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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Als Staatsbürger fühlt man sich in Belarus schutzlos“

    „Als Staatsbürger fühlt man sich in Belarus schutzlos“

    Allein im ersten Jahr nach dem Beginn der historischen Proteste 2020 haben zwischen 100.000 und 150.000 Belarussen ihre Heimat verlassen – aus Angst vor Festnahme und Repression. Mittlerweile dürfte die Zahl um ein Vielfaches gestiegen sein. Vor allem in Polen und Litauen versuchen sie, sich ein neues Leben aufzubauen. Dorthin sind auch viele Belarussen in einer Art zweiten Flucht gegangen, nachdem sie zunächst in die Ukraine geflohen waren, dann aber aufgrund des Krieges auch diese kurzfristige Wahlheimat wieder verlassen mussten. Mittlerweile verweigert die Ukraine Belarussen in vielen Fällen auch offiziell die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung wegen der Unterstützung des Krieges durch das Lukaschenko-Regime. Machthaber Alexander Lukaschenko hat das belarussische Staatsgebiet der russischen Führung als Aufmarschgebiet für die Großinvasion gegen die Ukraine zur Verfügung gestellt, bis heute werden von Belarus aus Raketen geschossen. 

    Einer von denen, die unfreiwillig in der Diaspora gelandet sind, ist der belarussische Schriftsteller Sergej Kalenda, der auch Herausgeber der renommierten Literaturzeitschrift Minkult ist. Er hat Belarus zu Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 verlassen. 

    Im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Nasha Niva erzählt Kalenda von seiner Flucht, von den Schwierigkeiten und Herausforderungen in der Fremde anzukommen, von der Zukunft der belarussischen Literatur und letztlich davon, wie schmerzvoll es ist, zuzusehen, wie seine Heimat immer tiefer in Repressionen versinkt.

    Sergej Kalenda / Foto © Nasha Niva
    Sergej Kalenda / Foto © Nasha Niva

    Warum haben Sie Belarus verlassen, was war der Auslöser für diese Entscheidung?

    Wir haben in Belarus viel gekämpft, um alles in der Welt. Zuerst hatten wir gar nicht vor, das Land zu verlassen, zu Beginn waren wir ja sehr euphorisch und wollten vieles verbessern. Als alles unterdrückt, alle der Reihe nach verhaftet wurden, stellte sich die Frage: „Was machen wir jetzt?“ Bis zuletzt haben wir nichts unternommen. Ich beschäftigte mich weiter mit der Zeitschrift Minkult, blieb Partisan und half anderen (so wie wahrscheinlich alle Belarussen, das ist ein unverzichtbarer Teil unseres Lebens, der immer bestehen bleiben wird).

    Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war ein Anruf meines Bruders am 24. Februar um sechs Uhr morgens. Er lebt in Russland an der Grenze zur Ukraine, in Brjansk. Er sagte, alles sei voller Soldaten, die Kampfjets seien unterwegs, ringsum Bomben – der Krieg hat begonnen. Ich sagte damals sofort, das reicht – wir sind weg. Weil es mich nicht interessiert, für das heutige Belarus in den Krieg zu ziehen. Und auch nicht, für meine Werke im Knast zu landen.

    Ich habe Freunde, die sagen, sie bleiben und sind bereit, für Belarus ins Gefängnis zu gehen. Sie finden, mit einem solchen Schritt würden sie in die Zukunft des Landes investieren. Ich sehe meinen Nutzen nicht darin, hinter Gittern zu sitzen, sondern vielmehr in den Zeitschriften und literarischen Texten, die ich produziere. Und in dem, was ich meinen Kindern bieten kann, natürlich.       

    In Minsk waren Sie als Friseur einen Monat im Voraus ausgebucht, haben Sie Ihre Kunden einfach hängen lassen?

    Ja, von heute auf morgen habe ich hingeschmissen und niemanden vorgewarnt. Nicht einmal mein Vater wusste, dass ich nach Vilnius gehe. Ich habe mich einfach zurückgezogen und alles so gemacht, wie ich es wollte. Meine Frau hat mich natürlich unterstützt. Sie war ohnehin nur noch mir zuliebe in Minsk. Für mich war das so: Als Corona begann, saßen wir zu Hause, und ich so – gleich wirst du sehen, wie wichtig es ist, seinen eigenen Grund und Boden zu haben, abseits von allen anderen (wir hatten nämlich Haus und Garten). Mein Plan war, selbst Gemüse anzubauen und uns von der Epidemie fernzuhalten. Dann begann die Revolution, und ich sagte: Jetzt verteidigen wir Belarus, und dann bauen wir ein großes Haus bei Rudensk. Ich gab sogar schon die Pläne in Auftrag, mit toller Architektur, die Vermessung. Ich wollte da nach dem Sommer Schreibwerkstätten für befreundete Schriftsteller veranstalten.  

    Aber dann beschlossen wir, dass wir weiter weg müssen – nach Europa.    
    Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie mein Sohn leben soll, wenn der Krieg auch über Belarus kommt. Und was er davon mitnimmt, was für Werte er haben wird. 

    Wir wollten immer Veränderungen, damit unser Leben weniger langweilig wird  

    Ich bin mein Leben lang mit freien Ideen aufgewachsen, meine Mutter hat mir von klein auf die Freiheit gelassen. Ich war am Gymnasium Nummer 29, da haben die Lehrer im Literaturunterricht Diskussionen gefördert (wenn ihr nicht diskutiert, habt ihr schlampig gelesen). Überhaupt war die ganze Klasse interessant: Mein Mitschüler Andrej zum Beispiel war der Enkel von Wladimir Gontscharik, der einmal bei den Präsidentenwahlen kandidiert hat. Schon in der elften Klasse haben wir überall patriotische Igel-Aufkleber verteilt. Und im Hof hatte ich überhaupt lauter Punks als Freunde. Wir wollten immer Veränderungen, damit unser Leben leichter und weniger langweilig wird.    

    Aber jetzt verstehe ich einfach nicht, wie das gehen soll – losgehen, um sich ein rotes Tuch umzubinden und den Schultag mit der Hymne anzufangen. Überhaupt ist es undenkbar, an einem Ort weiterzuleben, wo alle im Knast sind. Oder dass mein Sohn hier groß wird, mit 15 auf die Barrikaden steigt und eingesperrt wird. Ich will, dass er rausgeht und in dem Land, in dem er aufwächst, etwas bewirkt. Und dass er dafür, das auszuprobieren, nicht erschossen wird.  

    Was das Stichwort „weiter weg“ angeht, so sagen manche, Vilnius sei mit all den Drohungen in Richtung NATO und den Gesprächen über die Suwalki-Lücke nicht wirklich sicher … 

    Abgesehen von Minsk habe ich am längsten in Vilnius gelebt, hier ist mir alles mehr oder weniger vertraut und nahe, deswegen haben wir uns für diese Stadt entschieden. Aber im März, fast sofort, nachdem wir angekommen waren und ich in einem Friseursalon angefangen hatte, kamen meine litauischen Kollegen natürlich mit ihren Ängsten auf mich zu. Sie sagten ganz direkt, dass sie sich vor einem Krieg und einer Okkupation fürchten, und es hat einfach alles gezittert vor Angst.

    Ich erklärte meinen Kollegen aber, dass dieser ganze Horror absolut nicht vergleichbar ist mit einer Situation, in der du null Unterstützung hast, so wie in Belarus. In Litauen wird der Staat versuchen, dich zu schützen, die NATO, das eigene Militär. In Belarus kräht leider kein Hahn nach dir, was man schon am Beispiel des Coronavirus gesehen hat und jetzt an den militärischen Vorgängen, die sich auf unserem Territorium abspielen. 

    Als Staatsbürger fühlt man sich in Belarus schutzlos, und das lässt einem keine Ruhe und gesteht einem nicht zu, gut zu leben. Du sitzt nur da und machst dir Sorgen, entweder, dass sie dich einsperren oder dass du stirbst, weil ja der Krieg beginnt. 

    Wie schnell haben Sie sich eingelebt?

    Meine Freunde sagten, ich bin Weltmeister darin, auf schnellstem Wege Wohnung und Arbeit zu finden. Auf der Fahrt nach Vilnius, an der Grenze, sagte ich zu meiner Frau: Wenn wir in zwei Monaten nicht Wohnung und Arbeit haben, dann ist Vilnius nichts für uns, dann fahren wir weiter. 

    Foto © Nasha Niva
    Foto © Nasha Niva

    Nach drei Tagen bekam ich ein Jobangebot im Schönheitssalon Figaro. Wobei 60 Prozent meiner Kunden aus Minsk bereits hier sind, sodass ich nie ein Problem mit dem Kundenstamm hatte. Na ja, und Figaro ist ein Privatunternehmen, das seit Anfang der 1990er besteht und heute eine der größten Ketten ist. Ich wusste, dass sie viele Angestellte beschäftigen und ich bei ihnen als Marktführer anklopfen muss. Sie suchten gerade gute Stylisten, Allrounder, die auch als Ausbilder neuer Schnitttechniken eingesetzt werden können.

    In einem Interview haben Sie erzählt, dass Sie einmal einem Ex-KGB-Mitarbeiter die Haare geschnitten haben. Würden Sie das heute noch tun?

    Wenn so etwas in Vilnius vorkommen würde, dann hätte ich hier das Recht, den Auftrag abzulehnen: Hier gilt nicht, dass der Kunde immer recht hat. Ein Fachmann kann eine Leistung verweigern, wenn er ein Problem damit hat. In Minsk wäre ich in der Falle: Würde ich ablehnen, könnte es Konsequenzen geben. 

    Jedenfalls ist es mir an diesem neuen Ort sofort besser gegangen. Das wirkte sich positiv auf den Schwung in meinem literarischen Schaffen aus. Ich fing wieder an zu schreiben, kehrte zurück zu den Plänen, die ich anderthalb Jahre lang aufgeschoben hatte. Hier habe ich die Ressourcen, kreativ zu sein und nicht nur Geld zu verdienen, das ist wichtig.  
    Ich fand sofort die Kraft, um eine neue Ausgabe von Minkult zu machen.

    Erzählen Sie mal, in welcher Produktionsphase sich Ihre Literaturzeitschrift derzeit befindet?

    Wir hatten zwei neue Ausgaben geplant: eine zu Reisen und Emigration und eine zum Krieg in der Ukraine. Die zweite liegt noch auf Eis: Ich habe ukrainische Kollegen kontaktiert, aber sie wollen momentan keine Einschätzungen und Texte liefern, weil ja für sie (wie auch für uns) der Krieg weitergeht. Und irgendwelche Zwischendurch-Texte will niemand so recht schreiben. 

    Reisen und Emigration habe ich nicht einfach nur so zusammengemixt. Diese zwei Konzepte widersprechen einander und gehören gleichzeitig zusammen: Es gibt Leute, die gehen auf Reisen und daraus wird eine Emigration, und andere wieder wandern aus, aber betrachten das als Reise, sind nicht an einen festen Punkt gebunden.

    Die Belarussen sind nicht zum ersten Mal dazu gezwungen, ihr Land zu verlassen, aber wir wissen trotz allem, dass wir zurückkommen und wieder etwas Neues und Interessantes beginnen werden. Für mich ist die wichtigste Frage, wann das passieren wird: Ob ich noch die Mittel haben werde, mir an einem neuen Ort wieder ein Leben aufzubauen, oder schon nicht mehr.

    Ich wünsche mir, dass die Zeitschrift [Minkult – Anm. dek] in ihrer Form weiter besteht. Dass sich die 300 Menschen finden, die das brauchen. Eine engagierte Leserschaft, die die Zeitschrift erhält, an Bibliotheken verschickt, Bookcrossing betreibt. Auf diese Weise werden gedruckte Exemplare irgendwann auf Malaysia auftauchen, und das hat doch was.
    Zumal ich provokative Texte sammle, die meist nicht in anderen Zeitschriften unterkommen, weil diese auf ein bestimmtes Format, eine Etikette achten. Ich mag Punk in der Literatur, und es soll auch bei uns alternative Literatur geben. 

    Ist es für einen Schriftsteller ein Geschenk oder eine Heimsuchung, in so einer schwierigen historischen Zeit zu leben?

    Es gibt so einen Begriff wie Schaffenskrise, Schreibblockade. Der oft nicht von den Geschehnissen rundherum abhängt. Manche Schriftsteller leben in ihrem eigenen Universum, kapseln sich ab, für sie ist es unwesentlich, wo sie leben (werden), um ihre Literatur zu erschaffen.

    Aber ich muss da an ein Gespräch mit einem deutschen Schriftsteller in Berlin denken. Das war 2010, als unsere Proteste noch nicht so allgemein bekannt waren, es sie aber schon gab. Er sagte damals: ‚Ihr habt das Glück, in Krisenzeiten zu leben, in denen das Kunstschaffen brisanter wird.‘ Ich sah ihn an, er war teuer eingekleidet, trank teuren Sekt in einem Coworking-Space für Kreative. Und gab zurück: ‚Ich würde lieber leben wie du, ohne mich zu sorgen, ohne das Geld abzuzählen, und irgendwas schreiben wie Beckett.‘ Du erzählst mir was von ‚besseren Zeiten‘, und mir liegt nichts mehr am Herzen als die Rückkehr zu meiner kranken Mutter und zu neuen Protesten. Ich glaube, die Literatur wird in solchen Zeiten gehässiger. Aber ich habe Kinder, weswegen ich jetzt angefangen habe, mehr für Kinder zu schreiben. 

    Für Kinder erschaffe ich die Kindheit, die ich ihnen geben, zeichnen kann, Trash und Krieg können sie nicht gebrauchen 

    Obwohl – seit dem Beginn von Corona habe ich auch Material für ein Buch gesammelt. Von Februar 2020 bis Jahresende habe ich Nachrichten notiert, Gespräche, das, was ich durchlebe – mir war klar, dass das ein wichtiger historischer Moment ist. Ich habe die Ereignisse rundherum festgehalten und chaotisch noch etwas dazu erfunden. Und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich mir darin der Kunst wegen ausgedacht habe und was real war. Und was ich damit tun soll – da sind 180 Seiten A4. Jedes Mal, wenn ich die Datei aufmache – na, gute Nacht. Wie man das alles zu einem vollwertigen Buch verarbeiten soll, ohne an Depressionen zu sterben – keine Ahnung. Wir sind ja da jeden Tag einen kleinen Tod gestorben. Ich kann noch nicht darauf zurückkommen. Wann das soweit ist, weiß ich nicht. Es gibt ein paar Texte, die zehn oder fünfzehn Jahre bei mir herumliegen können.   

    Ist Kinderliteratur für Sie jetzt auch eine Art Rettung vor der Realität?

    Ja. Vor allem, weil mein Sohn erst drei ist. Da werde ich ihm nicht vom Krieg erzählen. In Belarus hab ich es mit ihm gemacht wie im Film „Das Leben ist schön“, wo der Vater dem Sohn auch im KZ die heile Welt vorgaukelt. Für Kinder erschaffe ich die Kindheit, die ich ihnen geben, zeichnen kann, Trash und Krieg können sie nicht gebrauchen.   

    Wenn Sie an die belarussischen Nachrichten aus der Welt der Literatur denken, was war da für Sie in letzter Zeit am bittersten?

    Am meisten hat mir die Sache mit Andrej Januschkewitsch und seinem Verlag zugesetzt. Zuerst muss er sein Büro räumen, wodurch er gezwungen ist, seine Auflagen zu verkaufen, weil er kein Lager hat. Neue Bestellungen lehnt er ab. Sie lassen ihm ein paar Monate „Ruhe“. In dieser Zeit findet Andrej neue Räume, investiert dort in eine Renovierung, den Umzug, die Miete, und einen Tag nach der Eröffnung wird er festgenommen. Das ist niederträchtig – zu warten, bis die Person wieder anfängt, ihr Unternehmen aufzubauen, um sie dann nicht nur mit ein paar Tagen Haft, sondern auch finanziell zu bestrafen. Damit du dich nicht wieder aufrappeln kannst. Das ist eine schreckliche Vorgehensweise, zusammen mit den Pogromen in den Wohnungen: Als Prokopjew nach dem ersten Pogrom gerade seine Wohnung wiederhergestellt hatte, haben sie sie ihm wieder auseinandergenommen. Das ist Rache auf dem Niveau eines dämlichen Rindviehs. 
    Ich hoffe, dass Andrej sein Unternehmen im Ausland wieder aufnehmen wird, wo es ihm möglich ist, gefahrlos zu arbeiten. 

    Was erwartet die belarussische Literatur im Land unter Bedingungen, in denen Buchläden geschlossen werden, der Verband belarussischer Schriftsteller aufgelöst, Tscherginez zum „Volksschriftsteller“ erklärt und Alhierd Bacharevič Roman Hunde Europas als extremistisch eingestuft wird?

    Unter solchen Bedingungen wird Literatur sterilisiert. Tscherginez wird Bücher machen und Lukaschenko das zeigen, was gewünscht ist. Es wird wieder Gedichte über Pusteblumen und irgend so einen Scheiß geben. Es wird keine konkurrenzfähigen Bücher mehr geben, nicht die Art von Literatur, die in der Schul-Lektüre überhaupt nur auftauchen könnte. Angesehene Schriftsteller werden sich erneut im Ausland wiederfinden – in Białystok und Vilnius.  

    Was lesen Sie selbst gerade, und was können Sie als „Must-Read“ empfehlen?

    Im Moment lese ich tatsächlich vor allem die Texte, die mir für Minkult zugeschickt werden. Was ich so nebenbei, beim Autofahren, höre ist derzeit das Hörbuch Beim Häuten der Zwiebel von Günter Grass und Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll. Das sind zwei deutsche Nachkriegsschriftsteller, die sehr gründlich, ehrlich und packend das moderne Deutschland nach dem Krieg beschreiben. Ich bin darauf gekommen, um mich damit zu beruhigen, dass sogar dieser schreckliche Krieg mit den Faschisten irgendwann einmal zu Ende ging. Darin geht es darum, wie die Deutschen das Land wiederaufgebaut und in Ordnung gebracht haben. Und letztlich besser lebten als vor dem Krieg, weil sie zu einer neuen politischen Ordnung übergingen, Sozialismus durch Kapitalismus ersetzt haben. 
    Ich kann aus der Nachkriegszeit vor allem die deutschen Schriftsteller empfehlen. Die sowjetischen schrieben vor allem über den Krieg, aber die deutschen schrieben darüber, was man danach bewahren muss und wie. 

    Es gibt jetzt viele Diskussionen über die Verantwortung der Belarussen für den Krieg, es gibt viele Vorwürfe gegen uns. Haben Sie diesbezüglich so etwas wie Schuldgefühle?

    Schuldgefühle habe ich keine. Ich bin einfach böse auf den Schnauzbärtigen, und aus. Auch ein wenig auf die Generation unserer Eltern – sie haben ihn ja wirklich gewählt. 
    Mein Papa hat erzählt, er war in der Minsker Autofabrik im Streikkomitee, sie gründeten eine Gewerkschaft – und 1991 schnappten sie sich die Brecheisen und zogen los. Sie rissen die Lagerfabrik mit, die Traktorenfabrik, erreichten das Zentrum und hielten an: Und wie weiter nun? Das ist die Frage seiner ganzen Generation. Sie haben eine Bewegung ins Rollen gebracht, aber ein Anführer, der gesagt hätte, was zu tun ist, fand sich nicht. Sie ließen sich gängeln, mein Vater verlor sein Recht auf eine Wohnung, weil die Daumenschrauben wieder angezogen wurden, und das war’s dann mit ihrer Bewegung. Dabei war das damals wirklich ein Aufstand der Arbeiterklasse. Meinem Vater machte es sehr zu schaffen, dass es keinen Anführer gegeben hatte, und mir, dass sie nichts zuwege gebracht hatten.  

    2020 war natürlich anders. Wir wussten einfach, wenn wir irgendwelche bewaffneten Aktionen starten, dann wird es einen Krieg mit Russland geben. Wir sind ja alle nicht blöd, wir konnten nicht unser ganzes Leben und das Leben unserer Kinder riskieren. Bei uns wurde schon zu oft die Bevölkerung gesäubert, ständig wurde jemand wegen solcher Dinge erschossen. In meiner Kindheit sagte meine Großmutter zu mir, das Schlimmste in ihrem ganzen Leben seien die schwarzen Raben gewesen: „Gott behüte, dass die nie wiederkommen.“ Und allen sagte sie immer nur: „Bloß nicht aufmucken!“ 

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  • Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

    Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

    Auch zwei Jahre nach Beginn der historischen Proteste in Belarus gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko nach wie vor mit Repressionen gegen die eigene Bevölkerung, gegen Aktivisten, Journalisten oder Organisationen vor. Kürzlich wurde die Journalistin Katerina Bachwalowa (Pseudonym: Andrejewa) zu acht Jahren Haft verurteilt. Sie hatte am 15. November 2020 die Demonstration am Platz des Wandels in Minsk für den TV-Sender Belsat live gestreamt. Außerdem wurden auch die fünf letzten verbliebenen unabhängigen Gewerkschaften per Gerichtsbeschluss verboten. Aktuell führt die Menschenrechtsorganisation Wjasna offiziell fast 1300 politische Gefangene auf ihren Listen.

    „Die Belarussen leben in einer Atmosphäre der Angst und Willkür“, sagt Anaïs Marin, UN-Sonderberichterstatterin zur Lage der Menschenrechte in Belarus. Über diese alltägliche Angst schreibt der Traurige Kolenka (russ. Grustny Kolenka). Dabei handelt es sich um eine Kunstfigur, die sich auf Twitter seit vielen Jahren zu belarussischen Belangen und Themen äußert, mittlerweile mehr als 350.000 Follower hat und seit kurzem eine regelmäßige Kolumne für das belarussische Online-Medium KYKY schreibt. Der Name Kolenka bezieht sich auf Kolja (Nikolaj) Lukaschenko, jüngster Sohn des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko. Seit seiner Kindheit begleitet der 2004 geborene Kolja seinen Vater bei Dienstreisen und zu Treffen mit anderen Staatsvertretern.

    Wir bringen die jüngste Ausgabe in deutscher Übersetzung. Darin träumt sich Kolenka unter anderem in den Palast der Unabhängigkeit, wo er auf seinen Vater trifft, batka, den Landesvater der Belarussen, wie sich Alexander Lukaschenko gerne auf volkstümliche Art und Weise bezeichnet.

    Ein Reigentanz, Socken, der Karton eines Fernsehapparats, eine Kanada-Flagge, ein Kack-Emoji — diese Liste ließe sich leider fast endlos fortsetzen, und nur ein Belarusse wird sagen können, was all diese Dinge gemeinsam haben. Für den Fall, dass Sie kein Belarusse sind oder ein sehr dummer, sage ich es Ihnen: Das sind lauter Dinge, für die ganz reale Haftstrafen verhängt wurden.
    In Belarus kann man für alles Mögliche ins Gefängnis kommen, für jede erdenkliche Handlung. Auch wenn man rein gar nichts gemacht hat, kommt so ein Kai aus der Kiste, der alles für einen erledigt: die „richtigen“ Telegram-Kanäle werden abonniert und eine Fahne hinausgehängt. Egal ob man Arzt ist oder Student, Professor, Sportler, Musiker, Blogger oder mehrfache Mutter. Niemand ist in Belarus derzeit vor Repressionen geschützt (nur schnauzbärtige Ex-Präsidenten sperren sie leider nicht ein … noch nicht). 
    In meiner letzten Kolumne habe ich geschrieben, dass es die größte Angst des Belarussen sei, ein Russe zu werden. Aber, wie ein Typ mit Bart [in Reaktion darauf auf Twitter dek] ganz richtig angemerkt hat: „Es gibt auch noch die Angst davor, durch ein penetrantes Klopfen an der Tür aufzuwachen.“

    Wisst ihr, ich gebe ihm absolut recht. Dieses Klopfen fürchten alle: die, die gegen meinen Papa sind, und die, die „dafür“ sind. Und vor allem die, die irgendwann mal dagegen waren, aber jetzt so tun, als wären sie „dafür“. Stellt euch vor, sogar ich habe Angst vor diesem Klopfen. Ich habe sogar immer wieder denselben Traum. 

    Ich träume, dass Papa mein Twitter liest und dann zu mir ins Zimmer kommt und sagt: „SO, KOLJA, GENUG GESCHWÄTZT.“ Sofort stürmt die GUBOPiK herein und haut mich mit einem Kinnhaken um – hasserfüllt, aber gezielt, sogar die mit ihren mickrigen Hirnen haben kapiert, wer ich bin. Sie reißen schlechte Witze und fluchen viel. Ihre reine Anwesenheit ist mir zuwider. Ehrlich gesagt, bin ich mir gar nicht sicher, ob das Menschen sind – oder doch Orks aus Herr der Ringe. Vielleicht waren sie mal Menschen, aber die Finsternis und der Kontakt zu Balaba hat sie zu Monstern gemacht. Dann fangen sie an, mein Zimmer zu zertrümmern … Und dann ist alles nur mehr Nebel … 
    Der Nebel lichtet sich, und ich sitze in einem Kabinett, hinter mir grüner Stoff. Wie sie wohl den Szenenhintergrund für mich gestalten? Eine Tür, so wie immer, oder reicht die Fantasie für etwas Kreativeres – Mordor oder Zion? Oder lassen sie die Sau raus und stellen Smeschariki an? 

    Wieder Nebel.
    Ich bin schon vor Gericht. Vor dem belarussischen Gericht — dem nach Meinung von niemandem gerechtesten der Welt. Zeuge Iwanow Iwan Iwanowitsch, in Sturmhaube, sagt mit verfremdeter Stimme per Skype, er habe selbst gesehen, wie ich die öffentliche Ordnung gestört, geflucht und gefuchtelt habe (also, alles, was auch Papa tut, wenn er von einem neuerlichen Sanktionspaket erfährt). Zum Beweis seiner Worte sagt er: „Darauf geb ich einen Zahn.“ Die Richterin mit meterdickem Filz [gemeint ist wohl eine Turmfrisur auf dem Kopf – dek] verhängt ein maximal gerechtes Urteil: lebenslängliche Haft, und fügt noch hinzu: „Sag danke, dass es nicht Erschießung ist.“ Ich sage „danke“, und wieder Nebel. 
    Ich bin in einem ein Mal ein Meter großen Glas. Werde irgendwo hingebracht. Wohin, weiß ich nicht, aber sicher nicht ins Dreamland. Vielleicht Schodino oder Baranowitschi, vielleicht auch Orscha … Wenn es in Belarus etwas zur Genüge gibt, dann Strafkolonien. Im Glas ist es eng und stickig. 

    Gut, dass ich keine Platzangst habe … Oder doch … Nebel.

    Der Nebel lichtet sich, ich werde in eine Zelle geführt. In einer Zelle für zwei sitzen siebzehn Personen. Es riecht nach Chlor und nach Ungerechtigkeit. Keine Matratzen, kein Warmwasser, dafür siebzehn unschuldige Menschen in einer Zweierzelle. Nur sind die Menschen in dieser Zelle interessanter und klüger als alle, die ich je im Palast getroffen habe. Hier sind Programmierer, Universitätsdozenten, Blogger, Unternehmer, Studenten und wieder IT-Fachleute. In dieser Zelle kriegt man allein durch die Gespräche mit diesen Leuten eine Hochschulbildung. Wir reden viel, lernen Englisch, erzählen einander von Filmen, spielen „Krokodil“ und freuen uns sehr, wenn jemand einen Brief bekommt. 
    Die Mithäftlinge haben Humor, wir lachen viel. Das macht die Orks jenseits des Gitters rasend. Sie wollen nicht, dass wir lachen. Sie wollen, dass wir leiden. Sie drehen ständig scheußliche Propagandalieder auf und lassen nachts das Licht brennen. Wenn es ihr Ziel ist, dass wir dieses Regime noch mehr hassen, dann sind sie auf dem besten Weg. Wieder Nebel. 
    Ich wache auf. Im Palast. Es war nur ein Traum. Nur, für zigtausende Belarussen war das alles andere als ein Traum. Und es ist auch die Realität, die Tausende Belarussen gerade jetzt erleben müssen. (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes gibt es im Land über 1500 offiziell anerkannte politische Gefangene – Anm. KYKY)

    Jetzt haben es alle schwer – die, die in Belarus geblieben sind, genauso wie die, die ins Ausland gegangen sind, aber das ist kein Vergleich damit, wie schwer es ist, in diesem Regime ein Gefangener zu sein. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihnen helfen, wie ich sie retten kann (Vatermord lässt sich nicht anbieten) … Das Einzige, was mir einfällt – ihre Familien unterstützen und Briefe schreiben. Wenigstens ein paar Zeilen, wenigstens eine Postkarte. Wir müssen alles tun, um sie spüren zu lassen, dass wir an sie denken.
    Jedes Mal, wenn ich nachts aus diesem Alptraum erwache, nehme ich ganz ruhig meinen Laptop, schalte VPN ein, gehe auf politzek.me oder pismo.bel oder vkletochku.org und schreibe einen Brief. Ich schreibe alles, was mir einfällt: über das Wetter, darüber, dass die belarussischen Fußballer überall verloren haben, dass die neue Staffel von The Boys genauso geil ist wie die vorige, dass wir nichts vergessen haben. Ich klicke auf Senden. Und schlafe wieder ein.

    Angst haben ist normal. Vor einem morgendlichen Klopfen an der Tür, vor dem blauen Bus oder davor, dass Papa endgültig überschnappt und dich in den Krieg schickt. Aber alle diese Ängste muss man durch Kommunikation und Solidarität überwinden. Ich glaube, das Wichtigste ist jetzt, nicht über Kleinigkeiten zu streiten: wer welche Sprache spricht, wer weg und wer geblieben ist. Es ist höchste Zeit, sich an 2020 zu erinnern. Und daran zu denken: Belarus ist dem Belarussen Belarus.

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    Kontaktprellen

    Nahezu 75 Prozent der Bevölkerung in Russland unterstützt die sogenannte „Spezialoperation“ – den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada hat diese Zahlen ermittelt. Warum sind so viele Russen für den Krieg? Und kann man diesen Zahlen überhaupt trauen? Mit Verweis auf mutige Akte des Protests ziehen manche Soziologen wie der Moskauer Grigori Judin die Aussagekraft von Umfragen in autoritären Systemen generell in Zweifel, und während eines Krieges erst recht. Die Lewada-Soziologen dagegen betonen, dass Umfragen durchaus eine Tendenz anzeigen. 

    Als Gründe für die Zustimmung oder den ausbleibenden Massenprotest nennen Soziologen neben der Wirkung der Propaganda vor allem eine über Jahre im autoritären System erlernte apolitische Haltung und Atomisierung.

    Lew Gudkow, Vize-Direktor des Lewada-Zentrums, sieht im Interview mit Meduza „eine sehr bequeme Form der demonstrativen Identifikation mit dem Staat, bei gleichzeitiger völliger Zurückweisung der eigenen Verantwortung für die Mittäterschaft an dessen Verbrechen“. Weil der Staat, und nicht ein bürgerschaftliches Selbstverständnis die kollektive Identität stifte, hätten viele Russen ein Problem damit, sich gegen ihn zu stellen. 

    Die „Spezialoperation in der Ukraine“ darf von Gesetzes wegen nicht als „Krieg“ bezeichnet werden. Noch dazu werden unterschiedliche Erklärungen von seiten des Staates geliefert, weshalb es überhaupt dazu gekommen sei: wegen der Aggression des Westens, der notwendigen „Entnazifizierung“ der Ukraine und/oder des Donbass. Diese unterschiedlichen Deutungen stifteten aber auch Verwirrung – und die wiederum mache viele für weitere Propaganda nur noch zugänglicher, so Gudkow.

    Warum sind so viele Russen für den Krieg? Das fragt auch der Lyriker und Übersetzer Sergej Samoilenko – und zwar im Hinblick auf seinen eigenen Freundeskreis. Und beschreibt eine Entwicklung, für die er selbst keine Erklärung finden kann.

    Sein sehr persönlicher Text ist noch vor der „Teilmobilmachung“ und den weiteren Annexionen ukrainischen Territoriums im Projekt Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder entstanden.

    Warum soviele Russen für den Krieg sind, das fragt sich Lyriker und Übersetzer Sergej Samoilenko / Foto © Anton Wesselow
    Warum soviele Russen für den Krieg sind, das fragt sich Lyriker und Übersetzer Sergej Samoilenko / Foto © Anton Wesselow

    Der 24. Februar 2022 hat mein Leben in Stücke gerissen. In lauter kleine Splitter. Trümmer. Die Raketenangriffe auf die Ukraine haben die Welt, in der wir lebten, zerstört. Entsetzen, Scham, Angst, Hass, das Gefühl, in einem schlechten Traum zu sein, aus dem man aufwachen will und nicht kann. Seit Monaten ein unaufhörliches Dröhnen im Kopf, das man abstellen will und nicht kann. Das Bewusstsein ist zerborsten, du versuchst, die Einzelteile einzusammeln, hältst ein Bruchstück an das andere, versuchst sie wie ein Puzzle zusammenzufügen. Es geht nicht.

    Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr kitten

    Ein paar Tage vor dem Krieg bat mich meine Schwiegermutter, ein Familienerbstück zu reparieren – von der Porzellanfrau im Folklorekleid war der Krug abgebrochen. Es war übrigens ukrainische Tracht. Ich klebte es mit Sekundenkleber an, aber die Bruchstelle blieb sichtbar. Vor kurzem ist der Krug wieder abgebrochen. Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr kitten.

    Makejewka

    Geboren wurde ich in Makejewka, nicht weit von Donezk, meine Familie lebte dort, bis ich acht war. Danach zogen wir nach Sibirien, tauschten den Donbass gegen den Kusbass ein, mein Vater war Bergmann. Unser Nachname ist ukrainisch, aber gebürtig stammte mein Vater aus der Gegend bei Woronesh – das ist nicht weit von der ukrainischen Grenze, quasi nebenan, man spricht dort Surshyk. In der Schule wurde ich als Chochol gehänselt, aber nur zum Spaß: Im Schmelztiegel Sibirien kommen alle möglichen Nationalitäten zusammen. Und mit der Zeit ist auch mein frikatives „g“ verschwunden.

    In Makejewka wohnten wir im Bezirk Chanshenkowo, das war damals eine eigenständige Siedlung – gleich hinter der vierstöckigen Chruschtschowka lagen das Maisfeld und die Müllhalde. Ich war nie wieder dort, außer in meinen Träumen.

    Ich habe nur die erste Klasse in Makejewka beendet, ab der zweiten hätten wir Ukrainisch gelernt. Ich hatte schon mein Lehrbuch, es kam mit mir nach Kemerowo, irgendwann ging es bei einem Umzug verloren. Jetzt lese ich mithilfe des Übersetzungstools auf dem E-Reader Zhadan und Andruchowytsch, vielleicht wage ich mich irgendwann daran, ein paar ihrer Gedichte zu übersetzen.

    Nowosibirsk

    Ein paar Tage vor Kriegsbeginn hatte ich eine Übersetzung von Molières Tartuffe für das Projekt Theatre HD abgeschlossen. Am 14. Januar lief das Stück in der Comedie francaise, inszeniert von Ivo van Hove. Die Produktionsfirma CoolConnections, die das Projekt Theatre HD in Russland betreibt, verwendet oft alte Theater-Übersetzungen, die zum Teil vor hundert Jahren entstanden sind, deshalb wirken moderne Klassik-Inszenierungen, gelinde gesagt, archaisch. Und die Tartuffe-Übersetzung hatte ich schon vorliegen … Jedenfalls freute sich das Theater über meinen Vorschlag, und ich tüftelte etwa sechs Wochen an der Überarbeitung, kürzte, schrieb um … Es ist gut geworden.

    Die Premiere in Nowosibirsk fand am 9. März statt, da war natürlich niemandem mehr nach Tartuffe … Ich erzählte vor fünfzig Zuschauern nervös irgendwas von Molière, von meiner Arbeit an der Übersetzung, vom Widerstand gegen die Barbarei, versuchte, das Wort „Krieg“ zu vermeiden

    Nach der Vorstellung stießen wir im Café des Kinos im kleinen Kreis mit einem Glas Wein an. Ich fing an, mit der Prorektorin des Theaterinstituts (ich nenne sie mal Jana), mit der ich gut befreundet war, darüber zu sprechen, wie schrecklich alles ist, wie unangebracht diese Premiere jetzt wirkt – und hörte plötzlich von ihr, dass wir keine Wahl gehabt hätten, dass sie acht Jahre lang die Menschen im Donbass umgebracht hätten, dass Russland den Donbass beschützen müsse … Ich sprach von zerbombten Städten und zivilen Opfern – und musste zu meinem Erschüttern hören, dass „diese Nazis sich selbst beschießen“ würden … Und von den amerikanischen bakteriologischen Laboren hörte ich auch … 

    Ich versuchte sie erst zu überzeugen, dann schrie ich, dann schwieg ich und trank Whisky, ich schlotterte am ganzen Körper, mir war schlecht, es tat mir körperlich weh.

    Es ist nicht nur so, dass ich nicht erwartet hätte, so etwas ausgerechnet von ihr zu hören, ich konnte vielmehr nicht glauben, dass ich das überhaupt höre. 

    Ich versuchte sie erst zu überzeugen, dann schrie ich, dann schwieg ich und trank Whisky, ich schlotterte am ganzen Körper

    Wir kennen uns schon eine Ewigkeit, seit Ende der 1980er, als Jana Studentin der Philologischen Fakultät war, intelligent, lustig, sie hatte etwas von der jungen Tatjana Drubitsch, der Filmschauspielerin, sie liebte Poesie … Sie schrieb ihre Dissertation über Brodsky, holte mich Ende der 1990er aus Arzamas, wo es mich mit meiner Familie hin verschlagen hatte (ich mochte den poetischen Namen der Stadt) und wo ich mich als Packer, Hausmeister und Nachtwächter verdingen musste, weil ich in dieser Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, weder am Institut noch in der Regionalzeitung, ja nicht einmal bei der Betriebszeitung einen Job bekam … Ich schrieb Gedichte und verdiente schmales Geld, indem ich Möbel schleppte, in einem Kindergarten Nachtwache hielt und das Laub der Kirsch- und Apfelbäume wegfegte, bis Jana meinen ehemaligen Universitätsprofessor überredete, mich als Doktorand aufzunehmen – und ich kehrte nach Kemerowo zurück. 

    Ich war bis über beide Ohren in sie verliebt, zog wegen ihr nach Nowosibirsk, quälte sie und mich zwei Jahre lang mit meiner Eifersucht, machte ihr Szenen, aber wir schafften es irgendwie, unsere Freundschaft und sogar Zuneigung zueinander zu bewahren. Wenn ich irgendwem ein Gedicht zeigen wollte, dann war es immer sie … Sie lebt seit zehn Jahren in Scheidung, ich bin seit acht Jahren verheiratet; sie machte Karriere, ich blieb ein brotloser Künstler, aber das hinderte uns nicht daran, befreundet zu sein und einander zu verstehen …

    Wie kann ein intelligenter, feinsinniger, gebildeter Mensch den Krieg rechtfertigen?

    Was ist passiert? Wie kann ein intelligenter, feinsinniger, gebildeter Mensch, der mehrere Sprachen spricht, das Ausland bereist hat, die Literatur liebt und selbst schreibt, den Krieg rechtfertigen, einen Überfall auf einen anderen Staat, Mord und Zerstörung? Wie kann er ihn damit rechtfertigen, dass „wir unsere Leute“ nicht im Stich lassen konnten … Jana besitzt doch nicht einmal einen Fernseher! Woher hat sie diese Phrasen?! Über die Biolaboratorien und die virustragenden Fledermäuse … Als ich einem gemeinsamen Freund am Telefon von unserem Gespräch erzählte, riet er mir spöttisch, ich soll in solchen Fällen antworten, dass sich ein Russe, wenn er von einer solchen Fledermaus gebissen wird, in Batman verwandelt …

    Das war für mich wohl die traumatischste Trennungserfahrung. Die persönlichste, intimste; sie verlief nicht entlang einer Sollbruchstelle, sondern wurde mit dem Fleisch herausgerissen. Danach, mit anderen, tat es nicht mehr so weh.

    Unter den Unterzeichnern dieses monströsen Briefs zur Unterstützung des Kriegs mit Verweisen auf Alexander Newski und Dimitri Donskoi, waren auch Bekannte von mir – ich wage nicht mehr sie als „Freunde“ zu bezeichnen.

    Du kannst zwar deine Kontakte auf Facebook entfrеunden, aber doch brennt etwas in deinem Inneren – mein Gott, wo kommen die alle her?

    Einen älteren von ihnen kannte ich aus einem Literaturverein in Kemerowo, dem ich mich in meinem früheren Leben nach der Armee angeschlossen hatte – diese Zeit hatte ich bis zuletzt sehr positiv in Erinnerung. Ein anderer, jünger als ich, hat mir gewissermaßen seinen Erfolg als Lyriker zu verdanken. Wir hatten viel und freundschaftlichen Kontakt, er fing gerade an zu schreiben, ich zeigte ihm Gedichte von Jeremenko, Shdanow und Gandlewski – am Ende studierte er sogar Literatur, veröffentlichte ein paar Bändchen mit gar nicht so schlechten Versen und wurde in der Regionalabteilung des Schriftstellerverbands zum Herausgeber des literarischen Almanachs. 
    In den letzten zwanzig Jahren habe ich sie nur noch selten gesehen, nur, wenn ich meine alte Heimat besuchte, unsere Wege haben sich längst getrennt. Ich verstehe ja: ein provinzielles Umfeld, hinterwäldlerisch-rechtsextreme Anschauungen (mir war in meiner Jugend einmal wegen Judenfreundlichkeit mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband gedroht worden, weil ich ein paar bissige Rezensionen zu regional verehrten Klassikern geschrieben hatte …). Trotzdem unerfreulich. 
    Du kannst zwar deine Kontakte auf Facebook entfrеunden, aber doch brennt etwas in deinem Inneren – mein Gott, wo kommen die alle her? Warum hat diese Bekannte, die deine Lyrik so schätzt, einen dermaßen blutrünstigen Hass auf die Ukraine?

    Das Kriegsgetöse hallt im Schädel wider

    In meinem Kopf klirrt es die ganze Zeit. Natürlich hat das mit dem Alter und dem Blutdruck zu tun, aber da ist noch etwas, das Kriegsgetöse hallt im Schädel wider. Ununterbrochen diskutiere ich in Gedanken, argumentiere, versuche zu überzeugen, im Traum wie im Wachzustand, meine Gedanken ergeben kein klares Muster. So kann ich an nichts anderes denken, mich nicht konzentrieren. Ich kann keine Gedichte schreiben, es schnürt mir die Kehle zu und lässt nicht locker. 
    Das Einzige, was mir hilft, sind meine Übersetzungen, in die ich mich vertiefe und mir einrede, dass sie noch gebraucht werden, zwar nicht jetzt, aber nach dem Krieg, nichts ist umsonst, das wird alles noch gebraucht werden. Wobei man natürlich nicht umhinkommt sich zu fragen, wann das denn sein wird, diese Zeit nach dem Krieg.

    Meinen Zustand erklärte mir ein technisch bewanderter Bekannter: Es ist genau das, was man unter dem Begriff „Kontaktprellen“ versteht – ein kurzer Effekt in elektromechanischen Apparaten beim Ein- oder Ausschalten. Da passiert ein mehrfaches, unkontrolliertes Öffnen und Schließen der Kontakte.

    Dieses „Kontaktprellen“ erschöpft, verblödet, zehrt an den Kräften.

    Reale Begegnungen kosten ebenfalls eine enorme Überwindung. Zudem hast du einfach Angst, auch noch so gute Bekannte zu treffen – womöglich hörst du, dass „alles nicht so eindeutig“ sei – und das noch im besten Fall. Im schlimmsten Fall gratuliert dir ein guter Kumpel zum Geburtstag, Fotograf an der Oper, der fast alle Arbeiten der sibirischen Künstergruppe Die blauen Nasen mitgestaltet hat, mit dem du selbst Ausstellungen gemacht hast, noch dazu so radikale wie die Vereinigten Staaten von Sibirien. Mittlerweile ist er in einem Video mit dem halben Hakenkreuz-Symbol Z im Hintergrund aufgetreten …       

    Doch auch Kino, Theater, Ausstellungen, Cafés fügen dir solche Schmerzen zu, als hätte man dir die Haut abgezogen. Wie kann man sich Filme ansehen, Musik hören, Wein trinken, Fliederduft atmen, die Pfingstrosenblüte bewundern? Der Flieder war dieses Jahr betörend wie nie zuvor, richtig widerlich, und die Pfingstrosen zum Kotzen schön …  

    Jetzt verstehe ich, was ein Huhn fühlt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das noch über den Hof rennt

    Ich habe keine Erklärung, wie man zum Zombie wird und woran es liegt: am Fernsehen, an der Nähe zur Regierung, am sozialen Umfeld, an der Mehrheitsmeinung? Natürlich ist immer alles individuell, aber für mich ist offensichtlich, dass weder Bildung noch Vernunft, weder Geschmack noch Wahrheitsliebe noch geistig-seelische Qualitäten eine Impfung dagegen sind. Was kann die Abwehrkräfte stärken? Kritisches Denken? Misstrauen? Intellekt? Empathie? Ich weiß keine Antwort.

    Während ich kürzlich noch verstand, „was die Maus fühlt, wenn sie die Luft aus dem Glaskasten saugen“ – wie es in Sergej Tschudakows Gedicht heißt –, verstehe ich jetzt, was ein Huhn fühlt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das noch über den Hof rennt. Ich bin mir nicht sicher, was mir dieses Wissen bringt.

    In der Technik gibt es mehrere Möglichkeiten, das Prellen zu unterbinden. Eine ist es, die Kontakte zu unterbrechen, bis eine stabile Verbindung (oder eine stabile Entkopplung) hergestellt ist. Eigentlich ist es dieses Szenario, das ich intuitiv umzusetzen versuche. Ich suche den Kontakt zu jenen, bei denen ich mir hundertprozentig sicher bin, denen ich vertraue, von denen ich nicht höre „ist alles nicht so eindeutig“. Ich verkleinere meinen Bekanntenkreis, werde zum Einsiedler, verschanze mich im Sommer auf der Datscha, im Winter in der Küche, übersetze Molière und Marivaux, schreibe für die Schublade …

    Was das Kontaktprellen betrifft … Jana und ich sind immer noch Freunde. Wir treffen uns manchmal, trinken Kaffee, weichen dem wichtigsten Thema aus. Ich weiß, dass sie nicht so gemein ist, mich zu denunzieren, dass sie nicht für eine offenkundige Abscheulichkeit stimmen würde. Als meine Frau wegen ihrer Unterschrift auf einem offenen Brief gegen den Krieg und wegen mehrerer Antikriegspostings auf Facebook von ihrem Posten als Theaterdirektorin gekündigt wurde, bot Jana ihr (und auch mir) an, ab nächstem Schuljahr am Institut zu unterrichten. Ich weiß, dass sie alles tut, was sie kann, um uns zu helfen und uns zu unterstützen.
    Allerdings bin ich mir nicht so sicher, dass das auch nur vorübergehend eine Lösung ist: Julia steht garantiert auf der schwarzen Liste, und ich erscheine, nachdem ich den Preis der Zeitschrift Sibirskije ogni abgelehnt habe, die auf ihre Titelseite ein Z gepappt hat, sicher auch nicht im besten Licht. Ich fürchte, da ist nichts zu retten.
     
    Leben muss ich trotzdem in einem offen faschistischen Staat, mit Blutsaugern und Hyänen oder zahnlosen Spießern, ich muss dieselbe Luft atmen wie sie, dieselben Straßen benutzen. Und das wird immer unerträglicher. Und auch gefährlicher.   

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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  • Goliath hat gewonnen. Ein Tagebuch von Xenia Lutschenko

    Goliath hat gewonnen. Ein Tagebuch von Xenia Lutschenko

    Wenn alles aussieht wie immer, aber nichts mehr so ist wie zuvor: Dieses Tagebuch führte die Medienwissenschaftlerin Xenia Lutschenko im März 2022, bevor sie die Grenze zwischen Russland und Estland überquerte. Im Text sind alle Zeitangaben aus dem Gedächtnis rekonstruiert: Sämtliche Chats und Nachrichten mit den genauen Daten der Einträge aus dem Frühling hatte sie vor dem Überqueren der russisch-estnischen Grenze bei Iwan-Gorod/Narwa am 7. April 2022 gelöscht.

    Der Text erscheint im Rahmen des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.

    4. März – Schnee

    Der Schnee war bereits festgetreten, sodass man darauf laufen konnte, ohne einzusinken. Er war noch winterlich weiß, ohne schwarze Spuren. Die Schatten der Bäume waren lang wie im Februar, das grelle Sonnenlicht zog scharfe blaue Linien in den Schnee. Ljussjas fuchsrotes Fell flackerte auf, als sie darüber lief, meine weiße Hündin Ingrid lief ihr entgegen. Ljussjas Besitzerin Mascha kam auf mich zu. Wir schauten uns an und weinten beide los.

    „Aber du hast doch die israelische Staatsbürgerschaft“, sagte Mascha ermutigend.
    „Wie kommst du darauf?“
    „Nein? Ich war mir sicher … Du siehst aus wie jemand, der die israelische Staatsbürgerschaft hat.“

    Am nächsten Tag landete Mascha mit ihrer Familie in Jerewan. Der Flug war mehrmals verschoben worden, manche Maschinen hatten umdrehen und nach Moskau zurückfliegen müssen. Am selben Tag reiste mit denselben Verschiebungen und Nervenzusammenbrüchen meine andere gute Freundin Mascha ab, sie brachte ihren 19-jährigen Sohn aus dem Land.

    Ich wurde nur 34 Jahre nach dem 8. Mai 1945 geboren. Ich lebe schon acht Jahre länger als die Anzahl an Jahren, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und meiner Geburt liegen. Ich wurde also etwa in die Mitte des friedlichen Stücks Geschichte hineingeboren.

    Trotzdem haben wir viele Kriege gesehen – Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien, Armenien und Aserbaidshan, Georgien und eben den im Donbass 2014. Aber ich sehe zum ersten Mal auf Fotos und Videos, wie man Menschen unter Trümmern hervorholt, wie Kinder, die in ihren eigenen Hinterhöfen getötet wurden, in Leichenhallen liegen, wie Kolonnen von Flüchtenden Richtung Grenze ziehen, und ich spüre fast körperlich, dass das bald mit uns, mit mir, mit meinen Nachbarn passieren könnte. Nicht nur könnte, sondern muss – nach dem Prinzip der Gerechtigkeit. Und das macht es umso schlimmer.

    Wir haben viele Kriege gesehen – Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien, Armenien und Aserbaidschan, Georgien, und eben den im Donbass 2014. Aber ich sehe zum ersten Mal auf Fotos und Videos, wie man Menschen unter Trümmern hervorholt, wie Kinder, die in ihren eigenen Hinterhöfen getötet wurden, in Leichenhallen liegen

    6. März – Wegfliegen

    Gleich am 25. Februar schrieb mir meine Freundin, die Journalistin K., dass sie sofort wegfliegen würde, mit den Kindern und dem Kater. Später schrieb ihr Mann, fragte mich, ob ich Geld für sie mitnehmen könnte.

    Dann schrieb meine Freundin S. – Journalistin, „ausländische Agentin“. Sie hatte Angst vor der Passkontrolle. Sie musste dringend weg, wie auch K. Es gab eine deutliche Warnung, dass man sie sehr bald verhaften würde. S. ging zur Passkontrolle, alle Apps auf ihrem Telefon hatte sie gelöscht. Sie hatte Angst. Ich saß mit meinem Telefon in der Hand da und betete, dass man sie rauslässt.

    Ein paar Tage später trafen sich K. und S. in Istanbul. Sie begegneten sich zum ersten Mal. Beide steckten wegen des Schneesturms in Istanbul fest. Zwei meiner engsten Freundinnen, beide haben zwei Töchter, waren tagelang in Istanbul eingeschneit. Sie warteten auf besseres Wetter, ihre Bankkarten funktionierten [wegen des SWIFT-Ausschlusses – dek] nicht mehr, sie mussten Geld für Essen auftreiben. Und ich konnte ihnen nicht mehr helfen.

    Meine lieben, wagemutigen Mädels in Istanbul. In der Stadt, in der ich für eine sehr kurze Romanze glücklich gewesen war. Das war noch vor der Pandemie, vor dem Krieg, in jener Vergangenheit, in der irgendwas falsch gelaufen ist. In Istanbul bekommst du auf der Straße aus dem Samowar kleine Gläser mit Tee, den du auf niedrigen Holzscheiten trinkst, im Café nebenan dampft in einem großen Kessel nach Gewürzen duftende Suppe, der Morgenhimmel über dem Bosporus ist golden wie auf Ikonen, der Wind zerzaust deine Haare, auf den Prinzeninseln blühen riesige purpurne Blumen, die Hagia Sophia ist noch keine Moschee, die Fresken auf den Emporen noch nicht verdeckt, im asiatischen Teil der Stadt streunen große gutmütige Hunde, und an der Schießbude im Park kann man auf Luftballons zielen. Die Hunde, die Blumen, die Samowars und die Luftballons sind ziemlich sicher noch da. Nicht mehr da ist das Leben. Und der Schnee. Bald wird er ganz aufhören, und alle werden in verschiedene Richtungen davonfliegen.

    S. ging zur Passkontrolle, alle Apps auf ihrem Telefon hatte sie gelöscht. Ich saß mit meinem Telefon in der Hand da und betete, dass man sie rauslässt

    13. März – Timofej

    Seit dem 24. Februar gibt es in Russland keinen Gott mehr, und alles ist erlaubt. Es gibt keine Gesetze, keine Moralvorstellungen, keine Verfassung, höchstens die Verkehrsregeln werden aus praktischen Gründen noch beachtet. Wenn du keine Nachricht überprüfen kannst, es nur Gerüchte, Leaks und Propaganda gibt, glaubst du für alle Fälle alles, selbst das, was noch eine Woche zuvor vollkommen unvorstellbar war.

    Am 2. März kamen Gerüchte auf, dass Putin am 4. März vor der Föderationsversammlung das allgemeine Kriegsrecht verkünden würde. Das hätte die Schließung der Grenzen bedeutet, zumindest für Männer im wehrpflichtigen Alter. Also für Studenten, Söhne.

    Also begann ein Massenexodus. Die Flugpreise gingen durch die Decke (am 3. und 4. März kostete ein Ticket nach Dubai bis zu 500.000 Rubel [etwa 4200 Euro – dek] ), die Tickets waren im Nu ausverkauft. Ich geriet in Panik. Dann bat ich einen Freund, der sich mit Flugtickets auskennt und immer die unkonventionellsten Lösungen findet, nach einem Flug für uns zu suchen. Ich hatte Freunde, die seit einem Jahr in Montenegro lebten und ihre Hilfe angeboten hatten. Überhaupt sind die Worte „Freunde“, „Freundin“, „Freund“ die Schlüsselworte dieser Tage. Das ist die wichtigste Errungenschaft meines Lebens – geliebte, nahestehende Menschen. Und wahrscheinlich das Einzige, was uns diese Katastrophe überstehen und vielleicht sogar bei Verstand bleiben lässt.

    Ich brachte meinen Ältesten, Timofej, in der Nacht vom 3. auf den 4. März zum Flieger nach Belgrad, mit einem langen Aufenthalt in Dubai. Der Flug kostete 70.000 Rubel [etwa 600 Euro – dek]. Er war fast 24 Stunden unterwegs. In dieser Nacht verstand ich, dass Mir zerreißt es das Herz keine Metapher ist. Irgendetwas innen drin zerreißt. Der Schmerz ergießt sich aus diesem Riss in deinen Körper, gluckert, bricht als Schluchzen hervor und verebbt kurz, um dann wieder anzuschwellen. Er gleicht einem heißen Ozean, endlos rollt er in Wellen ans Ufer und wieder weg, spült Erinnerungen an Land, Gesprächsfetzen, Kinderschuhe.

    Wir erledigten alles sehr schnell. Ich verlor nur einmal die Orientierung, als wir auf dem Weg zum Notar waren. Ich wusste plötzlich nicht mehr, in welche Richtung wir mussten und wo ich überhaupt war. Wir waren zwei Straßenblocks von unserem Haus entfernt. Timofej machte yandex.maps auf und nahm mich an die Hand.

    Mir war bewusst, dass ich innerhalb eines Tages über sein Schicksal entschied. Er studierte gerne an der Wyschka, hatte viele Freunde, klare Pläne für sein Leben, eine Zukunftsvision, Träume. Ich weiß nicht, ob er irgendwann wieder ein Zuhause haben wird. So viel Angst wie in diesen 24 Stunden hatte ich noch nie in meinem Leben. Noch nie hatte ich derart endgültige und mich erschlagende Entscheidungen getroffen.

    Selbst wenn der Aufschub für Studenten bei der Wehrpflicht nicht aufgehoben wird, sind junge Männer hier Zielscheibe für Polizei und die Sicherheitsdienste. Ich war mir selbst zuwider, als ich hinter ihm herlief und sagte: „Lösch diese Story. Hör auf, diese Demo-Aufrufe zu teilen. Warum hast du wieder was über Putin bei Insta geschrieben? Willst du dein Schicksal herausfordern? Ist deine Meinung etwa so wichtig?“ Er hat immer geantwortet: „Warum dürfen du und deine Freunde das und ich nicht? Was ist das für eine Doppelmoral?“ Ja, ich war mit ihm auf der Demo, als Nawalny verhaftet wurde. Ja, er war mit einem Freund noch einmal ohne mich da, „nur mal schauen“. Aber die meisten seiner Freunde waren bereits auf dem Revier, einen von ihnen mussten wir aus einer Haftanstalt in Jegorjewsk holen.

    Selbst wenn Timofej in Russland geblieben und es ihm gelungen wäre, nicht in die Armee oder ins Gefängnis zu kommen – nach dem 24. Februar hätte es hier für ihn keine Zukunft mehr gegeben. Ich sagte zu ihm: „Es wird wie in der Sowjetunion. Aus Perspektivlosigkeit werden die Menschen zur schlimmsten Version ihrer selbst: der ständige Druck, das ständige Umschauen – nicht, dass noch was passiert –, die Selbstzensur, die Unmöglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, all das führt zu Komplexen, Kränkungen und Aggressionen, die an den Nächsten ausgelassen werden. Ich will nicht, dass das mit dir passiert.“

    Im Taxi auf dem Weg zum Flughafen Wnukowo löschten wir alle Apps von seinem Telefon. Der Flughafen ist fast menschenleer, aber nicht so leer, wie er es während der Pandemie war. Die Leute stehen ruhig in der Schlange an der Gepäckannahme, als würden sie in den Urlaub fliegen. Ich lächele und mache Scherze, berühre Timofej bei jeder Gelegenheit – mal an der Schulter, mal an der frischrasierten Wange. Wir umarmen uns, er geht zur Passkontrolle, ich schaue ihm hinterher: Er trägt seine Lederjacke (er wollte sie nicht dalassen, sie piept bei jedem Metallrahmen), einen schweren Rucksack, er reckt seinen Hals – mein Kleiner, mein kleiner großer Junge. In jenen Minuten, die er vor der Kabine auf seinen Pass wartete, wusste ich nicht, was ich mehr wollte: dass man ihn durchlässt, oder dass man ihn mir zurückgibt. Wir würden es schon irgendwie schaffen. Ich würde ihn einfach auf der Datscha verstecken …

    Sie gaben ihn mir nicht zurück. Ich saß alleine im leeren Flughafencafé, trank Bier und bewegte mich zwei Stunden lang nicht vom Fleck. Ich bestellte das Taxi erst, als er im Flugzeug saß.

    Eine Woche später, als er sich in Montenegro eingerichtet hatte, antwortete Timofej auf die Frage, wie es ihm geht: „Ganz ok, außer dass ich aus meinem Leben gerissen wurde.“ Ich sagte: „Du wurdest nicht herausgerissen, sondern dieses Leben existiert nicht mehr.“

    Aus Gewohnheit nehme ich im Supermarkt zwei Brötchen für meine zwei Jungs mit. Dann erinnere ich mich wieder und lege eins zurück. Meine Freundin hat sich einen Alarm eingerichtet, um mich jeden Tag auf Telegram zu erinnern: „Du hast alles richtig gemacht.“

    Ich brachte meinen Ältesten, Timofej, in der Nacht vom 3. auf den 4. März zum Flieger nach Belgrad, mit einem langen Aufenthalt in Dubai. In dieser Nacht verstand ich, dass ‚Mir zerreißt es das Herz‘ keine Metapher ist

    18. März – Scham

    Meine lustige Haushaltshilfe Natascha kommt. Alle meine Freunde und Freundesfreunde kennen die absurden Natascha-Geschichten und den Spruch „und dann kam Natascha“. Sie putzt sehr schnell und ordentlich, plappert pausenlos, kommt niemals pünktlich, und man könnte eine endlose Slapstick-Komödie über sie drehen.

    Natascha kommt aus der Ukraine, aus Iwano-Frankiwsk. Vom ersten Tag an schrieb sie mir auf WhatsApp. Fragte, was jetzt wird. Was wir jetzt tun sollen. Das kann doch nicht sein? Echte Truppen? Und was ist mit der Grenze? Wie komme ich nach Hause? Und wenn ich hier bleibe? Was soll ich tun, Xenia? Was mache ich jetzt? Da sind doch meine … Was, was, was wird jetzt sein? Sie fragte mich nach einem Vorschuss, damit sie ihrer Mutter so viel wie möglich überweisen konnte, ich gab ihr das Geld natürlich.

    Jetzt fragt mich Natascha jedes Mal, wenn sie kommt: „Weinen Sie wieder, Xenia? Lassen Sie uns nicht weinen.“ Und wischt sich selbst die Tränen ab, wenn sie gerade telefoniert hat. Sie hat verstanden, dass sie nirgendwohin kann, dass sie hier festhängt, aber wenigstens fallen hier keine Bomben … Wir nehmen uns jetzt in den Arm, obwohl ich vor dem Krieg Distanz gewahrt habe. Ihre Mutter hört die Bomben. Natascha hört sie auch, wenn sie sie anruft.

    Bekannte, Freunde oder Verwandte in der Ukraine hat in Russland fast jeder. Man schämt sich zu sehr, um zu fragen, wie es ihnen geht. Aber nicht zu fragen, schämt man sich noch mehr. Jedes Mal muss ich mich überwinden, um die Frage bei WhatsApp oder Facebook zu stellen. Die Antworten lauten in etwa: „Ich bin wieder in Kyjiw, in Sicherheit, wobei das relativ ist: Luftangriffe, Raketenbeschüsse, russische Untergrundkämpfer und all die anderen Herrlichkeiten, die der Krieg so mit sich bringt“, „Wir sind okay, heute Nacht nur drei Stunden im Bunker“ (Lwiw, eine junge Frau mit vierjähriger Tochter), „Ich war im besetzten Gebiet, jetzt bin ich in Kyjiw“. Nicht ein böses Wort, obwohl ich darauf gefasst war. Nur Großherzigkeit. Ich möchte da einfach nur heulen – also heule ich.

    Einer von „meinen“ Ukrainern ist Geistlicher. Er erzählt mir auf Facebook, wie ein gemeinsamer Bekannter am Tag zuvor über einen humanitären Korridor aus besetztem Gebiet nach Hause zurückkehrte und wie er davor zwei Wochen ohne Strom, Wasser und Kontakt zur Außenwelt verbracht hatte. Ich sage: „Passen Sie bitte auf sich auf, wir müssen uns unbedingt wiedersehen.“ Und er: „Wir sehen uns ganz sicher wieder, wir werden die ganze Ewigkeit haben, um miteinander zu sprechen“ – „Ich würde es aber im Diesseits bevorzugen“ – „Ich auch. Christus ist unter uns.“ Und ich denke: Glaube ich daran gerade?

    Und so liege ich hier auf meinem Bett in Moskau, neben mir schnurrt mein warmer Kater, den ich in zwei Wochen verlassen werde, um mich herum mein Zuhause, von dem ich mich in jeder Sekunde verabschiede. Und er sitzt in seinem Zuhause in Kyjiw, jederzeit gefasst darauf, einen Luftalarm zu hören und ins Versteck zu rennen. Zwischen uns ist das Facebook-Fenster, ich sehe seine Antworten grau und er meine. Kann Christus wirklich unter uns sein? Das ist unbegreiflich, aber andererseits – wo sollte Er sonst sein?

    Wir kommunizieren über Telegram und Signal. Wir besprechen Luftangriffe, Gefangene, besetzte Gebiete, Einkesselungen, Flüchtlinge. Die Digitalisierung kollidiert auf merkwürdige Weise mit der Archaik. Wie kann es in der digitalisierten Welt Kriege geben? Krieg – das ist doch etwas Mittelalterliches, Chthonisches. Im Krieg gibt es dreieckige Frontbriefe, Funker, Telegramme, schwarze Lautsprecher mit Juri Lewitans Stimme, im besten Fall einen Fernseher. Aber nun wird auf Facebook von Bombenschutzbunkern und Splitterverletzungen berichtet.

    Bekannte, Freunde oder Verwandte in der Ukraine hat in Russland fast jeder. Man schämt sich zu sehr, um zu fragen, wie es ihnen geht. Aber nicht zu fragen, schämt man sich noch mehr

    20. März – Alles ist jetzt strafbar

    Am 4. März, da war Timofej noch auf Zwischenstopp in Dubai, trat ein Gesetz gegen Fake News in Kraft. Dazu schreibt mein Freund Ilja Ber später: „Ich habe mir im Vorhinein überlegt, wann es mir zu viel wird. Jetzt.“

    Mir wurde auch ganz leicht, leer und haltlos zumute. Als wäre ich ein Luftballon, bei dem man die Schnur durchschneidet. Jetzt war die Klarheit da. Ich kann ganz objektiv hier nicht mehr leben, ich habe keine Wahl mehr.

    Journalismus, journalistische Ausbildung, Medienkompetenz – das alles ist jetzt strafbar. 

    An den zwei Universitäten, an denen ich arbeite – an der Schaninka und an der RANCHiGS – begannen Diskussionen, ob das Gesetz gegen Fake News denn anwendbar sei auf das, was die Lehrenden in den Hörsälen sagen. In der Schaninka trafen wir uns und besprachen die Risiken. Ich sagte, dass erstens mehr als die Hälfte der Lehrenden, alles Journalisten, weggegangen seien, und dass es zweitens keine Redaktionen mehr gebe, in denen die Studenten ein Praktikum machen könnten – alle waren entweder geschlossen oder von Roskomnadsor gesperrt oder zumindest als „ausländischer Agent“ deklariert oder überhaupt eine schillernde Kombi aus allen drei Versionen. Und der Inhalt des Studiums selbst ist strafbar geworden: Jeder zweite Lehrende fällt unter einen Paragrafen des Strafgesetzbuchs, sobald er den Mund aufmacht, und durch die Bank weg jeder von ihnen bringt den Studenten etwas bei, das sie bei gewissenhafter Erfüllung auf die Liste der „ausländischen Agenten“, in die Haftanstalt oder gar in die Strafkolonie bringt. 

    Die Urgesteine an unseren Unis rieten uns, „auf die Theorie auszuweichen“, den Großteil der Fächer theoretisch zu lehren, ohne irgendeinen „Aktualitätsbezug“. Aber das geht nicht. Der Lehrplan ist ein rechtsbindendes Dokument, in das man nicht nachträglich Änderungen einbauen kann. Und vor allem: Strafbar ist nicht nur der Inhalt, das wäre wirklich halb so wild, sondern sind die Methoden selbst! Informationen verifizieren, Quellen prüfen, alle Konfliktparteien abbilden, Beweise suchen, alles in Zweifel ziehen – das ist das Wesen, die Grundlage unseres Berufs. Und genau das ist jetzt unmöglich geworden – in der Praxis wie in der Lehre. „Ziehen Sie wenigstens noch dieses eine Semester durch“, bittet mich die Leitung der RANCHiGS, als ich ihr meine Argumente vorlege. Immer dieses Ziehen und Zerren.

    Sieben Jahre habe ich diese Lehrpläne entwickelt und alles aufgebaut, wir hatten mit einer Gruppe von zehn Studenten begonnen, und jetzt sind es mehr als 500. Und dutzende Lehrende, darunter die besten Journalisten Russlands. Ich habe ein großes, lustiges Team – ich liebe es, Menschen zusammenzubringen, die ich gut finde, damit wir gemeinsam etwas Tolles machen. Wir hatten so viele Ideen und konnten das eine oder andere sogar umsetzen.

    Der Niedergang begann schon im Herbst [2021], als unser Rektor Sergej Sujew aufgrund einer fingierten Anklage wegen Betrugs eingesperrt wurde. Schon damals erstarrten wir, duckten uns und hielten uns die Ohren zu. Ich ging zu den Gerichtsverhandlungen, las die Akten, schrieb interne Texte, nahm an strategischen Diskussionen teil, versuchte zu verstehen und zu helfen. Wir hielten uns alle aneinander fest und bemühten uns, einander im Auge zu behalten. Wir wurden mit Ermittlungen und staatsanwaltlichen Überprüfungen überschüttet. Sogar die Diplomarbeiten der letzten Jahre und die wissenschaftlichen Publikationen unserer Mitarbeiter wollten sie sehen. 

    Aber das Schlimmste ist, einem Menschen, der in U-Haft langsam, aber sicher umgebracht wird, über das Briefsystem der Strafvollzugsbehörde eine Nachricht zu schreiben. Und er schreibt zurück, versucht sogar zu scherzen, und du liest den handgeschriebenen Brief, den der Zensor fotografiert und als JPG geschickt hat, und du weißt, dass die Hand gezittert hat, dass die Kraft zu schreiben schwindet.

    Schon damals war klar, dass wir nicht lange durchhalten werden. Aber wir wollten noch kämpfen, noch irgendwas retten, uns Umgehungsmanöver ausdenken. Zumal Sergej Sujew uns bei unserem letzten Treffen gebeten hatte, „an der Routine festzuhalten“. 

    Jetzt ist das endgültige Ende gekommen. Das Huhn ist schon geköpft, aber es rennt noch herum und verspritzt sein Blut.

    Eine Predigt des Priestermönchs Giovanni Guaita, die seine Zuhörer auf YouTube gestellt haben, dauert 30 Sekunden: „Heute gedenken wir der Enthauptung des Heiligen Johannes. Johannes der Täufer war ein Prophet, der mit dem Leben dafür bezahlte, dass er die Wahrheit sagte. Es ist sehr tragisch, wenn wir eine solche Angst davor haben, die Wahrheit zu sagen, dass wir bereit sind, alles zu verlieren, um nur ja nichts zu riskieren. Amen.“

    Jetzt ist das endgültige Ende gekommen. Das Huhn ist schon geköpft, aber es rennt noch herum und verspritzt sein Blut

    23. März – Anschwärzen

    Am 16. März erhielt der Rektor der RANCHiGS eine „Darlegung“ der Staatsanwaltschaft, in der es hieß, dass die Studienpläne unserer Fakultät Liberal Arts der Verfassung und „den Strategieprinzipien der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation“ widersprächen und „auf eine Zerstörung der traditionellen Werte der russischen Gesellschaft und auf eine Verfälschung der Geschichte“ abzielten. In der Schaninka traf genau dasselbe Dokument der Staatsanwaltschaft ein. 

    An den Universitäten finden Versammlungen mit Studierenden statt, bei denen Lehrende und Beamte „in Zivil“ erklären, worauf jetzt zu achten sei. Auch bei uns gab es für die Studierendenvertreter Vorträge zum Thema „geopolitische Aufklärung der studentischen Jugend und Orientierung bei aktuellen Herausforderungen und Gefahren im Bereich der Informationssicherheit“. Sofort spülte es jene Mitarbeiter nach oben und an die Macht, die schon früher versucht hatten, die Studierenden unter Druck zu setzen und zu manipulieren, die aber in der Minderheit gewesen waren. Natürlich ließen die Studierenden dem Medium Doxa Zitate aus dieser Versammlung zukommen, die besagten, dass die Leitung der RANCHiGS den russischen Präsidenten rückhaltlos unterstütze und man wachsam sein solle vor dem Hintergrund des Cyberkriegs und der Verbreitung von Russophobie. Was so viel heißt wie: Man soll die Lehrenden anschwärzen. 

    Schon am nächsten Tag kamen E-Mails von Studenten. Das sind natürlich historische Dokumente. Ich speichere Screenshots davon.

    „Ich schreibe Ihnen, weil ich Sie warnen möchte: Eine Studentin am Institut für Soziologie will Beschwerde einreichen (Denunziation) über Ihre Haltung und darüber, was Sie in den Vorlesungen vermitteln. Ich weiß nicht, ob sie es durchzieht, aber ich möchte Sie auf jeden Fall wissen lassen, dass es unter den Studierenden schon welche gibt, die zu solchen Denunziationen bereit sind.“ 

    Sofort spült es jene Mitarbeiter nach oben und an die Macht, die schon früher versucht hatten, die Studierenden unter Druck zu setzen und zu manipulieren, aber in der Minderheit gewesen waren

    27. März – Gehen oder Bleiben

    Als ich mir einen Hund anschaffte, war mir absolut bewusst, was das für eine Verantwortung ist. 

    Ich holte Ingrid zu mir, als ich ein stabiles Leben und Pläne hatte: Datscha, Auto, verlässliche Arbeit – und das jahrein, jahraus. Wir gingen täglich zwei Stunden spazieren – eine Stunde morgens, eine Stunde abends. Ich konnte meinem Hund ein schönes, glückliches Leben bieten. Jetzt kann ich das nicht mehr. Wahrscheinlich muss ich in den nächsten Monaten (Wochen?) doch noch das Land verlassen. Natürlich nur, wenn die Grenzen offen bleiben und sofern kein Wunder geschieht.

    Das bedeutet nicht nur, dass ich Ingrid wahrscheinlich im Gepäckraum eines Flugzeugs unterbringen werde müssen, sondern ich werde sie auch in meinem Vagabundenleben hinter mir herschleifen müssen. Arbeit und Wohnung werden wir nicht mehr haben.

    Ich beantrage die Dokumente, bespreche mich mit allen. Bloß zuhause ist alles wie immer. Mein jüngerer Sohn und ich wohnen zu zweit in der Wohnung, in der sich nichts verändert hat, nur viel leiser ist es jetzt. Meine fünfzig Zimmerpflanzen stehen an ihren Plätzen, im Frühling steht das große Umtopfen auf dem Plan. Kescha, der Gecko, raschelt wie immer nachts in seinem Terrarium. Wieso noch mal wegfahren? Und wohin?

    Wiener Juden in den 1930ern. Acht-Zimmer-Wohnungen, Klaviere, Schulkinder, Spaziergänge in den Parks. Auch sie sagten: Wo sollen wir denn hin? Unser gewohntes Leben passiert hier. Wie sollen wir das alles zurücklassen? Dann war es zu spät. Im Versuch zu bleiben, wollen wir die Vergangenheit festhalten, denn die Gegenwart ist zu schrecklich, und eine Zukunft gibt es nicht.

    Wir bleiben nicht lange. Nur ein paar Monate. Wir warten ab und kommen zurück. Die nächste Falle.

    Die Russen flohen nach der Revolution ebenfalls, nach Harbin, Konstantinopel, Prag, Belgrad, Paris, Berlin – um abzuwarten. Sie lebten jahrzehntelang ein temporäres Leben und starben als Fremde. Wieso sollte es diesmal anders sein?

    Andererseits, wie können wir erkennen, dass das auch mit uns passiert? So richtig echt? Wenediktow hat kürzlich irgendwo auf YouTube gesagt: „Im Geschichtsbuch zu leben ist eine Katastrophe.“ Es passiert was, etwas Unsichtbares, Unhörbares, Ungreifbares. Du klappst den Laptop zu – und weg ist es. Aber davon, dass ich meinen Laptop zuklappe, hören die Menschen in Mariupol nicht auf zu sterben, das Gericht in Twer erstarrt nicht wie ein Meereswesen und erklärt Facebook so oder so für „extremistisch“. 

    Kürzlich war ich im Einkaufszentrum Afimall. Manche Geschäfte sind wirklich geschlossen. Aber generell ist die Stimmung nicht gedrückt. Wäre ich da aus meinem normalen friedlichen Leben hineingestellt und gefragt worden: „Was stimmt hier nicht?“ – ich hätte es nicht sofort bemerkt. Die Leute flanieren, shoppen, lachen, essen Eis. Musik spielt. Alles wie immer. Mir wurde ganz anders: Bin ich verrückt? Wieso habe ich mein Kind weggeschafft und ihm Wohnung, Studium und Freunde weggenommen? Was soll das, meinen zweiten Sohn mitten im Schuljahr zu verschleppen? Sieh mal, ist doch alles in bester Ordnung, nichts anders als sonst? Ich bin die einzige, die herumschleicht wie ein Geist und den Leuten ins Gesicht schreien will: „Versteht ihr nicht?! Wisst ihr nicht, was da läuft?!“

    Am Morgen war ich mit dem Hund draußen und traf einen Jungen aus dem Nachbarhaus, den Sohn eines berühmten Rockmusikers, mit seinem Mops. „Oh“, sage ich, „ihr seid noch da?“ (Er hatte mal seine israelische Staatsbürgerschaft erwähnt.) „Wissen Sie, ich bin Banker, da ist in Israel die Konkurrenz sehr hoch, das ist mir zu riskant. Ich stecke mir lieber ein Z ans Revers, wenn’s sein muss, aber sonst treib ich keinen Aufwand.“ Noch hat ihn niemand dazu aufgefordert, und vielleicht wird das auch niemand tun, aber mental hat er seine Entscheidung schon getroffen! Kürzlich hat eine Bekannte zu meiner Freundin gesagt: „Ist mir scheißegal. Was ich denke, geht keinen was an, und wenn ich ein Z malen soll, mach ich das eben.“ Sie werden Zs malen. Und sich Zs ans Revers stecken.

    Alles wie immer. Mir wurde ganz anders: Bin ich verrückt? Ich bin die einzige, die herumschleicht wie ein Geist und den Leuten ins Gesicht schreien will: ‚Versteht ihr nicht?! Wisst ihr nicht, was da läuft?!‘

    28. März – Camouflage

    Ich wohne neben der Frunse-Militärakademie und gehe jeden Tag mit meinem Hund daran vorbei. Im Februar/März ist dreimal wöchentlich morgens die Durchfahrt über das Dewitschje-Feld gesperrt: Marschkolonnen proben für die Parade zum 9. Mai. Mit Blasorchester, Trommeln, roten Flaggen. Das massive Gebäude der Akademie ziert ein Turmsockel, auf dem ein Schützenpanzer steht und in dem mit monumentaler Schrift ein Stalin-Zitat eingemeißelt ist – ohne Namenszeichen, als wäre es eine Volksweisheit: „Kein Fußbreit fremder Erde wollen wir, aber auch kein Handbreit unseres Bodens geben wir her.“

    Da marschieren sie also mit roten Flaggen unter diesem Schriftzug. In den Pausen sitzen sie im Park verstreut auf den Bänken und tippen in ihre Handys, kaufen sich was im Supermarkt Pjatjorotschka, schlendern durch die Alleen. Das ganze Viertel ist in Camouflage. Und ich gehe immer wieder an ihnen vorbei. Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie Angst davor haben, in die Ukraine zu müssen? Denken sie sich überhaupt irgendwas? Wollen sie töten? Kann ein Mensch töten wollen? Auf Telegram lese ich: das Theater in Mariupol, das zerstörte Charkow, Irpen, Sumy, Nikolajew, Cherson. Kein Fußbreit fremder Erde wollen wir.

    Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie Angst davor haben, in die Ukraine zu müssen? Denken sie sich überhaupt irgendwas? Wollen sie töten? Kann ein Mensch töten wollen?

    30. März – Goliaths Sieg

    Letzten Herbst habe ich meinen Journalismus-Studenten zum ersten Mal eine Vorlesung über Dissidenten gehalten. Am 24. Februar 2022 musste ich natürlich sofort an den 21. August 1968 denken, daran, was meine ältere Freundin Lena Dorman, die Tochter der Dissidenten Veronika Turkina und Juri Schtein, erzählt hat. Wie sie und ihre Mutter da gerade in der Tschechoslowakei waren, wie sie weinten vor Scham und wie schlimm es war, nach Hause zu fahren, wie die Tschechen sie trösteten: „Wir wissen ja, dass das nicht ihr seid.“ Und weiter Panzer, Panzer, Panzer.

    Das war für mich eine sagenhafte, fast mythische Geschichte. Die ich immer als Sieg Davids über Goliath verstand, die davon erzählt, wie es nach der finstersten Finsternis wieder Licht wird, wenn man sich nur nicht von seinem Weg abbringen lässt: Die Gefängnistore öffnen sich, die Eisernen Vorhänge und Berliner Mauern fallen, und nur Brodsky will nicht zurück nach Hause.

    All diese Jahre habe ich in der festen Überzeugung gelebt, dass das eine Geschichte mit Happy End ist und wir in der Zeit danach leben. Ein langweiliges Leben, ohne Heldentaten. Auf ihren Schultern. 

    Und plötzlich finde ich mich in einer Umarmung mit Lena Dormans Tochter Anja in Lenas Küche wieder. Wir zittern. Wir wischen uns nicht mal mehr die Tränen ab, lassen sie einfach laufen, und niemand achtet mehr darauf. Anja fliegt übermorgen mit ihren Kindern weg. Wir fragen einander immer wieder: „Wie nur? Wie konnte das passieren? Uns?! Und was ist es eigentlich, was da passiert ist? Hat es überhaupt einen Namen?“

    Und da wird mir klar, dass wir es noch übler erwischt haben als die Titanen. Mariupol, Wolnowacha, Irpen, Millionen Menschen ohne Dach über dem Kopf, Millionen Familien ohne Väter. Das ist das Fegefeuer, bei uns ist die Hölle. 

    Und sollte ich irgendwann einmal wieder irgendwelchen Studenten von Dissidenten erzählen, dann wird das ungefähr so klingen: „Für die damalige Generation war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei, die russischen Panzer in Prag so wie für euch die Bombardierung von Charkow. Nur dass damals etwas mehr als hundert Menschen ums Leben kamen und nichts zerstört wurde.“

    Am Ende hat also doch Goliath gesiegt.

    Wir wischen uns nicht mal mehr die Tränen ab, lassen sie einfach laufen, und niemand achtet mehr darauf. ‚Wie nur? Wie konnte das passieren? Uns?! Und was ist es eigentlich, was da passiert ist? Hat es überhaupt einen Namen?‘

    1. April – Steh auf und geh! Ertrag es nicht!

    „Lass alles hier und folge mir.“ „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen.“ „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg Deine Gebote nicht vor mir …“

    Nicht, dass ich früher nicht gewusst hätte, dass einem letztlich nur die Hoffnung auf Gott bleibt und nicht „auf die Fürsten, auf die Söhne der Menschen“. Oder gar keine Hoffnung – auch eine Option. Nackt kommt ihr auf diese Welt und nackt geht ihr. Doch nie zuvor habe ich mich so als Jüdin empfunden wie jetzt. Ich höre die Stimmen meiner Großmütter und meiner Urgroßväter, die Rabbiner waren und mich jetzt anfeuern: Auf und los! Ertrag es nicht! Sieh nicht zurück! Weine, heule, beiß die Zähne zusammen und renn! Und mein schweigsamer griechischer Großvater nickt zustimmend: Fremdling wurdest du getauft – geh und erfüll deine Vorsehung, ein Engel behüte deinen Weg.

    Ich stehe auf und gehe. Ich gehe durch mein Zuhause, in dem ich 15 Jahre gewohnt habe, und streiche über die Wände. Ich lege mich auf meinen schönen Holzfußboden und liege da, als wäre er die Erde, die mir Kraft gibt. Ich sortiere meine Tischtücher und Geschirrtücher im Schrank, stelle Tassen und Teller um – die haben wir aus Korfu mitgebracht, und das ist polnisches Porzellan, und das meine zwei liebsten Weingläser aus der Glasbläserei im spanischen Biota. Ich lege mich auf mein Bett, mal der Länge nach, mal quer, rolle mich bis zur Nasenspitze in meine Decke ein – wie viel Kummer habe ich da hineingeweint, wie oft eine Bronchitis und Ohrenschmerzen, wie viele Migränen und Kater darin auskuriert. Nein, nein, ihr sollt nicht Schätze sammeln auf Erden, bindet euch nicht, denn das ist kein Anker, sondern ein Wackerstein um den Hals, ein Betonklotz am Bein – den man sprengen, absäbeln, zerhacken, zerreißen muss.

    Meine Heimat – das ist der Sommer im Dorf auf der Datscha. Das heiße Flimmern über den Wiesen, die würzige, von Kräuterduft gesättigte Luft, der staubige Wegerich entlang der Feldwege und die Kletten an den kurzen Hosen. Letzten Sommer fuhr ich nach dem Lockdown in mein Dorf und lag jeden Tag im Gras am Teich. 

    Keine Spuren der Zeit – keine Stromleitungen, kein Straßenlärm, kein Müll. Ich lag da und dachte darüber nach, dass sich hier absolut nichts verändert hatte seit … seit wem eigentlich? Welche Stämme lebten früher auf dem Gebiet des heutigen Zentralrussland, sagen wir mal zwischen Oka und Dnjepr?

    Seit ich 13, 16, 25 bin, war hier der Juli immer gleich – eine schon trockene Wiese voll fliederfarbener Blümchen, ein Birkenhain, eine staubige Straße den Feldrain entlang, weiter hinten Kiefern, dicke und dünne Libellen. 

    Jetzt werde ich nicht mehr hier sein. Der Teich, die Wiese, die Walderdbeeren, die Kornblumen und die Rufe der Vögel hoch am Himmel werden wiederkommen. Auf meiner Terrasse wird meine alte Mama abends die orange Lampe anzünden, und die Nachtfalter werden an die Fenster klopfen. 

    Am 7. April hat Xenia Lutschenko Russland über die Grenze Iwan-Gorod/Narwa nach Estland verlassen.

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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  • Krisendämmerung

    Krisendämmerung

    Bis dato war Swetlana Tichanowskaja die unbestrittene Anführerin einer neuen belarussischen Opposition, die sich im Zuge der Proteste des Jahres 2020 in Belarus und in einer neu politisierten Diaspora gebildet hat. Eine Opposition, die gezwungenermaßen aus dem Exil heraus versucht, die Protestbewegung am Leben zu erhalten und weiterzuentwickeln. Seit diesem Jahr formiert sich allerdings eine Gruppe von belarussischen Oppositionellen, die sich immer mehr als Kritiker von Tichanowskajas Politik hervortut. Dazu gehört mitunter auch Veronika Zepkalo, die zusammen mit Tichanowskaja und der aktuell inhaftierten Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 zum Gesicht der neuen Opposition wurde. In Berlin fand vor zwei Wochen das Forum der demokratischen Kräfte von Belarus statt, auf dem sich besagte Oppositionelle unter Führung von Zepkalo und ihrem Mann Waleri trafen und neue Taktiken in Bezug auf die Protestbewegung debattierten. Waleri wollte 2020 als Präsidentschaftskandidat zu den damaligen Wahlen antreten, war aber aus Angst vor einer Festnahme ins Exil gegangen.

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat das Treffen und die Kritik an Tichanowskaja in seinem Beitrag für das Online-Medium Naviny analysiert. Und stellt sich dabei die Fragen: Wie ernst ist der Versuch, der Oppositionsführerin Konkurrenz zu machen? Verfällt die neue belarussische Opposition in die alten Marotten der Zwietracht? Und wie werden die Belarussen im Land auf mögliche Veränderungen der Oppositionsführung reagieren?

    Unter den Masterminds der neuen Oppositionsausrichtung stach das Ehepaar Zepkalo besonders hervor – Waleri und Veronika. Im Sommer 2020 bildete Veronika zusammen mit Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa ein eindrucksvolles Politikerinnen-Trio, das in ganz Belarus gut besuchte Kundgebungen abhielt und das auch Menschen, die bisher wenig für Politik übrig hatten, mit der Idee des Wandels begeisterte. 

    Jetzt sitzt Kolesnikowa in Haft, und ihre beiden Kolleginnen scheinen auf keinen gemeinsamen Nenner zu kommen. Das schöne Bild von 2020 ist zerbröckelt.

    In die Fußstapfen der alten Opposition?

    Der Zerfall dieses Bildes ist symptomatisch, und er spiegelt tiefgreifendere Prozesse wider. Und dabei geht es ganz bestimmt nicht nur um persönliche Ambitionen. Was heute in der neuen Opposition passiert, die aus der Protestwelle 2020 hervorging, erinnert schmerzlich an das, was die Opposition alten Typs während Lukaschenkos jahrelanger Amtszeit lahmgelegt hat.

    Da sie keine siegreiche Strategie hatte (die es möglicherweise gar nicht geben konnte, weil sich der erste Präsident auf eine recht breite Wählermasse stützte) und sie sich immer wieder an dem Bollwerk des Autoritarismus die Stirn blutig schlug, verlegte die Opposition die Hauptanstrengungen allmählich darauf, interne Reibereien auszufechten. Man stritt um die äußerst begrenzten finanziellen Ressourcen. Ihre Kräfte zersplitterten, die eilig geschmiedeten Koalitionen zerfielen. Gegenseitig warf man sich einen „Kuschelkurs“ gegenüber dem Regime vor, die anderen schossen zurück: „Und ihr seid Sektierer, abgekoppelt von den Massen!“ Und so fort in diesem Stil. 

    Das Regime rieb sich die Hände. Die Geheimdienste, davon kann man ausgehen, schliefen auch nicht und gossen noch Öl ins Feuer dieser Zwiste. Gegenseitige Beschuldigungen, für den KGB zu arbeiten, waren in den gespaltenen Oppositionskreisen ein Dauerbrenner.

    Jetzt kann sich die belarussische Staatsmacht abermals ins Fäustchen lachen: Es läuft anscheinend. Zudem hat auch der Kreml Grund zur Freude, der vermutlich ebenfalls seine speziellen Methoden hat, die neue belarussische Opposition zu stören. 

    Die alte Opposition hat mit ihren inneren Streitigkeiten einen bedeutenden Teil ihrer Wählerschaft verprellt. Durchschnittsbürger kommentierten diese Auseinandersetzung ungefähr so: Klärt mal untereinander die Fronten, schließt euch zusammen und legt ein klares gemeinsames Programm vor – und dann ruft uns zum Kampf für eine strahlende Zukunft.

    Wenn jetzt ein Kräftemessen zwischen den Gruppierungen der Opposition 2.0 entbrennt, könnte die Reaktion vieler Belarussen ähnlich ausfallen. Die Gesellschaft neigt nach der Niederschlagung des friedlichen Aufstands 2020 – angesichts anhaltender Repressionen und stalinistischer Haftstrafen für die Protagonisten des Protests und unter dem Totalitarismus des Regimes – ohnehin zu Apathie und Resignation, zu einem Gefühl der Aussichtslosigkeit. Die in der Soziologie „neutral“ genannte Bevölkerungsschicht wächst, und das Regime will diese jetzt auf seine Seite ziehen. Nicht umsonst betont Lukaschenko die sogenannte Arbeit mit der Bevölkerung und fordert von der Vertikalen Sensibilität für ihre alltäglichen Bedürfnisse zu demonstrieren. 

    Tichanowskaja in der Rolle der englischen Königin

    Auf dem Forum in Berlin (wo sich Beobachtern zufolge so einige Randfiguren tummelten) wurden Tichanowskaja und ein paar Leute aus ihrem Umfeld gnadenlos zur Schnecke gemacht. 

    Stimmt, sie und ihr Team haben eine Reihe schwerwiegender Fehler gemacht, wurden oft von den Ereignissen überholt. Zum Beispiel zündete das Ultimatum nicht, das Tichanowskaja im Oktober 2020 der Staatsmacht stellte, der Versuch eines Generalstreiks geriet ins Stocken, weil die Protestwelle bereits abebbte und das Regime schon viele eingeschüchtert hatte. Im Frühjahr 2021 hing eine unrealistische Idee in der Luft, sich mit internationaler Vermittlung auf einen Dialog mit der Regierung einzulassen. 

    Auch die für das Referendum im Februar 2022 vorgestellte „Strategie der zwei Kreuzchen“ wirkte von Haus aus schwach. Es gab am 27. Februar zwar Demonstrationen, aber aus einem anderen Grund – die Menschen protestierten gegen den Krieg in der Ukraine, der ein paar Tage zuvor ausgebrochen war. 

    Tichanowskajas Gegner werfen ihr und ihren Anhängern vor, kontaktscheu zu sein, sich abzuschotten und bei der Organisation des Kampfes gegen das Regime einen Monopolstatus zu beanspruchen.

    Gleichzeitig wissen auch Tichanowskajas Widersacher, dass sie seit den Wahlen 2020 über ein großes Kapital in Form von Wahlunterstützern verfügt. Nach Meinung vieler Belarussen hat sie damals de facto gewonnen. Sie ist es, die in demokratischen Ländern und internationalen Organisationen auf höchster Ebene empfangen wird. Diese Legitimität scheint jedoch allmählich zu erodieren, ein Teil ihrer früheren Unterstützer ist abgekühlt und enttäuscht. 

    Wadim Prokopjew, einer der leidenschaftlichsten Regimekritiker, schlug auf dem Berliner Forum für Tichanowskaja die Rolle der englischen Königin vor. Mit einem „Premier Churchill“ an ihrer Seite. Soll heißen, einem radikaleren, eigentlich einem „Kriegsminister (wir leben in einer Zeit des Krieges)“. 

    Zugleich betonen die Initiatoren des Forums demokratischer Kräfte ihre Offenheit: Wir haben ja auch Tichanowskaja eingeladen, aber sie ist nicht gekommen. Der Subtext ist klar: Seht doch selbst, wer für Vereinigung ist und wer für ein Monopol der eigenen Struktur.

    De facto sieht die Sache aber so aus, dass man Tichanowskaja und andere Mitglieder ihres Teams lediglich dazu einlädt, sich einer alternativen Initiative anzuschließen. Und dass eine Person, die in unabhängigen Medien als nationale demokratische Leitfigur gehandelt wird, sich darauf nicht einlässt, überrascht wenig.

    Welcher nationalen Befreiungsbewegung soll man sich anschließen?

    Indessen versucht Tichanowskajas Büro in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Antikrisen-Management von Pawel Latuschko (mit dem jedoch ebenfalls keine absolute Harmonie herrscht), die Initiative und Führung im Lager der Regimegegner zu bewahren.

    In diesem Lager haben sie verstanden, dass es wirklich an der Zeit ist, die Strategie zu ändern, ideologische Positionen und geopolitische Prioritäten klarer zu formulieren und entschlossener zu handeln. Es wurde angedacht, im August in Vilnius einen Kongress der Belarussen zu veranstalten und eine nationale Befreiungsbewegung zu gründen. Außerdem eine Art alternatives Machtorgan zu bilden (manche Journalisten nennen das Exil- oder Schattenregierung, auch wenn diese Begriffe Tichanowskaja und ihren Anhängern wohl kaum gefallen). 

    Ähnliche Ideen, vor allem die Gründung einer nationalen Befreiungsbewegung, formuliert, nur radikaler verpackt, auch das Forum demokratischer Kräfte. 

    Es ist höchst zweifelhaft, ob diese im Grunde konkurrierenden Formationen in absehbarer Zeit (oder überhaupt irgendwann) in der Lage sein werden, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden. Es mangelt eindeutig an gegenseitigem Vertrauen. Westliche Politiker werden zweifellos den Kontakt zu Tichanowskaja bevorzugen (und jene, die sich schon lange mit Belarus befassen, leise seufzen: Das kennen wir alles schon, wieder eine Runde Tauziehen untereinander). 

    Wie werden die Belarussen im Land reagieren?

    Eine andere Frage ist, wie diese neuen Initiativen bei den Belarussen ankommen, die im Land geblieben sind, in der Höhle des Löwen. Das Bedürfnis nach Veränderungen ist bei aller Brutalität des Regimes nicht verschwunden. Viele können die drückende Atmosphäre in einem Land, in dem Rechte und Freiheiten mitsamt der Wurzel vernichtet werden, nicht mehr ertragen.

    Zudem geht aus soziologischen Studien hervor, dass sich die beiden Pole – Lukaschenkos Kernwählerschaft und seine erbitterten Gegner – radikalisieren, der Hass aufeinander wird immer größer. Aber die meisten Leute, die eine Veränderung herbeisehnen, haben eine Heidenangst davor, sich einer Bewegung mit radikalen Losungen anzuschließen.

    Momentan hat Lukaschenko die innenpolitische Situation eisern im Griff. Andererseits bergen die Beteiligung an der Aggression gegen die Ukraine, die Sanktionen, die die Wirtschaft zermürben, und eine Reihe anderer Faktoren für die Staatsmacht große Risiken. Noch kann sich das Regime jedoch im Sattel halten. Dem Präsidenten auf den Zahn fühlen, das kann eher Wladimir Putin als ins Exil gezwungene politische Gegner.

    Jede Strategie wird erst dann funktionieren, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt ist. So stehen heute jene, die eine führende Rolle im Kampf gegen Lukaschenkos Regierung einnehmen wollen, vor höllisch undankbaren, titanisch schweren Aufgaben. Und besonders schwer werden diese zu bewältigen sein, wenn man internen Querelen freien Lauf lässt.

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    „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    Seit dem Eurovision Song Contest 2020 sind Little Big auch außerhalb Russlands populär: Little Big sollte in dem Jahr Russland vertreten mit dem Song Uno. Der ESC 2020 fand nicht statt, wegen Corona, Uno eroberte dennoch die europäischen Zuschauerherzen und wurde zum meistgeklickten Video auf dem offiziellen ESC-Youtube-Kanal mit mehr als 250 Millionen Aufrufen. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit auch im Ausland, als Little Big am 24. Juni aus dem Exil in den USA heraus ihren neuesten Clip veröffentlichten: Generation Cancellation, ein Antikriegssong: „War is not over. Stop war in Ukraine. Stop wars worldwide. No one deserves war“ haben sie auf Youtube unter das Video geschrieben.

    Am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hatte Little Big-Sänger Ilja Prussikin auf seinem Instagram-Account folgendes Bild gepostet: ein schwarzes Quadrat, darauf in weißen Lettern die Aufschrift No War, Нет Войне. Im März hat die Band Russland schließlich verlassen, über Dubai sind sie nach Los Angeles geflogen. 

    Im aktuellen Videoclip finden Little Big nun plakative Antikriegsbilder: Ein Kind, das einen Hotdog überreicht bekommt – mit Rakete statt Würstchen. Der Nachrichtensprecher der Sendung Fake News sitzt auf der Toilette – deren Abwasser direkt in die Köpfe der Zuschauer gespült wird. 
    Auch andere russische Bands und Musiker protestieren gegen Russlands Krieg in der Ukraine: Der Hiphop-Star Oxxxymiron etwa hat Russland ebenfalls verlassen. Gegen Juri Schewtschuk, berühmter Sänger der Band DDT, wurde nach einem Auftritt in Ufa außerdem ein Verfahren eingeleitet wegen „Diskreditierung der russischen Armee“, was auch ein Konzertverbot mit sich bringt.

    Das unabhängige russische Online-Medium Holod hat mit Ilja Prussikin, dem Sänger von Little Big, gesprochen: über Kritik an dem Clip von russischer wie ukrainischer Seite und darüber, ob man Kunst und Politik überhaupt voneinander trennen kann und soll.

    Holod: Hattet ihr die Wahl, ob ihr in Russland bleibt oder nicht?

    Ilja Prussikin: Natürlich nicht.
     
    Habt ihr für euer Anti-Kriegsposting [am 24. Februar auf Instagram dek] von der Regierung eins auf den Deckel gekriegt?

    Es gab Anrufe, Andeutungen. Vielleicht waren es nur Pranks, gab es damals viele, aber sie sagten: „Löschen.“ Ich sagte, ich lösche es nicht.
     
    Hattet ihr Zweifel wegen des Postings?

    Nein. Viele wollen jetzt behaupten, der Krieg in der Ukraine sei nicht so eindeutig, aber WTF, was heißt da nicht eindeutig?! Die Regierung der Russischen Föderation hat beschlossen, ein souveränes Land anzugreifen. In der Propaganda heißt es immer: „Vielleicht wollte die Ukraine uns angreifen?“ Hätten sie uns angegriffen, hätten wir uns verteidigt. Aber das hier ist eine komplett andere Situation. 
     
    Am 24. Juni habt ihr den Clip zu eurem Song Generation Cancellation veröffentlicht. Hattet ihr die Idee dazu sofort nach Kriegsbeginn?

    Ich glaube, wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen und hatten auch gleich die Idee zu dem Clip. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen. Im März landeten wir in den USA und haben im Grunde sofort den Clip gedreht. 

    Wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen

    Er kam erst jetzt raus, weil die Grafik Russen gemacht haben, die sich jetzt über die ganze Welt verteilt haben. Für Sachen, die normalerweise einen Tag dauern, haben wir zwei Wochen gebraucht.       
     

     
    Gab es nach dem Clip Drohungen, Bot-Angriffe, Anrufe bei euren Verwandten? 

    Komischerweise nicht. Nur die Kremlbots haben alle Fotos unserer Vokalistin Sonja Tajurskaja [auf Instagram] gemeldet. Das ist ihre Lieblingsmethode.  
    Und die Medien haben das Thema breitgetreten, ob man uns die Staatsbürgerschaft entziehen soll (gemeint ist der Vorschlag von Produzent Iossif Prigoshin, den Bandmitgliedern von Little Big die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen – Anm. Holod). 

    Wenn ich in Amerika bin, bin ich schon ein ‚ausländischer Agent‘

    Dann sagte Prigoshin, er habe das nie gesagt, das sei eine Erfindung der Medien. Von Galkin und „ausländischen Agenten“ haben sie auch geschrieben, so: „Sie hassen ja ihr Heimatland, nehmen wir ihnen doch die Staatsbürgerschaft weg!“ Das können die Behörden, wissen wir doch. Sie haben ja auch diesen Scheißparagrafen [mit den „ausländischen Agenten“] gemacht. Was soll der Dreck? Heute kann man schon wegen „Einflüssen aus dem Ausland“ als „ausländischer Agent“ gelten. Wenn ich also in Amerika bin, bin ich schon ein „ausländischer Agent“!
     
    Haben euch manche der Kollegen, die in Russland geblieben sind, Respekt ausgedrückt für euren Clip und eure Ausreise?

    Ja, sehr viele. Gott sei Dank hab ich keinen einzigen Bekannten oder Freund, der geschrieben hätte: „Hör mal, Alter, das ist doch kein Krieg, das ist eine militärische Spezialoperation.“

    Krieg ist ein Horror, der mit nichts zu rechtfertigen ist. Ich habe schon hundertmal gesagt, ich bin der reinste Humanist. Da ist Gott, der ist ephemer, und da ist das menschliche Leben – das ist real. Und es gibt nichts Wichtigeres und nichts Heiligeres. Meine Freunde sind derselben Meinung.

    Die Ukrainer haben euren Clip sehr kritisiert. Es gab ein langes Video, in dem es hieß, der Clip zu Generation Cancellation sei  zu unkonkret.

    Ein Clip ist ein Kunstwerk. Es gibt etwas, das nennt man Kunst. Da gibt es zum Beispiel ein Bild, und jeder sieht darin, was er sehen will. Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder? Wir haben uns heute diese Kritik angesehen, der Autor hat sich nicht mal die Mühe gemacht, unsere Pressetexte zu lesen und alles, was wir über den Krieg sagen.         

    Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder?

    Wir positionieren den Clip als Manifest gegen den Krieg. Wir wollen die ganze Welt erreichen, weil der Krieg in der Ukraine nicht der einzige ist. Und unsere Position zu diesem Krieg, den die Regierung der RF angefangen hat, steht in den Begleittexten, in den Pressemitteilungen und so weiter. Das eine ist die Kunst, das andere das politische Statement. Es wäre ja banal, zu singen, dass Putin den Krieg begonnen hat. Das wären Tschastuschki. 

    Im Clip gibt es eine Szene über Fake News, die als Scheiße in die Köpfe gepumpt werden. Der Autor in dem Video fragt: „Wieso steht das nicht auf Russisch da?“ Ja, weil das doch keiner auf der Welt verstehen würde, außer dir und uns. Er produziert selber Fake News, stellt eine erfundene Bedeutung als real hin, aber wir haben es anders gemeint. 

    Russische Musikkritiker haben außerdem geschrieben, dass ihr mit dem Weißen Haus am Ende des Clips andeuten wollt, dass Amerika an allem schuld sei. 

    Google mal das Weiße Haus und google mal Putins Palast! Im Clip geht es um Putins Palast. Und überhaupt, Kunst darf nicht konkret sein, dafür ist es ja Kunst.

    Das ist übrigens der häufigste Vorwurf von Kritikern und Publikum an Künstler – ihr trennt angeblich die Politik von der Kunst. 

    Wir haben ein Manifest gegen den Krieg gemacht. Ist es bedeutungslos, nur weil wir keine Namen nennen, keine Beteiligten, keine Parolen? Das ist doch beknackt! Das ist dann keine Kunst, sondern eine Ansammlung von Fakten. Wozu soll ich dann noch Musik machen, da schreib ich doch lieber ein Buch darüber, wie das alles passiert ist, und wer ein Arschloch ist und wer die Guten sind? Deswegen haben wir dieses Manifest gegen den Krieg gemacht und unsere Position in allen Medien – in ukrainischen, russischen, amerikanischen, englischen – ganz klar formuliert.   

    Wenn einer sagt: ‚Das ist keine Kunst, das ist Scheiße‘ – kein Problem

    Ich will es gar nicht allen recht machen. Es ging mir [mit dem Clip] nicht darum, dass mich die Ukrainer lieb haben. Mir ist schon klar, dass sie mir böse sein werden, weil ich nicht genug getan habe. Ich werde ihnen das auch niemals vorwerfen, denn sie werden mit Raketen beschossen. Aber ich werde so handeln und so kämpfen, wie ich es für richtig halte. Wenn sich irgendwelche Musiker nicht zum Krieg äußern, dann hab ich deswegen nichts gegen sie. Ich habe mich geäußert! Ich habe mich positioniert und habe Kunst gemacht. Wenn einer sagt: „Das ist keine Kunst, das ist Scheiße“ – kein Problem. Tja, ich bin Künstler, ich sehe das so.  

    Wenn wir schon von Kunst und Krieg sprechen: Manche ignorieren, was derzeit passiert, gar nicht mal aus politischen Überlegungen oder aus Angst, sondern weil sie finden, dass es ohnehin schon genug schweren Content gibt.

    Ich kann keinem was vorwerfen, das fände ich schlechten Stil. Ich mag es selber nicht, wenn mir jemand sagt, dass ich dort oder da zu wenig den Mund aufgemacht habe. Ich weiß, was ich tun will und wie, und ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt. Es steht mir doch nicht zu, jemandem vorzuschreiben, ob er sich äußert oder nicht. Ich hab doch nicht das Recht, mich in das Leben eines anderen Menschen einzumischen. Genauso wie Putin und die Regierung der RF nicht das Recht haben, sich in die Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen.

    Und was soll mit Künstlern passieren, die in Z-Konzerten für den Krieg auftreten?

    Von denen will ich nichts wissen, ich will sie und das, was sie machen, nicht sehen. 

    Vielleicht sind auch manche von Little Big enttäuscht, weil ihr nicht das sagt, was sie sich wünschen würden?

    Die Leute sind eher enttäuscht, weil sie glauben, wir haben die Hosen voll davor, im Clip konkret den Krieg in der Ukraine zu nennen. Alter, wir haben ihn ja konkret genannt [im Pressetext]. Sollen wir das im Clip überall drunter schreiben? Versteht ihr überhaupt irgendwas von Kunst?

    Ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt

    Ich glaube, die Enttäuschung hat einen anderen Grund, da geht es nicht um unsere Haltung. Unsere Haltung ist eindeutig und klar. Und sie ist überall, wir verstecken sie nicht, sie ist in allen Medien frei zugänglich, sogar die beschissenen Propagandamedien haben geschrieben, dass wir gegen den Krieg und gegen die Regierung der RF auftreten.  

    Macht ihr noch weitere Antikriegsvideos und Manifeste?

    Wir haben einen Song, der heißt Refugees, den haben wir so Anfang April aufgenommen. Da geht es um Flüchtlinge. Ein sehr trauriger Song, richtig Abfuck. Aber das wird keiner unserer klassischen Tracks, sondern was anderes.   

    Seid ihr im Westen irgendwie auf Ablehnung gestoßen?

    Ich weiß nicht, wie es in Europa ist, in Amerika gar nicht. Dort cancelt niemand russische Kultur. In New York laufen Theaterstücke mit Baryschnikow und einem ukrainischen Regisseur. Allen ist klar, dass die Russen nicht Putin sind. Es gibt natürlich Leute, die den Krieg unterstützen, aber das ist deren Scheißproblem, nicht unseres.  

    Fühlt ihr euch verantwortlich für das, was passiert?

    Ich fühle mich verantwortlich dafür, dass wir alle Kriege ignoriert haben und dachten: „Gehen halt irgendwelche Libyer drauf, na und.“ Aber warum sollte ich die Verantwortung übernehmen für Leute, die keine Ahnung haben, was sie mit dem Land machen sollen, die stehlen und rauben? Ich kenne keinen einzigen Menschen, der Putin und Einiges Russland wählen würde. Auch ich habe meine Pflicht erfüllt – ich habe sie nicht gewählt. 

    In diesem Kontext hat man euch an eure alten Video-Blogs im Rahmen des Projekts Danke, Eva! erinnert, das vom Kreml gesponsert wurde.

    Wir wussten das damals nicht [dass Danke, Eva! von der Regierung finanziert wurde]. Das lief nicht länger als ein Jahr und ich habe da die regierungskritische Gaffi-Gaf-Show gemacht. Juri Degtjarew (der Gründer von Danke, Eva! – Anm. Holod) ist ein genialer Verkäufer, der hat den Behörden diesen Scheiß angedreht, wo sie selbst gedisst werden. Weiß der Geier, wie er das geschafft hat. Wer glaubt, dass ich was im Auftrag der Regierung gemacht habe, braucht sich nur diese Videos anzusehen – dann haut es euch krass weg. Mehr gibt’s da nicht zu sagen. 

    Wollt ihr euch in Zukunft als Band aus Los Angeles positionieren?

    Wir sind Russen, daran gibt’s nichts zu rütteln. Auch wenn wir 300 Jahre hier leben – sollte es irgendwann ein krasses Mittel gegen Altwerden geben – sind wir immer noch Russen. Und ich liebe mein Land, ich liebe mein Zuhause, auch wenn ich den Staat hasse. Was soll man da machen! Damit müssen wir leben, mit dieser verfickten Scheiße!      

    Plant ihr euer Leben auch nur einen Monat voraus?

    Wir sind momentan einfach nur fertig. Wir wissen, dass wir ein neues Leben anfangen, dass wir nicht mehr so leicht zurück können. Ich glaube, in unserem Fall ist es unmöglich, irgendwas zu planen. Wir leben wie die Kinder. Wie nach der Uni, wo du dir denkst: „Was jetzt? Gehen wir halt ins Studio und nehmen was auf.“ So war meine Kindheit. Wir tun, was wir tun, und was kommt, das kommt. Nur so.

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  • Olaf Scholz in der Moskauer Metro

    Olaf Scholz in der Moskauer Metro

    Soziologe Grigori Judin hat schon vor dem 24. Februar 2022 vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gewarnt. In zahlreichen Interviews hat er an das Gewissen jedes Einzelnen appelliert, die Situation in Russland mit den Jahren 1938/39 in Deutschland verglichen und auch die Aussagekraft von Umfragen – angesichts massiver Repressionen – immer wieder kritisch hinterfragt.

    In diesem aktuellen Text reflektiert er über Schuld und Verantwortung – auch des Westens. Und sagt: „Hoffnung wird hier erst aufkeimen, wenn die Welt zugibt, dass Wladimir Putin und sein Krieg das unausweichliche Ergebnis der gesamten globalen Entwicklung der letzten zehn Jahre sind.“

    Judins Text entstand im Rahmen des Projektes Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren. Auf Russisch ist er auch bei Meduza erschienen.

    Grigori Judin über Schuld und Verantwortung – auch des Westens / Foto © Juri Tereschtschenko
    Grigori Judin über Schuld und Verantwortung – auch des Westens / Foto © Juri Tereschtschenko

    Ich stehe in einem modernen Wagen der Moskauer Metro und lese auf meinem Smartphone Prognosen von Militärexperten zum Kriegsverlauf. Da tritt ein junger Mann an mich heran und sagt verlegen „Danke“. Seit Kriegsbeginn passiert mir das regelmäßig.

    Ich bin Wissenschaftler, und mein Alltag spielt sich normalerweise zu Hause am Computer ab. Ich gehe nicht besonders viel raus, in den letzten Monaten noch weniger als sonst. Aber seit dieser Krieg herrscht, kommen ausnahmslos jeden Tag fremde Menschen auf mich zu und bedanken sich. Und zwar egal, wo ich mich aufhalte – ob in Moskau oder Wien, in Jerewan oder Berlin. Wofür sie sich bedanken? Schlicht und ergreifend dafür, dass ich mich gleich zu Beginn öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen habe.

    Da sind viele, die ihren gesunden Menschenverstand, ihr Mitgefühl nicht verloren haben

    Das Ganze fühlt sich seltsam an: Als wäre man Mitglied eines unsichtbaren Ordens, einer riesigen, lautlosen Widerstandsbewegung, die auf ihren Moment wartet. Unerwartet zeigt sich mir, was viele um mich herum nicht ahnen: dass sie nicht allein sind. Dass da viele sind, die ihren gesunden Menschenverstand, ihr Mitgefühl und das Verantwortungsbewusstsein für ihr Heimatland nicht verloren haben. Doch sie kommen einzeln auf mich zu, sagen das Wort „Hoffnung“ und gehen wieder weg, finster und resigniert.

    Ich kenne dieses Leiden nur zu gut – es heißt Atomisierung. Wenn zwischen uns alle Verbindungen gekappt sind, wenn man sich in jeder Runde dumm und ungelenk vorkommt, über „gefährliche Themen“ zu sprechen, wenn das einzige, was man über seine Nachbarn weiß, aus sozialen Umfragen kommt – dann fühlt man sich umgeben von einer feindlichen, abgestumpften und verbitterten Masse. Du kannst darin aufgehen und dich auf ihre Stärke stützen. Oder du kannst dich von ihr distanzieren und dir überlegen und kultiviert vorkommen. Du kannst allen Mut zusammennehmen und dich ihr widersetzen. Aber du kannst unmöglich mit ihr reden, ihr widersprechen. Sie wird dich sowieso unter Druck setzen. Wird heranrollen und dich bedrohen. Sie wirkt wie eine unbezwingbare Macht – obwohl es sie gar nicht gibt.

    Jeden Tag erreichen mich neue Nachrichten von Journalisten aus der ganzen Welt, die alle dasselbe wissen wollen: Wie kann es sein, dass über 80 Prozent der Russen diesen Krieg unterstützen? In ihrer Frage höre ich Erstaunen und Empörung: Sie sehen genau diese beängstigende Masse vor sich, brutale, grausame Russen, eine einzige Horde von Mördern, Dieben und Vergewaltigern. Ich fange an, eine Antwort ins Telefon zu tippen: „Wissen Sie, so funktioniert das nicht. Wenn Wladimir Putin am 24. Februar erklärt hätte, dass er aus wichtigen sicherheitspolitischen Erwägungen die Gebiete der DNR und LNR an die Ukraine zurückgibt, wäre die Zustimmung genauso hoch gewesen …“ Ich drücke dem Fremden die Hand, die er mir entgegenstreckt, und schaue mich im Wagen um, versuche unwillkürlich die aus der Ferne gestellte Frage des Journalisten auf die Passagiere zu projizieren.

    Ich möchte dem Journalisten gerne so antworten, dass er seinen Lesern nicht erklären muss: „Sehen Sie, die Russen sind eben ganz anders als wir.“ Denn das ist nicht wahr. Um zu verstehen, wie die Russen ticken, muss man sich nur anschauen, wie ein Gerhard Schröder, ein François Fillon oder eine Karin Kneissl ticken. 
    Sie sind keine blutrünstigen Mörder, und sie wünschen dem ukrainischen Volk kein Leid. Viele wollen, dass der Krieg so schnell wie möglich vorbei ist und das „normale Leben“ wieder beginnt – ein Leben, in dem sie gut verdienen und angesehen sind.

    Zu unser aller Bedauern haben die Russen nichts besonders Bösartiges an sich, denn dann würde es ausreichen, sie einfach zu isolieren, eine hohe Mauer zu bauen und den Planeten sicher vor ihnen zu schützen. Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert – er hat die Schwächen und Hebel erkannt, die man bedienen muss, um sie zu lenken. Die Gesellschaftsordnung, die er in Russland aufgebaut hat, ist eine radikale Version des modernen neoliberalen Kapitalismus, in dem die Gier herrscht, in dem das Maß aller Dinge der persönliche Wohlstand ist – und Zynismus, Ironie und Nihilismus das rettende Gefühl von leichter Überlegenheit verleihen.

    Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert

    Putin ist nicht plötzlich aus den sibirischen Wäldern aufgetaucht – er hat jahrelang die globalen Finanz- und Polit-Eliten korrumpiert. Seine Oligarchen haben so lange auf der ganzen Welt zügellosen Luxus und Schmeicheleien genossen, bis sie allen Grund hatten, sich als die Herren dieser Welt zu fühlen. Putin hat derart erfolgreich die Politiker dutzender Länder pervertiert, indem er sie in seine Aufsichtsräte setzte und offenkundig blutiges Geld mit ihnen teilte, dass er allen Grund hat, sie als Schwächlinge zu betrachten. Putin hat den Russen dasselbe Prinzip angeboten, das die Starken dieser Welt so gut verinnerlicht haben: „Wenn ihr etwas mit Geld nicht erreichen könnt, habt ihr einfach nicht genug geboten.“ 

    Meine Auslandskorrespondenten fragen sich, wie die Russen bloß so „propagandaverblödet“ sein können. Aber ich schaue mich um und sehe ich überhaupt keine Idioten. Stattdessen sehe ich einen Haufen Leute, die die wichtigste Lektion gründlich verinnerlicht haben: Versuch gar nicht erst, Putin zu widersprechen, diese Welt ist sowieso so angelegt, dass er immer gewinnt. Ich sehe jene Menschen, die versucht haben, die derzeitige Katastrophe abzuwenden, die ihr Leben und ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt und jedes Mal gesehen haben, dass Putins Geld alles entscheidet. Dass Putin nach jedem niedergeschlagenen Aufstand neue Milliardenverträge abschließt, seine Oligarchen noch reicher werden und seine „europäischen Freunde“ neue Posten in neuen Aufsichtsräten besetzen. Dass die internationalen Technologie-Riesen für ihre Gewinne auf dem russischen Markt zu jeglichen Konzessionen bereit sind – angefangen bei Google, das bereit ist, physische Bedrohungen durch russische Geheimdienste gegen ihr Top-Management zu verschweigen, bis hin zu Nokia, das Putin geholfen hat, ein System zur totalen Überwachung seiner Gegner zu erschaffen. Immer wieder von Neuem haben diese furchtlosen Russen angefangen – sie führen seit langem Krieg gegen Putin, nur ohne Panzerabwehrlenkwaffen und Haubitzen. Und jedes Mal haben sie aufs Neue gehört: „Euch wird sowieso niemand helfen, Putin hat alle gekauft.“ Und mittlerweile glauben das tatsächlich viele.

    Meine Freunde, die in internationalen Konzernen arbeiten, erzählen mir oft, wie ihre Geschäftsführer auf den Krieg reagieren. Nämlich gar nicht – darüber wird kein Wort verloren. Allgemeinen Unmut hingegen rufen die berühmt-berüchtigten Sanktionen hervor, die sie dazu zwingen, durch eigenes Handeln ihre reichen Erträge aus dem russischen Markt zu begrenzen. Und während man diese Unzufriedenheit in amerikanischen und britischen Firmen verbergen muss, um die globale Führungsriege nicht zu verärgern, sagen deutsche und vor allem französische Firmen ziemlich unverblümt, dass sie nicht verstehen, was sie mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben und wieso sie deswegen finanzielle Einbußen hinnehmen sollen. 

    ‚Euch wird sowieso niemand helfen, Putin hat alle gekauft.‘ Mittlerweile glauben das tatsächlich viele

    Im Interview mit dem Spiegel sagt der deutsche Kanzler Olaf Scholz, dass Masha Gessens Buch Future Is History sein Verständnis von Russland beeinflusst habe. Dieses Buch führt auf mehreren hundert Seiten beharrlich einen Gedanken aus: Russland wird sich nie ändern, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind totalitär, und jeder Versuch, dagegen anzukämpfen, ist vergeblich. Wladimir Putin und seine liberalen Kritiker haben sich längst genau darauf geeinigt: Russland wird sich niemals ändern. Scholz macht auf mich den Eindruck eines Menschen, der von dieser Angst vor den Russen eingeschüchtert ist, dieser Angst vor einer wilden Horde, mit der man sowieso nie fertigwerden wird. 

    Noch einmal sehe ich mich in meinem Moskauer Metro-Waggon um. Schwere Blicke, starr auf die Fenster oder den Boden gerichtet: Die Russen lächeln bekanntlich nicht gern. Hoffnung wird hier erst aufkeimen, wenn die Welt zugibt, dass Wladimir Putin und sein Krieg das unausweichliche Ergebnis der gesamten globalen Entwicklung der letzten zehn Jahre sind. Erst wenn die globale Wirtschaft sich für das Leben der Ukrainer verantwortlich fühlt und nicht nur für die Dividenden ihrer Aktionäre. Erst wenn die Welt versteht, dass wir alle in diesem Waggon der Moskauer Metro sitzen. Und erst, wenn Kanzler Scholz daran glaubt, dass ein anderes Russland möglich ist. 

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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    Wie der Krieg Belarus verändern wird

    Zum sechsten Mal seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine haben sich Alexander Lukaschenko und Kremlchef Wladimir Putin am vergangenen Wochenende getroffen. Im Gegenzug für seine Loyalität – Lukaschenko beschwor mit lodernden Worten die angebliche Gefahr, die von der NATO ausgehe – soll der belarussische Machthaber in den nächsten Jahren ein enormes Rüstungspaket erhalten, unter anderem das Raketensystem Iskander-M, das mit Atomwaffen bestückt werden kann. Der politische Analyst Alexander Klaskowski kommentierte das Treffen wie folgt:  „Lukaschenko, der dem Kreml jahrelang versprochen hat, dass sich die Belarussen den Panzern der NATO entgegenwerfen würden, ist sicherlich nicht begeistert von der Aussicht auf eine echte Auseinandersetzung mit den Ukrainern oder dem nordatlantischen Bündnis. Doch die Schlinge der katastrophalen Abhängigkeit von Moskau sitzt ihm im Nacken.“

    Weil es immer wieder Befürchtungen und Hinweise dafür gibt, dass Lukaschenko sich doch noch mit eigenen Truppen an dem Krieg beteiligen könnte, wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky in einer Ansprache direkt an die belarussische Bevölkerung. Er warnte die Belarussen davor, sich in den Krieg hineinziehen zu lassen.

    Die Abhängigkeit von Russland, die Lukaschenko im Zuge der Proteste in seinem Land auf fatale Art und Weise ausgebaut hat, hat Belarus jetzt schon eine unheilvolle Rolle in dem Krieg beschert. Auch vergangenes Wochenende wurden russische Raketen von belarussischem Staatsgebiet und aus dem belarussischen Luftraum in Richtung Ukraine abgeschossen. 

    Was aber bedeuten der Krieg und die Rolle Russlands dabei für die belarussische Gesellschaft, die im Sommer 2020 so eindrucksvoll begonnen hatte, sich von ihren autoritären Strukturen emanzipieren zu wollen? Wie wirkt sich die aktuelle Situation möglicherweise auf die belarussische Identität aus, die in vielfacher Hinsicht mit russischen Implikationen verwoben ist? In einer Analyse für das Medium Nasha Niva geht der Politologe Pjotr Rudkowski, akademischer Direktor des Belarusian Institute for Strategic Studies, diesen Fragen auf den Grund.

    Sehen wir uns die Bedeutung des Ausdrucks „nach Russland“ [gemeint hier im Sinne von post Russland – dek] näher an. Sogar im für Russland schlimmsten Szenario (Niederlage im Krieg gegen die Ukraine und Verlust der Krim) wird Russland als Staat weiterbestehen. Mit welchem Staatssystem und in welcher politischen Machtkonstellation – das steht auf einem anderen Blatt. 

    Doch auch wenn der Krieg für Russland denkbar gut ausgeht – es behält die Krim und entreißt der Ukraine drei, vier Oblaste – wird es aus diesem Krieg extrem geschwächt und ohne Aussicht auf baldige Genesung hervorgehen. Das Land wird sich in einer Wirtschaftskrise befinden, von der internationalen Arena isoliert, ohne verlässliche Bündnispartner – nicht einmal in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) oder in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – und mit angeschlagenem militärischen Image. 

    Dazu kommt der innere Faktor. Man sollte Berichten über 70 bis 75 Prozent Unterstützung der „Spezialoperation“ und über 80 Prozent Vertrauen in Putin unter der Bevölkerung Russlands nicht zu viel Bedeutung beimessen. Diese Zahlen sind zwar teilweise überzeugend, aber nur, was die Gegenwart betrifft. Der Krim-Effekt hielt drei Jahre lang an, dann ließ er nach. Und das, obwohl die damalige Spezialoperation a) unblutig, b) schnell erledigt und c) effektiv war. Die heutige Spezialoperation ist jedoch a) ein blutiger Krieg, zieht sich b) schrecklich in die Länge und ist c) ineffektiv. Hier wird der „patriotische“ Aufschwung viel schneller wieder verpuffen. Multipliziert mit der Wirtschaftskrise wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit zur sozialen Instabilität führen.  

    Insofern wird Russland nach diesem Krieg „nicht mehr es selbst“ sein. Es wird ein Land sein, das die nächsten Jahre vor allem damit zu tun haben wird, zu überleben und nicht auseinanderzufallen. Es wird nicht mehr das Russland sein, das wir die letzten zwei Jahrzehnte kannten.    

    Der kanadische Politologe Seva Gunitskiy veröffentlichte vor ein paar Jahren eine Studie, in der er Faktoren analysierte, die in den letzten zwei Jahrhunderten bei Systemtransformationen eine Rolle spielten. Der Autor zeigte, dass die größten Transformationen stattfinden, wenn sich auch die globale Hegemonie strukturell verändert. Am eindrucksvollsten sah man das nach den zwei Weltkriegen sowie beim Zerfall der Sowjetunion

    Es gibt noch einen anderen Kontext von Transformationen – nämlich regionale Umbrüche, die sich viral verbreiten. Ein Beispiel hierfür ist der Arabische Frühling 2010 bis 2012, als durch rund 20 Länder einer Region eine Welle von Protesten mit unterschiedlichen Folgen rollte. 

    In der Zeit der Proteste in Belarus 2020 gab es weder Veränderungen in der globalen Hegemonie noch eine virale Welle in der Region. Diese Art von Prozessen nennt Gunitskiy „emulativ-horizontale“ Transformationen. Sie verlaufen langsam und dauern lange, dafür ist das Ergebnis – wenn es denn erreicht wird – ziemlich beständig. Ein Beispiel dafür ist die Demokratisierung in Portugal, Spanien oder Griechenland in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. 

    Es kann passieren, dass ein Prozess in einem Kontext beginnt und in einem anderen fortdauert. In Polen fanden die Proteste 1980/81 genauso wie in Belarus 2020 in einer Situation statt, in der die globale Hegemonie stabil war und die Region nicht von einer viralen Welle ergriffen wurde. Doch ihre Fortsetzung – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – erfolgte bereits vor dem Hintergrund eines geschwächten Hegemons: der Sowjetunion. Diesmal führten die Proteste zu Veränderungen des Systems: Im Juni 1989 gab es freie Wahlen [in Polen – dek], die kommunistische Autokratie wurde von einer repräsentativen Demokratie abgelöst. 

    Vieles weist darauf hin, dass die nächste Folge der belarussischen Proteste vor dem Hintergrund eines geschwächten lokalen Hegemons – Russlands – beginnen wird. Das garantiert noch keinen Erfolg, erhöht jedoch die Chance darauf um ein Vielfaches.   

    Bruch mit dem autoritären Status quo

    Wenn die Menschen in alten Zeiten schnell ein Haus bauen mussten, dann verwendeten sie das Material, das gerade am besten verfügbar war. Das konnte eine Höhle sein, ein Baum, Steine oder sogar Tierhäute. 

    Identität wird meistens auf ähnliche Weise geformt. Eine aktive und langfristige „Suche nach Identität“ passiert nie in der Masse, das ist etwas für sehr motivierte Menschen, die sich die Zeit dafür nehmen können. Die Antwort auf Fragen wie „Wer bin ich? Wer sind wir?“ wird in der Regel aus schnell greifbaren Materialien modelliert: aus der dominanten Sprache im jeweiligen Umfeld und Vorstellungen über ihren Status, aus bestehenden religiösen Traditionen, aus Schulbüchern entnommenen Meinungen über die historische Rolle bestimmter Länder, aus medialen Einflüssen etc. 

    In Belarus gibt es einen wichtigen Teil der Gesellschaft, auch wenn er in der Minderheit ist: Menschen, die sich aktiv für Geschichte und Sprache interessieren und ihre Zeit in den Aufbau einer starken nationalen Identität investieren. Bei allem Respekt für diese Minderheit ist es aber auch nicht verwunderlich oder gar befremdlich, dass die Mehrheit entweder nicht so motiviert ist oder einfach nicht genug Zeit und Energie dafür hat. Die Mehrheit legt ihrer Identität Elemente zugrunde, die am leichtesten verfügbar sind. 

    Für etliche Generationen von Belarussen waren diese „greifbaren“, am schnellsten verfügbaren Materialien die russische Sprache, die Geschichte Russlands und/oder der UdSSR, russisches Kino, Musik und Sport, sowie ihre Wahrnehmung vom großen Einfluss Russlands in der modernen Welt. Je mehr sie sich an das Leben im unabhängigen Belarus gewöhnten, desto mehr legte sich über die russische sprachlich-kulturelle Identität eine belarussisch-etatistische Identität, die mit einer staatsbürgerlichen Zugehörigkeit zur Republik Belarus einhergeht. Für eine Analyse der Faktoren und Merkmale dieses Umstandes ist hier kein Platz, daher beschränken wir uns darauf, die Gesetzmäßigkeiten zu benennen, kraft derer die Zugehörigkeit zum russischen Sprach- und Kulturraum für viele Belarussen teilweise identitätsstiftend war und immer noch ist. Nicht einmal die Proteste von 2020 haben das wesentlich verändert.  

    Der Krieg in der Ukraine führt wahrscheinlich zu einem Bruch in der Identität der Belarussen. Zum ersten Mal haben wir es mit einem internationalen Konflikt zu tun, in dem nur eine Minderheit von Belarussen Russland unterstützt und die Zahl seiner Kritiker höher ist als die Zahl der Befürworter. Im Georgienkrieg oder bei der Annexion der Krim war die absolute Mehrheit der Belarussen auf der Seite Russlands (der Identitäts-Faktor kam zum Tragen). Zusätzliche Bedeutung erhält diese Wendung dadurch, dass in früheren Phasen dieses Konflikts Lukaschenkos Medien keine Unterstützung für Russland signalisiert und sich manchmal sogar Kritik erlaubt haben. Jetzt agiert die offizielle Propaganda zwar im Interesse des Kreml, doch die Verteilung von Unterstützern und Kritikern der „Spezialoperation“ ist vergleichbar mit ihrer Verteilung innerhalb der bulgarischen Gesellschaft.  

    Der Faktor der russozentrischen Identität der Belarussen verliert seine Wirkung. Russlands international gefestigtes Image als Aggressor und das Durchsickern von Informationen über Kriegsverbrechen der Russen in die belarussische Gesellschaft werden den Bruch in der Identität noch vorantreiben. Zwar wird die Verwendung der russischen Sprache kaum abnehmen, doch Russlands Image wird sich im belarussischen Weltbild radikal verändern.   

    ***
    Für den Aufschwung 2020 haben Tausende Belarussen mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrer Freiheit bezahlt. 2022 haben für die Verteidigung ihres Landes gegen den Aggressor Zigtausende Ukrainer ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren. Das ist der schmerzhafte Aspekt dieser Vorgänge. Neben dem Gedenken der gefallenen Helden und der Solidarität mit den Leidtragenden ist jedoch auch ein anderer Aspekt zu beachten:

    Russland wird als Stabilisator des belarussischen Status quo immer schwächer. Sowohl als Hegemon, als auch als Teil der Identität der Belarussen. Wie Gunitskiys Forschungsarbeit gezeigt hat, erhöht eine solche Schwächung maßgeblich die Chance auf einen Bruch des autoritären Status quo.  

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  • Podcast Prodolshenije Sledujet #1: Alles düster

    Podcast Prodolshenije Sledujet #1: Alles düster

    Können Sanktionen Putin stoppen? McDonalds, Zara, H&M haben in Russland dichtgemacht, und das ist erst der Anfang. Worauf man sich noch vorbereiten sollte – das kommentiert Journalist Pawel Kanygin in der neuesten Folge des Podcast Prodolshenije Sledujet und fragt:Ist das die Vergangenheit, oh Verzeihung, die Zukunft, zu der die Staatsführung unter Wladimir Putin die russischen Bürger verdammt hat, indem sie einen Krieg in Europa losgetreten hat?“

    Kanygin war lange Jahre Korrespondent der Novaya Gazeta, für die er auch 2014 aus dem Osten der Ukraine berichtet hat. Für seine investigativen Recherchen, unter anderem zum Abschuss der MH17, wurde er mehrfach ausgezeichnet. Auf YouTube betreibt er den Podcast Prodolshenije Sledujet (dt. „Fortsetzung folgt“). dekoder hat die aktuelle Ausgabe untertitelt und bietet Kontext:

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    Mehr Hintergrund:

    BYSTRO #34: Können Sanktionen Putin stoppen?

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    Mehr zu Problemen der russischen Wirtschaft – schon vor dem russischen Angriffskrieg: Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

    „Worin liegt die Kraft, Bruder?“ („W tschom sila, brat?“) Christine Gölz über den russischen Kultfilm Brat.

    Sapsan: Die Siemens AG gab Mitte Mai 2022 bekannt, ihr Russlandgeschäft zu beenden. Ein historischer Rückblick auf rund 170 Jahre Geschäftsbeziehung.

    Mehr über das russische Gesundheitssystem in unserer Gnose.

    „Hoffentlich zumindest keine neuen Kriege. Dann doch lieber den orthodoxen Sowok als Nordkorea.“ Andrej Loschak schrieb schon 2018 über Putins Ideologen und einen „höllischen Brei, der sich da in den Köpfen zusammenbraut.“

    Mehr über Tschetschenien in unserer Gnose von Marit Cremer.


    Deutsche Untertitel von Jennie Seitz und Ruth Altenhofer/dekoder.org
    Der Podcast Prodolshenije Sledujet auf YouTube
    Original veröffentlicht am: 30.05.2022

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