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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Swetlana Tichanowskaja

    Swetlana Tichanowskaja

    „Serjoscha, ich liebe dich sehr. Ich mache das nur für dich und die Menschen, die an dich glauben.“ Das sagte Swetlana Tichanowskaja vor Reportern, als sie aus dem Minsker Büro der Zentralen Wahlkommission trat, in der sie wenige Minuten zuvor die Bestätigung ihrer Präsidentschaftskandidatur ausgehändigt bekam. Zu diesem Zeitpunkt saß ihr Mann Sergej Tichanowski bereits seit mehr als zwei Wochen in Haft – er ist bis heute nicht frei. Die belarussischen Behörden hatten dem bekannten Blogger und Gründer des Youtube-Kanals Ein Land zum Leben die Kandidatur zu den Wahlen verweigert. Daraufhin hatte seine seine Frau Swetlana beschlossen, an seine Stelle zu treten.

    Zurückhaltend, naiv, unerfahren: Das dachten dann wohl die meisten Belarussen, als sie Swetlana Tichanowskaja 2020 zum ersten Mal sahen, nur drei Monate vor den Wahlen vom 9. August. Seitdem ist Tichanowskaja zu einer erfahrenen Politikerin geworden, die schon jetzt mehr Staatsmänner von Weltrang getroffen hat als Machthaber Alexander Lukaschenko in seiner ganzen Laufbahn.

    Swetlana Tichanowskaja und das sie stützende Wahlbündnis trat mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen / Foto © Jindřich Nosek (NoJin) unter CC BY-SA 4.0

    Alexander Lukaschenkos strategischer Fehler und der Beginn von Swetlana Tichanowskajas neuem Leben fielen auf den 14. Juli 2020: Tichanowskaja wurde als einzige von drei aussichtsreichen Oppositionskandidaten zum Wahlkampf zugelassen. Mit dieser Zulassung wollte das Regime den Eindruck fairer Wahlen erwecken. Damals behauptete Lukaschenko noch, dass die belarussische Gesellschaft sowieso nicht „reif“ genug sei, um eine Frau ins Präsidentenamt zu heben. Ein ehrlicher politischer Wettstreit gegen männliche Kandidaten wäre ihm höchstwahrscheinlich zu risikoreich gewesen. Daher hatten die Behörden Sergej Tichanowski und Viktor Babariko präventiv festgenommen, außerdem Waleri Zepkalo die Kandidatur verweigert. Wenig später sollte sich herausstellen, wie bereit die belarussische Gesellschaft war, einer Frau das Vertrauen zu schenken.

    Drohungen, erzwungenes Video und Tausende Anhänger

    Tichanowskaja verkündete zwei Tage nach ihrer Registrierung als Kandidatin, sich mit Babarikos Kampagnenleiterin und Zepkalos Ehefrau zusammenzuschließen. Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo wurden als die „drei Grazien“ bezeichnet, und große Teile der Gesellschaft begannen, sie als Leitfiguren für einen potentiellen Wandel  anzusehen. Von Tichanowskaja erfuhren die Belarussen im Zuge des Wahlkampfs die Geschichte einer Hausfrau und Mutter, die eine Projektionsfläche für viele belarussische Frauen bot: Sie wurde in der Kleinstadt Mikaschewitschi geboren und hatte an der Pädagogischen Universität von Mosyr Fremdsprachen studiert. Später arbeitete sie in Gomel als Übersetzerin für Englisch und heiratete im Jahr 2005. Sie und ihr Mann bekamen zwei Kinder. Weil ihr Sohn mit einer Hörbehinderung geboren wurde, gab sie ihre Arbeit auf, um für ihn da zu sein.  

    Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen  hunderttausende Menschen in ganz Belarus. Schon damals war zu erkennen, dass Tichanowskaja – einmal ihrem Mann zuliebe in die Welt der Politik eingetaucht und von seinen Wählern unterstützt – ihr Projekt nicht auf halbem Wege fallen lassen würde. Auch dann nicht, als sie im Zuge der erfolgreichen Wahlkampagne einen Anruf von einer unbekannten Nummer erhielt: Der Anrufer drohte ihr mit Verhaftung und damit, ihr die Kinder wegzunehmen. Also nahm die Großmutter die Kinder in Obhut und reiste mit ihnen nach Litauen aus. Sie selbst setzte ihren Wahlkampf fort. Das Wahlbündnis um Tichanowskaja trat dabei mit dem Versprechen an, die politischen Gefangenen freizulassen und anschließend faire und freie Neuwahlen durchzuführen.

    Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse am 9. August 2020 kam es in Belarus noch am selben Abend zu Massenprotesten, Verhaftungen und Polizeigewalt: Der Unmut über das offensichtlich gefälschte Wahlergebnis hatte landesweite Proteste ausgelöst. Berechnungen zu den Stimmabgaben, die Aktivisten vorgenommen haben, legten nahe, dass das Wahlbündnis um Tichanowskaja ziemlich wahrscheinlich mindestens den zweiten Wahlgang erreicht hatte, was den offiziell verkündeten Zahlen von 9,9 Prozent diametral entgegenstand1. Die Zentrale Wahlkommission erklärte, mehr als 80 Prozent der Stimmen seien an Lukaschenko gegangen.

    Für Tichanowskaja brachte der nächste Tag endgültige Ernüchterung. Als sie das Wahlergebnis bei der Zentralen Wahlkommission in Minsk anfechten wollte, kehrte sie von dort nicht wieder zurück. Nachdem litauische Behörden tags darauf angaben, dass sie sich in Litauen aufhalte, tauchten zwei Videos auf: Darin rief eine verängstigte Tichanowskaja die Belarussen dazu auf, nicht mehr auf die Straße zu gehen, und erklärte, das Land  verlassen zu haben. Sie begründete das mit der Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder2. Später wurde bekannt, dass mindestens eines dieser Videos unter dem Druck des belarussischen Geheimdienstes KGB entstanden war3.
    Zehn Tage später gab Tichanowskaja in Litauen ihre erste Pressekonferenz aus dem Exil.

    Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen hunderttausende Menschen in ganz Belarus / Foto © Nadia Buzhan
    Zu den Kundgebungen dieser unerfahrenen Newcomerin kamen hunderttausende Menschen in ganz Belarus / Foto © Nadia Buzhan

    Ein Treffen mit Biden – „Mehr als ein Foto auf Twitter“

    Ihr erster wichtiger politischer Schritt im Exil war es, dem Regime ein symbolisches Volksultimatum zu stellen: Sie forderte Lukaschenko auf zurückzutreten, zudem alle politischen Gefangenen freizulassen und die Gewalt gegen die Protestierenden zu beenden. Andernfalls drohe ein Generalstreik – zu dem es im Oktober 2020 tatsächlich kam: Studierende, Ärzte, Unternehmer, Angestellte und Arbeiter der mächtigen Staatsbetriebe schlossen sich dem an. Allerdings erreichte der Streik nicht die gewünschten Ausmaße. Auch weil es der Staatsmacht gelang, die Welle des Ungehorsams und den Protestwillen mit brutalen Festnahmen und Kündigungen zu brechen und einzuhegen. Daher war der Streik relativ schnell beendet, und weitere Versuche, solche Streiks zu organisieren, blieben auch später erfolglos.  

    Tichanowskaja und ihr Team begannen vom Exil aus, international politische Aufmerksamkeit für die belarussische Demokratiebewegung zu schaffen, indem sie zahlreiche Staatsoberhäupter westlicher Länder traf, darunter Emmanuel Macron, Angela Merkel, Boris Johnson und Joe Biden. Sie wurde zu einer ernst zunehmenden Stimme für ihr Land. Der Politologe Artyom Shraibman bemerkte damals zu Tichanowskajas Treffen mit Biden: „Ein solches Symbol auf [Präsidenten]Ebene ist mehr als ein Foto auf Twitter. Für die amerikanischen Bürokraten ist das ein starkes Signal.“ Zum Vergleich: Lukaschenko hat in den vergangenen zwei Jahren nur Putin, staatliche Amtsträger aus Venezuela und Staatsführer aus der Einflusssphäre der OVKS getroffen.

    Diplomatische Erfolge im Exil

    Nach den gefälschten Wahlen hatte die westliche Diplomatie Lukaschenko deutlich zu verstehen gegeben, dass Verhandlungen erst nach einem angemessenen Dialog mit der Opposition, Neuwahlen und der Freilassung politischer Gefangener möglich seien.

    Unterdessen konnte Tichanowskaja nach nur wenigen Monaten in Litauen wichtige diplomatische Erfolge erzielen: Das EU-Parlament und der US-Kongress erkannten den auf ihre Initiative hin gegründeten Koordinationsrat als legitime Vertretung des belarussischen Volkes an. Im Sommer 2021 wurde ihrem Büro von der litauischen Regierung der Diplomatenstatus verliehen. Im Februar 2022 kündigte sie die Bildung einer Exilregierung an.
    Dass Tichanowskaja durch die westliche Gemeinschaft so vielseitige Unterstützung erhielt, hat ihre Anerkennung erheblich gesteigert, auch bei den Belarussen im Inland.

    Zum ersten Mal seit Langem hat auch die belarussische Diaspora eine angesehene moderne Führungspersönlichkeit. Swetlana Tichanowskaja und ihr Team kommunizieren regelmäßig mit Vertretern der belarussischen Diaspora in aller Welt, etwa in den von ihr eingerichteten Volksbotschaften, die als informelle Auslandsvertretungen der Belarussen fungieren. Sie persönlich nimmt an Demonstrationen von Belarussen im Ausland teil und unterstützt Familien von politischen Gefangenen.
    Der letzte führende Politiker der Diaspora war Sjanon Pasnjak, ein ehemaliger Abgeordneter des belarussischen Obersten Sowjets, der seit mehr als 20 Jahren nicht mehr in Belarus lebt und Vorsitzender der ultrakonservativen christlichen Partei BNF ist. Für viele Belarussen, die schon lange im Ausland sind, ist er bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Der Großteil der belarussischen Diaspora, die seit 2020 weltweit noch einmal um mindestens 100.000 Menschen gewachsen ist, dürfte jedoch inzwischen Tichanowskaja anhängen, auch, weil sie für eine neue Generation steht.

    Gleichzeitig droht den Exilpolitikern angesichts der harten politischen Repressionen ein Bedeutungsverlust bei den Menschen in Belarus selbst: Laut einer unabhängigen Umfrage unter Belarussen, die den Protest unterstützen, vertrauen zwar 85 Prozent der Befragten Tichanowskaja, im Februar 2022 hätten jedoch nur 19 Prozent für sie gestimmt. Der beliebteste Oppositionspolitiker ist nach wie vor Viktor Babariko, den 45 Prozent der Befragten wählen würden.

    Wobei die Unterstützung für Tichanowskaja seit Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder leicht angestiegen ist. Ihr Team leistet unter anderem humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und verfolgt die Bewegung von russischem Militärgerät auf dem Territorium von Belarus.
    Dabei verfügt sie nachweislich über Wirkmacht: Als Tichanowskaja am 27. Februar, dem Tag des umstrittenen Verfassungsreferendums, dazu aufrief, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, kam es in Belarus zu zahlreichen Protesten, bei denen mindestens 500 Menschen festgenommen wurden, die meisten in Minsk.

    Kritiker in den oppositionellen Reihen

    Innerhalb der belarussischen Opposition wurden immer wieder auch kritische Stimmen laut, die ihr mangelnde politische Kompetenz, eine unklare Position und umstrittene politische Entscheidungen vorwarfen, darunter übertriebenen Optimismus und eine viel zu konkrete Ankündigung eines Siegs über das Regime – was der bekannte Philosoph Wladimir Mazkewitsch mit den Worten quittierte: „Im Herbst haben Sie geschrien, das Regime würde bis Weihnachten oder Neujahr fallen. Es ist aber nicht gefallen, und die Menschen, die darauf gehofft haben, sind jetzt verzweifelt.“ Zu wenig strategisches Denken, um auch die Unentschlossenen anzusprechen, kritisierte Politologe Andrej Kasakewitsch und befand, es brauche mehr als mit politischen Statements in den sozialen Medien „viral“ zu gehen.
    Eine der ersten öffentlichen Äußerungen, die Tichanowskajas Glaubwürdigkeit vorübergehend ernsthaft untergrub, war ein Interview mit dem russischen Wirtschaftsmedium RBK im September 2020, kurz nach ihrer Emigration. Darin bezeichnete sie Putin als „weisen Regenten“. Später rechtfertigte sie ihre Aussage mit mangelnder Erfahrung – der Zweck des Interviews sei gewesen, Putin dazu anzuhalten, Lukaschenko nicht länger zu unterstützen.

    Tichanowskaja drohen bis zu 59 Jahre Haft, wenn nicht die Todesstrafe

    Entgegen Lukaschenkos Behauptung, die belarussische Gesellschaft sei für eine Frau an der Spitze nicht reif, haben die Belarussen mit Swetlana Tichanowskaja nicht nur eine wenig bekannte Frau groß gemacht, sondern sehen in ihr auch die Verkörperung einer Ära der Freiheit, die allerdings alles andere als nahe scheint. Tichanowskaja wurde zum Symbol dieses Kampfes, was trotz aller Kritik nur wenige bestreiten. Oder, wie es Ales Santozki in einer Analyse für Nascha Niwa ausdrückte: „Dass wir jetzt das Büro von Tichanowskaja und andere organisierte Strukturen mit stabilen Kontakten zu den politischen Eliten westlicher Länder haben, ist tatsächlich ein großer Vorteil für uns. Denn das verleiht Belarus abseits von Lukaschenko politische Subjekthaftigkeit. Und wenn die Zeit der Entscheidung über die Zukunft der gesamten Region kommt, kann das einen großen Unterschied machen.“

    Am 14. Dezember 2021 war Tichanowskajas Ehemann Sergej Tichanowski zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Sie habe keine Hoffnungen gehegt, dass er vor einem Machtwechsel in Belarus freikommen würde, kommentierte sie das Urteil am Rande einer Sitzung mit Parlamentsabgeordneten, zu der sie an diesem Tag in Schweden war4. Für sie selbst ist eine Rückkehr in ihr Heimatland unter diesen Bedingungen unwahrscheinlich. Aktuell laufen offiziell mindestens sechs Strafverfahren gegen sie (unter anderem wegen „Gründung einer extremistischen Vereinigung“, „Aufruf zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ und „Vorbereitung eines terroristischen Akts“). Am 6. März 2023 wurde sie in Abwesenheit von einem Minsker Gericht zu 15 Jahren Straflager verurteilt. 


    1. Die Aktivisten haben die Wahllokale zugrunde gelegt, in denen Swetlana Tichanowskaja offiziell gewonnen hatte. Demnach erreichte sie in knapp 200 der Wahllokale eine Stimmenmehrheit von rund 57 Prozent, während ihr laut dieser offiziellen Zahlen zugleich in fast 4500 Wahllokalen angeblich nur 3 Prozent der Stimmen zugekommen sein sollen. Diesereklatante Widerspruch deutet auf massive Wahlfälschung hin, vgl. Itogowy ottschet o wyborach Presidenta Respubliki Belarus (Po dannym platform «Golos», «Subr» i soobschtschestwa «Tschestnyje ljudi»). ↩︎
    2. vgl.: currenttime.tv: Tichanovskaja zapisala dva videoobraščenija. V odnom ona govorit o detjach, vo vtorom prosit ne vychodit‘ na ulicy ↩︎
    3. vgl.: mediazona.by: Belarus‘ posle vyborov. Den‘ tretij ↩︎
    4. Die Autorin nahm an dieser Sitzung als Vertreterin der belarussischen Diaspora aus Schweden teil. ↩︎

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  • „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    Im postapokalyptischen Moskau des Jahres 2033 fristen die Menschen ihr Leben in den Schächten der Metro, einzelne Stationen sind Staaten: kapitalistische, kommunistische, faschistische. In seiner Metro-Reihe zeichnet der russische Autor Dmitry Glukhovsky eine finstre Dystopie, die Bestseller wurden auch international zu einem Riesenerfolg. In seinem jüngsten Roman Outpost beschreibt er Russland nach einem Bürgerkrieg in naher Zukunft. Die deutsche Übersetzung stammt von den beiden dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.

    Heute gehört Glukhovsky zu den lautstärksten unabhängigen Stimmen in Russland. Er äußert sich regelmäßig zu aktuellen Fragen und gilt als ein scharfzüngiger Kritiker des Systems Putin. In der aktuellen Kollektivschuld-Debatte argumentiert er, dass nicht alle Russen Täter seien – und dass der russische Krieg gegen die Ukraine Putins Krieg sei. Meduza hat den Autor zu seinem Standpunkt interviewt, Glukhovsky hat die Fragen schriftlich beantwortet. 


    Update vom 8. Juni 2022: Unterschiedlichen Medienberichten zufolge wurde Glukhovsky in Russland zur Fahndung ausgeschrieben. Dem Bestseller-Autor wird die „Diskreditierung der russischen Armee“ vorgeworfen wegen eines Instagram-Posts vom 12. März, in dem der Beschuss von Mariupol zu sehen ist und Putin beinahe das Wort „Krieg“ in den Mund nimmt. Der entsprechende Paragraph des russischen Strafrechts sieht bis zu zehn Jahre Haft vor.  

    Pawel Merslikin: Wenn ich Sie richtig verstehe, vertreten Sie den Standpunkt, dass dieser Krieg ein Krieg Putins und nicht Russlands oder der russischen Bevölkerung ist. Warum glauben Sie, dass die Mehrheit der Russen diesen Krieg nicht unterstützt? Unterstützung kann es ja in vielen Abstufungen geben. Man kann morgens und abends Hymnen auf Putin und Schoigu singen, man kann aber auch schweigend zustimmen.

    Dmitry Glukhovsky: Wie wir bei der Sitzung des Sicherheitsrats gesehen haben, gab es nicht einmal in Putins engstem Umfeld einen Konsens zum Krieg. Die Entscheidung wurde hinter verschlossenen Türen getroffen, am Volk vorbei, das diesen Krieg nicht wollte, und sogar abseits des Großteils der politischen Klasse. Alle wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Um sich von ihrer persönlichen Verantwortung für den Krieg und die daraus resultierenden Verbrechen reinzuwaschen, haben die Entscheidungsträger danach begonnen, zuerst die ganze politische Klasse mit Blut zu beschmieren, dann die gesamte Bürokratie und schließlich, mittels TV-Propaganda, das ganze Volk.   

    Die Bevölkerung unterstützt, wie mir scheint, den Krieg aktiv zu etwa zehn Prozent – das ist ein reaktionäres, obskures Element, im Grunde faschistisch, auch wenn sie sich selber Patrioten nennen. Der Rest sucht entweder Zuflucht bei der Kriegs-Psychotherapie, um die post-covidale Depression loszuwerden, glaubt das Märchen von der Fortsetzung des Großen Vaterländischen Kriegs tatsächlich oder nickt einfach zustimmend, damit sie ver*** noch mal endlich ihre Ruhe vor den Umfragen haben. Diese Umfragen werden nämlich manchmal vom FSO durchführt, und so werden sie auch überall wahrgenommen.

    Widerstand gegen das Böse bedeutet das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit

    Im Grunde ist jedes Unterlassen von Widerstand gegen das Böse eine Unterstützung des Bösen. Nur bedeutet Widerstand gegen das Böse in der persönlichen Überlebensstrategie eines durchschnittlichen Menschen das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit. Der Gewinn hingegen ist schwammig: ein reines Gewissen.
    Ob es da nicht einfacher ist, sich zu sagen: Das ist nicht mein Bier, ich habe da keinen Einfluss drauf, so eindeutig ist es auch wieder nicht, dass die Ukrainer gut sind, überhaupt ist das alles das Werk der USA, wir wurden da reingezogen, wir hatten keine Wahl, mich geht das nichts an, und ich lebe weiter wie bisher? Und schon ist das Böse kein so großer Dorn mehr im Auge, und die kognitive Dissonanz ist ohne große Verluste überwunden.  

    Aber wenn morgen Frieden eintritt, werden alle, außer die zehn Prozent Reaktionäre, erleichtert aufatmen. Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert und den Menschen einbläut, dass nichts von ihnen abhängt und sie mit Protesten niemals irgendwas erreichen werden, außer sich Probleme einzuhandeln. 

    Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert

    Der ukrainische Maidan hat zweimal gesiegt – und das ukrainische Volk hat ein Gefühl der eigenen Macht und Rechtmäßigkeit bekommen. Bei uns sind Proteste immer niedergeschlagen worden oder von selbst im Sand verlaufen. Wir haben nicht das Gefühl, etwas verändern zu können. Wenn die Menschen gegen den Krieg protestieren und ihre Freiheit aufs Spiel setzen, dann nicht weil sie hoffen, ihn stoppen zu können, sondern weil sie sonst das Gefühl haben, Kollaborateure zu sein, die nichts unternommen haben.      

    Die Position „Das ist ausschließlich Putins Schuld, die Menschen können gar nichts dafür“ wird sehr oft von russischen Intellektuellen vertreten. Meinen Sie nicht, dass das auch eine Spritze Gegenpropaganda ist, um sich selbst zu beruhigen? Weil es viel leichter ist, in einer Welt mit einem einzigen Bösewicht zu leben als in einer mit zig Millionen – die dazu noch mit dir in einem Land leben?   

    Eben diese zig Millionen Bewohner meines Landes brauchen eine Therapie. Sie leben in Armut und Hoffnungslosigkeit, werden von ihrer Regierung täglich erniedrigt, verblödet und aufgehetzt. Ja, sie sind unglücklich und verärgert, aber eigentlich ärgern sie sich über die Regierung: Die verspricht ihnen seit 20 Jahren ein besseres Leben, selber lebt sie aber wie die Made im Speck, verprasst Milliarden für Yachten und goldene Klobürsten und überlässt die Menschen im Grunde ihrem Schicksal, sowohl in der Pest als auch im Krieg. Aber der Zorn verfehlt wegen eines Knicks im Rückgrat sein Ziel. Die emotional ungefährlichere Strategie ist es, jene zu hassen, die man ungestraft hassen darf. Im gegebenen Fall also die Ukrainer und den Westen.     

    Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären und einen Vernichtungskrieg gegen sie führen. Das Ausmaß der Verantwortung des deutschen Volkes während der totalen Mobilisierung zum Kampf oder während der Massenhysterie der 1930er Jahre ist nicht dasselbe wie der Z-Fimmel und die V-Mimikry: Gott sei Dank sind heute beides nur Sofa-Krankheiten.       

    Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären

    160.000 Soldaten und Offiziere sind am Krieg in der Ukraine beteiligt. Aber 140 Millionen Russen sind noch nicht mit ukrainischem Blut befleckt. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, die Teilnahme an diesem Krieg zu verweigern – die tatsächliche und auch die emotionale.
    Putins Staatsapparat versucht, der ganzen Welt und dem Volk weiszumachen, dass dieser Krieg ein Krieg des Volkes ist, dass alle gemeinsam dafür einstehen und alle gemeinsam diese Suppe auslöffeln müssen. Aber jeder, dem das Schicksal Russlands nicht egal ist und der ihm wünscht, die imperiale Matrix möglichst bald hinter sich zu lassen und ein gesunder, moderner Staat zu werden, bewohnt von glücklichen Menschen, sollte sich Gedanken machen, wie man die Menschen aus diesem Bann befreien kann. Sie aus dem Bann befreien, statt sie zu Unmenschen zu erklären und sie bis aufs Blut zu bekämpfen. 

    Im Interview für Radio Swoboda erzählten Sie, wie Sie bei Ausbruch des Krieges überlegt hätten, ob Sie ihn sofort öffentlich verurteilen sollen. Und diese Überlegung hätte 30 Sekunden gedauert. Worüber genau haben Sie in diesen 30 Sekunden nachgedacht? Welche potentiellen Konsequenzen haben Sie gegeneinander abgewogen?

    Ich dachte, dass ich mich genau jetzt, in diesem Moment zur endgültigen politischen Emigration verdamme. Dass ich mich der Möglichkeit beraube, in Russland zu leben, solange Putin lebt. 

    Es gibt vieles, was mich an Moskau bindet. Freunde, geliebte Menschen, meine Kindheit. Die Kultur, die Luft, die Sprache. Meine Arbeit, gesellschaftliche Stellung, Eigentum. Der Gedanke, erst an meinem Lebensabend, oder vielleicht sogar nie, nach Hause zurückzukehren, ist sehr schwer zu ertragen. 

    Auf der anderen Waagschale liegt das Gefühl, ein Feigling und Verräter zu sein, klar zu begreifen, dass du dich gerade auf die Seite des Bösen stellst. Denn einen Eroberungs- und Bruderkrieg und die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig. Erst recht, wenn du dir bewusst bist, dass die Gründe für diesen Krieg durchweg erlogen sind, und der Krieg selbst nicht nur bestialisch, sondern auch vollkommen sinnlos ist. 

    Wenn Sie kein erfolgreicher Schriftsteller wären, sondern ein ganz gewöhnlicher Bewohner einer russischen Kleinstadt mit einem Gehalt von 30.000 Rubel [400 Euro – dek], hätten Sie dann länger als 30 Sekunden überlegt?

    Schwer zu sagen. Seit ich erwachsen bin und bewusst nachdenke, habe ich versucht, mein Leben danach auszurichten, möglichst unabhängig vom Staat zu sein, um mir meine Freiheit zu bewahren – auch die Freiheit zu denken und frei zu sprechen. Die Tatsache, dass ich jetzt diese Freiheit habe und sie nutzen kann, dass ich immer noch diskutieren, den Krieg Krieg nennen und seine Beendigung fordern kann – das ist ein Ergebnis dieser Bemühungen.

    Die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig

    Aber natürlich bestimmt das Sein das Bewusstsein. Die Bewohner einer gewöhnlichen russischen Kleinstadt fordern keine Freiheit, weil ihre anderen, und zwar grundlegenden, Bedürfnisse nicht befriedigt sind: allem voran ihre Sicherheit, dann der Lebensunterhalt, ein gewisser Wohlstand, ein Leben in Menschenwürde, basale Grundrechte. 

    Wenn die Menschen sagen, dass sie sich Stabilität wünschen, dann meinen sie, dass sie Angst haben, dieses kleine bisschen zu verlieren, das sie haben. Vielleicht haben sie nicht einmal genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 

    Sie sprechen viel über Propaganda und dass sie verantwortlich ist für das Geschehen. Wie erklären Sie es sich, dass die Propaganda die Menschen davon überzeugen konnte, die Russen würden die Ukrainer von Nazis befreien? 

    Das erkläre ich damit, dass die Menschen 20 Jahre lang auf die Ukraine vorbereitet wurden. Als Putin an die Macht kam, hat er, sobald er erkannte, dass die Ukraine ein alternatives Gesellschaftsmodell bietet, Kurs auf ihre Unterwerfung und Destabilisierung genommen. Russland hat sich in alle ukrainischen Wahlen eingemischt und sehr heftig auf die Maidan-Proteste reagiert. Zudem wurde 20 Jahre lang aktiv ein Siegeskult betrieben und befördert. Die Ukrainer wurden Stück für Stück zum Feind stilisiert: mal zu einem blutrünstigen, mal zu einem erbärmlichen. Während die Russen sich über das Erbe des Sieges definierten. Der Boden war also bereitet. 

    Propaganda lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab

    Die Propaganda arbeitet nicht im Interesse des Volkes. Sie lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab, an denen die Regierung Schuld trägt. Sie beschützt die Regierung vor dem Volk. Das tut sie, indem sie Nebelkerzen von erfundenen und aufgebauschten Konflikten wirft und so die Wirklichkeit verhüllt.

    Sie arbeitet mit psychischen und emotionalen Bedürfnissen der Bevölkerung, indem sie ihr eine Psychotherapie aus der Hölle verpasst. Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei. Er ist verbittert und frustriert, also zeigt man ihm ein Objekt, auf das er seine Wut richten kann. Er verspürt Unsicherheit und Panik, also erklärt man ihm, er sei direkt von seinem Sofa aus an einer großen Mission beteiligt, die seine Entbehrungen und Leiden rechtfertigt.

    Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei

    Deswegen ist die Abhängigkeit von der Propaganda auch so groß, sie ist regelrecht eine emotionale Droge. Deswegen nehmen die Menschen diese fetten, hässlichen und selbstgefälligen Visagen, diese triefenden Lügenorakel von Perwy und Rossija auch so positiv auf, geradezu als wären es ihre TV-Verwandten aus Fahrenheit 451. Andernfalls würden Angst, Panik und Zorn von den Menschen Besitz ergreifen und sie auf die Straße treiben. Der große und ewige Krieg gegen den Westen, der Verrat durchs Brudervolk und ein Russland, das sich von den Knien erhebt und rächt – das sind die Trigger und Klischees bei dieser Therapie.

    Viele Intellektuelle, Historiker, Politologen, Soziologen sagen, der Hauptgrund für den Krieg sei sowjetisches Ressentiment. Die Menschen würden sich nach einer starken Heimat sehnen. Sie würden dem Westen zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Sogar dann, wenn sie die Sowjetunion gar nicht selbst erlebt haben. Würden Sie dem zustimmen?

    Die Konfrontation der Menschen in Russland mit dem Westen und der Ukraine kommt daher, dass sie das eigene Leben ständig mit dem Leben dort vergleichen. Aber diese Konfrontation ist nicht im Interesse der Menschen, sie haben nichts davon. Der Staat wiederum weiß, dass seine Bürger ihr unzulängliches Leben zwangsläufig mit dem „dort drüben“ vergleichen werden, solange nicht ein eiserner Vorhang das Ganze hermetisch abschließt. Und die Menschen werden sich zurecht fragen, warum ihr Lebensstandard nicht nur im Vergleich zum Westen, sondern auch zur Ukraine so niedrig ist. Warum die Bevölkerung nicht nur im Westen sondern auch in der Ukraine einen Regierungswechsel herbeiführen kann, während man bei uns schon allein durch den Gedanken daran riskiert, dass es bei dir an der Tür klingelt.

    Hier schafft die Konfrontation Abhilfe. Weil wir nicht sie sind. Weil sie Schwule haben und wir Vater-Mutter-Kind. Weil unsere Großväter gekämpft haben und sie die Nachfahren von Faschisten sind. Weil wir das Ballett und die Olympiade haben. Raketen, Raketen und noch mal Raketen. Weil alle Angst vor uns haben. Weil wir die Allergrößten sind, darum. Weil alle uns zugrunde richten und unser Öl unter sich aufteilen wollen, Abyrwalg! Weil Russland keine wirtschaftliche Supermacht ist, sondern eine militärische, weil wir die Unseren nicht im Stich lassen, ich will nichts hören, ich will nichts hören, ich will nichts hören! Überhaupt, wie kann man Ozeanien mit Ostasien vergleichen, bei uns leben richtige Menschen, und da drüben Unmenschen.

    Man muss sich die eigene Armut irgendwie erklären, das eigene Elend rechtfertigen. Nur wie? Mit der eigenen Einzigartigkeit. Die Geschmacklosigkeit, Korrumpiertheit und Unglaubwürdigkeit des heutigen Regimes kann nur durch die stilistische Unfehlbarkeit und die furchteinflößende Reputation Russlands in seiner letzten Inkarnation wettgemacht werden. Ja, wir sind Zwerge, aber wir stehen auf den Schultern von Titanen. Ganz einfach.

    In welchem Maße macht es überhaupt Sinn, die Ursachen für die aktuellen Ereignisse in der Sowjetzeit zu suchen?

    Die Wurzeln der Ereignisse liegen in der imperialistischen Vergangenheit und dem imperialistischen Wesen des russischen Staates. Haben Sie sich nie gefragt, wie das geht, dass bei einer rechtsextremen Demo in ein und derselben Kolonne Porträts von Nikolaus II. und Josef Stalin zu sehen sind? Der Erste gewissermaßen der Kerkermeister des Zweiten, der Zweite der Henker des Ersten? Das ist tatsächlich überhaupt kein Widerspruch. Als Persönlichkeit interessiert der eine wie der andere die Russen nur am Rande, ihre ursprüngliche Bedeutung für die patriotische Bewegung ist rein symbolisch. Beide symbolisieren das russische Imperium auf dem Gipfel seiner Größe, auch wenn dieses Imperium in neuem Gewand daherkommt, mit bolschewistischem Rebranding, und nicht auf Konservierung, sondern auf Modernisierung abzielt. Aber das ist für die meisten gar nicht mehr wichtig. Wichtig ist, welche Gebiete wir uns einverleibt, wen wir unterworfen haben, wen gezwungen, in der Schule Russisch zu lernen.

    Alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus Russlands imperialistischen Wesen

    Weil es in Wirklichkeit keine patriotische, sondern eine imperialistische Bewegung ist. Weil uns, im Gegensatz zu Frankreich und England, die Epoche des Postkolonialismus erst noch bevorsteht. Weil unsere Kolonien unmittelbar an das Mutterland angrenzen, mit ihm verwachsen sind, und sie zu verlieren heißt, Russland selbst zu zerreißen. Deswegen ist dieses Thema tabu, mit sieben Siegeln verschlossen, Russland kann sich nicht offen eingestehen, dass es bis zum heutigen Tage imperialistisch ist. 

    Im Gegenteil, unter der Flagge des antiimperialistischen Kampfes hat Russland den Einfluss Europas in den ehemaligen Kolonien unterwandert. Aber alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus diesem imperialistischen Wesen. Daher rührt auch die Hysterie im Hinblick auf die Ukraine und der Wunsch, sich mal Georgien, mal Kasachstan, mal Armenien unter den Nagel zu reißen.

    Die Propaganda verkauft diesen Krieg als eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges. Was denken Sie, sollte der Siegeskult der letzten 10 bis 15 Jahre die Gesellschaft auf den Krieg vorbereiten? Oder bedient sich die Regierung einfach eines bequemen Narrativs, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen?

    Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt. Gründe, stolz zu sein, hat Putins Russland den Menschen kaum gegeben: nur die Krim und die Olympiade in Sotschi. Aber der olympische Sieg entpuppte sich am Ende als Betrug, er roch nach abgestandenem Urin.
    Auch die Krim ist ein zweifelhafter Triumph: der Sieg Kains über Abel – der jüngere Bruder schwächelt, und wir rammen ihm das Messer in den Rücken.
    Davor waren die Tschetschenienkriege, eine Katastrophe mit unklarem Ausgang, davor – der Zerfall der UdSSR, davor – Afghanistan, ebenfalls ein Reinfall. Und davor gab es lange nichts, nur die Zeit der Stagnation.

    Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt

    Stolz könnte man auf Gagarins Flug sein – das wäre ein guter Grund, positiv und inspirierend, aber da kommt man nicht drumherum, einen Vergleich zur ver*** Idiotie der heutigen Leitung von Roskosmos zu ziehen und sich traurig und resigniert zu fragen, warum unsere Raketen heute nicht mehr fliegen (abgesehen von denen, die in ukrainischen Wohnhäusern einschlagen).

    Und damit hat es sich. Bleibt nur der Große Sieg. Seine Größe darf man nicht anzweifeln, sie ist heilig, geheiligt durch das Blut unserer Vorfahren: Die Opfer waren gigantisch, fast jede Familie hat jemanden verloren. Da hatte man ihn also gefunden, den Zement, der die letzte Amtsperiode Putins zusammengehalten hat. Und genauso, wie Schoigu sich Shukows Uniform überzieht, verkleidet sich auch der Staat. Er spricht und handelt immer mehr wie ein Schwerverbrecher, dabei durchlebt er natürlich eine schwere Persönlichkeitskrise: Sie wollen sich als Auserwählte und Helden fühlen, nicht als mittelmäßige Korruptionäre. In der altbekannten Pyramide der menschlichen Bedürfnisse hat unsere „Elite“ ihre Grundbedürfnisse längst gestillt, sich den Wanst mit Euromilliarden vollgeschlagen, und jetzt will sie die Herrscherin über die Meere sein.

    Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken

    Zunächst kam die Krise der Selbstachtung, als man von Europa und den USA wollte, dass sie Russland unverzüglich als ebenbürtig anerkennen. Und jetzt sind wir, original nach Abraham Maslow [und seiner Bedürfnispyramide], beim Thema Selbstverwirklichung angelangt, bei der Verwirklichung unserer wahren Bestimmung; und siehe da, die Bestimmung ist genau die, die man dem Volk zehn Jahre lang eingeflößt hat: Krieg spielen. Oh weh, leider den Großen Vaterländischen. Und diese durchgeknallten Parasiten, denen in ihrem fortgeschrittenen Alter irgendwo tief drinnen aufgegangen ist, dass sie gelangweilte Banditen sind, haben selbst den Mist geglaubt, den sie dem Volk aufgetischt haben. Dass der Große Vaterländische Krieg nie aufgehört hat, dass sie die Nachkommen der Sieger sind, dass der Faschismus sein Haupt erhebt, dass sie die Heldentaten ihrer Großväter zu Ende bringen müssen.

    Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken. Die Zyniker dachten, sie könnten im Fernsehtrog jeden Mist verfüttern. Das Problem ist, dass es bei uns keinen Intelligenztest gibt, um in die „Elite“ aufgenommen zu werden, und diese Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit den imperialen Komplexen und ebenjenem Chauvinismus.

    Die Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit imperialen Komplexen

    Deshalb hat die Elite selber dem Fernseher geglaubt. Die Zyniker wurden verblödet. Die „Eliten“ sind in eine phantastische Realität umgezogen, in der die Massen schon lebten. Noch schlimmer war, dass eine militärisch geprägte Religiosität ein Zeichen für Loyalität zu Putin wurde, und die Staatsbeamten fingen an, sich darin zu überbieten. Dennoch glaube ich, dass die Rhetorik vom Großen Vaterländischen Krieg nichts weiter ist als PR-Untermalung für eine imperiale Eroberungskampagne, der Versuch, sie reinzuwaschen und vor Kritik zu schützen, indem man ihr einen Heiligenschein aufsetzt.

    Sie halten diesen Krieg in vielerlei Hinsicht für einen Kolonialkrieg. Jetzt redet man schon offen davon, Russlands nächstes Ziel könnte Transnistrien sein. Was glauben Sie, ist Putin wirklich von der Idee einer neuen UdSSR besessen? Oder versucht er, mit diesem Krieg seine eigenen Probleme zu lösen? Länger im Amt zu bleiben? 

    Ich glaube, Putin kämpft in erster Linie gegen das Gefühl an, in der Geschichte eines großen Landes nur ein unbedeutender Mensch zu sein. Wie wir wissen, studiert er mit Begeisterung die Geschichte Russlands und muss sich natürlich mit seinen Vorgängern messen – zumal er schon länger im Amt ist als viele von ihnen. Er arbeitet daran, seinen Namen in die russische Geschichte einzuschreiben.     

    Putin, Gorbatschow, Chruschtschow, Stalin, Lenin, Nikolaus II., Alexander III., Katharina die Große, Peter der Große – und wofür stehe ich, was habe ich gemacht? Man soll mich bitte als den in Erinnerung behalten, der die Länder, die Gorbatschow verloren hat, wieder eingesammelt hat. Als jener Mann, der versucht hat, die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu korrigieren – den Zerfall der Sowjetunion!   

    Zumal das Volk, das sich nach der Ästhetik der Größe der Sowjetunion sehnt, der kommunistischen Leidenschaftlichkeit und dem sozialistischen Sozialpaket, nach zwei Jahrzehnten Idealisierung des Sowok durch das Staatsfernsehen ähnliche Träume hat.    

    Wird Russland diesen Krieg verlieren?

    Russland hat diesen Krieg schon verloren. Schweden und Finnland wollen in die NATO, die Allianz reicht nun direkt an Russlands Grenzen heran. Die USA und Europa sagen sich von russischen Energiequellen los. Wirtschaftlich hat das Land durch die Sanktionen einen schweren Schlag erlitten. 

    Putin hat Russland in Zugzwang gesetzt und damit sich selbst, denn wenn die russischen Geschichtsbücher einmal nicht mehr von den Rotenberg-Brüdern gedruckt werden, sondern von unabhängigen Verlagen, dann wird da über Putin nichts Gutes mehr drinstehen. 

    Meine große Angst ist, dass Putins Abdanken derart schwere tektonische Prozesse auslöst und unser Land erschüttert, dass die territoriale Integrität und die Existenz des ganzen Landes bedroht sein werden. Und natürlich ist das ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann.

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    FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine

  • Krieg im Namen des Sieges von 1945

    Krieg im Namen des Sieges von 1945

    Der „Tag des Sieges“ am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland. Seit einigen Jahren ist der inzwischen wichtigste Nationalfeiertag Russlands auch Gegenstand von Kritik: In der zunehmend monopolisierten Erinnerungskultur des Landes diene er, so der Tenor, immer weniger dem Gedenken, sondern vielmehr der Legitimation politischer Herrschaft. Andere Kritiker wie der orthodoxe Publizist Sergej Tschapnin bemerkten schon 2011, dass der 9. Mai Züge einer „Zivilreligion“ trage, die Feindbilder pflegt, Kriege glorifiziert und den Stalinismus rechtfertigt. 

    Der Begriff „Zivilreligion“ geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück: Der Philosoph glaubte, dass Aufklärung zu Chaos führt und dass man eine säkulare Ersatzreligion schaffen müsse, um die politische Herrschaft und damit auch die politische Ordnung zu legitimieren. 

    Der 9. Mai gilt heute unter zahlreichen Wissenschaftlern als der zentrale Ankerpunkt der offiziellen russischen Geschichtspolitik: Der Kampf gegen den Faschismus will nicht nur dem politischen Regime Legitimität verleihen, sondern auch dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Doch wie funktioniert eine solche Zivilreligion? Diese Frage stellt der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew im Vorfeld des 9. Mai auf Holod.

    Ich habe mich bei einem seltsamen Gefühl ertappt: Seit ungefähr zehn Jahren habe ich Angst vor staatlichen Feiertagen und sonstigen offiziellen Daten, weil ich weiß, dass die Staatsmacht diese zeitlich gerne mit gründlichen Säuberungen verbindet. 

    Nun warte ich voller Angst auf den 9. Mai, an dem Putin womöglich eine Parade zum Sieg über den imaginären Nazismus veranstalten will, wohl gar mit einer Vorführung gefangener Banderowzy auf dem Roten Platz – sie haben ja bereits im August 2014 in Donezk ukrainische Kriegsgefangene vorgeführt. Hinter ihnen schrubbte eine Straßenreinigungsmaschine ihre Spuren weg, genau wie 1944 in Moskau. Heute blickt die ganze Welt voller Angst auf den 9. Mai, weil alle wissen, dass Putin seinem blutrünstigen Publikum einen „Sieg“ vorweisen muss, und wenn es im Feuerschein einer Atomexplosion ist.       

    Der „Feiertag mit Tränen in den Augen“ ist nun eine militärisch-patriotische Show geworden 

    Der Tag des Sieges hat in Putins Russland eine schwindelerregende Entwicklung erlebt. Aus dem „Feiertag mit Tränen in den Augen“, der er Anfang des Jahrhunderts noch war, wurde eine militärisch-patriotische Show – eine gigantische symbolische Maschine, der das Land unterworfen wurde.

    Im Grunde hat Putins Staat im 9. Mai seinen wichtigsten Bezugspunkt gefunden, seine Gründungsgeschichte. Die beginnt weder 1917, noch 1991 noch 1999 (obwohl, wieso erklärt man eigentlich nicht die Sprengung von Wohnhäusern im September 1999 zum Anfangspunkt?), sondern 1945 in Jalta und Potsdam, als Stalin mit einem Bleistift in der Hand über der Weltkarte stand. Putin fühlt sich wahrscheinlich am ehesten wie der Generalissimus auf dem Bild von Fjodor Reschetnikow – obwohl er in Wirklichkeit eher dem großen Diktator aus dem gleichnamigen Film von Charlie Chaplin in der berühmten Szene gleicht, in der dieser in seinem Größenwahn den Globus aus dem Ständer nimmt und ihn auf dem Finger wirbelt.     

    Der 9. Mai wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf

    Ab Mitte der 2000er Jahre begann der 9. Mai, sich auf die gesamte historische Zeit auszudehnen, wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf. Nicht zufällig tauchten damals an den Autos die ersten Sticker mit dem großkotzigen Spruch „Wir können das wiederholen“ auf, mit geschmacklosen Bildern, wie Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. (Muss man erwähnen, was in Butscha und Irpin aus diesem Vergewaltigungskult geworden ist?)

    Der Tag des Sieges wurde zur Linse, durch die Russland auf die Welt blickt und ihr seine Gekränktheit, Komplexe, Wünsche, Aggressionen und Ressentiments präsentiert. Der Feiertag ist zu einer konstanten Liturgie geworden, zu einem ekstatischen und mystischen Wiedererleben einer Vergangenheit, die den Menschen die nicht sehr beglückende Gegenwart ersetzt hat.   

    Die Siegeskathedrale in Kubinka: finster, bedrohlich, auf freiem Feld inmitten eines beängstigend symmetrischen Rasens

    In den letzten zwanzig Jahren hat der Tag des Sieges alle Züge eines religiösen Kults angenommen. Im Zentrum dieses symbolischen Universums erhebt sich die monströse Siegeskathedrale in Kubinka, die aussieht, als wäre sie von der Filmkulisse aus Star Wars abgemalt oder einem Gothic-Comic entnommen. Da steht sie finster, bedrohlich, auf freiem Feld mitten auf einem beängstigend symmetrischen Rasen, durchdrungen von Zahlenmagie wie ein Freimaurersaal: Durchmesser des Sockels der Hauptkuppel – 19,45 m, größter Durchmesser der Hauptkuppel – 22,43 m (um 22:43 Uhr am 8. Mai wurde Deutschlands Kapitulation unterzeichnet), die Mosaike im Inneren nehmen eine Fläche von 2644 m² ein, was der Anzahl der Träger des Ruhmesordens I. Klasse entspricht, et cetera. Die Metallstufen sind aus erbeuteten deutschen Waffen aus dem Museum der Streitkräfte gegossen, und eine der „Reliquien“ in der Kathedrale ist Hitlers Schirmmütze: In ihrem Feuereifer, den Sieg über den Faschismus darzustellen, verfällt diese militaristische Version der Orthodoxie in Pathos, Komik und Kitsch.        

    Das Unsterbliche Regiment ist zu einer bürokratischen Demonstration des staatlichen Patriotismus pervertiert

    Zu Ehren des Siegeskults finden Prozessionen des Unsterblichen Regiments statt, die an Kreuzzüge erinnern. Ursprünglich eine zivilgesellschaftliche Grassroots-Initiative von Mitarbeitern des Tomsker Fernsehsenders TV2, hat sich bald die Propaganda dieses Ritual angeeignet, hat es verzerrt und zu einer bürokratischen Demonstration des staatlich verwalteten Patriotismus pervertiert, bei der Staatsbedienstete angewiesen werden, mit Fertig-Porträts unbekannter Helden aufzumarschieren. Vereinzelte Privatpersonen mit Porträts ihrer Vorfahren gehen unter in den Lügen und Performances unverhohlener Freaks: Stalinisten tragen Bilder ihres Götzen, und bei einer solchen Prozession marschierte Natalja Poklonskaja mit einer Ikone von Nikolaus II.     

    Tatsächlich nehmen die Heldenporträts Züge von Ikonen an. Vor ein paar Jahren kursierte im Netz ein Propaganda-Trickfilm, den eine Anti-Abtreibungsbewegung in Auftrag gegeben hatte: Eine junge Frau teilt ihrem Freund am Telefon mit, dass sie schwanger sei, woraufhin er sagt, sie solle abtreiben. Die Frau denkt nach, und da beginnt, ganz im Stil einer „sprechenden Ikone“, eine Kriegskrankenschwester aus dem Unsterblichen Regiment aus dem Porträt an der Wand zu ihr zu sprechen: „Treib nicht ab, du bekommst einen Sohn, einen Soldaten!“ Danach verschwindet, durchaus typisch, der Mann aus der Handlung, die Frau wird alleinerziehende Mutter und geht Jahre später mit ihrem Sohn zur Siegesparade.     

    Beim Heldenmythos des Siegs sind historische Fakten unwichtig

    Der Heldenmythos des Siegs muss nicht einmal der Realität entsprechen – er ist Gegenstand eines blinden Glaubens, seine Funktion ist es zu überzeugen. Allgemein bekannt ist der Fall gewisser sowjetischen Märtyrer: der 28 Panfilow-Helden. Die Garde-Infanteristen sollen bei Dubosekowo vor Moskau eine Division deutscher Panzer aufgehalten haben. Die Charkower Militärprokuratur fand jedoch im November 1947 heraus, dass sich einer der „gefallenen“ Helden im Frühling 1942 in Kriegsgefangenschaft ergeben und den Deutschen gedient hatte. Woraufhin Ermittlungen ergaben, dass die ganze Geschichte erfunden worden war von einem Korrespondenten des Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) namens Alexander Kriwizki auf der Grundlage tatsächlicher Kämpfe in dieser Region. Trotz allem entwickelte die Legende eine eigene Logik, hielt Einzug in den sowjetischen Patriotismus-Kanon, und als der Direktor des staatlichen Archivs, Sergej Mironenko, 2015 von dieser Fälschung erzählte, wurde er sofort der Russophobie bezichtigt, der damalige Kulturminister Wladimir Medinski erklärte, ein Mythos, der Generationen von Sowjetbürgern inspiriere, sei wichtiger als historische Fakten, und Mironenko war seinen Posten bald los.            

    Der Kult erfasst die Massen und wird mit siegeswahnsinnigen Ritualen ausstaffiert – geschmückte Autos und Schaufenster, historische Reenactments, Cosplays aus Kriegszeiten und Travestien, Kinder in Militäruniformen, Buggies und Kinderbetten in Panzer-Design. Völlig offensichtlich kommt Kindern hier eine besondere Rolle zu, um Opfer zu legitimieren und Gewalt und Tod durch eine höhere Moral abzusegnen.

    Frühlingsriten nach einem langen Winter

    Gleichzeitig wird so der Siegeskult in die Frühlingsriten eingeschrieben, bei dem junges Grün auf toter, verbrannter Erde wächst. Hier kann man von der Biopolitik des Sieges sprechen, von der Herstellung neuer Menschenmasse: Die Kinder sind die „neuen Soldaten, die die Weiber gebären“, um den apokryphen Satz zu zitieren, der Georgi Shukow zugeschrieben wird. Es ist ja kein Zufall, dass das vor der Abtreibung gerettete Kind in dem Pro-Life-Video zur Siegesparade geht und auf einem Werbeplakat der Bewegung Für das Leben ein Embryo aus dem Mutterleib appelliert: „Schütze du mich heute, dann schütze ich dich morgen!“ An anderer Stelle sieht man ihn als Fünfjährigen mit Helm und Maschinengewehr.   

    Siegeskult als vollwertige Staatsideologie 

    Der Sieg ist zu einem sakralen Objekt geworden, zu einem Raum, in dem es unmöglich ist, die Sowjetunion, das „Siegervolk“, Stalin und Shukow zu kritisieren, in dem das Recht des Stärkeren gesegnet ist und sich ein isolationistisches Bewusstsein à la „Wir allein gegen den Rest der Welt“ herausgebildet hat. Der Siegeskult ist eine vollwertige Staatsideologie geworden, die theoretisch laut Artikel 13 der Verfassung der Russischen Föderation verboten wäre – aber wen kümmert in Russland heute schon die Verfassung? 

    Russland ist dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen   

    Im Namen des Sieges werden auch Gesetze beschlossen, die das historische Gedächtnis reglementieren, und es kommt zu Repressionen: Alexej Nawalny stand 2021 in einer fingierten Anklage wegen „Beleidigung eines Veteranen“ vor Gericht. 

    Und jetzt hat Russland im Namen des Sieges auch noch einen aggressiven Eroberungskrieg begonnen.     

    Der Bannspruch der Nachkriegsgenerationen hieß: Bloß keinen Krieg. Jetzt heißt es: Wir können das wiederholen

    Das ist der wichtigste und schrecklichste Output der militaristischen 9.-Mai-Religion: Anstelle einer Würdigung des Sieges, eines Festakts zum Kriegsende, anstelle einer Feier des Friedens ist Russland dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen. Der Sieg wurde ersetzt durch eine permanente Schlacht. Anstelle eines Aufatmens – nie wieder, never again, нiколи знову –, anstelle des Bannspruchs Bloß keinen Krieg, den die Nachkriegsgenerationen beschworen, hat Russland die revanchistische Losung Wir können das wiederholen geprägt, die es wie eine Beschwörung wiederholt. Aus der Idee des Friedens wurde ein blutrünstiger Kriegskult, der Menschenleben kostet.   

    Genau das ist am 24. Februar 2022 passiert: Unter dem Deckmantel der „Entnazifizierung“ der Ukraine, abgeschrieben aus Geschichtsbüchern und von Propagandaklischees, hat Russland in Europa den größten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg entfacht. Man wollte 1945 wiederholen, doch Russland hat in dieser blutigen Geschichtsrekonstruktion seine Rolle falsch eingeschätzt: Die Ironie des Schicksals will, dass es nicht die sowjetischen Befreier spielt, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer.  

    Russland spielt nicht die sowjetischen Befreier, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer

    Die Geschichte hat einen weiten Kreis gezogen und ihn geschlossen. Die Schlange beißt sich in den eigenen Schwanz, die Sieger über die Nazis wurden selbst zu ihrem jämmerlichen Abbild. Die tatsächlichen Erben von 1945 sind heute die Ukrainer, die tapfer ihre Heimat verteidigen, und nicht die russischen Besatzer, die in ein fremdes Land gekommen sind, um zu vergewaltigen, zu rauben und zu brandschatzen. 

    Wer das Gedenken des großen Siegs ehrt, der kann nicht anders, als Russland in diesem sträflichen, schändlichen, sinnlosen Krieg eine Niederlage zu wünschen.  
     

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  • Einigkeit der Uneinigen

    Einigkeit der Uneinigen

    In den Fernen Osten zog es Alexander Lukaschenko in der vergangenen Woche. Der belarussische Machthaber besuchte die Hafenstadt Wladiwostok und traf in der Oblast Amur seinen russischen Kollegen Wladimir Putin. Der Ort des Zusammentreffens: der Östliche Weltraumbahnhof (russ. Kosmodrom Wostotschny), der dort seit vielen Jahren rund 8000 Kilometer von Moskau entfernt entsteht. Während Putin sich in Bezug auf den von Russland entfachten Angriffskrieg gegen die Ukraine siegesgewiss gab, stand ihm Lukaschenko bei. Er erklärte das Massaker von Butscha zur „psychologischen Spezialoperation der Briten“.

    Der Politikanalytiker Waleri Karbalewitsch sieht in der demonstrativen und „ultraloyalen“ Unterstützungsrhetorik den Versuch, Lukaschenkos Haltung zu verschleiern, „dass er nicht bereit ist, belarussische Truppen in die Ukraine zu schicken“. Der Krieg des Kreml ist in der belarussischen Gesellschaft extrem unpopulär, was sich unter anderem durch die Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken des Landes zeigt. Zudem bedroht die langfristige Stationierung russischer Truppen auf belarussischem Staatsgebiet nicht nur die Souveränität des Landes, sondern womöglich auch die Macht Lukaschenkos selbst. 

    Kann es also sein, dass Lukaschenko in seiner scheinbar ausweglosen Lage versucht, auf mehreren Ebenen zu agieren, um sich neue Handlungsspielräume zu erschließen? Entsprechend breit wurde auch ein Brief von Wladimir Makei diskutiert. Der belarussische Außenminister hatte sich, ebenfalls in der vergangenen Woche, an die Europäische Union gewandt, mit dem Vorschlag, den Dialog wiederherzustellen, der seit den Repressionen und Eskalationen Lukaschenkos gegen die Protestbewegung und seiner Rolle im Krieg gegen die Ukraine aufgekündigt worden war. Man würde sich, so Makei sinngemäß, auch nicht weiter in den Krieg hineinziehen lassen. Offensichtlich macht sich Lukaschenko Gedanken darum, inwieweit er seine außenpolitischen Fähigkeiten wiederherstellen kann. Auch für den Fall, dass Putin den Krieg verliert. Zudem plagen ihn zweifelsohne die Folgen der Sanktionen für die belarussische Wirtschaft und in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit Russland, das selbst scharf sanktioniert wird, diese Folgen abfedern kann und will, und vor allem: zu welchem Preis. 

    Lukaschenko und Putin, deren Verhältnis trotz der aktuellen demonstrativen Einigkeit in der Vergangenheit alles andere als unkompliziert war, haben im November 2021 eine weitere Integration von Belarus in den sogenannten Unionsstaat beschlossen. Wäre dessen Vollendung und Belarus´ endgültige Inkorporation in die Russische Föderation eine für die beiden Sowjetnostalgiker vorstellbare Option? Auf was zielen Lukaschenkos verwirrende und scheinbar widersprüchliche Taktikspiele möglicherweise ab? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Naviny.

    Alexander Lukaschenko thematisiert plötzlich eine mögliche Eingliederung der Republik Belarus in Russland, die er folgendermaßen kommentiert: „Putin und ich werden ja nicht so dumm sein, mit alten Methoden vorzugehen. Ich sage euch, wir werden eine solche Einheit zweier unabhängiger Staaten schaffen, dass sie von uns was lernen werden. Lernen werden sie von uns! Wie man Sanktionen überwindet und so weiter.“

    Diese hochtrabende Tirade ließ Lukaschenko am 13. April in Wladiwostok bei einem Treffen mit dem Gouverneur der Region Primorje vom Stapel. Es sah nicht so aus, als würde ihn jemand dazu zwingen – dieses Thema scheint ihn einfach zu beschäftigen. Und seine Worte „Putin und ich werden ja nicht so dumm sein“ lassen sich dekodieren als „ich hoffe, Putin ist nicht so dumm“.     

    Das politische Lavieren als Strategie

    Zwischen den beiden postsowjetischen Staatsoberhäuptern hat nie echtes Vertrauen geherrscht. Viele Beobachter sind der Meinung, Putin sei schon allein dadurch, dass er überraschend Russlands Präsident wurde, dem ambitionierten Ex-Direktor der Sowchose in Schklou in die Quere gekommen, der davon geträumt hatte, in Boris Jelzins Fußstapfen zu treten. 

    Heute erinnert sich kaum mehr jemand an den Konflikt, der 2002 zwischen Lukaschenko und Putin hochkochte. Damals trieb der Kremlchef die Frage der Eingliederung der Republik Belarus in Russland auf die Spitze. „Nicht einmal Lenin und Stalin sind auf die Idee gekommen, Belarus zu zerschlagen und es der RSFSR anzuschließen“, empörte sich damals der belarussische Präsident, der den souveränen Absolutismus zu schätzen gelernt und es sich in seiner Allmacht bereits bequem gemacht hatte.    

    Es folgte eine Zeit der Beziehungsschwierigkeiten, in der Lukaschenko mal Lobeshymnen auf Russland sang, um an billige Ressourcen zu kommen, mal Russlands imperialistische Allüren anprangerte, um das eigene Herrschaftsrecht in der ehemaligen Sowjetrepublik zu behaupten.   
    Hin und wieder gelang es ihm, zu lavieren und mit dem Westen geopolitische Spielchen zu spielen. Eine richtige Annäherung an den Westen schaffte das belarussische Staatsoberhaupt allerdings nie, weil es ein auf seiner persönlichen Macht basierendes antidemokratisches Regime errichtet hatte.   

    Eine vollwertige Marktwirtschaft hingegen hat Lukaschenko nie errichtet. Während er behauptete, räuberische Reformen zu vermeiden, ging es ihm in Wirklichkeit nur darum, die staatliche (sprich, seine persönliche) Kontrolle über die materielle Basis nicht zu verlieren. Die ineffektive staatliche Wirtschaft erforderte aber permanent russisches Doping, sodass sich Lukaschenko bei allen Reibereien nie wirklich von Moskau lösen konnte.      

    Abhängigkeit jenseits der roten Linie 

    Eine Zeitlang – erinnern wir uns an die fetten Jahre der ersten Hälfte der 2000er – gelang dem belarussischen Staatschef der Tausch von, „Öl gegen Küsse“, und im Gegenzug gab er das Versprechen, sich vor die berüchtigten NATO-Panzer zu werfen. 

    Doch danach erhob sich das Imperium von den Knien und begann, für jedes verfütterte Vitamin reale Zugeständnisse einzufordern. Der Gipfel war im Dezember 2018 das berühmte Ultimatum von Dimitri Medwedew, damals Premierminister der Russischen Föderation: entweder „tiefgreifende Integration“, oder ihr könnt die spendablen Zuschüsse vergessen. Und wieder empörte sich Lukaschenko: „Uns zu erpressen, uns beugen zu wollen, uns das Knie auf die Brust zu drücken ist zwecklos.“     

    Und um der Falle zu entgehen, ließ er 2019 die Unterzeichnung der sogenannten Roadmaps für die Vertiefung der Integration platzen.  

    Doch die Ereignisse des Jahres 2020 – die Proteste gegen die  gefälschten Wahlen und ihre brutale Niederschlagung – trieben den belarussischen Staatschef, der seine frühere Legitimität eingebüßt hatte, in eine solche Abhängigkeit von Moskau, dass er seinen alten Stolz begraben musste. 

    Lukaschenko unterschrieb 28 Bündnisprogramme (modifizierte Roadmaps der „vertieften Integration“) und ließ auf belarussischem Territorium russische Truppen stationieren, die am 24. Februar in der Ukraine einfielen. Das belarussische Staatsoberhaupt, das zuvor Kiew versprochen hatte, von seinem Land aus werde es keine Angriffe geben, fand sich in einer erbärmlichen Lage wieder: In den Augen der Ukrainer, des Westens und eines beträchtlichen Teils seiner Landsleute war er endgültig zu einer Marionette des Kreml geworden.

    So hat die Logik des Machterhalts um jeden Preis den Regenten um einen beträchtlichen Teil seines politischen Subjektstatus gebracht und Belarus dem Risiko ausgesetzt, den letzten Rest seiner Souveränität zu verlieren, die das Regime ohnehin schon Stück für Stück verkauft hatte.

    Nostalgien unterschiedlicher Machart

    Lukaschenko hat, wie auch viele Beobachter, offenbar Putins Rationalität überschätzt. Und hat daher eine großangelegte Aggression gegen die Ukraine für unwahrscheinlich gehalten. 

    Dieser abenteuerliche Überfall, der die gesamte demokratische Gemeinschaft, die gesamte entwickelte Welt herausfordert, hat gezeigt, dass der Regent im Kreml den Kontakt zur Realität vollends verloren hat und sich rückhaltlos seinen imperialistischen Instinkten hingibt. Und das erhöht die Gefahr auch für Belarus.

    Putin spricht der Ukraine das Recht auf einen eigenen Staat ab (mit dem Argument, Lenin habe sie künstlich erschaffen, die Kommunisten hätten ihr ur-russischen Boden abgetreten), doch alle diese großmächtigen Pseudoargumente können jederzeit auch auf Belarus angewandt werden. Auch die BSSR wurde von Bolschewiken in Smolensk ausgerufen, ihr Gebiet wurde durch Beschlüsse der sowjetischen Regierung festgelegt und erweitert.   

    Sowohl Putin als auch Lukaschenko trauern der UdSSR nach, wenn auch mit unterschiedlichen Arten von Nostalgie. Putin wünscht sich eine Wiedergeburt des Imperiums im klassischen Sinn. Er geißelt sogar Lenin dafür, dass dieser sich den „nationalen Randgebieten“ angebiedert, ihnen Souveränität verliehen habe, zwar eher pro forma, doch das sei das Pulverfass unter der Sowjetunion gewesen. 

    Lukaschenko hätte offenbar gern sowjetische Einigkeit, eine planmäßige Zufuhr billiger Ressourcen und einen garantierten Absatz für Erzeugnisse aus Belarus (die BSSR war einst die führende Montagewerkstatt der UdSSR). Plus einen atomaren Schutzschirm gegen den verfluchten Westen. 

    Doch dabei will er bestimmt nicht den Status eines Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der belarussischen Kommunistischen Partei, den Moskau befehligt und jederzeit absetzen kann. Lukaschenko will eine Reinkarnation der Sowjetunion, bei der er alle Vorteile aus dem Zentrum genießt und gleichzeitig auf seinem Territorium allmächtiger Zar bleibt.   

    Eine solche Idylle ist aber unmöglich. Und die Spielregeln diktiert der Stärkere. Heute, wo Lukaschenko geschwächt  ist, macht Moskau ihn unverblümt zu seinem Vasallen. 

    Steht eine schleichende Eingliederung bevor?

    Ein weiterer Punkt ist, dass Putin momentan eine klassische Inkorporation von Belarus mit Säbelrasseln und sonstigem Gedöns gar nicht haben will. Wozu sich noch mehr Scherereien einhandeln – von weiteren Sanktionen des Westens über den geschlossenen Widerstand eines Volkes, das mehrheitlich darauf verzichten möchte, Teil eines Imperiums zu werden, bis hin zur Notwendigkeit, mehr als neun Millionen Münder miteinzukalkulieren?      

    Die schleichende Inkorporation kommt Moskau heute gerade recht. 

    Lukaschenko aber fühlt sich in der Rolle des Vasallen schrecklich unwohl. Nomenklatur und Silowiki sehen ihren Boss, der so lange unbeugsam erschien, bereits in einem anderen Licht. Heute hat es der Kreml um einiges leichter, die Figur an der belarussischen Spitze bei Bedarf auszuwechseln.    

    Und seit dem Angriff auf die Ukraine ist die Unberechenbarkeit des Kremlherrschers in Lukaschenkos Augen wohl stark gestiegen. Der belarussische Staatschef sagt zwar „Putin und ich sind nicht so dumm“, hegt aber eigentlich die Hoffnung, dass „Putin nicht so dumm“ sein möge. 

    Weil es zwischen den Bündnispartnern de facto nie eine Parität gab, schon gar nicht jetzt. Lukaschenko konnte sich mit spitzfindigen Zügen lange halten, hat aber dieses Spiel mit dem Imperium erwartungsgemäß doch verloren. Die Perspektive des Kreml, sich heimlich, still und leise Belarus einzuverleiben, ist derzeit günstig wie nie zuvor.      

    Verhindern kann das wohl nur mehr eine schwere Niederlage des Kremlregimes in der Schlacht gegen die Ukraine und die progressive Welt. Na ja, und obwohl in Belarus alles Lebendige jetzt extrem unterdrückt ist, wird  natürlich vieles von der mehrheitlichen Haltung seiner Bürger abhängen. 

    Die Ukrainer, von denen man eine rasche Kapitulation erwartet hatte, haben gezeigt, dass sie bereit und fähig sind, für die Freiheit zu kämpfen. Die belarussischen Truppen sind weitgehend deshalb nicht im ukrainischen Fleischwolf gelandet, weil die überwiegende Mehrheit der Belarussen kategorisch gegen den Krieg ist. Insofern können nicht nur die Staatschefs, sondern auch die normale Bevölkerung den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflussen.

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    In einem russischen Gerichtssaal spricht ein junger Mann, ein Journalist. Im Prozess, der ihm gemacht wird, bleibt ihm das Schlusswort, um sich noch einmal zu den Vorwürfen zu äußern. Er entscheidet sich stattdessen – wie viele in Russland, die wissen, dass das Urteil zumeist schon im Vornherein feststeht – in dem Schlusswort über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. 

    Er spricht vieles offen aus, über das man in Russland aufgrund repressiver Gesetze nicht sprechen darf: Er nennt den Krieg einen Krieg, erzählt von bombardierten Krankenhäusern, von getöteten Zivilisten, eingeschlossenen Städten. 
    Der Journalist heißt Wladimir Metjolkin und er gehört zu Doxa, einer Studierendenzeitschrift in Moskau. Gemeinsam mit drei seiner Kollegen – Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch und Alla Gutnikowa (deren Schlusswort ebenfalls häufig geteilt wurde in Social Media) – hat er bereits fast ein Jahr Hausarrest und einen Gerichtsprozess hinter sich. Das Urteil soll am heutigen Dienstag, den 12. April 2022, gefällt werden. Ihnen drohen bis zu zwei Jahre Haft.


    Der Fall Doxa beginnt im Jahr 2021 – ein Jahr des Shifts in Russland, in dem der Druck gegen unabhängige Akteure und auch Medien immer stärker wurde. Das Vergehen der Doxa-Redakteure: Sie hatten in einem Video im Januar 2021 von politischem Druck an den Universitäten berichtet, hatten Drohungen thematisiert, Studierende könnten von der Uni fliegen, sofern sie es wagten, zu Unterstützerprotesten für Kremlkritiker Alexej Nawalny zu gehen, der damals nach seiner Nowitschok-Vergiftung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt war. 

    Dieses Video wurde ihnen als „verbrecherisch“ ausgelegt, als Protestaufruf mit „Gefahr für Leib und Leben“ von Minderjährigen. Dass sie seither von der russischen Justiz verfolgt werden, hat ihr Leben radikal verändert: Wer von ihnen noch an der Uni war, musste sie verlassen. Wer bereits in den Beruf eingestiegen war, hat den Job verloren. Während des Arrestes wurden pro Tag nur zwei Stunden Ausgang gewährt, begleitet von zahlreichen weiteren Verhören, wie die Doxa-Redaktion berichtete. 

    Das besagte Video beendete Doxa damals mit den Worten „Die Jugend sind wir, und wir werden gewinnen“. Während ihr Fall in den vergangenen Wochen auf das Urteil zulief, hat Russland einen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine begonnen. 

    In seinem Schlusswort vor Gericht am 1. April spricht Doxa-Redakteur Wladimir Metjolkin darüber, wie die Zukunft der Jugend in Russland aus seiner Sicht mit der des ganzen Landes und dem Krieg im Nachbarland zusammenhängt. Dabei kommt er auf den Satz von damals zurück. dekoder hat sein Schlusswort in voller Länge übersetzt:


    Update vom 12. April 2022, 16 Uhr MEZ: Wie Mediazona mitteilt, lautet das Urteil 2 Jahre Sozialstunden; 3 Jahre lang dürfen die Vier außerdem nicht als Administratoren von Internetseiten fungieren.

    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa
    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa

    „Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt, doch die Jugend sind wir – und wir werden garantiert gewinnen“, so lautete der von Alla gesprochene Schlusssatz in unserem Video, das wir vor über einem Jahr veröffentlicht haben. Wegen des Videos wurde ein Verfahren gegen uns eingeleitet, und deshalb stehen wir heute hier in diesem Gerichtssaal. Der Satz besteht aus zwei Teilen, in meiner Rede möchte ich auf beide einzeln eingehen. 

    Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt. Die Metapher des Kriegs gegen die Jugend und deren Bedeutung bedarf eigentlich keiner langen Erklärung: Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft – man hat sie uns genommen. Wenn du jung und anständig bist, dich persönlich weiterentwickeln, einen guten Abschluss und ehrliche Arbeit willst, wenn du auch nur irgendwelche Ambitionen hast, wird dir geraten, Russland zu verlassen – je eher, desto besser. 

    Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft

    Heute, ein Jahr nach Prozessbeginn, können wir voller Wut und sogar Hass sagen, dass es um diese Dinge noch viel schlechter steht. Die Staatsmacht hat im Wortsinne einen Krieg erklärt. Es geht jetzt nicht mehr um den metaphorischen Krieg gegen die Jugend, sondern um einen bestialischen, zerstörerischen Krieg gegen die Ukraine und deren friedliche Bewohner. Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben. Ich hatte es auch vergessen und dieser Tatsache nicht mehr die nötige Bedeutung beigemessen. Doch jetzt erinnern sich alle, nachdem Russland am Morgen des 24. Februar nach einer irrsinnigen nationalistischen Rede von Wladimir Putin Kiew bombardiert hat.

    Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben

    Die Staatsmacht hat Boris Romantschenko den Krieg erklärt. Dieser alte Mann hatte vier Konzentrationslager, darunter Buchenwald, überlebt. Im März 2022 ist eine russische Rakete in sein Haus in Charkiw eingeschlagen und hat ihn getötet. 
    Die Staatsmacht hat Boris Semjonow den Krieg erklärt, einem 96-jährigen Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Er trägt einen Orden für die Befreiung Prags, wo er sich jetzt wieder als Geflüchteter befindet, weil er wegen der Bombardierung zur Flucht aus der Oblast Dnipropetrowsk gezwungen war. Dort wartet er auf eine Wohnung, obwohl ihm auch in Berlin Hilfe angeboten wurde, wo er in Ruhe seinen Lebensabend verbringen könnte.

    An dieser Stelle unterbricht die Richterin Anastassija Tatarulja den Angeklagten, aber er fährt fort.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird und in dem mehr als 90 Prozent aller Gebäude zerstört wurden. Die Einwohner von Mariupol sterben, haben kein Wasser und keine Nahrung, sie beerdigen ihre Angehörigen direkt in den Innenhöfen der Wohnhäuser, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. Sehen Sie sich die Fotos an, sie sind in internationalen Medien zahlreich zu finden. 

    Die Staatsmacht hat den Frauen und Kindern den Krieg erklärt. Russland bombardiert wahllos Wohngebiete und zerstört Schulen, Krankenhäuser, Geburtskliniken. Das bestätigen Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen auf der ganzen Welt. Täglich sehen wir massenhaft Fotos und Videos aus der Ukraine, wir können diesen Krieg regelrecht online beobachten. Nur einer scheint die Kriegsberichte immer noch in Aktendeckeln vorgelegt zu bekommen.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird

    Die Staatsmacht hat sogar jenen den Krieg erklärt, die diesen Krieg mit ihren Händen für sie führen müssen. An der Front landen unter anderem Wehrdienstleistende. Sie wollen nicht kämpfen, ergeben sich, landen in Gefangenschaft und führen keine Panzerangriffe durch, manche wissen nicht mal richtig, wie man das Kriegsgerät bedient. Die Soldaten werden chaotisch an verschiedene Frontabschnitte verteilt (wobei von einer Verkürzung der Frontlinie die Rede war, wollen wir hoffen, dass es so ist), sie sterben einen schrecklichen Tod – verbrennen bei lebendigem Leib in Panzerkolonnen. 

    In den ersten Tagen des Angriffs wussten russische Soldaten nicht einmal, wo sie waren und wohin sie fuhren – das belegen viele Protokolle und Zeugenberichte. Sie wurden schlichtweg zur Schlachtbank geschickt, ohne anständige Kleidung, Verpflegung oder Deckung.

    An dieser Stelle wird Metjolkin abermals von der Richterin unterbrochen. „Ich finde, es besteht sehr wohl ein direkter Zusammenhang, deswegen fahre ich fort“, erwidert er. 

    Ich kenne aus erster Hand den Bericht einer Frau, deren wehrdienstleistender Neffe in einem sowjetischen Panzer Baujahr 1974 schläft. Wir hören Berichte von Soldaten, deren Leichname nicht überführt und anständig beerdigt werden. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern. Die ukrainische Seite würde sie abholen lassen, aber Russland schweigt.

    Leichname der russischen Soldaten werden nicht überführt. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern

    Die Staatsmacht hat den Aktivisten und Journalisten den Krieg erklärt, die offen über die Ereignisse sprechen wollen, weil es unmöglich ist, darüber zu schweigen. In einem Jahr wird man uns fragen, was wir in dieser Zeit getan haben, wie wir versucht haben, es zu verhindern. Wir werden der nächsten Generation Rede und Antwort stehen müssen. Inzwischen sind die Repressionen in vollem Gang: Es laufen über 200 administrative und einige Strafverfahren. Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur. Die Staatsmacht versucht, uns weiterhin einzuschüchtern, indem sie unter anderem auf die Wiedereinführung der Todesstrafe anspielt. Es gibt die Menschen, die nicht schweigen, aber viele sind wir nicht.

    Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur

    Jetzt zum zweiten Teil des oben genannten Satzes. Die Jugend sind wir, und wir werden garantiert gewinnen. Was bedeutet das? Ich möchte weg von der gängigen Standardinterpretation dieser Worte als Generationenkonflikt, bei dem die Jungen immer die Alten ablösen, die Alten ausgemustert werden und dadurch vermeintlich alles besser werden soll. Das würde zu kurz greifen.

    Meiner Ansicht nach geht es bei diesen Worten darum, dass sich die Zukunft nicht aufhalten lässt. Wir wissen nicht, wie sie aussehen wird, momentan ist das schwer zu sagen. Aber das Putin-Regime wird zweifellos früher enden, als es der (noch Haupt-)Akteur will. Mit seinem Versuch, lebenslang Präsident zu sein, ruiniert er das ganze Land.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte – jener „tausendjährigen Geschichte“, wie sie die Propaganda so gerne nennt. Eine Grundannahme dieses Diskurses ist die Behauptung, Russland habe immer nur gerechte und Befreiungskriege geführt.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte

    Ich will mich nicht in historischen Details verlieren – die Fotos, die nach dem 24. Februar 2022 in Kiew, Mariupol und Cherson gemacht wurden, sprechen für sich. Sie genügen, um zu begreifen, dass das Narrativ von den Russen als Befreiern hinfällig geworden ist. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen – mit Streumunition und Minenbomben. Die Russen reagieren darauf wie sie können, aber sie können wenig. Dafür reagiert die Welt umso stärker. Das Leben in Russland hat sich seit dem Beginn des Krieges rasant verschlechtert, und das wird lange so bleiben. Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung – alles ist zerstört. Alles ändert sich im Lauf der Zeit, aber jetzt gerade beschleunigt ein Einzelner mit seinen wahnwitzigen Aktionen die Veränderungen massiv.

    Das Narrativ von den Russen als Befreiern ist hinfällig geworden. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen

    Zum Thema „Entnazifizierung“: Russland hat den Buchstaben Z als ein Symbol des Kriegs gewählt, in dem viele zu Recht ein halbes Hakenkreuz erkennen. In manchen Ländern will man dieses Zeichen bereits gesetzlich mit den Nazi-Symbolen gleichsetzen. Anders kann man es auch gar nicht nennen – ein neues Hakenkreuz, ein neuer Hitlergruß. In Z-Formation werden in Russland Studenten, Schüler und sogar Kindergartenkinder aufgestellt.    

    Die russischen Propagandisten haben die gesamten acht Jahre seit 2014 über Nazis in der Ukraine gewettert: Zuerst seien sie auf dem Maidan aufgetreten und dann plötzlich an die Macht gekommen. Man hat uns Bilder von Fackelzügen gezeigt, die tatsächlich gruselig aussahen. Aber wo sind diese ukrainischen Ultrarechten jetzt? Die vereinigten Rechten haben es mit gerade mal zwei Prozent bei den letzten Wahlen nicht einmal in die Rada geschafft. Einzelne nationalistische Veteranen des Kriegs in der Ostukraine konnten sich unter Poroschenko einen Platz in der Politik oder einen Posten in den Sicherheitsbehörden verschaffen, aber von einem maßgeblichen Einfluss auf die Politik in den letzten Jahren kann nicht die Rede sein. Wolodymyr Selensky hatte bereits Kurs aufgenommen auf eine Versöhnung der ukrainischsprachigen und der russischsprachigen Bevölkerung des Landes.

    Wir brauchen eine Entnazifizierung und Dekolonialisierung Russlands

    Wir haben die ukrainischen Nationalisten schon sehr sehr weit überholt. Wir sind es, die eine Entnazifizierung und eine Dekolonialisierung Russlands brauchen. Und eine Absage an den imperialistischen Chauvinismus, an den Spott über Sprachen, Kulturen und Symbole anderer Länder und anderer Völker Russlands. Fehlende Empathie gegenüber deinen Nachbarn – das genau ist der Grund, warum Kriege beginnen. 

    Wir fahren nach Jerewan oder Tbilissi und erwarten, dass man dort Russisch mit uns spricht, erwarten einen Service wie in Moskau, erwarten, dass sich alle über uns freuen. Wir betrachten diese Orte als Scherben des großen Russland. Genau das ist imperialistisches Denken. Wie alle sehen, tut Russland seinen Nachbarländern nichts Gutes. Wir müssen viel mehr darüber reflektieren, was es heißt, Russen zu sein. Und wir müssen jetzt maximal streng mit uns selbst sein.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert, und nun hat unser Land einen Krieg entfacht, den allerschrecklichsten seiner Geschichte. Wir müssen diese Fehler beheben. Wir müssen einsehen, dass jetzt nichts wichtiger ist als die Politik. Politik, verstanden als eine Teilnahme am eigenen Leben, als Selbstbestimmung, als Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, als Sorge um das, was rundherum passiert. All das ist die Grundlage, auf der wir eine neue russische Gesellschaft aufbauen müssen. Die Flucht in die heimeligen Sphären von privaten Interessen und Konsum hat unsere autoritäre Gesellschaft in die Katastrophe geführt. Das muss aufhören und darf sich nie mehr wiederholen.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert

    Die Gemeinschaft der Aktivisten, Journalisten und Wissenschaftler, zu der ich mich zählen darf, weiß, was sie zu tun hat. Wir sind bereit, hart zu arbeiten, geduldig zu sein und zu hoffen – die Veränderungen werden kommen, aber wir müssen uns alle gemeinsam darauf vorbereiten. Und dafür müssen wir in Freiheit sein. 

    Ich möchte den letzten Satz des Videos ein bisschen korrigieren, Alla möge mir verzeihen, wir haben den Text ja, soweit ich mich erinnere, zusammen verfasst. Ich hätte ihn lieber so: Die Staatsmacht hat den friedlichen Menschen den Krieg erklärt und stellt jetzt eine massive Bedrohung dar. Aber die tatsächliche Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen garantiert stoppen.

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    Totale Aufarbeitung?

    „Auch wenn es schrecklich klingt: Mir macht nicht so sehr der Krieg selbst Angst, sondern vielmehr wie er in Russland wahrgenommen wird.“ Auf diese Formel bringt der Politologe Wladimir Pastuchow den Rückhalt des Präsidenten Putin in der russischen Gesellschaft. Dieser liegt laut aktuellen Umfragen bei über 80 Prozent. Obwohl der Wert von Meinungsumfragen in autoritären Regimen strittig ist, ist für den Politologen damit implizit klar, dass dieser Rückhalt grundlegend ist für das System Putin – dass der Krieg erst dadurch möglich wurde.

    Zahlreiche Analysten haben den Kitt dieses Rückhalts in vergangenen Jahren als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus. 

    Das dadurch entstandene Weltbild gelte als unumstößlich, meint Pastuchow. Aus diesem Grund müsse das Übel an der Wurzel gepackt werden: Jede Verbreitung von Gedanken, die irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen, müsse zum absoluten Tabu werden. Die ideologische Aufarbeitung müsse total sein.

    Systematische Einschränkung des Pluralismus zwecks Aufbau eines liberal-demokratischen Staates? Heiligt der Zweck die Mittel? Pastuchows Analyse sorgt in liberalen Kreisen Russlands für hitzige Diskussionen. Sein Text ist am 23. März in der Novaya Gazeta erschienen. Fünf Tage bevor die Zeitung bekannt gab, ihre Arbeit bis Ende des Kriegs einzustellen. 

    Es liegt mir fern, dem Präsidenten Plagiat vorzuwerfen. Aber neu ist an dem, was Putin heute sagt, nur die Tatsache, dass es Putin sagt. All diese Ideen sind Zersetzungsprodukte der kommunistischen Ideologie, die erst jahrzehntelang im Untergrund der sowjetischen Stagnation vor sich hin gerottet und dann nutzlos in den Hinterhöfen der „wilden 1990er“ herumgelegen haben.

    Nichts fällt einfach so vom Himmel. Die neue Paranormalität ist nicht das Resultat von Putins Fantasie. Die Mythologie der „Spezialoperation“ ist weder eine kreative Schöpfung Putins noch seiner Administration. Sie kam von außen in den Kreml hinein, wurde vom Zerrspiegel der russischen postkommunistischen Macht reflektiert und dann wieder in die Außenwelt zurückgeworfen – nämlich als das Konzept der Russischen Welt, die einem Stör ähnelt – und zwar nicht zweiten, sondern nur dritten Frischegrades.

    Die drei Quellen bzw. drei Bausteine des Putinismus

    Diese ziemlich flache Erdscheibe ruht – wie auf alten russischen Stichen – auf drei Walen: dem orthodoxen Fundamentalismus, der Slawophilie und dem Stalinismus (einer radikalen Version des russischen Bolschewismus). Schon die Aufzählung dieser „geistigen Wurzeln“ zeigt, dass man diese Ideologie nicht auf der Müllkippe gefunden hat (obwohl das vielen genau so vorkommt), sondern als Rutenbündel, dessen Wurzeln ganz tief, bis in die dunkelsten Keller der russischen Geisteskultur zurückreichen. Und ich glaube, genau aus diesem Grund hat die Propaganda dermaßen eingeschlagen.

    Aus dem Untergrund ins Lushniki-Stadion

    Die Perestroika war die Benefizgala einer „Neuauflage“ der russischen Westler. Alle anderen Geistesströmungen wurden zunächst in den Hintergrund geschoben und nach 1993 ganz in den Untergrund gedrängt. Dort degenerierten sie und zersplitterten zu Sekten: Gumiljow-Anhänger, Stalinisten, radikale Orthodoxe und andere. Sie hatten eigene Propheten wie Kurginjan, Dugin oder Prochanow (und noch viele, viele mehr), die sie als Heilige verehrten. Unter Druck geraten, begannen sich diese Geistesströmungen aktiv zu vermischen, und heraus kamen die bizarrsten, abwegigsten Kombinationen, zum Beispiel orthodoxe Stalinisten oder linke Eurasisten.

    Sie hätten noch jahrzehntelang so vor sich hinrotten können, aber Anfang des 21. Jahrhunderts fand sich ein Großabnehmer für diesen ganzen Sondermüll – in Person der neuen Macht.

    Parallel dazu war nämlich in der Politik ein anderer Prozess vonstatten gegangen: Eine kleine, aber eingeschworene Gruppe von „Petersburgern“ hatte kraft nur teilweise zufälliger Umstände fest die Zügel der Macht an sich gerissen und brauchte für ihre politischen Ambitionen dringend einen ideologischen Überbau. Da sie selbst alle Merkmale einer esoterischen politischen Sekte aufwies, tendierte sie naturgemäß zu einer sektiererischen Weltanschauung. Aus diesem Grund gab es von Anfang an eine gegenseitige Anziehung zwischen den „Petersburgern“ und dem „orthodoxen Untergrund“. Die Frucht dieser Liebe ist das Oxymoron der Putin-Ära: die „orthodoxen Tschekisten“ – und ihr Manifest, das zwischen 2005 und 2010 anonym herausgegebene mehrbändige Werk Projekt Russland.

    Bis 2012 blieb der „Geheimbund der Schwerter und Pflugscharen“ allerdings weitgehend unbekannt. Die Kontakte fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die außerehelichen Ideen, die aus ihnen geboren wurden, versuchte der Kreml nicht an die große Glocke zu hängen. Erst nach der gescheiterten Revolution von 2011 bis 2013 wurde der Schleier gelüftet. Den russischen Machthabern, die seit Anfang der 1990er Jahre nach einer Massenideologie gesucht hatten, wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit durch goldenen Sand gelaufen waren. Sie mussten nichts erfinden, es stand quasi alles schon bereit. Also hat der Kreml die „russischen Eurasier“ behutsam aus dem Dreck gefischt, sie gewaschen, gestriegelt und ihnen eine Krone aufgesetzt.

    Der Effekt übertraf die kühnsten Erwartungen. Das orthodox-slawophile Mantra, das in der russischen Geisteskultur tatsächlich nicht weniger tief verwurzelt ist als das Westlertum, schlug wie eine Granate ein beim Volk, das durch jahrzehntelanges Chaos zermürbt und durch Gewalt korrumpiert war und den Schock des plötzlichen Zusammenbruchs des Imperiums noch nicht überwunden hatte. In seiner dekadentesten, bis ins Absurde getriebenen Form trat der russische Eurasianismus aus dem Untergrund empor und geradewegs auf die Bühne von Lushniki.

    Das Symbol der Kreml-Religion

    Wenn man zum ersten Mal mit der neuen Kremlideologie konfrontiert wird, verspürt man ein intellektuelles Unbehagen, so sehr wirkt dieses Produkt wie eine krude Ansammlung von Alogismen. Aber sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt man langsam durchaus vertraute und keineswegs neue Gestaltungselemente, die das Konzept als eine latente Spielart der Rassentheorie entlarven.

    Die Überlegenheit der russischen Nation

    Wie die meisten anderen Theorien dieser Art basiert sie auf einer hypertrophierten Vorstellung von der Rolle und Bedeutung der russischen Nation, der man Züge eines einzigartigen und unvergleichlichen historischen Subjekts verleiht. Diese These hat zwei Vektoren: einen äußeren und einen inneren. Der innere Vektor impliziert die Anerkennung des bedingungslosen Vorrangs der Nation vor dem Individuum. Der äußere – die Anerkennung einer absoluten Überlegenheit der russischen Nation gegenüber allen anderen Nationen und Völkern. In ihrer tragikomischsten Form kommt diese These in den Worten eines der wichtigsten Hofideologen [des ehemaligen Kulturministers Wladimir] Medinski zum Ausdruck, der behauptete, die Russen hätten ein zusätzliches Chromosom.

    Minderwertigkeit der anderen Nationen

    Einer der Eckpfeiler der neuen Ideologie ist die These, dass nur die russische Nation in der Lage sei, einen vollwertigen souveränen Staat zu bilden. Den meisten anderen Nationen spricht der Kreml diese Fähigkeit ab und betrachtet sie lediglich als „Stellvertreter“ der USA, die nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügten. Besonders minderwertig sei in dieser Hinsicht die Ukraine, deren Staatlichkeit nach Meinung des Kreml künstlich sei und ausschließlich dank der Unterstützung von außen bestehe.

    Die Existenz eines natürlichen Feinds

    In der Vorstellung der Kremlideologien hat die russische Nation einen Blutfeind: die Angelsachsen. Wie es sich für einen mythischen Feind gehört, bilden auch die Angelsachsen eine mythische Kategorie. Wenn es sich dabei um die modernen Briten und, von ihnen abgeleitet, die Amerikaner handeln soll, dann sind das wohl eher Normannen, die seinerzeit die Angelsachsen auseinandergetrieben und assimiliert haben, aber wen kümmern schon die Details. Je weniger real die Angelsachsen sind, desto besser eignen sie sich als natürliche Feinde.

    Ihre Projektion innerhalb des Landes ist die „fünfte Kolonne“, die sich von einer politischen Kategorie nun zu einer ethnisch-kulturellen gewandelt hat: Das sind alle, die den Angelsachsen geistig nahestehen. Die Haupt-Handlanger der Angelsachsen sind jetzt den Umständen entsprechend die Ukrainer, aber das ist eine rein funktionale Entscheidung, an ihrer Stelle könnte jeder andere stehen.

    Die Ukraine als Heiliger Gral

    In der Tradition von Solschenizyn und anderen Eurasiern misst der Kreml der Kontrolle über die Ukraine besondere, mythische Bedeutung zu. Die von niemandem rational begründete These, dass das Russische Reich nicht existieren kann, wenn nicht die Ukraine dazugehört, wird als unbedingtes Axiom akzeptiert und ist grundlegend für alle geopolitischen Konstruktionen des Kreml. Die Ukraine ist nach seinem Verständnis sowohl heilige Messen wert als auch eine „Spezialoperation“, die man im Zentrum Europas als letzte und entscheidende Schlacht inszenieren kann.

    Das Recht auf Krieg

    Allein die Existenz eines heiligen Ziels rechtfertigt den Krieg als Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Beigemischt wird Nietzsche mit einer Prise Dostojewski: „Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht?“. In der Vorstellung des Kreml bedeutet „können“ sowohl „das Recht dazu haben“, als auch „müssen/sollen“. Die neue Ideologie ist in dieser Hinsicht eine Apotheose jenes Kults der Stärke, der jahrelang die esoterische Religion des Petersburger Clans war. Der Militarismus der neuen Ideologie ist keine Notwendigkeit, sondern ihr innerster Kern.

    Die Idee von der Normalität des Krieges

    Die Rehabilitation des Krieges nicht nur als mögliches, sondern als das wirksamste Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele ist die natürliche Fortsetzung der Philosophie der Gewalt. Die apokalyptisch-mythische Vorstellung, dass der Krieg ohnehin unvermeidlich ist, weil die USA ihn entfesseln würden, um ihren unabwendbaren finanziellen und moralischen Bankrott zu verhindern, verstärkt den eigenen Militarismus, und sogar den Willen, als Erster anzufangen, weil man sich davon irgendwelche illusorischen Vorteile ausrechnet.

    Die Macht der Ideologie 

    Der ohrenbetäubende Erfolg der militaristischen Propaganda, den wir heute von Moskau bis in die entlegensten Winkel des Landes beobachten können, ist keineswegs zufällig oder spontan. Er wurde nur möglich, weil der Kreml tatsächlich im Besitz einer umfassenden und perfekten „ideologischen Massenvernichtungswaffe“ ist. Die Ideologie des russischen Hypernationalismus hat es geschafft, die Eliten im Kreml zu vereinen, und zwar nicht von außen, sondern von innen heraus, nicht durch Furcht, sondern durch den Glauben. Ich vermute, dass die erdrückende Mehrheit der Umgebung des Präsidenten tatsächlich mit diesem Virus infiziert ist und das, was wir beobachten, keine Verstellung, kein Zynismus ist, sondern eine Art kollektive Ekstase der Mitglieder eines semireligiösen Ordens.

    Dabei ist nicht gesagt, dass alle auf dieselbe primitive Weise glauben, in jener karikierten Form, in der die Solowjows und Kisseljows uns diese Irrlehre darbringen. Es kann auch eine ausgefeilte Philosophie sein. Diese neue Ideologie wird künftig bei politischen Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen, die individuellen Unterschiede und Interessen der einzelnen Führer dagegen eine immer kleinere. Entsprechend werden der Militarismus und die Aggressivität des Regimes nur zunehmen. Es wird versuchen, sämtliche verfügbaren Räume auszufüllen, die man ihm lässt, solange, bis es auf eine andere Kraft stößt, die es nicht imstande ist zu bezwingen.             

    Wie holen wir Russland zurück?

    Mitte der 1990er Jahre veranstalteten die legendären [Wissenschafts-]Urgesteine, Saslawskaja und Schanin in Moskau die unter Intellektuellen sehr beliebte Reihe Wohin steuert Russland?. Bei diesen Treffen warnte ich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit davor, dass Russland absolut nicht dorthin steuere, wo die Anwesenden es haben wollten, und dass alles mit einer neuen UdSSR enden würde. Heute, da Russland schließlich genau dort angelangt ist, stellt sich eine neue Frage, und zwar, ob man es von dort zurückholen kann. Offen gesagt, Beispiele für eine erfolgreiche Rückkehr von diesem Ort mit drei oder sechs Buchstaben gibt es in der überschaubaren historischen Vergangenheit nur wenige, und wenn, dann kehrten die Betreffenden im Schlepptau eines fremden Panzers zurück.

    Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Der Zustand nämlich, in dem sich die russische Gesellschaft heute befindet. Wir beobachten einen emotionalen Flächenbrand, der nicht ewig andauern kann. 

    Es gibt zwei Szenarien, wie man diese Fackel zu einem Ewigen Licht machen könnte, doch beide sind im heutigen Russland nur schwer vorstellbar. 

    Im ersten Szenario wird die Flamme mit fremden Ressourcen genährt – so wie Nordkorea von China. Aber so viel kann China gar nicht schultern.

    Im zweiten Szenario kann man sich wärmen, indem man selbst Stück für Stück abbrennt – die Variante der stalinistischen Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert auf Kosten der ausgebeuteten russischen Bauernschaft betrieben wurde. Das Problem ist allerdings, dass alle Bauern schon vor hundert Jahren enteignet wurden und es in Russland niemanden mehr gibt, den man massenhaft ausrauben könnte. 

    Bleibt also nur die Option, relativ schnell (wenige Monate bis Jahre) auf diesem Scheiterhaufen des „kalten“ Bürgerkriegs zu verbrennen. Übrig bleibt: ein Aschehäuflein mit Resten schwelender ziviler Apathie. Ich kann nicht vorhersagen, wie genau das Regime unter dieser Asche begraben werden wird, aber genau dieses Szenario halte ich mittelfristig für das wahrscheinlichste. Wobei ich den nuklearen Staub, der aus dem Kremlfernsehen rieselt, jetzt mal ausklammere. Könnte natürlich auch sein, dass da jemand kollektiven Selbstmord begehen will, dann kann man ihn schlecht davon abhalten, aber Selbstmörder bauen keine Paläste

    Auf praktischer Ebene stellt sich bereits heute die Frage, wie wir Russland weniger anziehend machen, entmagnetisieren werden, wenn erstmal die Sektierer vom Kreml abgelassen haben. Der wichtigste Schluss, den die noch heißen Spuren nahelegen, ist folgender: So abstoßend die „russischen Typen“ auch sein mögen, die „russischen Ideen“ sind noch grauenerregender. 
    Das russische Volk lebt innerhalb einer totalitären Matrix, die sich von Epoche zu Epoche reproduziert. Diese Matrix wird von den russischen Ideen erzeugt. Wie viele Zähne hat man sich an der nie erfolgten Aufarbeitung in den 1990er Jahren ausgebissen, und noch mehr werden es bei der noch bevorstehenden Aufarbeitung der 2030er (oder vielleicht schon 2020er) Jahre sein. 
    Die ideologische Aufarbeitung muss total sein. Nachdem die russische Mentalität nach holistischen, mystischen und totalitären Gesinnungen regelrecht süchtig ist, wird man in Russland die Verbreitung von allen Ideen verbieten müssen, die sich ähnlich, symmetrisch oder identisch zu jenen verhalten, die in ihrer Steigerung zu einer Rechtfertigung der „Spezialoperation“ geführt haben. Jede Verbreitung von Gedanken, die direkt oder indirekt, unmittelbar oder mittelbar irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen – egal ob Orthodoxie, Kommunismus, Stalinismus, Nationalismus oder sonst irgendetwas –, jeder Versuch, solches Geistesgut in staatlichen oder außerstaatlichen Sphären zu verbreiten, muss ein absolutes Tabu werden. 
    Angesichts der Komplexität des Problems sind zuallererst zwei Maßnahmen zu ergreifen: 

    Entkirchlichung

    In Russland muss eine strikte Antiklerikalisierung durchgeführt werden, in erster Linie – aber nicht nur – durch eine umfassende und reale Trennung der Kirche als solcher und speziell der orthodoxen Kirche von Schule und Staat. Die russisch-orthodoxe Kirche muss als Institution, die sich mit ihrer Unterstützung und Rechtfertigung des Terrors endgültig diskreditiert hat, organisatorisch und ideologisch entstaatlicht werden. Sie muss sämtliche staatlichen Subventionen verlieren und ihrer Gemeinde überantwortet werden, die ihr Stimmrecht in kirchlichen Fragen zurückerhalten muss. Vielleicht entsteht dann anstelle der pyramidenförmigen Hierarchie der Russisch Orthodoxen Kirche ein echter demokratischer Kirchenverband, ein Zusammenschluss von freien Pfarreien, die sich selbst verwalten und ausschließlich über ihre Mitglieder finanzieren. 

    Entkommunisierung

    Im Land muss endlich eine vollständige und konsequente Entkommunisierung (und nicht nur Entstalinisierung) stattfinden. Die Propaganda kommunistischen Gedankenguts muss verboten, die Ideen selbst müssen als menschenverachtend entlarvt werden. Alle politischen Organisationen, die den Kommunismus offiziell predigen und irgendeine Form von Terror rechtfertigen, müssen verboten werden. Das gilt auch für alle zeitgenössischen Derivate des Kommunismus, einschließlich der eurasischen Utopien von Alexander Dugin und Alexander Prochanow, der neurussischen Passionen von Wladislaw Surkow, der Reenactments von Strelkow und alles, was auf dem Grabhügel des russischen Kommunismus sonst noch so blüht. 

    Kommt Ihnen das unrealistisch vor? Heute – ja. Morgen wird es Realität sein. Das Pendel der russischen Geschichte hat zu weit ausgeschlagen. Um es aus seiner gottverlassenen Lage wieder herauszuholen, braucht es harte, vielleicht sogar grausame Entscheidungen, die uns gestern noch unnötig und undenkbar erschienen. Die Zeit der halben Sachen ist vorbei. Wenn wir diese Entscheidungen treffen, müssen wir daran denken, dass es nicht so sehr die bösen Menschen, sondern böse Ideen waren, die Russland in diese historische Sackgasse getrieben haben. 

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  • Die Rache der verdrängten Geschichte

    Die Rache der verdrängten Geschichte

    Vor etwas mehr als einem Monat, am 24. Februar 2022, ist Russland in der Ukraine einmarschiert. Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war, meint Journalist Maxim Trudoljubow im Exilmedium Meduza (die Seite ist aus Russland nur per VPN aufrufbar und wird außerdem technisch aufwändig gespiegelt). Mit dem Krieg würden auch die Geister der russischen und sowjetischen Vergangenheit wieder zum Leben erweckt: Die verdrängte und nicht aufgearbeitete Geschichte, so Trudoljubow, tritt im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder ans Licht.

    Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war. Dieser Krieg ist der zum Leben erwachte Schuldspruch, der alles in sich vereint, wovor die russische Gesellschaft nicht mehr die Augen verschließen kann.

    Ihre Haltung dazu haben die Kreml-Machthaber mit der Verfolgung von Memorial demonstriert: Memorial ist eine für die Zivilgesellschaft des neuen Russlands wegweisende NGO, die in vielerlei Hinsicht Vorreiter war beim Versuch der Gesellschaft, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. „Memorial erzeugt mithilfe von Spekulationen über politische Repressionen ein falsches Bild von der Sowjetunion als einem terroristischen Staat“, äußerte bei den Verhandlungen einer der Staatsanwälte. „Warum sollen wir, die Nachfahren der Sieger, jetzt Reue zeigen, anstatt stolz auf unser Land zu sein, das den Faschismus besiegt hat?“

    Die Zeit heilt keine Wunden

    Wichtig an den Worten des Staatsanwalts ist nicht die typische Verdrehung der Tatsachen (Memorial sprach nicht von Reue, es plädierte für eine juristische Bewertung der Verbrechen), sondern der „Siegerkomplex“: die Vorstellung, Macher des Sieges in einem Krieg gewesen zu sein, an dem sie selbst gar nicht beteiligt waren. In den Köpfen der russischen Führer musste dieser Krieg (in dem die Russen übrigens Seite an Seite mit Ukrainern und anderen Völkern kämpften) die anderen schrecklichen Kapitel der Vergangenheit irgendwie auslöschen – und zwar so, dass der russische Staat und die russische Gesellschaft das moralische Recht hätten, den Kopf oben zu halten.

    Aber von der Vergangenheit distanzieren wollte sich nicht nur die russische Machtelite. Der Großteil der russischen Gesellschaft wollte das auch.

    Immer wieder tauchte in öffentlichen Debatten Intellektueller zu historischen Themen die Frage nach der Verjährungsfrist auf. Sie wurde unterschiedlich formuliert, diente aber stets demselben Zweck: die Schärfe der Debatte zu mildern. Ja, die Kommunistische Partei und ihre „Einsatztruppen“ – die Geheimdienste – wurden nie in großem Stil verurteilt (bzw. gab es einen Versuch, der jedoch missglückt ist). Aber es ist doch schon so lange her! Warum sollte man ein Volk, das ohnehin schon vom täglichen Kampf ums Überleben zermürbt ist, noch zusätzlich spalten? Das Land von damals existiert nicht mehr, es gibt jetzt ein anderes, das aufgebaut werden will – also muss man in die Zukunft blicken und nicht in der Vergangenheit wühlen. Schließlich gibt es in Russland Gedenkstätten für die Opfer des Terrors, es wird ihrer in Kirchen gedacht, Bücher werden über sie geschrieben und Filme gedreht, und es gibt sogar ein staatliches Museum zur Geschichte des Gulag.

    Diese Logik hat nun keinerlei Sinn mehr. Es hat sich gezeigt, dass die Zeit keine Wunden heilt. Man wird sich nicht nur vom Siegerkomplex des Kreml verabschieden müssen, sondern auch von anderen Einstellungen, die außerhalb des Kreml existieren und verhindern, dass man die eigene Vergangenheit in ihrer ganzen Schwere akzeptiert. Wir leben in einem riesigen Schrank voller Skelette, in einem Keller voller Leichen.

    Verbrechen ohne Verjährung

    Bis zum 24. Februar 2022 konnte man meinen, dass ein Grundpfeiler unserer Identität ein gerechter Krieg war: der Große Vaterländische Krieg. In einem Land, in dem Traditionen und Verbindungen zwischen Generationen und sozialen Gruppen immer wieder abgerissen wurden, war das Gedenken an den Krieg ein verbindender und einheitsstiftender Mythos.

    Im Massenbewusstsein überwog die Geschichte des Krieges die Grausamkeit und den Zynismus anderer Kapitel der russischen Geschichte. Das ist nicht ungewöhnlich – die Menschen erinnern sich lieber an das Gute als an das Schlechte. Und Politiker ganz besonders: Viele Staaten legen in ihrer Erinnerungspolitik die Betonung auf die Siege und lenken die Aufmerksamkeit von den Niederlagen ab. Dabei gibt es in der Geschichte eines jeden Landes Niederlagen und schmachvolle Episoden. Jede Nation, jede Gesellschaft bewältigt den Schmerz der Vergangenheit auf ihre eigene Weise. Die russische Gesellschaft bewältigte die Schande durch das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg.

    Lange Jahre hat dieses Gedenken verhindert, dass wir unserer Vergangenheit ins Auge blicken. Der Albtraum, der jetzt geschieht, muss uns dazu bringen, es endlich zu tun.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Nachbarländer als Pufferzonen ohne Recht auf Souveränität behandelt. In unserer Vergangenheit und Gegenwart besteht die Bereitschaft, Gewalt gegen ganze Völker anzuwenden, wenn sie den Machthabern in Moskau illoyal erscheinen. Im Grunde handelt es sich um eine koloniale Politik gegenüber den Nachbarvölkern – und auch gegenüber dem eigenen.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet. Um Methoden war der russische – und besonders der sowjetische – Staat dabei nie verlegen.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart hat sich die Macht exorbitante Befugnisse verschafft, eine nicht durch Gesetze und Institutionen eingeschränkte Macht. Im Russischen Reich gab es noch Geschworenengerichte und eine unabhängige Strafverteidigung – der sowjetische Staat entledigte sich dieser Rechtsinstitutionen als „bourgeoise Überbleibsel“. Die sowjetischen Leader verfügten über eine „Legalität“, die zunächst revolutionär und später sozialistisch war, das heißt, sie rechtfertigte jede Handlung, die für den Aufbau des Kommunismus zweckdienlich war. Dieses System hatte nichts mit dem Schutz von Rechten oder Gerechtigkeit zu tun. In unserer Vergangenheit und Gegenwart stellt man die Zweckdienlichkeit über das menschliche Leben. 

    Die Methoden, derer sich die Behörden bedienten, sind bekannt: Repressionen, inklusive außergerichtlicher Hinrichtungen, Gefangenschaft und Zwangsarbeit, die Eintreibung landwirtschaftlicher Produkte und Enteignungen, die zu Hunger und Tod führten. Nicht zu vergessen die militärische Aggression gegen Nachbarländer, Übergriffe auf Zivilpersonen, Geiselnahmen, Folter, die Verfolgung von Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und die Deportation ganzer Volksgruppen.      
    Diese Methoden benutzte die Sowjetunion sowohl auf dem eigenen Territorium als auch bei der Eroberung der Länder Ost- und Mitteleuropas in den 1940er Jahren – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Sie wurden in beiden Tschetschenienkriegen, in Georgien, in der Ostukraine und in Syrien angewendet – überall dort, wo Russland Gewalt ausübte. Dazu gehören zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die keine Verjährungsfrist haben. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu lesen, das diese Verbrechen ausführlich behandelt.   

    Nicht nur in der Ukraine, gegen die Russland einen Angriffskrieg führt, sondern auch in Ungarn, in Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, in Estland, Finnland, in Tschechien und anderen Ländern, die in ihrer Geschichte auf die eine oder andere Art ihre Erfahrungen mit Russland gemacht haben, spricht man über die vergangenen Verbrechen des russischen Staates so, als ob sie erst gestern begangen worden wären. Die Mehrheit dieser Länder nimmt heute Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Egal, wie die Kampfhandlungen ausgehen – vergessen wird nichts.  

    Methoden ohne Ziele 

    Jetzt kann kein Bürger, keine Bürgerin Russlands, kein einziger Mensch, der sich als Russe bezeichnet, mehr so tun, als wäre die Vergangenheit bloßer Gegenstand akademischer oder publizistischer Auseinandersetzungen. Die Vergangenheit wird gerade auf ukrainischem Boden reproduziert. Dass die Verbrechen des russischen Staates keiner rechtlichen Bewertung unterzogen und von keinem Gericht verurteilt wurden, hat den heutigen Krieg ermöglicht. Ermöglicht hat ihn das ungestrafte Davonkommen der Führer des russischen Staates.

    Vielleicht  glaubt Putin seiner eigenen Propaganda und stützt sich auf die Pseudorealität, die seine Propagandisten erdacht haben

    Die, die jetzt im Namen Russlands Entscheidungen treffen, haben weder große Ziele noch verfügen sie über ein Wissen absoluter Wahrheiten, sie haben weder ideologische oder göttliche Legitimität, die sie so gerne simulieren. Das Einzige, wodurch sie die längst verlorene „große Idee“ – ob von einem Großreich oder vom Kommunismus – erfolgreich ersetzt haben, ist die Lüge. Die Organisatoren des Kriegs gegen die Ukraine haben beschlossen, dass ihnen zur Legitimierung des Krieges Inszenierungen und Fiktionen reichen. 

    Möglicherweise hat Putin seiner eigenen Propaganda geglaubt und stützt sein Vorgehen auf die Pseudorealität, die Propagandisten in seinem Auftrag erdacht haben. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so wichtig, ob er an etwas glaubt oder nicht. Jedenfalls sehen wir, dass russische Beamte und Militärs ihr Vorgehen mithilfe primitiver Desinformation zu rechtfertigen versuchen, indem sie behaupten, die sterbenden Gebärenden seien Schauspielerinnen, in den Krankenhäusern würden sich Nationalisten verschanzen, und die ganze Ukraine werde von Nazis regiert.     

    Das heutige Russland hat nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat

    Das heutige Russland hat als politisches Gebilde nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat. Die Methoden sind immer dieselben, nur wird jetzt nicht einmal mehr versucht, sie mit einem dekorativen ideologischen Schein zu rechtfertigen. Der russische Staat ähnelt unterdessen einem Zombie – ein Körper ohne Seele, der alles auf seinem Weg zermalmt und nicht einmal versteht, wozu er das tut.  

    „Ist die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?“, schrieb Warlam Schalamow. Ja, es ist die zentrale Frage. Und je mehr Russen und Menschen, die sich als Russen begreifen, sich dessen bewusst werden, umso rascher wird der russische Staat für seine Verbrechen vor Gericht stehen. Ohne ein solches Gericht kann Russland weder seinen Bewohnern ein vollwertiges Zuhause bieten, noch kann es eine politische Entität werden, mit der ein vertrauensvoller Dialog möglich ist. Wenn die nationale und kulturelle Gemeinschaft mit dem Namen „Russland“ wieder ein Teil der Welt werden will, dann muss die erste neue Institution, die nach dem Krieg geschaffen wird, ein Gericht über die Verbrechen des russischen Staates sein – in all ihren Ausprägungen, in der Vergangenheit und der Gegenwart.   

    Es darf nicht mehr die Logik der Verjährung gelten, die argumentiert, dass die Verbrecher nicht mehr am Leben seien und es kaum mehr lebende Zeugen gebe, also wen wolle man jetzt anklagen. Da finden sich welche. Diejenigen, die entschieden haben, die Ukraine anzugreifen, wären für diese Rolle durchaus geeignet. Das Gericht muss unabhängig vom Staat sein, sonst hat der Prozess keinen Sinn. Vor 30 Jahren ist ein Verfahren gegen die KPdSU gerade deshalb gescheitert, weil die Verfassungsrichter eben noch selbst Parteimitglieder gewesen waren und das Rechtsorgan von den staatlichen Strukturen nicht sauber getrennt war.   

    Mit einem wirklich unabhängigen Gericht würde Russland der Welt beweisen, dass es überhaupt eine Gesellschaft in Russland gibt  

    Wenn es der russischen Gesellschaft nach dem Krieg – erstmals in seiner Geschichte – gelingt, ein wirklich unabhängiges Gericht zu installieren, dann wird sie sich und dem Rest der Welt damit beweisen, dass es in Russland überhaupt eine Gesellschaft gibt. Das wichtigste Anzeichen dafür, dass es in Russland eine Gesellschaft gibt, wird dann genau das sein: Die Existenz als handelndes Subjekt, die eine rechtliche Bewertung von Handlungen des Staates und seiner Führer erlaubt. Wenn das gelingt, dann schaffen es die Russen vielleicht auch, andere Institutionen aufzubauen.  

    Man wird dabei wohl mit Institutionen beginnen müssen, die die Gewalt des Staates gegen den Menschen, gegen das eigene Volk sowie andere Nationen verhindern. Man wird dafür sorgen müssen, dass nie wieder jemand an die Macht kommt, der in Kategorien wie „einiges Volk“, „gemeinsames Schicksal“, „große Geschichte“ und ähnlichen grandiosen Verallgemeinerungen auch nur denkt. Und natürlich dürfen Politiker in der Zukunft keine Möglichkeit haben, Kriege zu führen, die auf ihren Fantasien beruhen. Ihnen müssen die Hände gebunden sein.     

    Das wird in einem Land, in dem Institutionen, Gesetze und sogar das Bildungssystem immer im Interesse einer zentralistischen Regierung und nicht im Interesse der Menschen gehandelt haben, extrem schwer werden. In einem Land, in dem die soziale Ordnung immer zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wurde. Der Erfolg dieses schwierigen Unterfangens ist alles andere als garantiert, aber ohne ihn hat Russland keine Zukunft.  

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    „Niemand wird das Russland jemals verzeihen”

    Swjatoslaw Wakartschuk ist Sänger und Frontmann der ukrainischen Rockband Okean Elzy, die im ganzen Land große Popularität genießt. Seit Beginn des Angriffskriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, reist Wakartschuk durch das Land, um Konzerte zu geben. Er ist in der Metro von Charkiw aufgetreten, als die Menschen dort vor den Bombenangriffen Schutz suchten, hat vor dem mit Sandsäcken geschützten Denkmal von Herzog de Richelieu in Odessa gesungen oder sich mit Flüchtlingen in Lwiw getroffen. 

    Das belarussische Nachrichtenportal Zerkalo.io hat mit Wakartschuk, der bis 2020 auch politisch aktiv war, über seine Straßen- und Unterstützungskonzerte gesprochen, über sein Land im Krieg und auch über Belarus, wo er und seine Band ebenfalls sehr bekannt sind. Dazu gibt es ein paar Videos aus dem Repertoire von Okean Elzy.

    Zerkalo: Wo sind Sie derzeit?

    Swjatoslaw Wakartschuk: Ich war in Charkiw, Saporishshja, Cherson, Mykolajiw, Odessa und Kyjiw. Seit zwei Tagen bin ich in der Westukraine, in Lwiw. Ich habe Militäreinheiten, Freiwilligenzentren und Polizeistationen besucht. Morgen fahre ich in Städte, die näher an Kampfzonen liegen. Für diese Woche habe ich noch etwas Großes vor, ich kann aber aus Sicherheitsgründen keine Details zu meiner Reiseroute nennen. Ich habe schon Memes gesehen darüber, wie schnell ich durch die Ukraine fahre, aber eigentlich ist das nicht verwunderlich: Wir schlafen wenig, stehen früh auf und kümmern uns sorgfältig um die Logistik.

    Haben Sie Sicherheitspersonal dabei?

    Ja, ein kleines Team, aber ich möchte nicht sagen, wer das ist.

     
    Swjatoslaw Wakartschuk singt sein Lied „Wse bude dobre (Alles wird gut) für Ukrainer, die in den Westen ihres Landes geflohen sind.

    Haben Sie bedacht, dass Ihre Ermordung oder Kriegsgefangenschaft für die russische Regierung ein Glücksfall wäre?

    Krieg ist Krieg. Man denkt nicht daran, was mit einem selber passieren kann, sondern was aus unserem Land und unseren Kindern wird. Tut mir leid, wenn das pathetisch klingt, aber so ist es. Es muss einem klar sein, dass es derzeit nirgendwo in der Ukraine sicher ist. Man sollte nicht glauben, dass man in der Nähe der Front einem höheren Risiko ausgesetzt ist als sagen wir mal in Lwiw. Vor ein paar Tagen flogen Raketen in einen Bezirk von Lwiw. Davor wurde der Truppenübungsplatz Jaworiw in der Oblast Lwiw unter Beschuss genommen (laut regionalen Behörden kamen dabei 35 Menschen ums Leben, 134 wurden verletzt – Anm. d. Red.). Die Russen bombardieren die gesamte Ukraine, sie setzen alles ein, was geht. Sie schießen auf zivile Ziele und normale Leute, töten Frauen und Kinder, zielen auf Geburtskliniken und Altersheime. Anders als einen Nazismus des 21. Jahrhunderts kann ich das alles nicht nennen. In diesem Moment denkt man nicht an sich. Die Frage, ob mir jemand etwas antun kann, finde ich während eines Kriegs um unsere Unabhängigkeit – zumal ich Offizier bin (Leutnant – Anm. d. Red.) – fehl am Platz. 

    Was hat Sie auf dieser Tour am meisten erschüttert?

    Glauben Sie mir – da gab es viel. Am meisten vielleicht das Kinderkrankenhaus in Saporishshja. Die Ärzte ließen mich auf die Intensivstation, wo sie vor meinen Augen Kinder versorgten, die in einem humanitären Korridor, der sie aus Mariupol evakuieren sollte, beschossen worden waren. Da war ein Mädchen namens Mascha, ein Teenie, ungefähr 14 Jahre alt. Ein paar Stunden vor meiner Ankunft hatten sie ihr ein Bein amputiert. Sie war in Tränen aufgelöst – aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie begriff, wie es jetzt mit ihr weitergeht. Ein junges, hübsches Mädchen, das plötzlich ein Bein verliert, nur weil irgendwelche wahnsinnigen Blutsauger im Kreml mit Filzstift auf der Karte ihre Angriffsziele markieren und einen Krieg vom Zaun brechen. Das ist einfach richtig furchtbar.  

    Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben 

    Im selben Krankenhaus traf ich einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Er spielte mit Autos und war physisch unversehrt. Aber das Kind hatte beide Eltern verloren. Er hat keine Mama und keinen Papa mehr … Das ist kaum auszuhalten. Da weißt du, dass du das niemals verzeihen wirst. Da kann die russische Propaganda sonst was verbreiten. Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben. Sie hören und sehen die Realität nicht. Vielleicht wollen sie es einfach nicht. Ich habe aufgehört, ihre Taten zu analysieren. Niemand wird das Russland jemals verzeihen. Und die Verantwortung wird nicht nur Putin tragen, sondern alle russischen Staatsbürger, die das zugelassen haben.

     
    Der Song „Obiimy“ (Umarme mich) aus dem Jahr 2013 gehört zu den bekanntesten Liedern von Okean Elzy.

    Ergeben sich Ihre Straßen-Auftritte zufällig?

    Ehrlich gesagt: Nur ein Auftritt war geplant, alle anderen waren spontan. Sie glauben ja wohl nicht, dass das Klavier auf dem Bahnhof in Lwiw extra für mich aufgestellt wurde? Das stand schon vorher da, ich habe es gesehen und beschlossen loszuspielen. Oder in der U-Bahn von Charkiw: Die Gitarre haben Freiwillige aufgetrieben in der Hoffnung, dass ich irgendwas spiele. Sie brachten sie mir und sagten: „Hier.“ Da konnte ich natürlich nicht nein sagen. Der einzige geplante Auftritt war in einer Stadt in der Westukraine, wo es viele Freiwilligenzentren und Flüchtlinge gibt. 

    Worüber sprechen Sie mit den Leuten bei solchen Begegnungen?

    Wir überlegen, wie wir siegen können und was wir dafür tun können, wie wichtig es jetzt ist, füreinander da zu sein. Ich bedanke mich bei den Menschen. Erzähle, was ich in anderen Städten gesehen habe. Versuche, auch physisch zu helfen. Unsere Crew bringt außerdem humanitäre Hilfe. Die einen brauchen Antibiotika, die anderen sitzen in den Metrostationen und freuen sich über Musik, und wieder andere brauchen beides. Einige Mitglieder der Band Okean Elsy leisten in Lwiw Freiwilligenarbeit, jeder macht sich nützlich. Alle bemühen sich, den Sieg herbeizuführen. 

    Was für Fragen stellen Ihnen die Menschen?

    Fragen zu ganz einfachen, handfesten Dingen: Wie man in der Westukraine fußfasst, wie man irgendwo hinkommt, wie es bei uns aussehen wird, wenn der Krieg vorbei ist. 

    Sogar die, die Angst haben und durch den Krieg eher in eine Depression gefallen sind, wünschen der Ukraine einen baldigen Sieg. Aber die meisten Menschen sind positiv gestimmt. Möglicherweise hilft uns der Hass, der in unseren Herzen keimt, stark zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass dieser Hass nach unserem Sieg verschwindet. 

    Wofür machen Sie das alles?

    Ich kann nicht anders. Das ist mein Land, ein anderes habe ich nicht. Und ich liebe es. Wahlfreiheit und Würde – das sind für mich die wichtigsten Werte im Leben. Ich sehe, dass die Ukraine sie zu ihren zentralen Werten gemacht hat und wir sie jetzt verteidigen müssen. Wenn wir das nicht tun, dann wird sie ein russischer Soldat mit seinem Stiefel zertreten, und ich werde meinem kleinen Sohn nicht zeigen können, dass wir in unserem Land das erreicht haben, wonach wir gestrebt haben. 

     
    Okean Elzy gaben zwei Tage vor Ausbruch des Krieges ein spontanes Konzert auf einer unter Straßenmusikern beliebten Fußgängerbrücke in Kyjiw.

    Sie sind oft in Belarus aufgetreten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von unserem Land?

    Ich habe vom belarussischen Publikum immer Liebe und Unterstützung gespürt, keine Feindseligkeit. Für uns war eine Reise zu euch immer ein großes, freudiges Ereignis. Bis zu den Protesten 2020, danach sind wir nicht mehr in Belarus aufgetreten. 

    Es zerstört die Zukunft von Belarus, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt

    Hat sich Ihre Einstellung nach dem Krieg verändert?

    Ich hoffe, dass es in Belarus sehr viele echte Patrioten gibt, denen klar ist, dass es eure Zukunft zerstört, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt. Ich bitte die Belarussen nicht um der Ukraine willen, auf die Straßen zu gehen und Soldaten und Panzer zu stoppen. Macht das für Belarus, in eurem eigenen Interesse. Wenn Putin und Lukaschenko euch in einen blutigen Krieg schicken, werden eure Soldaten in der Ukraine getötet. Und niemand wird sich dafür entschuldigen.          

    Letzte Frage: Wird alles gut?

    Da bin ich mir sicher, dass alles gut wird [das sagt er auf Ukrainisch, gleich dem Titel seines Liedes, s.o. – dek]. Wenn in der Ukraine das Gute und die Freiheit siegen, dann ist das gut für die ganze Welt, auch für euch, unsere Nachbarn. Das zu verstehen ist wichtig. Es lebe die Ukraine!

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    „Sie haben die Zukunft zerbrochen“

    Die Novaya Gazeta mit ihrem Chefredakteur, dem Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, versucht auch in Kriegszeiten ihren eigenen Weg zu gehen und, so gut und so lange es geht, unabhängig zu berichten – auch aus dem und über den Krieg in der Ukraine. Zwar beugt sich die Novaya der Zensur, insofern, als sie gemäß der aktuellen Gesetzeslage nicht das Wort „Krieg“ verwendet, sondern „<…>“, auch einzelne Artikel hat die Novaya aus dem Netz genommen, und sie zensiert mitunter Berichte von Korrespondenten aus der Ukraine – all dies macht sie aber stets transparent. Ein Kompromiss, um unter Bedingungen immer stärkerer Desinformation und restriktiver Mediengesetze weiter unabhängig arbeiten und informieren zu können. Die Leser äußerten bei einer extra initiierten Umfrage Anfang März Verständnis und auch Zuspruch: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“ Manche schlugen gar vor, die ganze Absurdität zu perfektionieren und damit zu demaskieren, dass künftig am besten auch nur noch die Rede ist von: Lew Tolstois Roman „Spezialoperation und Frieden“.

    Während immer mehr Medien blockiert werden und zahlreiche unabhängige Journalistinnen und Journalisten aus Angst um ihre Sicherheit das Land verlassen (laut Investigativmedium Agenstwo sind es mehr als 150, die bereits gegangen sind), scheint sich die Novaya noch auf einen gewissen „Sonderstatus“ verlassen zu können, den sie als Leuchtturm der unabhängigen Berichterstattung seit den 1990er Jahren genießt. 

    Kürzlich kündigte Muratow außerdem an, seine Nobelpreismedaille versteigern und den Erlös spenden zu wollen – für ukrainische Geflüchtete. Das gab die Novaya Gazeta in einer Meldung bekannt, in der sich auch eine Reihe weiterer Forderungen fanden – etwa die nach einem Waffenstillstand. Darüber hatte Muratow außerdem bereits Anfang März mit der Journalistin Katerina Gordejewa gesprochen, die auf YouTube ihren bekannten Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) betreibt. 

    Im Podcast erklärt Muratow, warum er mit dem Krieg gerechnet hat, inwiefern dieser nun nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zerstört. Und worauf er, Muratow, jetzt noch hofft – wider besseren Wissens.

    Katerina Gordejewa: Haben Sie tatsächlich bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es Krieg geben könnte?

    Dmitri Muratow: Wir haben schon im Vorfeld geahnt, dass es leider Krieg geben wird. Wir hatten in der Redaktion viele Besprechungen zu diesem Thema, untereinander, mit den Ressorts, mit allen. Uns war klar, dass es direkt nach Olympia losgeht.

    Es war klar, dass Wladimir Putin bei einigen Auftritten völlig unmissverständlich all die Kränkungen aufgezählt hatte, die Russland, also Putin in Person, zugefügt worden waren. Es war klar aufgrund der Wortwahl – ständig war da die Rede von Nazis, Faschisten, dem Großen Vaterländischen Krieg, den Heldentaten unserer Vorfahren … 

    Es war klar, dass jener Krieg, der Große Vaterländische Krieg, für Putin nie aufgehört hat. Putin ist zu jung, um dabei gewesen zu sein, aber ich möchte die Vermutung äußern, dass Wladimir Putin jetzt danach strebt, seinen persönlichen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu erringen. Einen Sieg, der darin besteht, die Ergebnisse zu verteidigen, die er für richtig hält. So kämpft er dort jetzt gerade: als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs. Das ist meine Vermutung. 

    Aber wenn ich diese Aufrüstung des Bewusstseins sehe, manchmal übrigens eine durchaus humanistische – zum Beispiel das Unsterbliche Regiment, die Armeekathedralen als Orte des Gedenkens: Das alles ist zweifellos ein Leben in der Vergangenheit. Es geht darum, den Sieg zu erringen, als hätte es diesen Sieg nie gegeben.

    Die Menschen, die Putin jetzt umgeben, bleiben die aus Angst bei ihm oder weil sie an das glauben, was er tut?

    Ich habe gestern [das Interview wurde am 7. März veröffentlicht – dek] mit ein paar Mitgliedern des Machtapparats gesprochen, und ich kann mich nicht erinnern, wann sie … – ich will sie nicht Elite nennen, ich nenne sie Machthaber, Entourage, aber sicher nicht Elite, nicht nach dieser berühmten Sitzung des Sicherheitsrates, nachdem wir gesehen haben, wie sie zittern, wie viele von ihnen breitbeinig zum Podium gegangen sind … Weißt du, warum? Wegen ihrer Pampers, Katja. Also, ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren. Noch nie waren sich die Leute, die an der Macht sind und die mit ihr betraut sind, so einig – ich rede jetzt nicht vom Business, das sind verwandte Dinge, aber doch nicht dasselbe … Sie sind sich absolut einig. Sie teilen Putins Weltbild zu hundert Prozent.

    Ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren

    Präsident Putin hat sein eigenes Weltbild. Dieses Weltbild ist fast so unerschütterlich wie die ägyptischen Pyramiden, wo zwischen den Steinblöcken keine Nadel Platz hat. Sein Weltbild ist absolut klar: Russland ist eine Festung. Es ist ein isolationistisches Land, unendlich reich an Bodenschätzen, ein Land, das niemanden braucht, das endlich begreifen muss, dass der Westen der Feind ist, dass die Welt der Feind ist … Das ist sein Weltbild, und es hat um sich gegriffen, es hat die ganze Elite infiziert …

    Jetzt haben Sie es doch gesagt!

    Aus reiner Gewohnheit, weißt du …

    Aber im politologischen Sinn ist das die Elite.

    Ich weiß nicht … – ich bin nicht bereit, sie Helden oder Elite zu nennen … Mitstreiter vielleicht. Eine Elite, das sind Leute, die bis aufs Blut und weiter für das Glück ihres Landes ackern.

    Das, was man Ehre und Heldenmut nennt.

    Genau, also können wir das nicht sagen. Sie teilen ein und dasselbe Weltbild. Es gibt da überhaupt keine Spaltung. Die ganzen Theorien, die man uns überall aufschwatzen wollte und von denen man immer noch sagt: dass es zu einem Machtwechsel durch die Spaltung der Eliten kommen wird … Da ist keine Spaltung.

    Aber Sie haben doch selbst gesagt: dass die Angst hatten, als sie vor dem Sicherheitsrat sprechen sollten.

    Die hatten Angst, das Falsche zu sagen, sie waren schließlich zu einer Prüfung angetreten, und nicht alle hatten den Text auswendig gelernt. Aber jetzt ist allen alles klar.

    Und alle teilen diese Ansichten?

    Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt. Alles. Eine treuere Regierung hat es, glaube ich, noch nie gegeben.

    Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt

    Wie hat das alles angefangen, und was hat überhaupt die Ukraine damit zu tun? Das hat doch nicht erst 2014 angefangen?

    Nein, das hat früher angefangen, wenn man bedenkt, wo Putin jetzt angekommen ist. Wenn du dich erinnerst: Russland hatte 2006 eine NATO-Vertretung in Brüssel, den NATO-Russland-Rat. Dort saßen diverse Vertreter, unter anderem übrigens Rogosin. Putin hatte damals ernsthaft vorgeschlagen, über einen Beitritt Russlands in die NATO nachzudenken, und war sehr erstaunt, als man ihm sagte, dass man dafür eine Art Probezeit braucht, Dokumente vorbereiten muss … Er war überzeugt, dass man so ein einmaliges Angebot [seitens Russland – dek] nicht ablehnen würde, aber man legte ihm Steine in den Weg. Und als er später vollkommen überzeugt war, dass man ihn betrügt – das heißt, dass der Westen Putin betrügt – da kam die Münchner Rede, in der 2007 absolut alles gesagt wurde, was wir jetzt und hier haben. Diese Rede wurde wohl kaum ernstgenommen. Nur von kleineren Regimes in Lateinamerika und in Kuba.

    Sie wurde angehört, und sie hatte einen zweiten, besänftigenden Teil, aber die großen Politiker, selbst die Leader der europäischen Welt haben das nicht ernstgenommen. Sie hielten das für Rhetorik. 

    Aber im nächsten Jahr kam dann der Georgienkrieg, und Präsident Bush sagte zu Wladimir Putin das eine und zu Michail Saakaschwili etwas anderes. Und die Geheimdienste sind dafür da, alles Gesagte zu vergleichen. Seither glaube ich, dass das einer der wichtigsten Wendepunkte war, denn Russland hatte immer von einem Bekenntnis zu westlichen Werten geredet, von der Diktatur des Gesetzes, davon, wie offen wir seien, wie global die Welt sei. Das alles hat genau in diesem Moment aufgehört: „Man kann ihnen nicht glauben, sie verstehen nur Gewalt, Worte verstehen sie nicht.“ Ich spreche das als inneren Monolog, so wie ich mir den inneren Monolog der kollektiven Staatsmacht vorstelle.

    Das heißt, die kollektive Staatsmacht fühlte sich vom Westen gekränkt?

    Sehr gekränkt, zutiefst gekränkt, bis zum Umfallen gekränkt. Und dann passierte noch etwas: Putin wurde plötzlich klar, dass die Leute, die ihm was von Werten erzählen, eigentlich Preise meinen. Sieh doch mal, Putin hat massenweise repräsentative mächtige Leute aus dem Westen, westliche Politiker in die Aufsichtsräte der russischen Staatsunternehmen eingekauft.

    Sie meinen die, die jetzt eiligst austreten …

    Jetzt treten sie eiligst aus, aber genau so eilig sind sie damals eingetreten – so eilig, dass sie fast auf ihrer Schleimspur ausgerutscht wären. Der französische Premier, der deutsche Kanzler, italienische Politiker … Sie nahmen brav Platz, bekamen ihre …

    … riesigen …

    Ich weiß es nicht von allen genau, ich habe nicht alle Zahlen im Kopf, aber es ging um ein paar Millionen Dollar im Jahr. Und er, Putin, lacht sich kaputt. Er sagt: „Und diese Leute wollen mir was von Werten erzählen? Ihr wollt alle nur Kohle.“ Und er ist davon vollkommen überzeugt. 

    Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie

    Ich glaube, er ist überzeugt davon, dass er ihnen die Freundschaft angeboten hatte und zurückgewiesen wurde, und jetzt sollen sie bitte nicht beleidigt sein. Das ist eine normale Denkweise, ich bin selbst in einem solchen Hinterhof aufgewachsen, das ist so eine ganz normale Hinterhoflogik von Achtklässlern: Sei jetzt bitte nicht beleidigt. Das ist ein krasser psychischer Bruch, auch jetzt in diesem für unser Land absolut kritischen Krisenmoment. 

    Denn was ist in der Nacht auf den 24. Februar passiert? Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie. Lang und ausführlich hat er seine Kränkungen aufgezählt.

    Und es gibt noch ein Detail, auch das kam in der Rede vor: Mit wem soll man denn bitteschön verhandeln, die wechseln doch ständig? Das sind jetzt meine Worte, aber im Großen und Ganzen – sieh mal: Seit Putin an der Macht ist, gab es verschiedene Kanzler in Deutschland, mehrere Präsidenten in den USA, fast ein halbes Dutzend Präsidenten und Premiers in Italien und Frankreich … Sie wechseln die ganze Zeit, und wirklich, so nach dem Motto: Mit wem soll er da reden außer mit Gandhi? Gerade gewöhnst du dich an jemanden, und schon ist seine Amtszeit vorbei. Das ist doch wahrlich nicht vernünftig, oder? Einfach unvernünftig! Und plötzlich steht Putin da als der erfahrenste Politiker der Welt. Er ist knapp über 22 Jahre an der Macht, denn schon als Premierminister standen ihm mächtige Hebel zur Verfügung. Keiner von den europäischen und nordamerikanischen Politikern ist je so lange an der Macht gewesen. Er kennt sie alle in- und auswendig, und er glaubt denen absolut nichts, keinem von denen.

    Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein

    Er denkt ganz bestimmt: „Warum kümmert es euch denn jetzt plötzlich, dass wir mit diesem Krie…, ach, wie heißt das … mit dieser militärischen Spezialoperation zur Wiederherstellung in der Ukraine sind. … Vorher hat doch angeblich niemand etwas gemerkt – dass sie Janukowitsch gestürzt haben, dass seit acht Jahren im Donbass [Krieg ist].“ Und auf die Frage, ob nicht wir Russen es waren, die zuerst im Donbass einmarschiert sind, kommt immer die Antwort: „Alles hat damit angefangen, dass der Westen die Krim nicht anerkannt hat, aber da hat doch das Volk abgestimmt …“ 

    Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein. Als die Überzeugung noch klein war, war es einfach eine Anhäufung von Kränkungen, aber als dann Iskander-, Bulawa- und Zirkon-Raketen ins Spiel kamen, wurde klar, dass man diese Kränkung durchaus anderen vorhalten kann.

    Was meinen Sie: War Putin bewusst, dass bisher noch niemand einen Krieg gewonnen hat gegen ein Land, das diesen Krieg als Vaterländischen Krieg sieht? Als Beispiel dient hier die Sowjetunion [im Zweiten Weltkriegdek] oder auch Russland im Napoleonischen Krieg.

    Mit dieser militärischen Wucht und Übermacht kann man das Land natürlich vorübergehend unterwerfen, es aufteilen … Einen westlichen Teil, der leben kann, wie er will, mit Lwiw als Hauptstadt, einen zentralen Teil, der natürlich unter russischer Schirmherrschaft stehen müsste, und dann würde man sehen, wer der wichtigste Präsidentschaftskandidat bei den nächsten Wahlen wäre, und schließlich die Ost-Ukraine, die natürlich russisch sein muss. So ungefähr war der Plan. Aber es hat sich herausgestellt, dass da ein Mann mit Eiern in der Hose ist – Selensky, was kaum jemand geglaubt hat. Seine Zustimmungswerte waren vorher nach unten gegangen, also dachten unsere Propagandisten, das ukrainische Volk würde die russische Armee mit Blumen empfangen.

    Aber jeder, der in den letzten Jahren auch nur einmal in der Ukraine gewesen ist, hätte doch sagen können, dass das nicht stimmt. Hat man Putin angelogen?

    Das kann ich dir erklären. Das ist keine Lüge, das ist viel besser. Schau mal, unsere Regierung bestellt für ihren Boss Propaganda fürs Volk. Sie schaut zu, wie das Fernsehen die Aufgabe erledigt und beginnt allmählich selbst, das zu glauben, was sie in Auftrag gegeben hat, es ist ja im Fernsehen zu sehen. In der Psychologie nennt man das Selbstinduktion. Das ist einer der schwerwiegendsten Gründe: Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen. Sie glauben jetzt tatsächlich an das, was sie sich selbst ausgedacht haben.

    Sie haben Echo Moskwy abgeschaltet, sie haben alle jungen und hoffnungsfrohen freien Medien mit diesem „Ausländische Agenten“-Gesetz ruiniert. Es gibt einen riesigen Exodus an Journalisten, Profis, Analytikern, Programmierern, Fachleuten für die Erforschung von Big Data in Russland. Einen gigantischen Exodus. Gigantisch. Du wirst bald sehen, wovon ich rede. Das sind dann meine persönlichen Verluste. So degradiert man ein ganzes Volk.

    Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen

    Sie haben ziemlich viele Kriege mit eigenen Augen gesehen. Von dem, was Sie jetzt beobachten – die Soldaten der russischen Armee, die russische Militärtechnik, die Soldaten der ukrainischen Armee, die ukrainische Militärtechnik –, können Sie sich da ein Bild vom Zustand der beiden Armeen machen?  

    Muratow: Damals in Karabach habe ich gesehen, wie das Donezker Einsatzregiment des seinerzeit noch sowjetischen Innenministeriums mit alten Panzern versuchte, die Berge hochzukriechen. Der Anblick war nicht so überzeugend.

    In Afghanistan sah ich eine Armee, die zwar schon viel besser aufgestellt war, die aber nicht wusste, wofür sie kämpfte. Die kämpften dort nur für ihre Kameraden, nicht um irgendeine internationale Pflicht zu erfüllen, da hatte keiner einen Plan. Der Krieg lief hauptsächlich unter dem Motto: „Wir rächen unseren gefallenen Freund.“ Was wir dort überhaupt zu suchen hatten, diese Frage wurde gar nicht gestellt. 

    Der Tschetschenienkrieg hat Schreckliches gezeigt …        

    Der erste?

    Ja. Lauter Grundwehrdienstler, die wurden beeidigt und los ging's. Die hatten nicht einmal alle das halbe Jahr Grundausbildung. 

    Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl

    Die heutige Armee ist anders. Es gibt eigentlich zwei Armeen: die traditionelle russische und die Armee von Kadyrow. Kadyrows Armee ist auf Kampf gedrillt, die kämpfen gern, das ist ihr Lebensinhalt. Sie sind gut ausgerüstet, tragen die modernsten Kampfanzüge, die allerneuesten Ratniki. Sie haben im Tschetschenienkrieg viele, wie sie es nennen, Schaitany gefangen und den Umgang mit Waffen von Kindesbeinen an gelernt. Im Grunde versteht Kadyrow sein Land nicht als kleine subventionierte Region Russlands, sondern als Armee, deren Oberbefehlshaber er ist. Daher werden beim Signal des Kriegshorns „Putins Fußsoldaten“ tatsächlich zur Infanterie. Sie haben ein Motiv, nämlich, zu kämpfen.

    Die traditionelle Armee hingegen hat kein Motiv. Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl. Das ist alles ziemlich streng hierarchisch strukturiert, wie üblich beim Militär. Und die Angst vor der Strafe des Tribunals, die Angst, dass der Kommandant unzufrieden ist, die treibt die Soldaten an, immer weiter. Aber das Motiv „die Heimat verteidigen“, das fehlt.

    Halten Sie alles, was da passiert, gewissermaßen für ein Versagen Ihrer Strategie? Denn Sie waren doch einer, der in ganz schweren Zeiten versucht hat, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln. Sie konnten sowohl mit denjenigen reden, die auf Demonstrationen wollten, als auch mit denen, die für deren Genehmigung zuständig waren. Sie haben sich gekümmert, haben Leuten geholfen und so weiter. Denken Sie, dass diese Kompromisse dazu beigetragen haben, dass alles innerhalb einer Sekunde in sich zusammengestürzt ist?

    Muratow: Ich habe keine Zeit für Social Media, dadurch habe ich viel Scheiße gar nicht mitgekriegt. Nur davon gehört. Gleichzeitig habe ich keinen einzigen Vorwurf gegen unsere Zeitung gehört. Mir wurden Vorwürfe gemacht, aber nicht der Zeitung. Zum Glück, war es nicht umgekehrt. 

    Was heißt überhaupt sich einigen oder zuhören? Eigentlich ist das meine Arbeit, ich habe ein zweites Signalsystem, also: reden, zuhören, reden, zuhören. Man muss sich die Argumente anhören, und man muss auf jeden Fall den Mund aufmachen, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu bewirken. Klar, man muss hinfahren und reden, um die Demonstranten freizubekommen. Aber ich glaube, diese Möglichkeit habe ich jetzt gar nicht mehr.   

    Offiziellen Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der Russen die Militäroperation …
    Muratow: Können Sie das wiederholen? Welchen Umfragen zufolge?
    Offiziellen.
    Muratow: Die wer durchführt?
    Das WZIOM.
    Muratow: Ist das WZIOM ein staatliches Institut?
    Ja.
    Muratow: Dann macht also der Staat mithilfe eines staatlichen Dienstes eine Umfrage für sich selbst, um seine eigene Position zu untermauern.

    Sogar wenn wir das Ergebnis halbieren, sind es immer noch viele.

    Muratow: Okay, einverstanden, aber sogar das WZIOM, kommt zu dem Ergebnis, dass ein Drittel dagegen ist. Also sogar laut staatlicher Umfrage sind ein Drittel dagegen. Das sind, an der Gesamtbevölkerung bemessen, 50 Millionen. Ein Drittel. Immerhin ein Drittel. Ein Drittel! Das sind enorm viele!

    Sogar wenn wir davon ausgehen, dass sie lügen, können wir uns immer noch vorstellen, dass der Teil, der dafür ist, und der Teil, der dagegen ist, egal wie groß, aber ungefähr gleich groß sind. Normalerweise führt das dazu, dass Sofakonflikte zu handfesten Auseinandersetzungen werden. Wie schätzen Sie diese Perspektive ein?     

    Muratow: Das würde ich gern anders beantworten. Es gab im Januar eine Umfrage von Lewada. Das sind telefonische Umfragen, Feldforschung. Es ist ja klar, dass die Leute Angst haben, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation des Präsidenten zur Wiederherstellung der Ordnung?“ Man hat die Telefonnummern der befragten Personen, weiß also auch, wo sie wohnen. Was sollen sie da schon sagen? Ja, sagen sie, ich bin dafür. Die haben doch Schiss, verdammt.  

    Stehen wir im Land am Rand einer großen Bürgerkonfrontation, die katastrophale Folgen haben wird? 

    Muratow: Ich denke nicht über einen Bürgerkrieg in Russland nach. Worüber ich ernsthaft nachdenke, ist die Frage, was diese verschiedenen Teile der Bevölkerung zusammenbringen kann. Total überzeugt bin ich von: Waffenstillstand … 

    Glauben Sie?  

    Muratow: Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können. Auf gar nichts. Worauf soll man sich denn jetzt noch einigen?  

    Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können

    Unsere Korrespondentin Nadja Andrejewa ist jetzt in Saratow … Sie hat von einer irren Geschichte berichtet, ich werde den Namen des jungen Mannes nicht nennen … Am 24. wurde er getötet, die Nachricht über seinen Tod kam an seinem Geburtstag, am 25. Februar, wenn ich nicht irre. Die Familie ließ ein Grab ausheben und mit einer Plane abdecken, langsam stellte sich die Frage, wann denn die Leiche käme. Aber die war verlorengegangen. Und noch immer wartet dieses abgedeckte leere Grab in der Stadt Saratow [diesen Artikel, wie auch einige weitere, hat die Novaya Gazeta inzwischen gelöscht aufgrund der zensierenden Gesetzgebung, die eine Berichterstattung nur gemäß „offizieller Quellen“ erlaubt, bei „Falschinformation“ drohen bis zu 15 Jahre Haft – dek]. Deswegen braucht es einen Austausch der Gefallenen, humanitäre Korridore und Waffenstillstand. 

    Gut, aber halten Sie das für möglich?

    Muratow: Nun, ich denke, nachdem nichts anderes möglich ist – niemand wird die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk zurücknehmen, niemand wird die Krim zurückgeben –, bleibt nur die Möglichkeit, nicht noch mehr Menschen zu opfern. Der Krieg wird so oder so zu Ende gehen, die Frage ist nur, wie hoch die Verluste sein werden.   

    Glauben Sie daran, dass unsere Kinder oder wenigstens unsere Enkelkinder mit ihren ukrainischen Altersgenossen ohne Hass oder Schuldgefühle werden reden können?

    Muratow: In unserer Generation wird das nicht mehr möglich sein. In der Generation, die jetzt 20 oder 21 ist, geht das vielleicht noch, da herrscht eine andere Empathie. Die meisten jungen Leute sind kategorische Kriegsgegner, und die meisten von ihnen haben plötzlich innerhalb von zwei, drei Tagen kapiert, dass das das letzte iPhone war, dass der letzte Flug weg ist und sie die Länder, von denen sie geträumt und gelesen haben, nie zu Gesicht kriegen werden. 

    Das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen geträumt haben, dass ihnen in der Zukunft die Welt offensteht und dass auch Russland weltoffen ist

    Aber das ist doch ein Scheißdreck im Vergleich zu den vielen Toten in der Ukraine … 

    Muratow: Nein, das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen von einer Zukunft geträumt haben, sie haben davon geträumt, dass man Russland in dieser Zukunft lieben würde, dass ihnen die Welt offensteht, dass auch Russland weltoffen ist, dass die Grenzen immer mehr verschwinden und nur mehr zu Ordnungszwecken und für den Zoll bestehen. Sie haben ganz bestimmt davon geträumt, würdige und gleichberechtigte Weltbürger zu sein, dass massenhaft Touristen kommen würden. Von einer Atmosphäre zwischen Russland und dem Rest der Welt wie zur Zeit der Fußball-WM, oder noch besser wie 2014 in Sotschi, vor der Annexion der Krim – davon hat diese junge Generation geträumt. Sie wollten eine schöne Welt, und keine, in der sie losrennen müssen, um für ihre Großmütter schnell noch die letzten Medikamente aufzukaufen.

    Schämen Sie sich dafür, dass wir das nicht geschafft haben?

    Muratow: Nein. Es tut mir nur unfassbar leid. Aber Scham fühle ich nicht. Ich schäme mich sicher nicht für das, was ich 30 Jahre lang gemacht habe. Es schmerzt mich, dass Anna [Politkowskaja] nicht mehr da ist, genauso wie [die Kollegen – dek] Jura [Schtschekotschichin], Igor [Domnikow] und Stass [Markelow], dass Nastja [Baburowa] und Natascha [Estemirowa] tot sind und dass der Krieg im Donbass Nugsar Mikeladse kaputtgemacht und letztlich umgebracht hat. Dafür verspüre ich Verantwortung und Schuld. Aber nicht für das, was wir tun.      

    Aber es ist uns nicht gelungen … 

    Muratow: Schau, manches ist doch gelungen, ein paar Jahre lang lief es gut, da ist uns doch was gelungen. Aber wie es ausgeht, in meinem Leben zum Beispiel … Das steht alles schon bei Jewgeni Schwarz, den ich sehr schätze: „Alles war gut, alles endet traurig.“ Leider kann ich dir, solange dort die Bomben fallen, nichts Aufbauendes sagen. 

    Aber ich finde andererseits auch, dass sich jetzt Gut und Böse sehr deutlich offenbart haben. Das sieht man sogar daran, wer in der UNO Russland unterstützt hat und wer nicht. Zwei, drei Diktatoren sind noch auf unserer Seite, aber der Rest der Welt, in dem die Menschen glücklicher leben als in Nordkorea, sieht das anders. Und das ist auch sehr viel wert. Ich hoffe sehr darauf, dass wir einen Waffenstillstand erreichen. Das ist alles. Mein Wunsch ist nicht groß, aber schwer erfüllbar.  

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    Ist Putin verrückt geworden? Wenn man davon ausgeht, dass Rationalität mit interessengeleitetem Handeln einhergeht, dann scheint diese Frage tatsächlich nicht ganz unberechtigt. Einen Krieg loszubrechen, das eigene Land in eine massive Wirtschaftskrise und Armut zu stürzen – das unterminiert doch das Hauptinteresse eines jeden autoritären und kleptokratischen Regimes: den Machterhalt. 

    Wenn man das Regime als irrational und unzurechnungsfähig abstempelt, dann müsste man sich allerdings auch eingestehen, dass es mit den Mitteln der Politikwissenschaft nicht mehr analysiert werden kann. Eine solche Diagnose sollte man lieber einem Arzt überlassen.  

    Alleine deshalb ist die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Regimes eigentlich müßig, meint zumindest ein anonymer Experte. Er identifiziert vielmehr einige handfeste Anhaltspunkte dafür, dass das Regime doch rational ist. Er veranschaulicht die innere Logik des Systems Putin und zeigt, wie die Kriegsentscheidung sich in diese Logik fügt.

    Die Entscheidung, in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ zu beginnen, ist höchstwahrscheinlich eine der unheilvollsten, die russische Regierende jemals in der Geschichte getroffen haben. Für die meisten Beobachter und Analytiker kam sie noch dazu absolut überraschend – nicht einmal jene, die vor weiteren Verschärfungen der Situation gewarnt hatten, hatten ein so rasches Fortschreiten der Ereignisse mit katastrophalen Folgen für die Ukraine, für Russland und die ganze Welt erwartet. Den Experten stellt sich jetzt die Frage, warum die russische Führung genau diese Entscheidung getroffen hat, welche Berechnungen und Vorstellungen sie dazu motiviert haben. 

    Da man aktuell extrem wenig über die Mechanismen weiß, mit denen im Kreml strategische Entscheidungen getroffen werden, können sich derzeit viele Bewertungen und Vermutungen in der Praxis als falsch erweisen. Dennoch hat die Politikwissenschaft in der Forschung über außenpolitische Entscheidungen in unterschiedlichen Staaten in verschiedenen historischen Epochen einiges an Erfahrung gesammelt. Diese Erfahrung kann dabei helfen zu verstehen, wie die Entscheidung, in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ zu beginnen, entwickelt und in die Tat umgesetzt wurde.      

    Ich möchte gleich sagen, dass es für diese Analyse nichts bringt, sich dazu verleiten zu lassen, Putin und seinem Umkreis die Rationalität abzusprechen und sich zu sehr auf die Emotionen zu konzentrieren, von denen diese sich leiten lassen. Jedenfalls wirken die meisten Schritte, die der Kreml sowohl vor als auch nach dem 24. Februar 2022 unternommen hat, durchaus rational, und es besteht in dieser Hinsicht kein Anlass, den Beginn der „militärischen Spezialoperation“ als Ausnahme zu betrachten. Vielmehr fügt sich diese Entscheidung durchaus in die allgemeine Logik der russischen Staatsführung ein. Das Unheilvolle besteht nicht in der Spezifik der russischen Ukraine-Politik, sondern in etwas viel Fundamentalerem. Dazu gehören (1) Merkmale des russischen Regimes, (2) Mechanismen der Verwaltung des russischen Staates, (3) falsche Vorstellungen von möglichen Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen und (4) eventuelle Fehleinschätzungen der Folgen des eigenen Vorgehens auf Grundlage der bisherigen Erfahrung.    

    Das Regime leidet unter der fehlenden Meinungsfreiheit mehr als die Bevölkerung

    Es scheint, dass der wichtigste Faktor dieser fatalen Entscheidung im personalisierten Charakter des russischen Autoritarismus besteht. Autoritäre Regime leiden unter der fehlenden Meinungsfreiheit nicht weniger, sondern sogar mehr als die unter den autoritären Bedingungen lebende Bevölkerung. Der Mangel an alternativen Informationsquellen, die Unmöglichkeit, verschiedene Sichtweisen zu vergleichen und auf Basis ihrer Konkurrenz zu entscheiden, all das wirkt sich unheilvoll auf die Entscheidungsfindungen aus – solche Defekte bemängelten die sowjetischen Dissidenten schon vor mehr als einem halben Jahrhundert. 

    Zudem werden in vielen Autokratien Expertenposten besetzt nach dem Prinzip „Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen“: Bei der Vorbereitung von Entscheidungen tritt die Kompetenz der Beamten hinter ihrer Loyalität zurück. Das war in Russland im Bereich der Außenpolitik deutlich erkennbar, in der die Stimmen von radikalen Anhängern einer militärischen Konfrontation mit dem Westen zuletzt immer lauter wurden, während gemäßigte Sichtweisen kaum Gehör fanden. Die Geheimhaltung, mit der diese überaus wichtigen Entscheidungen vorbereitet wurden, hat ihren Qualitätsabfall nur noch verschärft.

    Experten werden ausgetauscht nach dem Prinzip: „Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen“

    Noch dazu unterscheiden sich personalisierte Autokratien (anders als in Einparteiensystemen oder gar Monarchien) dadurch, dass Entscheidungsfindungen nur wenig institutionalisiert sind, was der Willkür der politischen Führung fast unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet. Dazu genügt es, die Entscheidung zur „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine mit ihrem nächsten Äquivalent in der sowjetischen Geschichte zu vergleichen: dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei 1968. Dem damaligen Beschluss gingen zahlreiche Besprechungen und kollektive Diskussionen im Politbüro voraus, Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung sowie eine Rücksprache mit den osteuropäischen Bündnispartnern der UdSSR. Obwohl auch diese Entscheidung für unser Land unheilvoll war, konnte die sowjetische Regierung in Summe ihre Ziele in der Tschechoslowakei immerhin erreichen und für sich selbst ein Worst-Case-Szenario vermeiden.    

    Ein Beispiel des genauen Gegenteils war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan, aber diese Episode wies einen etwas anderen Charakter auf – diesen Beschluss fassten schwerkranke Regierende eines Landes, die damals zu kollektiven Diskussionen physisch nicht in der Lage waren. 

    Wie es um kollektive Diskussionen in der heutigen russischen Führungsriege steht, hat die Sitzung des Sicherheitsrats am 21. Februar 2022 zur Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sehr eindrücklich gezeigt: Von Diskussion konnte keine Rede sein, die Sitzung diente einzig der Zustimmung der Teilnehmer zu einer vorab getroffenen Entscheidung (die im Endeffekt ganz anders aussah als das, was am Ende der Sitzung öffentlich bekanntgegeben wurde [dass nämlich Russland die sogenannten LNR und DNR anerkenne – dek]).      

    „Bad governance“

    Hauptziel und zentraler Inhalt der russischen Staatsführung ist es, Renten zu generieren. So wird ein hochwertiger Entscheidungsfindungsprozess im Land nur in einer Nische strategisch bedeutender „Effektivitätsinseln“ (zum Beispiel der Zentralbank) unter der Schirmherrschaft der politischen Führung beibehalten. Dass die allgemeine Staatsverwaltung eklatant an Qualität einbüßt, können diese „Effektivitätsinseln“ allerdings nicht aufhalten – eher umgekehrt: Im Wissen darum, dass die Zentralbank über ausreichend Gold- und Devisenreserven verfügt, um den Kurs auszugleichen, fühlen sich die Machthaber unverwundbar und wagen vehementere, aber weniger durchdachte Schritte.    

    Unter solchen Bedingungen leiden Außen- und Verteidigungspolitik stärker an den Lastern der „Bad Governance“ als viele andere Sphären. Sie bleiben abseits jeder zivilen Kontrolle und verhüllt vom Schleier des Staatsgeheimnisses, mit dem sich praktischerweise alle Fehleinschätzungen kaschieren lassen. Das motiviert die Chefs der entsprechenden Behörden, ihre Aufgaben um jeden Preis und möglichst schnell zu erfüllen, ohne an weitere Folgen zu denken (zum Beispiel die „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine, ohne Plan, wie ihr Territorium im Fall eines Erfolgs zu verwalten sei), und leere Versprechen zu geben. Da wundert es nicht, dass mögliche Kosten im Zusammenhang mit der „militärischen Spezialoperation“ im Vorhinein geringer oder gar nicht bedacht wurden. Wobei die „Arbeit an Fehlern“ noch mehr Verluste zu bringen droht. 

    Falsche Vorstellungen

    Da es an echter Expertise mangelt und die Informationen eindeutig verzerrt sind, werden Vorstellungen über die Gegenseite oft konstruiert, indem Stereotype und Ängste vervielfacht werden. So projizierten die russischen Machthaber ihre Erwartung auf die Regierung der Ukraine: Dass die „amerikanischen Marionetten“ im Fall der Bedrohung zu ihren Herrchen rennen, diese dann aber aufhören würden, sie zu unterstützen (wie es 2021 in Afghanistan geschah). Auch eigene Phobien projizierten sie auf die Ukraine – unzählige Ideen, die Politiker Russlands jahrelang bei ihren öffentlichen Auftritten immer wieder formuliert haben und die wahrscheinlich zur Grundlage für strategische Entscheidungen geworden sind: Dass Russen und Ukrainer „ein Volk“ seien, dass die Spaltung der Ukraine in West und Ost ewiglich und nicht zu beheben sei, dass in der Ukraine die breite Masse prorussisch eingestellt und nur das Establishment in der Hand von Nationalisten sei. 

    Sieht man etwas genauer hin, zeigt sich: Hinter diesen falschen Vorstellungen stehen unrealistische, rückwärtsgewandte weltanschauliche Erwartungen, die nicht nur der russischen Führung, sondern auch vielen anderen Politikern auf der Welt eigen sind. Sie basieren auf der Vorstellung, man könne in der modernen Welt eine frühere, verlorengegangene politische, soziale und internationale Ordnung wiederherstellen – während bei Donald Trump der entsprechende Slogan „make America great again“ lautete, erklang in Russland die Drohung „Wir können das wiederholen“. Es überrascht nicht, dass bei einer solchen Herangehensweise alternative Annahmen über die Lage im Ausland nicht ernsthaft diskutiert oder zumindest bei der Entscheidung ausgeklammert wurden.  

    Wiederholung der Vergangenheit

    Es ist sehr wahrscheinlich, dass die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine von der russischen Regierung als Extrapolation ihrer bisherigen Erfahrung mit der Angliederung der Krim 2014 verstanden wurde, die Putin laut eigenen Angaben im Alleingang beschlossen hatte. Man darf nicht vergessen, dass die Krim in den Augen der russischen Regierung eine Erfolgsgeschichte war: Die innenpolitische Unterstützung dieser Aktion fiel sehr stark aus, während die Ukraine nicht in der Lage war, sich dem Vorgehen des Kreml zu widersetzen, und die vom Westen auferlegten Kosten hielten sich in Grenzen.

    Im Kreml hatte man wohl angenommen, 2022 würde alles ungefähr so ablaufen wie 2014, nur größer

    Abgesehen vom Abschuss der malaysischen Boeing im Juli 2014 über dem Donbass interessierten sich die Establishments von Europa und Amerika nicht wirklich für Russlands Umgang mit der Ukraine, und mithilfe mächtiger Unterstützungsgruppen in den USA und in Europa konnte die russische Führung die schwersten Sanktionen, die dem Kreml drohten, ausbremsen. Diese früheren Erfolge weckten also die Erwartung, dass sich der Westen, der in den letzten Jahren diverse Misserfolge erlebt hatte – vom Brexit über den Sturm auf das Kapitol bis zur Flucht der USA aus Afghanistan – in einem unaufhaltbaren Niedergang befände und prinzipiell nicht zum entschlossenen Widerstand gegen Russland in der Lage wäre. Daher wurden die Dimensionen des Widerstands gegen die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine und international nicht so genau kalkuliert: Im Kreml hatte man wohl angenommen, 2022 würde alles ungefähr so ablaufen wie 2014, nur größer. Aber bald wurde klar: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.  

    Die Folgen der fatalen Selbstüberschätzung, die die russische Regierung bei der Entscheidung über die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine an den Tag gelegt hat, ließen nicht lang auf sich warten und bestimmten die weitere Entwicklung des Landes und der Welt. Doch noch ist unklar, welche Lehren die Machthaber in Russland daraus ziehen und ob ihre zukünftigen Entscheidungen nicht noch unheilvoller sein werden.   

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