommen.
Gut möglich, dass die Debatte dies mitbefördert hat. Angestoßen wurde sie Ende des Jahres auf der Internationalen Konferenz zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus Die Zukunft schützen in Moskau.
Warum ist das so wichtig?
Man muss sich vergegenwärtigen, welche Bedeutung der Gedenkwoche in Russland zukommt: Sie wird seit mittlerweile acht Jahren mit zahlreichen Veranstaltungen, Lesungen, Filmvorführungen und Gesprächsrunden begangen und gibt dem Holocaust in der Erinnerungsarbeit einzigartigen Raum. Nicht nur mit Blick auf das weltweite Gedenken, sondern weil die Opfer auch millionenfach in den von Nazis besetzten Gebieten der früheren Sowjetunion systematisch ermordet wurden, also auch auf dem Gebiet des heutigen Russlands. Gerade Schulen spielen in der landesweiten Gedenkwoche und in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust eine wichtige Rolle – deshalb hat das Thema so hohe Wellen geschlagen. Auch der Menschenrechtsrat hatte sich eingeschaltet und an Präsident Wladimir Putin appelliert. Zu Sowjetzeiten war der Holocaust nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert, da die sowjetische Führung Opfer zu „friedlichen Sowjetbürgern“ und „antifaschistischen Widerstandskämpfern“ nivellierte; den Holocaust also aussparte. Zugleich ist der 27. Januar für Russland im Kontext des Zweiten Weltkriegs aus einem weiteren Grund ein zentrales Datum: An diesem Tag gelang 1944 nach rund 28 Monaten die Befreiung Leningrads aus der Blockade. In Russland gab es in den vergangenen zehn Jahren eine weit größere Offenheit für die differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Holocaust. Unterschiedliche Akteure haben das in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gefördert, darunter jüdische Organisationen, Gemeinden sowie das Zentrum Holocaust, das die traditionelle Gedenkwoche mitorganisiert. Als Motor gelten ebenso zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, darunter Hobbyhistoriker oder Geschichtslehrer, die dafür sorgen, die Verbrechen regional aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken.
Und nun?
Präsident Putin hat auf die Kritik reagiert und gesagt, es sei „offensichtlich“, dass an die Gräueltaten der Nazis an der jüdischen Bevölkerung erinnert werden müsse: „(…) das sollten wir natürlich im Gesamtbild der Verbrechen, die die Nazis in der Welt und in unserem Land begangen haben, nicht vergessen“.
Putin hatte dahingehend keine konkrete Zusage gemacht; kurz vor dem Internationalen Gedenktag ließ das russische Bildungsministerium allerdings mitteilen, dass der Tag wieder in den Bildungskalender aufgenommen wird.
dekoder zeichnet die Debatte nach, die es rund um den Wegfall des Termins gegeben hat. Historiker und Vertreter der jüdischen Gemeinde fragen sich: Ist der Wegfall des Datums im Bildungskalender Ausdruck eines großpolitischen Shifts in der Erinnerungs- und Geschichtspolitik? Oder kann man an einen „technischen Fehler“ glauben, wie vom Bildungsministerium zwischenzeitlich mitgeteilt? Wie steht es damit um das Gedenken an den Holocaust in russischen Schulen? Und welche Folgen kann das für das Wissen zum Holocaust bei den Schülerinnen und Schülern haben?
Kehren wir nicht zum alten Ideologem zurück?
Ilja Altman, Historiker und Mit-Gründer des Zentrums Holocaust, ging in einem Gastbeitrag in der Nesawissimaja Gaseta der Frage nach, was das für den Umgang mit dem Holocaust insgesamt heißen könnte:
[bilingbox]Warum wurde also der 27. Januar aus dem Bildungskalender gestrichen? Als wir im Juni davon erfuhren, wandten wir uns an Bildungsminister Sergej Krawzow. Ein paar Monate lang versicherten die Mitarbeiter dem Zentrum Holocaust, dass es sich um einen technischen Fehler handle. Im September fragten wir wieder beim Bildungsministerium nach – mit der Bitte um eine offizielle Antwort. Die erfolgte im Oktober. In dem Schreiben hieß es, es gebe in unserem Land bereits einen Gedenktag am 22. Juni, und ein neues Datum sei hinzugekommen: der 19. April zum Gedenken des Genozids am sowjetischen Volk. Nach Ansicht des Ministeriums genüge das, um aller Opfer des Nationalsozialismus gebührend zu gedenken. Eine solche Interpretation der nationalsozialistischen Politik in den besetzten sowjetischen Gebieten verdient eine eigene Diskussion. In Russland bildete sich in den vergangenen zwei Jahren eine Tendenz heraus, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – in den Nürnberger Prozessen so qualifiziert – als „Genozid am sowjetischen Volk“ zu bezeichnen. Die Verwendung dieses Begriffs nach dem Prinzip der Staatsbürgerschaft der Opfer anstelle ihrer ethnischen Zugehörigkeit höhlt unserer Meinung nach seinen Gehalt komplett aus.
Schulbehörden erhielten im Frühling dieses Jahres [gemeint ist 2021 – dek.] didaktische Empfehlungen für einheitliche Stundenentwürfe zum 19. April. Es ist kein Zufall, dass es darin hieß, den Genozid am sowjetischen Volk hätten die Nazis und ihre Gehilfen an der friedlichen Bevölkerung ungeachtet ihrer Nationalität und ethnischen Zugehörigkeit vollzogen. Kehren wir damit nicht zu dem Ideologem zurück, dass nicht Juden, sondern „friedliche sowjetische Staatsbürger“ in Babyn Jar und in den zahllosen anderen Gräben auf den besetzten Gebieten ermordet wurden?~~~Так почему же дату 27 января изъяли из календаря? Узнав об этом в июне, мы обратились к министру просвещения Сергею Кравцову. В течение нескольких месяцев сотрудники Минпроса убеждали центр «Холокост», что это техническая ошибка. В сентябре мы повторно обратились в Министерство просвещения с просьбой дать официальный ответ. Он последовал в октябре. В письме сообщалось, что в нашей стране есть День памяти 22 июня и появилась новая дата – 19 апреля, День памяти геноцида советского народа. По мнению министерства, этого достаточно для того, чтобы почтить память всех жертв нацизма.
Подобная трактовка нацистской политики на оккупированной территории СССР заслуживает отдельной дискуссии. В России в последние два года активизировалась тенденция называть воинские преступления и преступления против человечности – именно так они были квалифицированы Нюрнбергским трибуналом – «геноцидом советского народа». Трактовка этого термина по принципу гражданства, а не этнической принадлежности жертв, на наш взгляд, полностью выхолащивает его содержание.
Не случайно в методических рекомендациях, которые получили органы образования весной этого года по проведению единых уроков 19 апреля, говорилось о том, что геноцид советского народа нацисты и их пособники проводили независимо от национальной и этнической принадлежности мирных жителей. Не возвращаемся ли мы к идеологеме, что не евреи, а «мирные советские граждане» были казнены в Бабьем Яру и бесчисленных ярах на всей оккупированной территории?[/bilingbox]
Auf ein formelles Gesuch des Menschenrechtsrates, den Gedenktag als Termin in den Bildungskalender wieder aufzunehmen, äußerte sich das russische Bildungsministerium bei RIA Nowosti noch vor wenigen Wochen ohne eine Zu- oder Absage. Stattdessen wurde auf bestehende Lehrpläne verwiesen:
[bilingbox]‚Der Große Vaterländische Krieg, die Helden und Verteidiger des Vaterlandes, die von der Nazi-Armee begangenen Verbrechen gegen die Menschheit, der Generalplan Ost, die Nazi-Politik des Genodzids und Holocausts, Raub und Vernichtung von Kulturgütern durch die faschistischen Invasoren – all das durchzieht das Curriculum, wie sich sowohl an den Unterrichtsvorlagen zeigt, als auch an den konkreten Geschichtsstunden, wie sie an den Schulen im ganzen Land stattfinden. Darunter fallen auch Unterrichtseinheiten des allrussischen Curriculums sowie Aktionen und Veranstaltungen‘, heißt es in einer Presseerklärung.
Mit dem Beschluss des Bildungsministeriums der Russischen Föderation vom 23. Oktober 2020 wurde das Konzept für den Unterricht „Russische Geschichte“ in den allgemeinen Bildungseinrichtungen der Russischen Föderation genehmigt, heißt es weiter in der Erklärung.
Das Konzept folgt konsequent einem historisch-kulturellen Standard und enthält Ergänzungen, die das Wesen des NS-Besatzungsregimes in den besetzten Gebieten der UdSSR, die Mechanismen der Nazi-Propaganda, die ethnischen Säuberungen in den besetzten Gebieten der UdSSR, die Tragödie der sowjetischen Kriegsgefangenen, den Massenmord an Kriegsgefangenen, die medizinischen Experimente an Gefangenen in den NS-Konzentrationslagern und Ghettos sowie die Verschleppung sowjetischer Menschen nach Deutschland widerspiegeln, betont der Pressedienst.~~~"Великая Отечественная война, герои и защитники отечества, преступления против человечества, учиненные нацисткой армией, план "Ост", нацистская политика геноцида и холокоста, разграбление и уничтожение культурных ценностей фашистскими захватчиками – все эти вещи проходят сквозь школьную программу, что отражено как примерными программами, так и реальными уроками истории, проводимыми в школах по всей стране, включая серии всероссийских уроков, акций и мероприятий", – отмечается в сообщении пресс-службы.
Решением Коллегии Минпросвещения РФ от 23 октября 2020 года одобрена Концепция преподавания учебного курса "История России" в образовательных организациях Российской Федерации, реализующих основные общеобразовательные программы, говорится в сообщение.
В Историко-культурный стандарт, являющийся составной частью Концепции, внесены дополнения, отражающие сущность нацистского оккупационного режима на захваченных территориях СССР, характер нацистской пропаганды, этнические чистки на оккупированной территории СССР, трагедию советских военнопленных, массовое уничтожение военнопленных, медицинские эксперименты над заключенными нацистских концентрационных лагерей и гетто и угон советских людей в Германию, подчеркивает пресс-служба.[/bilingbox]
Alla Gerber ist Vorsitzende der Stiftung Holocaust in Russland und seit Jahrzehnten in der Erinnerungsarbeit zum Holocaust aktiv. Auf den Wegfall des Termins reagierte sie empört:
[bilingbox]Damit wird auf das Gedenken an sechs Millionen Leben gespuckt, die die Nazis ausgelöscht haben, und ebenso auf die Befreier des Konzentrationslagers. Der 27. Januar ist ein international anerkanntes Datum, an dem man der Opfer des Holocaust und der Helden des Widerstands gedenkt, der Tag der Befreiung von Auschwitz. ~~~«Это плевок в память о 6 миллионах жизней, загубленных нацистами, о тех, кто освобождал концлагеря. 27 января – международно-признанная дата, день памяти жертв Холокоста и героев сопротивления, дата освобождения концлагеря Аушвиц.»[/bilingbox]
Juri Kanner, Vorsitzender des Russischen Jüdischen Kongresses, meinte, dass Schülerinnen und Schüler dadurch weniger über den Holocaust lernen. Bisher bot der Gedenktag für Schulen, Lehrerinnen und Lehrer den Anlass, am Gedenktag ausgerichtet spezielle Unterrichtseinheiten anzubieten. Kanner äußerte die Befürchtung, dass dies nun – andersrum – sogar eher ausgespart werden könnte:
[bilingbox]Das Streichen dieses Datums aus dem Bildungskalender entzieht Lehrern die normative Grundlage für ihren Unterricht zur Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust, die in Russland seit 2015 alljährlich begangen wird, dieses Jahr in 75 Regionen. Entsprechende Schulstunden können jetzt jederzeit vom Direktor verboten oder – wenn er erst im Nachhinein davon erfährt – mit Disziplinarmaßnahmen bestraft werden.
Und was kommt dabei heraus? Tapetenkleister?
Holocaust – ist das ein Tapetenkleister? Das ist kein Scherz, sondern der Titel eines Films, der mit Unterstützung des Russischen Jüdischen Kongresses gedreht wurde. Erstmals wurde er 2013 beim 35. Internationalen Filmfestival in Moskau gezeigt. Der Film hatte eine enorme Wirkung und zog eine lebhafte Debatte nach sich. Worum ging es in dem Film? Die Schwestern Xenia und Jewgenia Karatygin aus der Oblast Wladimir hatten an der Fernsehshow Besumno krassiwyje des Senders Mus-TV teilgenommen und auf die Quizfrage Was ist der Holocaust? geantwortet, das sei ein Tapetenkleister. Die Originalsequenz mit dieser Antwort wurde zum Youtube-Hit. Der Regisseur Mumin Schakirow machte die beiden ausfindig und fuhr mit ihnen nach Auschwitz. Er filmte ihre Reaktionen auf das, was sie dort sahen. Der Film war sehr erfolgreich, sowohl in Russland als auch international. Am 22. Juni 2016 wurde Holocaust – ist das ein Tapetenkleister? auf NTW gezeigt.
Ich hoffe, dass es in Russland heute weniger Leute gibt, denen der Holocaust unbekannt ist. Das ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft.~~~Исключение даты из образовательного календаря лишает нормативной базы учителей, проводящих в школах уроки во время «Недели памяти жертв Холокоста», которая с 2015 года проходит в России ежегодно, и в этом году охватила 75 регионов. Любой директор школы теперь может запретить такой урок или — узнав о нем постфактум — наложить на учителя дисциплинарное взыскание.
И что мы получим? Клей для обоев?
‘Холокост — клей для обоев?’ — это не шутка, а название снятого при поддержке РЕК фильма, премьера которого прошла в 2013 году на 35-м Московском международном кинофестивале. Фильм произвел ошеломляющий эффект и вызвал волну обсуждений. Напомню сюжет. Сестры Ксения и Евгения Каратыгины из Владимирской области, участвуя в программе «Безумно красивые» на канале «Муз-ТВ», на вопрос викторины «Что такое Холокост?» ответили, что это клей для обоев. Фрагмент с этим оригинальным ответом попал в топ youtube, а кинорежиссер Мумин Шакиров разыскал сестер и отвез девушек в Освенцим. Снял их реакцию на то, что они увидели, как пережили. Фильм имел большой успех и в России, и за границей. 22 июня 2016 года фильм «Холокост — клей доя обоев» был показан на НТВ.
Надеюсь, сейчас в России все меньше людей, которые не знакомы с историей Холокоста, и это результат многолетней совместной работы государства и гражданского общества.[/bilingbox]
Der Historiker Artjom Rudinzki setzte sich damit auseinander, warum der Holocaust zu Sowjetzeiten im Kriegsgedenken keinen Platz fand – und wundert sich über das russische Bildungsministerium heute:
[bilingbox]… [Der Menschenrechtsrat – dek] empfahl dem Bildungsministerium, diesen Gedenktag wieder in den Bildungskalender aufzunehmen. Die Beamten [dort – dek] hüllten sich bezüglich ihrer Gründe in vornehmes Schweigen. Anstelle einer deutlichen Antwort lehnten sie das Gesuch formell bürokratisch mit einem Schreiben ab. Die Kernaussage: Der Lehrplan enthalte bereits alles, was notwendig sei, und im Bildungskalender befänden sich auch ohne Holocaust genügend Jahrestage.
In der Sowjetzeit war alles klar: Der Holocaust wurde aufgrund des staatlichen Antisemitismus, des Bruchs mit Israel und des Kampfs gegen den Zionismus (den man für einen Handlanger des amerikanischen Imperialismus hielt – oder umgekehrt) verschwiegen. Über die massenhafte Vernichtung der Juden sprach man nicht, und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Die Besatzer haben bestialisch gewütet und das gesamte sowjetische Volk niedergemetzelt. Doch in erster Linie traf es die Juden. Die hatten überhaupt keine Chance. Ghettos und Vernichtungslager wurden speziell für sie errichtet. Das zu erwähnen, passte aber nicht in das starre Schema der sowjetischen „Geschichtspolitik“. Eine unpassende Klammer.
Gott behüte, dass wir dorthin zurückkehren.
Der Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ist der 27. Januar 1945, der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee. Er war Symbol und Meilenstein unserer Befreiungsmission in Europa. Und es gibt keinen Grund, ihn aus dem Gedächtnis zu streichen.~~~И предложил Минпросвету восстановить в школьных программах этот день памяти. Чиновники о причинах своего решения скромно умолчали. Вместо внятного ответа, если выражаться бюрократическим новоязом, «отписались». Смысл такой: в школьной программе все, что надо, отражено, а в календаре образовательных событий и воспитательной работы хватает дат и без Холокоста.
В советские времена все было ясно. Холокост замалчивали из-за государственного антисемитизма, разрыва отношений с Израилем, борьбы с сионизмом, который считался подручным американского империализма (или наоборот). О массовом уничтожении евреев не говорили, а если говорили, то сквозь зубы. Оккупанты зверствовали страшно, и осуществляли геноцид всего советского народа. Но евреи были приоритетом. У них вообще не было шанса. Гетто и лагеря уничтожения создавали специально для них. Упоминание об этом не влезало в прокрустово ложе советской «исторической политики». Не та скрепа. Не дай бог к этому вернуться.
Международный день Холокоста – это 27 января 1945 года, день освобождения Освенцима Красной армией. Это знаковое событие, один из символов нашей освободительной миссии в Европе. И нечего вычеркивать его из памяти.[/bilingbox]
Die Sorge um die Sicherheit in Europa wächst, angesichts des russischen Säbelrasselns an der Grenze zur Ukraine: So haben einzelne NATO-Mitgliedstaaten wie Dänemark und Spanien erklärt, die Militärpräsenz in Osteuropa zu verstärken. Demnach sollen etwa im Ostseeraum zusätzliche Schiffe und Kampfflugzeuge stationiert werden. Die USA und Großbritannien reduzieren mit Verweis auf die ungewisse Lage das Botschaftspersonal in der Ukraine, die EU und auch Deutschland dagegen belassen das Personal vor Ort. Der EU-Außenbeauftragte Borrell warnte davor, die Lage unnötig zu „dramatisieren“.
Gefährlicher Bluff oder ernsthafte Bedrohung der europäischen Sicherheit: Wie groß ist die Gefahr, dass Russland die Ukraine angreift? Auch in Russland ist man sich darüber uneins. In unterschiedlichen Medien äußern sich dazu unter anderen der Lewada-Soziologe Denis Wolkow, Kreml-Berater Sergej Karaganow und Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa. dekoder hat eine Zusammenschau der drei unterschiedlichen Stimmen zusammengestellt.
„Die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß“
Im Interview mit Republic erläutert Lewada-Direktor Denis Wolkow neueste Umfrageergebnisse. Das renommierte Meinungsforschungszentrum Lewada fragte nicht nur danach, wie sehr die russische Bevölkerung die Sorge vor einem Krieg umtreibt, sondern auch, wen sie für den Konflikt verantwortlich macht.
Im Alltag denken die Leute natürlich nicht ständig darüber nach, aber die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß. Im vergangenen Frühjahr erreichte sie einen Maximalwert: 62 Prozent der Befragten sagten, sie hätten Angst vor einem großen Krieg. Gegen Ende des Jahres ließ diese Angst ein wenig nach, im Dezember waren es noch 56 Prozent. Das ist auch viel, aber immerhin weniger. Vermutlich, weil wenigstens Gespräche begannen – zuerst zwischen Putin und Biden, dann auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsministerien. Von einem möglichen Konflikt mit den USA und der NATO spricht jetzt rund ein Viertel der Befragten, von einem Konflikt mit der Ukraine sprechen in verschiedenen Umfragen 35 bis 40 Prozent. Wobei die Verantwortung eher auf die andere Seite geschoben wird – nicht einmal auf die Ukraine, sondern auf den Westen, die USA. „Die haben ja angefangen“, was die Sache noch beängstigender macht, nach dem Motto: Wenn wir angefangen hätten, dann könnten wir ja aufhören. Aber es sind die anderen, und die machen vor nichts Halt.
Die Verantwortung wird eher auf die andere Seite geschoben – auf den Westen, die USA
Auch wenn die Gesellschaft also Angst vor dem Krieg hat, ist sie wohl innerlich schon darauf vorbereitet. In den Fokusgruppen klingt das ungefähr so: „Wir werden gegen unseren Willen in einen Krieg hineingezogen.“
„Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft“
Das Massenblatt Argumenty i Fakty bringt ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Sergej Karaganow – Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Außenbeziehungen der HSE sowie Vorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik. Der Außenpolitik-Experte bezeichnet die NATO darin als „Krebsgeschwür“ und mahnt, dass sie kontrolliert werden müsse, andernfalls könne sie die Ukraine zum „Hauptmotor der antirussischen Politik in Europa“ machen. Gleichzeitig betont er, dass Russland kein Interesse daran habe, die Ukraine zu besetzen.
[…] Die Ukraine ist ein Puffer. Mal trennt sie uns von potentiellen westlichen Aggressoren, mal wird sie dazu benutzt, um Druck auf uns auszuüben. Aktuell geht es in der Ukraine-Frage in erster Linie darum, dass sich kein feindliches Bündnis in diese Pufferzone ausbreitet. […]
aiF: Selbst wenn NATO-Truppen in der Ukraine wären, wäre das denn wirklich so gefährlich? Die baltischen Staaten sind schließlich seit fast 18 Jahren in der NATO – und bisher ist die Katastrophe ausgeblieben.
Als die Länder Osteuropas, also Polen und die baltischen Staaten, der NATO beigetreten sind, sagte der Westen zu uns: Keine Sorge, das wird sie besänftigen, sie werden euch friedliche, gute Nachbarn sein. Doch das Gegenteil ist eingetreten – sie wurden nur noch wilder. Allein schon die Zugehörigkeit zu einem Bündnis, das auf Konfrontation setzt, stärkt die schlimmsten Elemente in Politik und Gesellschaft. Wir sehen, was im Baltikum passiert ist, wie dreist die Polen geworden sind, weil sie jetzt an vorderster Front der NATO stehen. Eine solche Ukraine können wir überhaupt nicht gebrauchen. Dort gibt es zwar viele prorussisch denkende Menschen, die uns geistig und kulturell nahestehen. Aber es gibt auch andere, dunkle Kräfte. Wollen wir, dass dieser Bodensatz an die Oberfläche gespült wird, dass die Ukraine, genau wie das Baltikum und Polen, zur treibenden Kraft einer russlandfeindlichen Politik in Europa wird? Ganz zu schweigen von den Waffen, die dort stationiert würden.
Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen
Aber wir sind keineswegs darauf aus, bis zum letzten Ukrainer um die Ukraine zu kämpfen, wir wollen dort sicher keinen Krieg führen. Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft. Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen. Eine Besetzung der Ukraine, davon bin ich überzeugt, gehört ganz sicher nicht in unseren Militärplan. Und sei es nur deshalb, weil die Besatzung eines Landes, das wirtschaftlich, moralisch und intellektuell kastriert ist, eines Landes mit desolater Infrastruktur und verbitterter Bevölkerung, das denkbar schlechteste Szenario ist. Das Schlimmste, was uns im Moment passieren kann, ist, dass die USA uns die Ukraine in dem Zustand schenken, den sie dort selbst geschaffen haben.
„Wir sind an einem Punkt, an dem Russland entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt“
Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa sieht im Säbelrasseln Russlands eher einen Bluff, der auf die Instabilität des Systems verweist – und der aber gefährlich sei, da Russland sich damit in eine Position manövriert habe, aus der es nur schwer einen Ausweg gebe.
Was Putin macht, indem er den Westen in die Ecke drängt, – das zeugt davon, wie angreifbar das von ihm geschaffene System ist. Stärke zu demonstrieren, indem man einen „Feind vor den Toren“ zeichnet, gleicht einem Eingeständnis, keine anderen Ressourcen zu haben, und ist die Kehrseite einer Schwäche.
Mit Russlands Säbelrasseln drängt es den Westen zu einer kollektiven Antwort. Länder, die noch nicht zur NATO gehören, sprechen jetzt von einem Beitritt – zum Beispiel Finnland und Schweden. Anfang 2021 dachte Biden über eine Reduktion des Atomwaffenpotenzials der USA nach. Das überlegt er sich jetzt zweimal.
Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen
Moskau lehrt den Westen, anhand von Ultimaten zu kommunizieren. Wir sagen zu ihnen: „Stoppt die NATO“, und sie zu uns: „Gebt die Krim zurück an die Ukraine, raus aus dem Donbass, raus aus Transnistrien, Abchasien und Südossetien; weg mit den Iskander-Raketen aus Kaliningrad.“ Es ist ein Tauziehen. Und die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit liegt nicht auf russischer Seite. Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen: Wie realitätsbewusst ist er und wie wahrscheinlich ist eine unangenehme Reaktion. Trump hat mit seinen Bluffs und Erpressungen die Führungsrolle der USA untergraben. […] Jetzt, wo Amerika Russland sagt: „Nein, Stopp!“, und Moskau Kompromisse ablehnt, ist eine Pause entstanden. Der Kreml wartet auf ein Gegenangebot seitens der USA und der NATO. Aber es ist doch schon alles gesagt! Die Pause braucht eher Präsident Putin, um einen Entschluss zu fassen. Wir sind an einem Punkt, wo Russland aus Rache für die Weigerung, sein Spiel zu spielen, entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt. Aber ein Rückzug ist immer beschämend, nicht wahr?
Dörfer ticken anders als dicht besiedelte Großstädte, und noch einmal mehr, wenn sie in Grenznähe zu den Nachbarländern liegen: Der Minsker Dokumentarfotograf Siarhei Hudzilin interessiert sich für diese sehr spezielle Kultur. Über mehrere Jahre fotografierte er in den grenznahen Dörfern von Belarus. Neben den persönlichen Projekten, die er verfolgt, arbeitet Hudzilin seit 2011 als Fotojournalist für das unabhängige, in Belarus inzwischen blockierte, Online-Portal Nasha Niva. Auch in der New York Times und bei National Geographic wurden seine Bilder veröffentlicht. Zur Dokumentarfotografie fand er in seiner Zeit bei der Armee, als er begann, den kargen Alltag der Rekruten in den Kasernen festzuhalten und für diese Bilder ausgezeichnet wurde.
Im Interview berichtet er von seinen Besuchen in den Dörfern – sowohl an der Grenze zur Europäischen Union, als auch zu Russland und zur Ukraine – und davon, wie schwierig das Leben in diesen Orten ist, zum Beispiel im Norden, wo der Aswejasee wichtiger ist als die Hauptstadt Minsk. Mit seinen Bildern gibt er einen sensiblen Einblick in diesen Alltag.
dekoder: In welche Orte sind Sie für Ihre Bilder gefahren und was macht diese Gegenden genau aus?
Siarhei Hudzilin: Als ich dieses Projekt entwickelt habe, wählte ich die entlegensten bewohnten Orte von Belarus. Im Norden ist das Asweja, im Süden Kamaryn, im Westen Wyssokaje und im Osten Chozimsk. Das sind praktisch alles Grenzgebiete. Sie sind geprägt von den jeweiligen Ländern und Grenzen. Die Grenze zur EU beispielsweise ist klar definiert, und diese klare Abgrenzung lässt die belarussische Identität sehr eindeutig hervortreten. An der EU-Grenze herrscht Visumspflicht und es gibt eine Sprachbarriere. Daher ist das Alltagsleben der Bewohner dieser Gegend kaum beeinflusst. Die Grenzen zur Ukraine und zu Russland sind dagegen fließend – der Einfluss dieser Kulturen auf die Identität der Menschen ist dort stärker spürbar. In der Nähe der Ukraine nimmt man das Ukrainische in der gesprochenen Sprache und auch in den Nachrichtensendungen wahr, in diesen Regionen sehen die Einwohner ukrainische Fernsehsender und interessieren sich sogar für ukrainische Politik. Dort bildet sich dadurch eine besondere Identität heraus, die Menschen fühlen sich zum Teil einer eigenen ethnischen Gruppe zugehörig, den Polessiern. An der östlichen Grenze zu Russland ist die Situation ähnlich, und überhaupt, das ist ganz interessant, gibt es diese Grenze eigentlich gar nicht, auch historisch gesehen, schon seit seit mehreren Jahrhunderten nicht (angefangen von der Aufteilung der Rzeczpospolita im 18. Jahrhundert, dann kam das Russische Reich, dann die Sowjetzeit, und nun ist es der mythische Unionsstaat). Die Einflüsse sind dort stark: Die Bewohner der Grenzstädte fahren nach Russland zur Arbeit und betrachten eher Großstädte in Russland als ihre Metropolen, statt Minsk in Belarus.
Sie waren in Asweja, wo es ja auch den beeindruckenden Aswejasee gibt. Wie leben die Meschen dort an diesem nördlichsten Punkt mit und neben dem See?
Der Norden von Belarus ist die Region, die wirtschaftlich am wenigsten entwickelt ist. Asweja ist ein sehr depressiver Ort, eine aussterbende Kleinstadt. Das Einzige, was dort womöglich Potenzial hat, ist Tourismus. Alles, was ich dort fotografieren konnte, waren Menschen, die ums Überleben kämpfen.
Die Besonderheit dieser Gegend ist, dass sie im Grenzdreieck zwischen der EU und Russland liegt. Wie sieht der Alltag mit diesen Nachbarn dort aus? Und hat sich das Leben über die vergangenen Jahre verändert?
Das Leben hat sich nicht sonderlich verändert. Die EU-Grenze ist für die dortigen Einwohner weniger durchlässig. Das liegt nicht nur an den Visa, sondern auch am niedrigeren Lebensstandard im Vergleich zu Lettland. Russland dagegen bringt vor allem wirtschaftliche Vorteile, viele Fischer verkaufen ihren Fang aus dem Aswejasee in Russland. Der Alltag ist hier unverändert, diese Orte verkommen und sterben immer weiter aus. Obwohl das belarussische Landleben durchaus beginnt sich zu transformieren. Teils haben Covid-19 und die Digitalisierung der Wirtschaft Einfluss auf diese Entwicklung: Viele Menschen, die im Homeoffice arbeiten, verlegen ihren Hauptwohnsitz nach und nach in die Dörfer. Und die pflegen in dieser dörflichen Umgebung natürlich einen anderen Lebensstandard.
Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt genau entstanden?
Mich hat die kulturelle Identität der Belarussen und der Zustand des Landes im „Hier und Jetzt“ interessiert, ich wollte mich aber auf keinen Fokus und kein Gebiet festlegen – was und auf welche Weise ich fotografieren wollte. Daher brauchte ich eine Art Koordinatensystem und habe mich aus dem Geografieunterricht an die äußersten geografischen Punkte von Belarus erinnert. Ich habe gesehen, dass diese Orte quasi weiße Flecken sind, denn es gibt davon praktisch keine Fotos. So kam es zu dem Entschluss, hinzufahren und Aufnahmen zu machen. Zumal die Frage nach den Grenzen für Belarus sehr wichtig ist: Grenzen existieren in Werten, in der Kultur, in Denkweisen und sogar in der Sprache. Dieser Dualismus ist vielleicht schon anthropologisch begründet – zwei Sprachen (Russisch und Belarussisch), zwei Fahnen (die offizielle rot-grüne und die nationale weiß-rot-weiße), Stadt und Land als zwei Existenzformen der belarussischen Kultur. Deswegen habe ich mich für abgelegene Orte entschieden, an denen die Gegensätze vielleicht am sichtbarsten und frei vom Einfluss moderner, massenkultureller Trends der Großstädte sind. Daher trägt das Projekt auch den Titel Along the Edge (dt. Am Rand entlang) – es ist gewissermaßen ein Querschnitt entlang der Ränder des belarussischen Raumes, nicht nur im geografischen, sondern auch im sozialen und kulturellen Sinne.
Wie wählen Sie die Motive für Ihre Bilder aus?
Vor jeder Fahrt mache ich eine kleine Recherche, studiere diverse Quellen und versuche, Kontakte zu Einheimischen zu knüpfen. Vor Ort bemühe ich mich dann aber, kein bestimmtes Programm zu verfolgen, und lasse mich von der Umgebung inspirieren. Das hat etwas von einem Spiel. Auf diese Art glaube ich, in das Leben der Räume und Menschen eindringen zu können, die ich fotografiere. Ich muss einfach viel herumlaufen und mit Leuten sprechen, die ich nicht kenne, wobei ich denen dann immer erzähle was ich hier überhaupt mache und vorhabe. Bei konzeptuellen Projekten ist das natürlich nicht so, da dauern die Aufnahmen manchmal nur wenige Stunden.
Gibt es ein Lieblingsbild, das Sie von dort mitgebracht haben?
Da habe ich die Qual der Wahl, aber am besten gefällt mir wahrscheinlich das erste Foto des Projekts – das weiß gekleidete Mädchen auf den Ruinen. Für mich steht es gewissermaßen als Bild von Belarus: Weite Räume mit riesigen Ruinen und Rätseln, aus Trümmern und Fragmenten verschiedener Kulturen und aus Einsamkeit. Das ist eine Leere, in der alles möglich ist, doch das Ergebnis ist unvorhersehbar und es gibt keine klaren Regeln und Algorithmen.
Belarus ist ein Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Großstädten lebt. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in solchen Dörfern und der politischen Lage insgesamt?
Diese Gegenden verkommen immer mehr, und die Bevölkerung zieht weg. Die einzige Besonderheit ist, dass an solchen Orten die Hauptstadt Minsk sehr weit weg ist und wenn Menschen von hier wegziehen, dann um Arbeit in der nächsten Stadt, maximal in der Gebietshauptstadt zu suchen. Die aktuelle politische Situation erinnert mich ebenfalls an den Zustand in Grenzgebieten. An diese Zonen, in denen keine konkreten Regeln, Normen und traditionellen Gesetzmäßigkeiten greifen. Wir haben gleichsam eine Grenze des Normalen überschritten, und dahinter beginnen Chaos und Instabilität. Und wir als Bewohner eines solchen Raumes befinden uns jetzt in diesem Grenzzustand. Aber ich glaube, dieser Zustand tritt bei jeder Art von Veränderung auf. Ich für mich sehe hier eine organische Verbindung mit dem Projekt Am Rand entlang: Dieses An-der-Grenze-Sein hat sich jetzt über ganz Belarus ausgeweitet. Wenn du daher als Dokumentarfotograf oder -filmer, als Künstler oder einfach als Mensch die Kraft und die Fähigkeit aufbringen kannst, das Unbeständige in den Griff zu kriegen und Sinn und Ziel im Leben zu finden, dann bist du verpflichtet, diese Zeit zu durchleben und bestimmte Werte und Bedeutsamkeiten für die Zukunft festzuhalten.