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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Mobilmachung für die Planzahl

    Mobilmachung für die Planzahl

    Auf die Ende September verkündete „Teilmobilmachung“ folgten in Russland vielerorts chaotische Zustände: Neben den kilometerlangen Staus an den Landesgrenzen mehrten sich Berichte von willkürlichen Einberufungen direkt auf der Straße, von missachteten Ausnahmeregelungen und miserabler Ausrüstung für die Einberufenen. Bei einer Sitzung des Sicherheitsrates am 29. September räumte Putin bereits „Fehler“ ein, die korrigiert werden müssten.

    Auch der Umfang der Mobilmachung bleibt vage: Zwar sprach das Verteidigungsministerium zunächst von 300.000 Rekruten, doch Experten befürchten, dass aufgrund fehlender Einschränkungen die tatsächliche Zahl weitaus höher liegen könnte. In einer aktuellen Recherche schätzt Mediazona diese auf knapp 500.000 Soldaten – anhand von sprunghaft angestiegenen Eheschließungen, die für Einberufene kurzfristig und ohne Wartezeit möglich sind. 

    Meduza-Journalist Maxim Trudoljubow geht davon aus, dass der Kreml durchaus konkrete Zielvorgaben macht, wie er auf seiner Facebook-Seite schreibt. Deren Umsetzung auf unterer Ebene erinnert ihn an eine Praxis aus der Stalinzeit, bei der die Erfüllung der Sollzahl wichtiger ist als das „wie“.

    Die kremlsche Panikmobilisierung wird in Zahlen, in „Köpfen“, in „Seelen” gemessen. Die Zahlen – die sind das Wichtigste, obwohl sie gar nicht genannt werden. Eine Schätzung der Menge potentieller Rekruten ist unmöglich, weil die Kriegsziele nicht offengelegt werden. Zu welchem Zweck rekrutiert die Kreml-Armee N Soldaten? Geheimsache. Den Wert von N kennt nur der Kreml. N ist die Hauptsache. Aber N wird nicht nur verschwiegen, sondern ist auch Änderungen unterworfen. Wir wissen von neuen Mobilmachungsplänen für Regionen, die die anfänglichen bereits erfüllt haben. Das ist verrückter als jede Antiutopie. In ihrer Lebensfremdheit und Irrationalität ist diese Arithmetik des Todes unergründlich und furchterregend.

    Rechenschaft von unten – Plan von oben

    Dabei ist sie nicht neu. Kontingente, Zahlen, Pläne und Quoten sind ein fixer Bestandteil der Verwaltungsstrukturen russischer Institutionen, insbesondere der aus der Sowjetunion geerbten „Rechtsschutzorgane“. Reformversuche gab es zwar, doch das Prinzip „Rechenschaft von unten – Plan von oben“ ist nach wie vor in Kraft. Oft werden Kriminalfälle aus nichts erschaffen, um eine Quote zu erfüllen. Die tatsächliche Aufgabe dieses Systems ist – im Gegensatz zur augenscheinlichen – nicht die Aufdeckung, sondern die Erzeugung von Kriminalität. Das war schon in Sowjet- und Postsowjetzeiten so, doch heute erreicht es nie dagewesene Dimensionen des Wahnsinns.

    Die zentrale Bedeutung von Kontingenten bei politischen Projekten war in der sowjetischen Geschichte nicht so sehr für Mobilisierungskampagnen charakteristisch, sondern vielmehr für Repressionen. Kontingente kamen zum Beispiel bei der Kollektivierung und während des Großen Terrors 1937–38 zum Einsatz. Die Regionen lieferten auf Befehl aus Moskau zum Beispiel die Zahlen der erfassten „weißgardistisch-großbäuerlichen Elemente“, und Moskau gab nach unten die „Kontingente“ „erster“ und „zweiter“ Kategorie durch, gab also vor, wie viele zu erschießen und wie viele zu Lagerhaft zu verurteilen seien. Die Regionen versuchten ihrerseits, die Kontingente möglichst zu erfüllen, indem sie wahllos Menschen festnahmen. In diesem diabolischen System gab das Zentrum vor, das wilde Treiben an der Basis zur Aufdeckung der Feinde zu begrenzen – in Wirklichkeit ging die Initiative aber vom Zentrum aus. 

    Das funktioniert auch jetzt bei der Mobilmachungung so. Allerdings glaube ich nicht, dass der Kreml Massenrepressionen geplant hat. Stalin hat Massenrepressionen geplant. Putin hat einen Krieg geplant und dann die Mobilmachung der Menschen für diesen Krieg. Davor hatte er die „Bewahrung des Volkes“ geplant, die Besiedelung des Fernen Ostens, die Unterstützung kleiner Völker, die Förderung von Familien mit Kindern und vieles andere mehr. Das Ergebnis: Der Ferne Osten ist immer dünner besiedelt, die kleinen Völker werden in den Tod geschickt, die Familien verlieren ihre Väter und Ernährer. Es ist ein neuer Großer Terror. Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod. 

    Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod

    Denn so läuft es. Die dünne Schicht aus Verbesserungen und einem gewissen äußeren Glanz, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurde, ist weg. Was bleibt, ist das Fundament – ein repressiver Mechanismus, der der Logik geforderter Quoten folgt. Der Kreml ist dabei, den Krieg zu verlieren, aber bevor er in sich zusammenstürzt, kann er durchaus noch – zu aller Entsetzen – die teuflische Schlacht um die Zahl der eingezogenen und in den Tod geschickten Menschen gewinnen.

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  • Im Wendekreis des Nobelpreises

    Im Wendekreis des Nobelpreises

    Alexander Lukaschenko behauptet seit Beginn des russischen Angriffskrieges immer wieder, dass die Ukraine und auch die NATO einen Angriff auf Belarus planen würden. Genau dies hat der belarussische Machthaber nun auch vordergründig angeführt, um die Aufstellung einer gemeinsamen regionalen Truppe mit Russland auf den Weg zu bringen. Mittlerweile sollen bereits rund 9000 russische Soldaten in Belarus angekommen sein. Die neu geschaffene Einheit soll an der Grenze zur Ukraine stationiert werden. Zudem laufen Vorbereitungen, den Zivilschutz zu bewaffnen und Bunkeranlagen im ganzen Land auszurüsten. Auch gibt es immer wieder Hinweise, dass Lukaschenko doch planen könnte, seine Armee aufzustocken. In den vergangenen Wochen hat die Staatsführung auch immer wieder Treffen mit seinen Sicherheitsbehörden abgehalten. Trotz dieser Drohgebärden hat Lukaschenko immer wieder dementiert, in den Krieg gegen die Ukraine mit eigenen Truppen aktiv eingreifen zu wollen. Könnten diese Entwicklungen jedoch ein Hinweis darauf sein, dass Putin und seine Armee den Druck auf den widerwilligen Nachbarn erhöht haben, um ihn doch zum Eingreifen zu zwingen? In jedem Fall sind dies alles auch Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Macht durch den Kreml offensichtlich untergraben und damit ausgehöhlt wird.

    Wie souverän kann der belarussische Machthaber überhaupt noch agieren? Ist er mittlerweile ein Getriebener der Umstände, in die er sich vor allem seit 2020 selbst manövriert hat? Was bedeutet dies für die Unabhängigkeit von Belarus? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich der belarussische Politanalyst Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus. Dies tut er vor dem Hintergrund der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises, der unter anderem an den belarussischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki geht – dem als Häftling Lukaschenkos eine besondere Rolle im Spiel um die Macht zufallen könnte.

    Beinahe unbemerkt ging das in diesem Jahr achte Treffen von Lukaschenko und Putin über die Bühne. Diesmal in Sankt Petersburg, am Rande eines informellen GUS-Gipfeltreffens, das zeitlich mit Putins 70. Geburtstag abgestimmt worden war. Die eher ephemere GUS hat als Organisation ihre Bedeutung längst eingebüßt. Und um die Oberhäupter der postsowjetischen Staaten zu versammeln, muss Moskau erfinderisch werden. So werden die Präsidenten der GUS-Länder zu Feierlichkeiten eingeladen, etwa zum Tag des Sieges. Und die werden dann zu informellen Gipfeltreffen erklärt. Jetzt haben sie sich also ausgedacht, Putins runden Geburtstag als Anlass zu nehmen. Womit eine Absage wie eine demonstrative Respektlosigkeit gegenüber dem russischen Präsidenten aussieht. (Diesmal sind übrigens die Präsidenten von Kirgistan und Moldau nicht angereist.)

    Die Gespräche zwischen Lukaschenko und Putin dauerten rund eine Stunde. Vermutlich war es eine Fortsetzung ihrer kürzlich nicht zu Ende gebrachten Diskussion in Sotschi. Inzwischen ist etwas für die belarussisch-russischen Beziehungen sehr Wichtiges passiert: Moskau hat Belarus für seine Verluste durch das russische Steuermanöver eine Kompensation in Form einer „Rückerstattungsakzise“ für belarussische Raffinerien zugesagt. 

    Im Gegenzug stimmte Minsk einer Vereinheitlichung der Steuergesetze mit Russland zu, wogegen sich die belarussische Führung jahrelang gewehrt hatte. Aus einer Reihe von Gründen: Erstens bedeuten jegliche Veränderungen im Steuersystem eine Erschütterung wirtschaftlicher Subjekte und der Wirtschaft insgesamt. Zweitens ist anzunehmen, dass die Steuergesetze nach russischem Vorbild vereinheitlicht werden. Dass Russland seine Steuern an die belarussischen Bestimmungen anpasst, ist schwer vorstellbar. All das bedeutet, dass Belarus der Möglichkeit beraubt wird, selbständig seine eigenen Steuern für die steigenden Preise und Akzisen zu erheben. Steuerpolitik ist ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Souveränität eines jeden Staates. Zugunsten Russlands gibt Belarus diese jetzt auf. Außerdem wird ein supranationaler Ausschuss für Steuerangelegenheiten eingerichtet, der diesen ganzen Prozess beobachten und kontrollieren soll. Wodurch Russland auf die gesamte Steuerdatenbank von Belarus, auf alle belarussischen Steuerzahler, Zugriff erhält. Der Preis dafür sind 500 Millionen US-Dollar pro Jahr, die Belarus von Russland als Kompensation für das Steuermanöver erhält. Für den Verzicht auf einen bedeutenden Teil der wirtschaftlichen Souveränität ist das nicht viel.

    Vor einem Jahr, als von den Bündnispartnern 28 Programme der wirtschaftlichen Integration beschlossen wurden, wurde ihr Inhalt von Experten diskutiert. Viele waren der Meinung, sie seien nichts als leere Deklarationen. Möglicherweise wäre es dabei auch geblieben, wäre es nicht zum Krieg und einer verschärften internationalen Isolierung von Belarus gekommen. Jetzt aber, angesichts dieser Verflechtungen, opfert Lukaschenkos Regime im Kampf ums Überleben Stück für Stück immer mehr Teile seiner staatlichen Souveränität.   

    Der Kampf um die Preise

    Am 6. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zum Thema Preispolitik und Inflation ab. Am selben Tag unterschrieb er die Direktive Nr. 10 „Über die Unzulässigkeit von Preiserhöhungen“, in der festgelegt ist, dass Personen, die die Forderungen dieses Dokuments missachten, zur Verantwortung zu ziehen sind bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung.

    Das Thema Preise ist in Belarus seit Lukaschenkos Amtsantritt aktuell. Seine gesamte Regierungszeit hindurch kämpft er gegen die Preissteigerungen. Doch mit sehr kümmerlichen Ergebnissen. Die Inflationsrate in Belarus war in den letzten 30 Jahren eine der weltweit höchsten. Dass diese Direktive in wirtschaftlicher Hinsicht sinnlos ist, ist klar. Längst ist bewiesen, dass der Kampf gegen die Preiserhöhungen mit administrativen Methoden nicht effektiv ist. Weil er mehr Schaden als Nutzen bringt und zur Warenverknappung und Zerstörung der Unternehmensstrukturen führen kann. Zudem ist die Inflation heute ein globales Problem – eine Folge der Covid-Pandemie und der wachsenden Preise für Energie und Lebensmittel aufgrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine

    Zweifellos ist der Erlass dieser Direktive ein politischer Akt. Den Lukaschenko schon oft unternommen hat: Es ist ein Versuch, zum Wirtschaftspopulismus zurückzukehren. Doch in den letzten Jahren ist im Land zu viel passiert, als dass er mit so primitiven Tricks sein Image aufbessern könnte. Man sollte hier aber auch beachten, wie konsequent Lukaschenko auf eine Mobilmachungsökonomie setzt. Es herrscht ein Kampf gegen das Unternehmertum, die Arbeitsbedingungen für Gewerbetreibende und für Anbieter im Agrotourismus werden immer schlechter. Lukaschenko ordnete die Mobilisierung von Studenten und Schülern für die landwirtschaftliche Arbeit an, verlangte ein Verbot der freien Wohnsitzwahl innerhalb des Landes für Verwaltungsbeamte und Fachkräfte. Denn das Jahr 2020 hat gezeigt, dass die Marktwirtschaft eine sozialpolitische Schicht hervorbringt, die für den Fortbestand der Diktatur eine echte Bedrohung darstellt. 

    Der zweite belarussische Nobelpreis

    Vor zehn Jahren noch hätten die Belarussen nicht einmal davon träumen können. Aber heute haben sie den zweiten Nobelpreisträger innerhalb von sieben Jahren. Der prominente Menschenrechtler Ales Bjaljazki wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Gewissermaßen erfährt die Welt dank des Nobelpreises von Belarus.

    Der Sprecher des belarussischen Außenministeriums, Anatoli Glas, ließ sogleich verlauten, dass der Friedensnobelpreis politisiert worden sei. Ein seltsamer Vorwurf. Denn von allen Nobelpreisen ist er der einzige, mit deutlich politischem Subtext. Wie soll man schließlich außerhalb des politischen Raums für Frieden kämpfen? Krieg und Frieden sind die zentralen politischen Herausforderungen der Gegenwart. Daher kann ein Friedenspreis per se nicht unpolitisch sein.    

    Der Krieg in der Ukraine spielte in diesem Jahr eine wichtige Rolle bei der Nominierung, wie auch die Vorsitzende des Nobelkomitees, Berit Reiss-Andersen, bestätigte. Den Friedenspreis zu vergeben und dabei diesen großen Krieg in Europa seit 1945 zu ignorieren, der die ganze Welt erschüttert, wäre unlogisch. Die Preisträger mussten irgendwie damit zu tun haben. Andererseits: Während dieses erbarmungslosen Krieges Kandidaten für einen Friedensnobelpreis zu finden, ist nicht gerade einfach.

    Das Nobelkomitee entschied sich gegen eine Auszeichnung von Politikern, obwohl unter den Nominierten auch Wolodymyr Selensky, Alexej Nawalny und Swetlana Tichanowskaja waren. Die Lösung war, den Preis an Menschenrechtler bzw. Menschenrechtsorganisationen der drei am Krieg beteiligten Länder zu vergeben – was in der Ukraine für Unmut sorgte: Warum werden Vertreter der angreifenden Länder genauso ausgezeichnet wie jene, die die Opfer der Aggressionen repräsentieren?

    Während in Russland und der Ukraine Organisationen geehrt wurden (Memorial und Center for Civil Liberties), fiel die Wahl in Belarus auf eine konkrete Person: Ales Bjaljazki. Obwohl man auch da das Menschenrechtszentrum Wjasna hätte auswählen können, dessen Leiter der belarussische Preisträger ist. Vermutlich wurde diese Entscheidung von mehreren Faktoren beeinflusst: Vor allem ist daran zu erinnern, dass Ales Bjaljazki schon fünf Mal für den Friedensnobelpreis nominiert war. Das heißt, er hatte diesbezüglich eine lange Geschichte. Der zweite wichtige Faktor war, dass Bjaljazki derzeit zusammen mit seinen Wjasna-Anhängern hinter Gittern sitzt. Noch dazu bereits zum zweiten Mal. Jetzt „winkt“ ihm eine saftige Lagerhaft (die Verhandlung liegt noch vor ihm). Er ist als politischer Häftling und Gewissensgefangener anerkannt.

    Zudem sei darauf verwiesen, dass dieser Nobelpreis für Belarus ein Nachhall des Kataklysmus von 2020 ist. Die damaligen Proteste waren eine Zeitlang das größte Medienereignis weltweit. Daher kann man es auch so sehen, dass diese Auszeichnung jene Zehn- und Hunderttausende Belarussen erkämpft haben, die vor zwei Jahren monatelang auf die Straße gingen. Der Preis für Bjaljazki, der hinter Gittern sitzt, sollte die internationale Aufmerksamkeit auf die über tausend politischen Häftlinge in Belarus lenken.

    Was die Reaktion der Regierungen betrifft: Viele meinten, das Nobelkomitee bringe mit dieser Auswahl das belarussische Regime in eine schwierige Situation. Nach dem Motto: Es sei ihm unangenehm, dass sich ein Nobelpreisträger in Haft befindet. Aber auch eine Entlassung wäre peinlich, denn das würde ja aussehen, als ließe Lukaschenko sich von der internationalen Gemeinschaft moralisch unter Druck setzen. Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht ist aber auch alles viel einfacher.

    Denn Lukaschenko hat plötzlich einen sehr wichtigen politischen Gefangenen. Den kann er als teure Ware einsetzen und vom Westen ein stattliches Lösegeld verlangen.

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    Andrej Sacharow

    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Russlands Krieg gegen die Ukraine – Fragen und Antworten

    „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    Zitat #16: „Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes“

    Wer ist Ales Bjaljazki?

    Steuermanöver (BY)

    Memorial

  • „Die westlichen Linken verstehen nicht, was hier passiert“

    „Die westlichen Linken verstehen nicht, was hier passiert“

    Bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine galt Russland Teilen der Linken weltweit als globale Friedensmacht. Putin war in dieser Erzählung eine Art Fahnenträger des Kampfs gegen den US-amerikanischen Imperialismus und die NATO. Mit einem starken Staat und angeblich starken Gewerkschaftsbewegungen habe Russland demnach außerdem gegen den neoliberalen Mainstream und die Vormacht der globalen Konzerne gekämpft. Nicht selten wurde Russland so als ein Gegenentwurf zur imperialistischen, militaristischen und kapitalistischen Grundordnung des Westens verstanden.

    Mit dem 24. Februar 2022 scheint sich unter vielen linken Bewegungen weltweit ein Umdenken abzuzeichnen. Auch die deutsche Partei Die Linke hat den russischen Angriff auf die Ukraine „aufs Schärfste“ verurteilt. An dem klaren Nein zu Waffenlieferungen wird gerüttelt. Gleichzeitig fordern Bundestagsabgeordnete wie Klaus Ernst das Ende der Sanktionen, Sahra Wagenknecht wittert einen „beispiellosen Wirtschaftskrieg“ gegen Russland, während andere zu Verhandlungen aufrufen – ohne jedoch an Russland zu appellieren, seine Truppen zurückzuziehen.

    Viele Linke weltweit würden immer noch einem verzerrten Russland-Bild anhängen, kritisiert der ukrainische Sozialist Taras Bilous. Für den Territorialverteidiger ist klar, dass man dabei den „Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten“ sollte, dass die Gründe dahinter komplexer sind. 

    Im Interview mit Meduza kritisiert Bilous Klischees über Russland und die Ukraine im Westen und ruft zu einem Kampf für eine „Demokratisierung der Weltordnung“ auf.

    In Russland weiß man ziemlich wenig darüber, wie die ukrainische Politik aufgebaut ist, normalerweise wird das Thema nur im Kontext „prorussisch – prowestlich“ diskutiert. Erklären Sie uns bitte, welchen Platz Sie und Sozialny Ruch [dt. „Soziale Bewegung“] darin einnehmen.

    Hier muss man zunächst sagen, dass es in der Ukraine genau wie in Russland eine systemische und eine nicht-systemische Politik gibt.

    Da ist einerseits die Politik, die im Parlament und im Fernsehen stattfindet – das sind Parteien, die von Oligarchen gesponsert werden. Dann gab es – und gibt es teilweise noch – die alten Linksparteien wie die KPU. Ob man sie links nennt oder nicht, ist ein Thema für sich, aber sie hatten in vergangenen Jahren überhaupt keinen Einfluss mehr. Sie haben ihre Wählerschaft schon vor dem Maidan und den Gesetzen zur Entkommunisierung verloren, und als sie dann noch die repressiven Gesetze von Janukowitsch unterstützten, wanderten auch die Mitglieder massenweise ab.

    Eine Ebene darunter gibt es die Zivilgesellschaft. Auch da gibt es Parteien, aber die haben sich von unten gebildet und schaffen es normalerweise nicht ins Parlament.

    Der realistischste Weg für Aktivisten, ins Parlament zu kommen, ist über Listen von Politikern wie Swjatoslaw Wakartschuk. Wir haben versucht, unsere Partei registrieren zu lassen, aber es stellte sich heraus, dass das mit unseren bürokratischen und finanziellen Ressourcen zu schwierig ist. Andererseits schaffen es die Parteien, die im Parlament sitzen, in der Regel nicht, die Leute auf der Straße zu mobilisieren. Wie zum Beispiel die Partei Batkiwschtschina von Julia Timoschenko, die einfach Fahnenträger engagierte und bezahlte Demos veranstaltete. Genau wie die Partei der Regionen und die ganzen anderen. Aktivistische Organisationen kommen zwar nicht in die Regierung, aber dafür sind sie imstande, von unten Druck auf sie auszuüben.

    Das ist wohl eine der schwerwiegendsten Fehlkalkulationen von Putins Leuten. Sie haben das Mobilisierungspotential der ukrainischen Gesellschaft stark unterschätzt

    Die russischen Polittechnologen, die die Wahlen in der Ukraine vor Ort beobachtet haben, dachten, sie hätten unsere Politik verstanden – zumindest die, die vor Selensky da war; seit seiner Präsidentschaft hat sich vieles verändert. Das ist wohl eine der schwerwiegendsten Fehlkalkulationen von Putins Leuten. Sie haben das Mobilisierungspotential der ukrainischen Gesellschaft stark unterschätzt, darunter das der Freiwilligen-Organisationen, die seit Beginn des Krieges [2014] gegründet wurden. Ja, ein Teil von ihnen ging aus bereits bestehenden zivilgesellschaftlichen Institutionen hervor, aber viele wurden quasi von Null auf von einfachen Menschen und regionalen Leadern aufgebaut, die davor überhaupt nichts mit Politik zu tun hatten. Das haben die russischen Polittechnologen nicht kapiert.

    Was genau machen Sie, oder besser gesagt, was haben Sie bis zum Krieg gemacht?

    Mein Linksaktivismus hat auf dem Maidan begonnen: Zwischen 2014 und 2019 war ich im Rahmen der Projekte Neuer Donbass und Gemeinsam bauen wir die Ukraine auf sowie mit anderen Freiwilligeninitiativen im Donbass unterwegs, beteiligte mich am Wiederaufbau von Schulen und anderen Gebäuden, die durch die Kampfhandlungen zerstört wurden, arbeitete mit Kindern. Und weil sich meine Tätigkeit mehr und mehr vom Aktivismus auf den redaktionellen Bereich verlagerte, habe ich angefangen, Artikel zum Thema Donbass zu schreiben. Zum Beispiel über den Luftangriff auf das regionale Verwaltungsgebäude der Oblast Luhansk – ein Thema, das in der ukrainischen Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert wird; offiziell wurde dementiert, dass der Angriff von ukrainischer Seite erfolgt sein könnte. Dann gab es einen weiteren [Angriff] auf die Ortschaft Stanyzja Luhanska (bei dem zwölf Zivilisten getötet wurden – Anm. Meduza), für die in all den Jahren niemand die Verantwortung übernommen hat. Ich habe viel zum Thema der zivilen Opfer des Kriegs im Donbass auf beiden Seiten geschrieben.

    Der Donbass, meine Heimat, wird jetzt von niemand anderem als von Russland vernichtet

    Aber alles Kritikwürdige, was der ukrainische Staat im Donbass zu verantworten hat, verblasst vor dem Hintergrund dessen, was Russland gerade macht. Der Donbass, meine Heimat, wird jetzt von niemand anderem als von Russland vernichtet. Unter den heuchlerischen Rufen vom „Genozid an der Donbass-Bevölkerung“, mit denen der Einmarsch gerechtfertigt wurde, vernichtete die russische Armee Sewerodonezk, Popasna, Mariupol und all die anderen Städte im Donbass. Sie warfen den Ukrainern vor, die Minsker Vereinbarungen nicht zu erfüllen, und schwiegen über die eigenen Verstöße. Jetzt sagen sie, der Westen sei bereit, „bis zum letzten Ukrainer“ zu kämpfen, und mobilisieren selbst zwangsweise die Männer in der LNR/DNR, um sie als Kanonenfutter an die Front zu schicken.

    Alles Kritikwürdige, was der ukrainische Staat im Donbass zu verantworten hat, verblasst vor dem Hintergrund dessen, was Russland gerade macht

    Was unsere Organisation Sozialny Ruch [kurz: Sozruch – dek] angeht, so beschäftigen wir uns im weitesten Sinn mit sozialen Fragen. Der Leiter der Organisation Witali Dudin ist Jurist für Arbeitsrecht. Manche unserer Aktivisten arbeiten in Gewerkschaften. Ein paar Monate vor dem Einmarsch haben wir beispielsweise in Kyjiw eine Demo gegen die Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr veranstaltet. Wenn wir nicht selbst etwas organisieren, arbeiten wir mit anderen Gruppierungen zusammen – wir unterstützen zum Beispiel Umwelt- oder feministische Initiativen und nehmen an den Märschen zum 8. März teil. Außerdem haben wir in Kyjiw Gedenkveranstaltungen für Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa durchgeführt.

    Auf einer dieser Veranstaltungen sind Sie mit einem Plakat erschienen, auf dem stand: „Löst das Asow-Regiment auf“.

    Daran erinnern sich die Leute bis heute. Ehrlich gesagt, wenn ich gewusst hätte, was dieses Jahr passiert, dann ich bin mir nicht sicher, ob ich das gemacht hätte. Das Asow-Regiment wurde 2014 von Leuten gegründet, die zumindest in der Vergangenheit neonazistische Ansichten vertreten hatten. Aber schon 2014 waren bei weitem nicht alle Asow-Kämpfer Neonazis, um so weniger in den Jahren danach, als die Führung gewechselt hatte und sich viele junge Leute einfach deshalb anschlossen, weil das eine der einsatzfähigsten Einheiten in der Ukraine war. Die russische Propaganda kann heute so viele Bilder von einzelnen Kämpfern mit [neonazistischen] Tattoos zeigen, wie sie will, aber zum Regiment gehören über tausend Soldaten, darunter sind Menschen mit ganz unterschiedlichen Ansichten.

    Was genau sind die Stereotype über die Ukraine, gegen die Sie ankämpfen?

    Im linken Milieu existiert eine ganze Palette von Meinungen – ungefähr von „alles furchtbar“ bis „finden wir ganz gut“. Es gibt Stalinisten – über die braucht man nicht zu reden, da ist alles klar. Obwohl es auch da ganz vernünftige gibt. Mich hat eine stalinistische Partei in Indien überrascht, die die russische Aggression gegen die Ukraine mithilfe von Stalin-Zitaten kritisiert hat.

    Aber für mich sind die Fälle wichtiger, in denen Menschen mit vermeintlich progressiven Ansichten, von denen man eigentlich Unterstützung oder wenigstens eine adäquate Position erwarten würde … zum Beispiel [Noam] Chomsky oder [Jeremy] Corbyn … Eine offene Unterstützung Russlands ist aber eine Randerscheinung, und wenn, dann findet man sie eher in Lateinamerika als im Westen. Im Westen trifft man öfter auf eine quasi neutrale Position – wir verurteilen den Krieg als solches, aber auch nicht mehr.

    Im linken Milieu existiert eine ganze Palette von Meinungen

    Das ist zum Beispiel die DiEM25, eine Organisation, die von Yanis Varoufakis ins Leben gerufen wurde. Oder die Progressive Internationale, die auf ihre Initiative hin gemeinsam mit einzelnen Mitgliedern des Teams von Bernie Sanders gegründet wurde. Als der Krieg losging, erklärten die polnische Linkspartei Razem [dt. „Gemeinsam“] und unsere Zeitschrift den Austritt aus dieser Vereinigung. Deren Position ist nämlich: Krieg ist sehr schlecht, wir rufen zu Verhandlungen und einem schnellstmöglichen Ende der Kampfhandlungen auf.

    Das nächste Level [linker Positionen] ist es, die russische Aggression offen zu verurteilen und einen Rückzug der Truppen bis an die Grenzen vor dem 24. Februar zu fordern, aber keine Waffenlieferungen [an die Ukraine] zu unterstützen. Das ist ja schön und gut, aber – was dann? Mit welchen Mitteln will man [diese Ziele] erreichen? Das ist die Position von Die Linke, aber die schwankt – [die Jugendorganisation] unterstützt die Waffenlieferungen bereits, obwohl die offizielle Position der Partei immer noch dagegen ist.

    Überhaupt sind die Stimmungen im linken Milieu stark abhängig vom jeweiligen Land. Die skandinavischen Linken haben sehr schnell die richtige Position eingenommen – sowohl die Sozialdemokraten als auch die Radikalen. Sie verhalten sich viel adäquater als die südeuropäischen Linken – Griechenland und Italien sind da ganz schlimm. Im deutschsprachigen Raum macht sich der Generationenkonflikt stark bemerkbar – wie man am Beispiel der Linkspartei sieht, in der die Jugend für die Waffenlieferungen ist; nicht ausnahmslos natürlich, aber bei der älteren Generation sieht es damit viel schlechter aus. In den englischsprachigen Ländern gibt es einen solchen Riss eher nicht.

    Die Stimmungen im linken Milieu sind stark abhängig vom jeweiligen Land

    Was die Stereotype angeht, zum Beispiel, dass der Maidan ein von den USA unterstützter rechter Putsch war, beinahe ein faschistischer Staatsstreich und dergleichen. Da fragt man sich, ob diese Leute überhaupt ein adäquates Bild von der Ukraine und von Russland haben. Manchen ist vielleicht klar, dass Russland ein kapitalistischer Staat mit einem reaktionären Regime ist, sie hegen aber unter dem Einfluss von Russia Today gewisse Illusionen, dass es in Russland angeblich eine starke Gewerkschaftsbewegung gebe. Na ja, und so Sachen halt.  

    In Diskussionen mit westlichen Linken höre ich oft das Argument, dass die NATO während des Kalten Krieges die Ultrarechten unterstützt und benutzt hätte. Aber der Kalte Krieg ist seit 30 Jahren vorbei, und gerade das Beispiel, dass sich die USA in Syrien mit den sozialistischen syrischen Kurden verbündet haben und nicht mit irgendwelchen anderen Kräften, zeigt meiner Meinung nach, wie weit sich die US-amerikanische Außenpolitik mittlerweile von der Logik des Kalten Kriegs entfernt hat. Gleichzeitig ignorieren diese Linken die Tatsache, dass es in den letzten Jahrzehnten vor allem Russland war, das die rechtsextremen Parteien in Europa unterstützt hat.   

    Dann kommen sie noch auf solche Ideen, dass das ukrainische Regime die Linken unterdrücken würde. Das ist ein Problem für sich – den westlichen Linken zu erklären, dass es, wenn sie Parteinamen wie Progressive Sozialistische Partei der Ukraine lesen, sich um etwas ganz anderes handelt, als sie erwarten würden. Diese Natalja Witrenko (Parteichefin der Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine) hat mit Alexander Dugin zusammengearbeitet, die beiden führten eine offen rassistische Wahlkampagne. Jedenfalls gingen alle Parteien mit vermeintlich linken Namen, die verboten wurden, in diese Richtung.  

    Diese Linken ignorieren die Tatsache, dass es in den letzten Jahrzehnten vor allem Russland war, das die rechtsextremen Parteien in Europa unterstützt hat

    Die westlichen Linken kritisieren an der Ukraine zum Beispiel oft den politischen Einfluss der Oligarchen. Aber was für praktische Schlüsse ziehen sie daraus? Ich weiß selbst sehr gut, dass in der Ukraine eine schlechte Regierung mit einer neoliberalen Politik an der Macht ist. Wir haben vor dem Krieg dagegen gekämpft, wir müssen auch jetzt dagegen kämpfen – etwa, wenn die Arbeitsrechte beschnitten werden sollen. Mir sind viele Defizite der ukrainischen Gesellschaft, der Staatsmacht und der Politik bewusst, aber das heißt ja nicht, dass man die Verteidigung gegen die russische Aggression nicht unterstützen soll. 

    Aber woher kommen diese Klischees? Ist das alles der Einfluss der russischen Propaganda, oder gibt es noch weitere Faktoren? Russia Today hat sich ja bekanntlich gezielt auf diese Gruppe konzentriert – viele ihrer Frontmänner waren linke Aktivisten, sie hatten etliche Medienprojekte wie Podcasts, die sich konkret an ein linkes Publikum im Westen richteten. 

    Ich glaube, man sollte den Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten. Ein markantes Beispiel ist Slavoj Žižek. Bis vor Kurzem schrieb er auf Russia Today Texte über Edward Snowden usw. Nach dem 24. Februar hat er jede Zusammenarbeit mit RT eingestellt und nimmt jetzt durchaus sinnvolle Positionen [bezüglich der Ukraine – Anm. Meduza] ein. 

    Man sollte den Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten

    Das Schlimmste, was die russische Propaganda anrichtet, ist, dass sie ein verzerrtes Bild der postsowjetischen Realität vermittelt. Dazu haben die westlichen Linken weder eigene Erfahrungen noch Informationsquellen oder ein Verständnis davon, was hier passiert. Und weil sie den Mainstream-Medien nicht vertrauen, landen sie oft bei der russischen Propaganda als Hauptinformationsquelle. 

    Doch die westlichen Linken brauchen kein Russia Today, um den amerikanischen Imperialismus, die Hegemonie, die unipolare Welt und die NATO abzulehnen. Sie haben genug eigene Gründe dafür. Die ältere Generation hat oft schon zur Zeit des Kalten Krieges an den Protesten gegen den Vietnamkrieg oder andere Operationen der USA teilgenommen, die jüngere hat sich angesichts des Irak-Kriegs formiert. Wobei viele die Idee einer multipolaren Welt ganz unkritisch sehen, anstatt sich zu überlegen, wie man die Weltordnung demokratisieren könnte. Für sie wird ihre NATO-Gegnerschaft einfach zu einem Teil ihrer Identität, statt dass sie ein konkretes politisches Problem angehen und im Rahmen einer linken Strategie zu lösen versuchen. Sogar die, die die Ukraine und Waffenlieferungen einhellig unterstützen, unterscheiden sich manchmal nur dadurch, dass sie für die Auflösung unterschiedlicher militärischer Allianzen eintreten, unter anderem der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). 

    Na gut, angenommen, man löst die NATO auf und auch die OVKS, was ist dann eine Alternative in der internationalen Politik und wie verhindert man dann, dass die starken Staaten den schwächeren ihren Willen aufzwingen? Der Sicherheitsgarant der osteuropäischen Staaten ist ihre NATO-Mitgliedschaft, der von Armenien – seine Mitgliedschaft in der OVKS. Ich bin selbst kein Fan der NATO, ich finde, dass Militärbündnisse, in denen imperialistische Staaten dominieren, kein gutes Instrumentarium zur Aufrechterhaltung der weltweiten Sicherheit sind. Aber das heißt nicht, dass die NATO einfach irgendein globales Übel ist.   

    Wir brauchen keine multipolare Welt und keine Konfrontation zweier imperialistischer Blöcke. Wir müssen für eine allgemeine Demokratisierung der Weltordnung kämpfen

    Dahinter steckt meiner Vermutung nach ein Problem mit der geopolitischen Logik. Jemand hat mir zum Beispiel klipp und klar geschrieben, dass wir Russland als Gegengewicht zu den USA brauchen. In dieser Logik der Opposition wird aber eigentlich Putins Regime, solange es besteht, die NATO noch zusätzlich stärken, wie wir an den Folgen der Invasion in der Ukraine sehen. 

    Wir brauchen keine multipolare Welt und keine Konfrontation zweier imperialistischer Blöcke. Wir müssen für eine allgemeine Demokratisierung der Weltordnung kämpfen, und dafür kann man Widersprüche zwischen verschiedenen Ländern nutzen. Aber eine multipolare Welt, in der jeder imperialistische Staat seine Einflusssphäre hat und seine imperialistische Politik fährt – das ist eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert. Das kann uns wirklich gestohlen bleiben.    

    Eine der wichtigsten linken Forderungen in der internationalen Politik sollte eine Reform und Demokratisierung der UNO sein

    Diese Denkweise rührt wohl hauptsächlich daher, dass die Linken in den letzten Jahrzehnten auf dem absteigenden Ast waren, was nicht förderlich war für ihr politisches Denken und ihre Strategien. Das merkt man sogar an jenen, die [bezüglich der Ukraine] eine sinnvollere Position einnehmen. Sogar viele unserer Partner im Westen verschwenden mehr Zeit damit, die richtige Haltung zu finden und andere zu überzeugen, als sich zu überlegen, was man praktisch tun könnte, um auf die Situation Einfluss zu nehmen.  

    Zum Beispiel finde ich, eine der wichtigsten linken Forderungen in der internationalen Politik sollte eine Reform und Demokratisierung der UNO sein. Aber viele wollen das überhaupt nicht diskutieren, weil die UNO eben ein Gremium ist, in dem imperialistische Staaten dominieren. Tja, aber was ist die Alternative?

    Wie schätzen Sie das Potenzial der russischen Antikriegsbewegung ein? 

    Viele Ukrainer haben zu Beginn des Krieges gehofft, dass die russische Antikriegsbewegung etwas erreichen kann. Aber dann haben sie gesehen, dass stattdessen manche anfangen, gesellschaftliche Tendenzen in der Ukraine zu kritisieren – vor etwa einem Monat hat sich ein Schriftsteller darüber beschwert, dass die Ukrainer die russische Kultur abschaffen und Puschkin-Denkmäler stürzen (gemeint ist ein Kommentar von Leonid Bershidski in The Washington Post – Anm. Meduza). Aber mit so etwas sollte sich die russische Intelligenzija heute überhaupt nicht beschäftigen. So werden sie die Situation ganz bestimmt nicht zum Besseren wenden. Wenn sie Zugang zu westlichen Medien haben, sollten sie den lieber dazu nutzen, die westliche Öffentlichkeit von einer mutigeren und entschiedeneren Handlungsweise zu überzeugen. Wenn die Ukrainer Waffen fordern, ist das sowieso klar, was sonst, aber wenn die russische Opposition Waffen fordert, hat das einen ganz anderen Effekt.

    Viele Ukrainer haben zu Beginn des Krieges gehofft, dass die russische Antikriegsbewegung etwas erreichen kann

    Ich weiß natürlich, dass die politischen Perspektiven von jemandem, der sich so äußert, in Russland gleich Null sind. Doch seit dem 24. Februar hängen sämtliche Perspektiven einer Demokratisierung Russlands von der militärischen Niederlage Russlands ab und davon, wie schnell das passiert. Auch als Deutschland mit den Waffenlieferungen monatelang gezögert hat, waren es die Russen, die das hätten beschleunigen können. Ich weiß, dass es manche versucht haben, aber für die Ukrainer war das zu wenig. Das wäre wirklich notwendiger gewesen als Texte darüber, wie die Ukrainer Puschkin verunglimpfen. Der Diskurs, dass angeblich alle Russen gleich seien, gefällt mir überhaupt nicht, aber dass sogar bei Vertretern der russischen Opposition imperialistische Allüren durchschlagen – das stimmt eben auch. 

    Statt die Folgen des Kriegs zu beklagen, sollten wir lieber versuchen, das Problem an der Wurzel zu packen. Wer ukrainischen Flüchtlingen hilft, ist toll, keine Frage. Das ist eine sehr wichtige Arbeit, die irgendjemand machen muss, und wer sie macht, darf nicht einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt sein. Innerhalb der ganzen russischen Antikriegsbewegung ist für mich der Feministische Antimilitaristische Widerstand das positivste Beispiel, weil sie völlig frei sind von imperialistischen Komplexen aller Art. 

    Der Diskurs, dass angeblich alle Russen gleich seien, gefällt mir überhaupt nicht, aber dass sogar bei Vertretern der russischen Opposition imperialistische Allüren durchschlagen – das stimmt eben auch

    Andererseits verstehe ich, dass ihre Tätigkeit in Russland jetzt nicht sehr effektiv ist. Proteste können in Russland momentan nur die Zahlen der politischen Gefangenen erhöhen, der Nutzen ist überschaubar. Deswegen sollte die Frage, wie man sich unter konkreten Bedingungen verhält, lieber von denen beantwortet werden, die sich unter diesen Bedingungen befinden. Etwas anderes sind die Anarchisten, die auf den Eisenbahnschienen Sabotage betreiben. Ich weiß schon, dass es nicht viele sind, die sich zu solchen Aktionen entschließen, aber bislang ist das eine der besten Methoden, das Ende dieses Kriegs zu beschleunigen, weil das unmittelbar auf Russlands Kampffähigkeiten einwirkt. 

    Mir scheint, viele Russen, auch oppositionelle, begreifen noch nicht, dass die Ukraine nicht kapitulieren wird. Da geht es gar nicht um Selensky – der ist in diesem Punkt nur Erfüllungsgehilfe des Volkes. Nach dem, was Russland angerichtet hat, ist die absolute Mehrheit der Ukrainer gegen Zugeständnisse. Sie bereiten sich schon auf einen Winter ohne Gas und Strom vor. Dass die Fortsetzung des Krieges weitere Verluste bedeuten wird, ist allen klar, aber die Ukraine ist bereit, bis zum Sieg zu kämpfen.

    Viele Russen, auch oppositionelle, begreifen noch nicht, dass die Ukraine nicht kapitulieren wird

    Russland kann nicht siegen, und der einzige Grund, warum dieser Krieg weiter andauert, ist, dass da so ein erbärmlicher Zwerg in seinem Bunker nicht zugeben kann, dass er es mit dem Befehl zum Einmarsch in die Ukraine verbockt hat. Wenn Russland verliert, verliert er die Macht, und diesen Moment schiebt er hinaus, indem er sein Land in einen immer größeren Abgrund zieht. Je früher aber Russland seine Niederlage anerkennt und seine Truppen abzieht, desto besser ist es für die Russen.

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    „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

  • „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    Juri Dud ist einer der bekanntesten russischen YouTuber, der in seiner Sendung vDud zunächst vor allem Musikgrößen, schnell aber auch Akteure aus unterschiedlichsten – auch politischen – Lagern vor die Kamera holte. Inzwischen ist auch Juri Dud zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. YouTube ist in Russland allerdings nicht blockiert, seine Sendung erreicht Aufrufe in Millionenhöhe. 

    Über acht Millionen Aufrufe verzeichnet auch das Interview, das Dud im August mit Alexander Baunow führte. Der ehemalige Diplomat Baunow war Chefredakteur von Carnegie.ru, des russischen Onlinemediums vom Moskauer Zentrum des US-amerikanischen ThinkTanks Carnegie. Das Zentrum musste am 8. April seinen Betrieb einstellen, die Seite Carnegie.ru funktioniert seitdem nur noch als Archiv. Zuvor waren dort Experten ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung zu Wort gekommen. 

    Kurz nach dem 24. Februar hat auch Alexander Baunow Russland verlassen und lebt nun im Exil. Im Interview mit Juri Dud spricht er darüber, wie Russland in den Autoritarismus schlitterte, warum Putin teilweise auch im Westen Zuspruch findet, und gibt Antwort auf die Schlüsselfrage des postsowjetischen Russlands: W tschom sila? Worin liegt die Kraft?

    „Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung." – Alexander Baunow im Gespräch mit Juri Dud / Foto © Screenshot aus der Sendung
    „Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung.“ – Alexander Baunow im Gespräch mit Juri Dud / Foto © Screenshot aus der Sendung

    Juri Dud: 2001 war Wladimir Putin hier [in Griechenland]. Du warst damals Mitarbeiter der russischen Botschaft in Athen und hast die Rede geschrieben, die er gehalten hat. Du sagtest, dass etwa 80 Prozent des Textes aus deiner Feder stammen. Zwei Zitate: „Wir … haben den Autoritarismus in seiner schweren Form durchlebt und eine Immunität gegen ideologische Unfreiheit entwickelt, eine Immunität, die auch für die alten Demokratien von Nutzen sein kann. In den vergangenen zehn Jahren haben wir einen schwierigen Weg zurückgelegt und die einzigartige Erfahrung gesammelt, wie man einen Staat und ein politisches Leben aufbaut. Das russische Volk hat einen demokratischen Staat aufgebaut. Der Mechanismus der freien Wahlen funktioniert auf allen Ebenen. Die Grundfesten des Föderalismus sind erstarkt. Russland hat eine Zivilgesellschaft bekommen.“ Und das zweite Zitat: „Ohne Demokratie, ohne die konsequente Integration in globale Prozesse können wir uns heute eine erfolgreiche Zukunft für Russland nicht vorstellen.“ Wie klingt das für dich jetzt, 21 Jahre später? 

    Alexander Baunow: Wie das wunderschöne Russland der Zukunft. Ich habe mich geirrt, wir beide haben uns geirrt … Ich glaube, dass er in dem Moment das gesagt hat, was er denkt, denn niemand hätte ihn dazu gebracht, etwas zu sagen, das er nicht denkt. Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung. 

    Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung

    Vor 20 Jahren dachte ich, die „autoritäre Impfung“ wäre zuverlässig, eine Spritze, die dich so etwas nie wiederholen lässt. Aber offenbar stimmt das nicht, im Gegenteil, die Menschen gehen aus autoritären Perioden mit einem gebrochenen Willen zur Diskussion hervor. Sie werden leider nicht geimpft, sondern vergiftet. Das eine ist eine Impfung, das andere eine Überdosis, der Körper muss gegen das Mittel ankämpfen, weil das Immunsystem nicht mehr dagegen ankommt. Offenbar hat es unser Immunsystem nicht geschafft. Die Dosis war zu hoch.

    Stimmt es, dass Putin hier [in Griechenland] ziemlich populär ist?

    Es ist nicht der physische Putin oder sein Gehirn, die populär sind, sondern seine Funktion. Und seine Funktion besteht im Widerstand gegen den Westen. Diese Funktion erfreut sich in der ganzen nicht-westlichen Welt großer Beliebtheit.
    Der Reichtum auf der Welt ist ungleich verteilt. Der Teil der Welt, der ärmer ist als der andere, sucht eine Erklärung dafür. Die Erklärung besteht meistens in einem: Wir sind besser. Die Zynischeren, Dreisteren, die ohne Werte – haben uns betrogen, sie haben uns irgendwo unterwegs geschnitten und überholt. Und jetzt beuten sie uns aus. Es braucht jemanden, der die Situation wieder geradebiegt. Jemanden, der den Reichen erklärt, dass sie zwar die Macht haben, aber wir die Wahrheit. Das macht Putin weltweit so populär – es geht darum, dass da jemand kommt, ein Land, das „denen“ in unserem Namen sagt: Ihr seid nicht reicher als wir, weil ihr besser seid, sondern schlechter.

    Es ist nicht der physische Putin oder sein Gehirn, die populär sind, sondern seine Funktion. Und seine Funktion besteht im Widerstand gegen den Westen

    Das hatte merkwürdige Auswirkungen. Denn diese Position ist sehr attraktiv für jemanden, der gelobt werden möchte. Und schauen wir uns den frühen Putin an: Wo sucht er dieses Lob? Natürlich im Westen. Er gratuliert Bush zum Wahlsieg, schließt Militärstützpunkte. Und auf der anderen Seite haben wir die linke Intelligenz in Griechenland oder Frankreich, in Lateinamerika, in der arabischen Welt und die sagt ihm: „Wie konntet ihr Russen das mit der Großmacht so vergeigen? Ihr wart doch das Gegengewicht zu diesen Amerikanern, jetzt kennen die gar nichts mehr, wir können uns gar nicht retten. Wie konnte das nur passieren?“

    Dann kommen noch die aus Osteuropa, traumatisiert durch die Teilung Polens, die Besetzung des Baltikums, den Molotow-Ribbentrop-Pakt. Die sagen: „Die Russen sind grausam, wir kennen sie gut. Jede russische Staatsmacht ist böse. Holt sie nicht zu uns in den Westen. Rettet uns vor ihnen. Stellt lieber die Berliner Mauer weiter östlich wieder auf.“

    Und schließlich gibt es noch die Inder, Chinesen, Griechen … die Bevölkerung der ärmeren, nicht-westlichen Entwicklungsländer, die sagen: „Wo bleibt ihr denn? Wir vermissen euch!“ Und drängen in diese Richtung. Und wenn du, sagen wir mal, eine Position auf dem Globus suchst, die dich von der Masse abhebt, die dich wichtig macht, bedeutend, deine Eitelkeit befriedigt, die Eitelkeit deines Landes, deiner Nation, dann lässt du dich allmählich, Stück für Stück davon überzeugen, dass dir das selbst auch gefällt. Aber die Hauptsache ist, es gibt jemanden, der überzeugt werden will, und du fängst an, auf diese globale Nachfrage zu reagieren.

    Dann ist also der Hauptgrund für Putins Beliebtheit, dass er sich auf Kosten von Komfort und Sicherheit des eigenen Volkes gegen Amerika stellt?

    Es gibt einen guten Marker, der das veranschaulicht. Wenn man zwei Balken in Umfrage-Grafiken miteinander vergleicht, sieht man, dass nicht Russland populär ist, sondern Putin in seiner Funktion als Gegenspieler des Westens. Ist Putin populär? Ja. Finden Sie ihn cool? Ja. Wollen Sie in Russland leben? Finden Sie Russland als Land gut? Nein, nein und nochmal nein. Putin als Gegengewicht zum Westen, als jemand, der es quasi im Namen der Wahrheit auf sich nimmt, diese verlogenen, verfressenen [Westler] zu bestrafen, ist beliebt, aber in Russland leben wollen wir nicht.

    Ist Putin populär? Ja. Finden Sie ihn cool? Ja. Wollen Sie in Russland leben? Nein, nein und nochmal nein

    In den 1990er Jahren diskutierten wir mit den Griechen, die sagten: „Warum ist eure Supermacht auseinandergefallen, wie konntet ihr das so verkacken?“. Was haben wir bitteschön verkackt? Wir mussten für Essen anstehen, versteht ihr das denn nicht? Das will nicht in deren Kopf, dass wir vielleicht ein Gegenpol zu Amerika waren und die Welt bipolar, aber das alles auf Kosten des Sowjetmenschen, der für Lebensmittel Schlange stand.

    Ich möchte mit dir über die russische Diplomatie sprechen. Wie beurteilst du das, was jetzt daraus geworden ist?

    Unser Thema ist ja: Wir wollen so sein wie Amerika, ebenbürtig. Sie haben Belgrad bombardiert, auch wir können Städte bombardieren, sie sind im Irak einmarschiert, auch wir können irgendwo einmarschieren. Aber schauen wir uns den diplomatischen Hintergrund bei dieser Geschichte an. Ein Großteil der Welt war sich einig, dass Milošević und Hussein schlecht sind. Du kannst sie gut finden, zu Opfern erklären, das ist deine Sache, aber die Vorbereitungen liefen so ab, dass der größte Teil der Welt sie für böse hielt. Jetzt behauptet die russische Diplomatie steif und fest, die Regierung in Kyjiw sei illegitim und habe die Macht in der Ukraine durch einen Staatsstreich an sich gerissen. Wer auf der Welt außer Russland denkt das? Ich habe das Gefühl, die russische Diplomatie ist nicht einmal selbst davon überzeugt, denn seit den Ereignissen von 2014 wurden [in der Ukraine] mindestens zwei Mal Präsidentschafts- und Parlamentswahlen durchgeführt. Es ist also eine gewählte Regierung. Das ist das Eine. 
    Das Andere: Als die Amerikaner in den Irak und in Jugoslawien einmarschierten, standen große internationale Koalitionen hinter ihnen. Du kannst diese Kriege schlimm finden, sogar schrecklich, aber das waren ganz reale alliierte Mächte, eine reale Koalition aus zahlreichen legitimen, voneinander unabhängigen (in manchen Punkten vielleicht nicht, aber dennoch) Staaten.

    Und der Erfolg der Diplomatie bemisst sich danach, wie viele Verbündete du hast?

    Ja, Verbündete und Freunde. Russland hat heute keine Verbündeten, höchstens Fans. Russland ist eine Art Gladiator, oder vielmehr ein Zirkusathlet in der Manege. Und es verwechselt die Anfeuerungsrufe der Masse mit einer Allianz.

    Es ist das Eine, den abstrakten Stinkefinger gegen Amerika gut zu finden, und etwas ganz anderes, Mariupol und all die anderen Dinge zu sehen

    Wir haben gesagt, dass die Dritte Welt, die Entwicklungsländer, die linke Intelligenz in Italien, Spanien, Griechenland, Lateinamerika den USA den Stinkefinger zeigen will, und sie dasjenige Land anfeuert, dessen Leader sich dazu erdreistet. Aber in Wirklichkeit sehen wir, dass die Griechen geschockt sind – denn es ist das Eine, den abstrakten Stinkefinger gegen Amerika gut zu finden, und etwas ganz anderes, Mariupol und all die anderen Dinge zu sehen. Und hierin unterscheiden wir uns von den Griechen, Italienern und Spaniern: Sie haben Mitgefühl, echte Empathie. Sie leiden wirklich mit.

    Und wir nicht?

    Ich glaube, nein. Ich meine nicht die Intelligenzija mit ihrem Feingeist, sondern den durchschnittlichen Fernsehzuschauer. Der durchschnittliche Fernsehzuschauer hat oft nicht einmal mit seinem Landsmann Mitleid, der vielleicht zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die Rückholung der ureigenen russischen Gebiete erfordert es eben, dass wir unsere ureigenen russischen Menschen opfern. Was soll’s, wir haben schon Schlimmeres gesehen. Aber die Griechen haben Mitgefühl mit den Leidenden. Deshalb: Stinkefinger hin oder her, aber wenn sie sehen, wie das in Wirklichkeit ist, wie Amerika im Osten der Ukraine bestraft wird, dann heißen sie das nicht gut. Man sollte die Fan-Stimmung in den nicht-westlichen Ländern nicht überbewerten. Das sind keine Stimmungen von Alliierten, das sieht man sehr gut an den formell Verbündeten Russlands in der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit.

    Außerdem hat sich niemand für den Krieg ausgesprochen, abgesehen von Lukaschenko. 

    Ja, und der ist sowieso schon involviert. Von seinem Gebiet aus sind ja die Truppen im Norden der Ukraine eingefallen. Alle anderen sind nicht für den Krieg. Erstens beteiligen sie sich nicht, zweitens halten sie sich möglichst raus. Drittens reißen sie sich nicht mal besonders darum, wirtschaftlich zu helfen.

    Du hast gesagt, in Russland assoziiert man Demokratie mit Entbehrungen, weil mit der Demokratie damals die hungrigen 1990er ins Land zogen. Verstehe ich dein Konzept richtig, dass daran auch der Westen schuld ist, weil man es versäumt hat, für das postsowjetische Russland eine Art Marschall-Plan zu machen?

    Ich würde nicht von Schuld sprechen, ich würde es Kurzsichtigkeit nennen. Der Erste Weltkrieg wurde mit einem bezüglich Deutschland, Ungarn und Österreich nicht sehr vorausschauenden Frieden beendet. Die Weimarer Republik, die Teilung Ungarns, wie das alles gelöst wurde, das erzeugte für Jahre im Voraus revanchistische Stimmungen und versetzte nicht nur irgendwelchen Imperialisten einen Stich, sondern den Durchschnittsbevölkerungen von Österreich, Deutschland und Ungarn. Wenn wir das sagen, rechtfertigen wir nicht den Nationalsozialismus, sondern versuchen die Gründe zu verstehen, warum in Deutschland gerade diese Kräfte an die Macht kamen.

    Ich glaube, dass der Kalte Krieg ein etwas zu triumphalistisches und kurzsichtiges Finale hatte. Es gab zwar die eine oder andere Geste, irgendwelche Versuche der Beteiligung, der Einbeziehung Russlands in den Klub der großen westlichen Staaten, ein paar Respektserweisungen, von der finanziellen Unterstützung durch den IWF mal abgesehen, all das gab es sehr wohl. Aber offenbar fehlte die Konsequenz und die strategische Dimension. 

    Ich glaube, dass der Kalte Krieg ein etwas zu triumphalistisches und kurzsichtiges Finale hatte

    Das heißt, Russland verschwand als Bedrohung. Gott sei Dank. Es verschwand und war vergessen. Idealerweise hätte man dafür sorgen müssen, dass die Demontage des sowjetischen Imperiums und die Errichtung einer Mehrparteien-Demokratie mit einem wirtschaftlichen Wachstum einhergehen. 

    Was hätte es dafür gebraucht? Einfach einen landesweiten Geldregen?

    Das mit dem Geldregen wäre auch schwierig gewesen … Na ja, irgendwas hätte man sich überlegen müssen. Es hätte ein paar relativ naheliegende Dinge gegeben. Zumindest die Staatsschulden hätte man erlassen können, die ja in den 1990ern abgestottert wurden. 

    Aber da wird wieder abgewogen: Ist es euch eher schade ums Geld oder habt ihr eher Angst, dass sich alles zum Schlechten wendet? Damals war es ihnen schade ums Geld, und Angst hatten sie keine. Hätten sie geahnt, was aus Russland in den nächsten 30 Jahren wird, wären sie freigiebiger gewesen. Damals wollten sie einfach kein Geld in ein nebulöses, undurchschaubares Land fließen lassen, in dem es sich irgendwie in Luft auflösen, in den Tschetschenienkrieg gesteckt oder sonstwie gestohlen werden konnte. Und überhaupt, vor allem: wozu? Der Feind war ja entschärft. Und man hatte nicht das Gefühl, dass dieser Feind wieder gefährlich werden könnte. Das war kurzsichtig. 

    Wenn wir in die Gegenwart zurückkehren, dann gibt es einen plausiblen Plan für die Ukrainer. Zwar schon mit ein paar verwaschenen Konturen, doch was sagt der Westen zur Ukraine? Erstens werden wir euch helfen, euren Staat vor der kompletten Zerstörung durch den mächtigen Nachbarn zu bewahren. 
    Zweitens werden wir euch so gut es geht helfen, vor allem die nach dem 24. Februar 2022 besetzten Gebiete zurückzuerobern. Des Weiteren werden wir …

    … euch Geld geben … 

    … euch Geld geben für den Wiederaufbau oder die Russen dazu zwingen, euch Geld für den Wiederaufbau zu geben. Und wir verleihen euch jetzt sofort den EU-Kandidatenstatus, geben euch damit einen Riesenvorschuss. Und wieder – auch jetzt wieder: kein Plan für Russland. 

    ‚Und dann sehen wir weiter‘ ist kein Plan.

    Was bekommt Russland zu hören? Erst mal müsst ihr raus aus der Ukraine. Okay, gut. Ihr müsst Reue zeigen. Alles andere wird von der Radikalität der Emotionen jener abhängen, die diesen ganzen Horror beobachten: Ihr werdet drei Generationen Buße tun, ihr werdet zwei Generationen Buße tun, ihr werdet eine Generation Buße tun. Buße ist das Eine, aber ein Plan für ein übles Land ist etwas anderes. Dass Russland etwas sehr Böses tut, daran besteht kein Zweifel. Das ist eine Feststellung. Und was ist der nächste Schritt? Für die Ukraine gibt es nämlich klar formulierte Vorschläge. Für Russland nur: Stürzen wir Putin, Putin wird sterben, Putin muss weg, und dann sehen wir weiter. „Und dann sehen wir weiter“ ist kein Plan.

    Was meinst du, was erwartet Wladimir Putin? Was für eine Zukunft?

    Ich glaube, wenn er keine ernsten gesundheitlichen Probleme hat, dann erwarten ihn ein paar Jahre ausklingende Herrschaft über dieses isolierte, aufgepeitschte Russland. 

    Hast du eine Antwort auf die Frage, was nach ihm kommt?

    Nach ihm kommt die Modernisierung. Entweder plötzlich oder allmählich. Weil er künstlich die Zeit anhält. Sie zieht sich in die Länge, danach werden wir sie einholen müssen. Dieser aufgepeitschte Zustand ist sehr erschöpfend, sowohl für die Bevölkerung als auch für die Elite. Denn dieser Zustand bedeutet, dass der Preis jeder falschen Entscheidung sehr hoch ist. Du und ich, wir sind sozusagen unabhängige Menschen, mit unabhängigen Berufen. Unser Kriterium ist der Erfolg, auf die eine oder andere Art.
    Das Kriterium eines Menschen, der Teil des Systems ist, ist es, keins auf den Deckel zu kriegen. Davon ausgehend trifft er seine Entscheidungen. Deswegen heißt es, innerhalb des Systems wird Eigeninitiative bestraft. Und wann erhöhen sich die Chancen, von oben eins auf den Deckel zu kriegen? Natürlich in einer aufgeheizten Situation, weil der Preis für einen Fehler dann steigt, der repressive Faktor ebenfalls erhöht wird und die Brutalität der Repressionen zunimmt. Auch die Elite einer aufgepeitschten Nation leidet: Sie wird härter kritisiert, trägt mehr Verantwortung, und auch hier ist der Preis für falsche Entscheidungen höher. Auch die Elite ist lieber entspannt. 

    Du hast Russland verlassen. Wann war das?

    Ich habe Russland Ende Februar verlassen. Das war zunächst eine geplante Reise, ich musste nach Kasachstan und kam dann zurück nach Moskau. Nach meiner Rückkehr bemerkte ich, dass ich mich nicht sehr wohl fühle in einem Land, das diese Entscheidung getroffen hat, von dem aus diese Befehle erteilt werden. Aus zwei Gründen: Erstens entsteht eine Dissonanz zwischen dem Alltag, dem normalen Leben, und jenem abnormalen Verhalten, das sich das eigene Land erlaubt. Ich glaube, viele sind vor dieser Dissonanz geflüchtet, wenigstens für ein paar Wochen, um mit sich ins Reine zu kommen. 

    Ich habe mich nicht mehr wohl gefühlt in einem Land, das diese Entscheidung getroffen hat, von dem aus diese Befehle erteilt werden

    Und zweitens: Es ist ein Raum ohne Regeln, weil das Gefühl von Berechenbarkeit komplett verschwunden ist, seit unser Staat diese zwar angekündigte, aber trotzdem ungeahnte Tat begangen hat. Und wenn du siehst, dass dein Staat nach logischen Gesichtspunkten und im Hinblick auf das eigene Wohlergehen und das Glück seiner Bevölkerung unberechenbar agiert, dann fühlst du dich extrem unsicher. Einfach, weil du in einem Raum landest, in dem es keine Regeln gibt und keine rote Linien. Weil die wichtigste rote Linie, na ja, abgesehen von der atomaren, im Grunde schon überschritten ist.

    Meine letzte Frage: Worin liegt die Kraft?

    In der Liebe. 

    Warum?

    Na ja … Freiheit ohne Liebe ist zu Furchtbarem fähig, Bildung ohne Liebe führt zu keinen richtigen Entscheidungen, Intellekt ohne Liebe ist auch nur eine kalte Maschine. Das wäre meine durchaus evangelistische Antwort … 
    In der Antike gab es eine geistige Klammer – die Ilias. Darin gibt es eine […] Episode, in der Hektor getötet wird und sein Vater Priamos sich als Hirte verkleidet und den verfeindeten Achilles in seinem Schiffslager aufsucht. Er tritt an seinen Feind Achilles heran und bittet ihn um die Leiche seines Sohnes. Diese Leiche hat Achilles gerade geschändet. Also, da kommt dieser Vater, Oberhaupt des feindlichen Staates wohlgemerkt, den Achilles eigentlich sofort verhaften und töten lassen müsste. Aber nicht nur, dass Achilles Priamos nicht tötet, sondern er händigt ihm auch die Leiche aus und begleitet ihn voller Mitgefühl von seinem Lager zurück in die feindliche Stadt. 
    Das Erste, was ein griechischer Junge oder ein griechisches Mädchen also lernt, wenn er oder sie diesen fundamentalen Text, dieses Kernstück ihrer Kultur liest, ist, dass ihre Feinde Menschen sind, mit denen man mitfühlen kann, die genauso lieben, denen man sogar helfen muss und die mit einem selbst auf derselben ontologischen Stufe stehen. Kein „wir sind die Guten, die Fremden sind böse“, kein „wir haben die fiesen Trojaner besiegt und können das jederzeit wiederholen und feiern jedes Jahr den Sieg“. Die Botschaft dieses grundlegenden Textes lautet: Auch wenn du einen Feind hast, weißt du, wer er ist. 

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    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    Die Suworow-Militärschulen waren in der Sowjetunion zentrale Ausbildungseinrichtungen für künftige Soldaten und Offiziere der sowjetischen Armee. Sie existierten in zahlreichen Sowjetrepubliken, wo Schüler zwischen 14 und 18 Jahren aus wiederum verschiedenen Sowjetrepubliken zusammenkamen, zusammen lernten und lebten. Diese Internatsschulen haben auch in zahlreichen Ländern das Ende der Sowjetunion wie beispielsweise in Belarus oder Russland überlebt, wo sie bis heute für die militärische Ausbildung eine zentrale Rolle spielen.

    Auch im Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, dürften zahlreiche Absolventen der Suworow-Schulen kämpfen – auf beiden Seiten der Front. Auf diesem Weg vermengt sich sowjetische Geschichte mit der Geschichte der Unabhängigkeitsbestrebung der Ukraine und der revanchistischen Politik in Russland unter Wladimir Putin. Die belarussische Journalistin Irina Chalip hat solch eine Geschichte für das russische Exil-Medium Novaya Gazeta Europe detailliert recherchiert und aufgeschrieben – es ist die tragische Geschichte von Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk, die in einem Jahrgang an der Suworow-Militärschule in Minsk zur Zeit der späten Sowjetunion ausgebildet wurden. Jahrzehnte später sind sie nun als Oberste im aktuellen Angriffskrieg gefallen – einer auf Seiten der russischen Angreifer und Besatzer, der andere, weil er seine ukrainische Heimat verteidigt hat.  

    „Das Arschloch ist auf unser Land gekommen, um die Suworowzy [die Absolventen der Suworow-Schule – dek] und ihre Familien zu töten. Mich, meine Familie, Walera Shutschko, der gerade kämpft. Und Oleg Makartschuk haben sie schon umgebracht.“

    Das sagt Witali Tschalow über seinen gefallenen Kommilitonen von der Minsker Suworow-Militärschule, den Oberst der russischen Armee Alexej Gorobez. Die dritte Kompanie aus dem 34. Abschlussjahr an der Suworow-Militärschule – zwei aus dieser Kompanie sind im Juli in diesem Krieg ums Leben gekommen. Beide waren Oberst. Oleg Makartschuk, Chef des Waffen- und Logistikdienstes der ukrainischen Streitkräfte, starb am 14. Juli beim Raketenangriff auf Winnyzja. Alexej Gorobez, Kommandeur der 20. motorisierten Schützendivision der russischen Streitkräfte, starb am 12. Juli bei Cherson infolge eines HIMARS-Einschlags in einem Militärstützpunkt. Makartschuk starb auf eigenem Boden, Gorobez auf fremdem.

    Gleich nach ihrem Tod fanden Journalisten heraus, dass beide ein und derselben Suworow-Kompanie angehört hatten, nur verschiedenen Truppen, und zogen daraus den Schluss, dass die beiden Bekannte gewesen sein müssten. Nein, liebe Leute. Die waren keine Bekannten. Das nennt man ganz anders. Wenn zwei Heranwachsende in einer Kaserne leben, in der sich hundert Mann (die ganze Kompanie) 150 Quadratmeter teilen, wenn sie zusammen für den Dienst eingeteilt werden, wenn sie jeden Tag im selben Hörsaal sitzen, wenn sie im Trockenraum nachts zusammen Gitarre üben, wenn sie in Kolonne zum Frühsport und in die Kantine marschieren, wenn sie vor den Sommerferien die Kaserne schrubben und die Böden wachsen – dann sind sie alles, nur keine Bekannten.

    Meistens nennt man das Bruderschaft. Aber die ist nicht mit Makartschuks und Gorobez’ Tod im Juli gestorben. Sie wurde von der ersten Rakete am 24. Februar zerstört.

    „Wir waren als Kompanie immer zusammen“, sagt Witali Tschalow. „Die Kaserne misst 30 mal 40 Meter, und wir waren hundert Mann. Wir sind bis heute in Kontakt. Lesen Sie mal den Brief von Alexej Gorobez’ Mutter. Sie schreibt, dass er auf der Akademie des Generalstabs war, dass man ihm aber 13 Jahre lang den Dienstgrad eines Generals nicht zuerkannt hat. Also haben viele von uns Kommilitonen den Eindruck, dass Gorobez – um sich die Schulterklappen zu verdienen – in die Ukraine gekommen ist, um die Familien der Suworowzy zu töten. Einfach nur, um General zu werden, verstehen Sie? Ich weiß, dass er in Syrien und Tschetschenien gekämpft hat. Aber in die Ukraine ist er gekommen, um mich und meine Familie zu töten und die Familien der anderen Suworowzy. Viele von uns waren nicht mehr aktiv beim Militär und sind trotzdem in den Krieg gezogen, obwohl wir über 50 sind. Gorobez hat als Kommandeur der Division gewusst – muss es gewusst haben –, dass der Einmarsch in die Ukraine bevorsteht. Er ist bewusst auf uns losgegangen. Obwohl es einen einfachen Ausweg gegeben hätte. Er hätte ein Entlassungsgesuch einreichen und als Oberst in Pension gehen können. Seine Rente war gut. Aber er wollte General werden, indem er uns tötet. Da haben Sie die Kadetten-Bruderschaft.“

    Oleg Makartschuk über der Ziffer 9, Alexej Gorobez als Sechster von links oben / Foto © Archiv von Oleg Roshkow
    Oleg Makartschuk über der Ziffer 9, Alexej Gorobez als Sechster von links oben / Foto © Archiv von Oleg Roshkow

    Der 34. Abschlussjahrgang der Suworow-Militärschule ist einer der tragischsten, und nicht nur, weil zwei aus einer Kompanie auf verschiedenen Seiten der Frontlinie gefallen sind – der eine als Okkupant, der andere als Verteidiger seines Heimatlandes. Die 17-jährigen Absolventen waren nach ihrem Abschluss den verschiedenen Militärhochschulen der UdSSR zugeteilt worden. Die einen gingen nach Taschkent, die anderen nach Omsk oder nach Charkiw. Ein Jahr später gab es auf der Weltkarte gar keine UdSSR mehr, und die frisch ausgebildeten Offiziere wurden zu einer verlorenen Generation.

    Die Suworowzy Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk gingen beide zum Studium nach Charkiw. Makartschuk auf die technische Hochschule der Luftstreitkräfte, Gorobez auf die Panzerakademie. Beide bekamen ihre Rangabzeichen als Oberst im Jahr 1994.

    „1994 hatten die Absolventen in der Ukraine noch die Wahl“, sagt Witali Tschalow. „Ich selbst war auf der Hochschule in Poltawa, meine Kommilitonen gingen [nach dem Abschluss – dek] nach Belarus, Tadschikistan, Russland oder Aserbaidshan. Viele blieben natürlich auch in der Ukraine. Auf der Abschlussfeier gab es noch den Trinkspruch: Auf dass wir niemals aufeinander schießen. 2014 hat diese Bruderschaft einen Riss bekommen, und am 24. Februar ist sie endgültig gestorben. 

    Gorobez ist nur ein Fall. Da gibt es zum Beispiel noch einen anderen Suworow-Abgänger, Sergej Rudskoi. Er ist bei den russischen Streitkräften Chef der Haupteinsatzverwaltung, der erste Stellvertretende des Generalstabschefs. Er ist Ukrainer, geboren in Mykolajiw. Sein Vater war ein Held der Sowjetunion, er war der Leiter unserer Suworow-Militärschule. Und sein Sohn organisiert jetzt die Spezialoperation in der Ukraine.“

    „Würden Sie Ihre ehemaligen Kameraden, die in der russischen Armee dienen, nicht gerne einmal treffen?“
    „Doch. Um ihnen eins in die Fresse zu geben.“

    Witali Tschalow ist direkt und geradezu grob. Aber er hat jedes Recht dazu. Er ist wieder im Dienst, genau wie Waleri Shutschko aus derselben Kompanie. Für sie war Alexej Gorobez seit dem 24. Februar nicht mehr der alte Kumpel, mit dem sie in der Kaserne Seite an Seite geschlafen haben, sondern ein Feind, ein Besatzer, ein Mistkerl. Genau wie ihre anderen ehemaligen Kadetten-Brüder, die jetzt die täglichen Militärschläge aus dem Generalstab leiten, die aus ihren Büros heraus Befehle an die Korps und Divisionen verteilen. Der Tod des Feindes ändert nichts an seinen Taten.

    „Im Jahr unseres Abschlusses ging der damalige Leiter der Akademie General Saizew gerade in den Ruhestand. Er ging mit den Worten: ‚Ich werde dafür sorgen, dass alle Jungs, die bei mir gelernt haben, gehen können, wohin sie wollen.‘“

    Alexej Gorobez erhielt sein Offiziersdiplom in der Ukraine. Warum er sich schließlich für die russische Armee entschied, weiß niemand. Oleg Roshkow, Absolvent der Akademie für Chiffrierwesen in Krasnodar, erzählt: „Ich weiß nicht, wie es an der Panzerschule war, aber bei uns lief es so: Als die Sowjetunion zerfiel, entstand in jedem unabhängigen Staat eine eigene Armee. Krasnodar liegt in Russland, also wurde uns gesagt: Wer in der russischen Armee bleiben will, muss einen Eid ablegen, ohne Eid wird man nicht zugelassen. Wer den Eid ablegte, bekam sofort ein viel höheres Stipendium. Ich weiß noch, wie die russischen Kadetten von diesem Geld Kühlschränke und Fernseher kauften. Und aus denen, die keinen Eid abgelegt hatten, wurde eine eigene Kompanie gebildet – die Nazmen-Kompanie, die Kompanie der nationalen Minderheiten. Sie bestand aus Ukrainern, Belarussen und zwei Usbeken. Unser Stipendium reichte gerade für Knöpfe und Nadeln zum Nähen. Also gingen wir, die Nazmeny, in unsere Länder zurück. Damals hatten die Kadetten, die eine andere Staatsangehörigkeit hatten, also die Wahl: In dem Land, in dem man studiert hat, einen Eid abzulegen und in dessen Armee zu bleiben oder in sein Herkunftsland zurückzugehen.“

    Aus jener 3. Suworow-Kompanie sind nicht viele beim Militär geblieben, nach Schätzungen der Absolventen selbst nur 20 bis 30 Prozent. Das letzte Treffen der Kompanie fand 2018 statt, anlässlich des Militärschul-Jubiläums. Makartschuk und Gorobez waren bei diesem Treffen nicht dabei. Bei den Minsker Suworowzy ist es nicht üblich, sich zu den runden Jubiläen des eigenen Abschlussjahres zu treffen, dafür kommen bei den Jubiläumsfeiern der Akademie alle Jahrgänge zusammen. Die in Minsk lebenden Absolventen bereiten den „Stützpunkt“ vor – mieten Wohnungen an, reservieren Restaurants und empfangen die Gäste. Aber gerade jene Absolventen, die beim Militär geblieben sind, kommen in der Regel nicht. Sie sind im Dienst, können nicht nach Belieben mehrere Tage verreisen, und auch die finanziellen Möglichkeiten sind geringer als bei denen, die in die Wirtschaft gegangen sind. Also saßen Makartschuk und Gorobez 2018 nicht an einem Tisch und tauschten in der Heimatkaserne keine Erinnerungen aus.

    Wir sind wirklich eine Generation des Zusammenbruchs

    Die Dritte Kompanie des 34. Jahrgangs der Minsker Suworow-Militärschule hatte wohl eine eigene, geschlossene Gruppe auf Social Media und beide – Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk – waren Mitglieder. Meistens gratulierten sie sich nur zum Geburtstag. Zu Ereignissen, die die Welt oder zumindest den Kontinent erschütterten, äußerten sie sich nicht. Dann verstummten sie komplett. Überhaupt war die erste Erschütterung für die Kompanie, die in dieser Gruppe kommunizierte, das Jahr 2020 und nicht erst 2022.

    „Als auf der Website der Absolventen unserer Schule Gorobez’ Tod gemeldet wurde, kamen in der Gruppe sehr viele emotionale Reaktionen von Ukrainern, die kein Blatt vor den Mund nahmen. Und zwei Tage darauf erschien auf derselben Website die Nachricht von Oleg Makartschuks Tod. Alle waren schockiert. Wir bemühen uns um Zurückhaltung, aber nicht immer erfolgreich. 
    Die ersten Emotionen kochten 2020 hoch, zu Beginn der Proteste in Belarus. Seltsamerweise gab es 2014, als der Krieg im Donbass begann, keine großen Gefühlsausbrüche in unserer Gruppe. Hier und da kam mal was auf, aber nicht nennenswert. Und zum Jubiläum unserer Schule 2018 kamen die Ukrainer noch. Im August 2020 verließen dann erst mal jene die Gruppe, die die Proteste nicht unterstützten. Die Ukrainer sind emotional nicht so leicht aus der Bahn zu werfen, die haben sich das angesehen, ohne sich groß einzumischen. Und so ging es schlecht und recht dahin, bis zum Februar 2022. Im Februar sind dann komischerweise die Russen aus der Gruppe ausgestiegen, die ihre Regierung unterstützt haben. Da gab es von den Ukrainern, die aus Prinzip in der Gruppe blieben, einen Schwall von Emotionen. Sie versuchten, ihre russischen Kommilitonen zur Vernunft zu bringen, versuchten, die Wahrheit zu erzählen. Irgendwann gaben sie natürlich auf. Aber circa ein Drittel der Kompanie hat die Gruppe verlassen. Und jetzt haben wir in der Gruppe keine Russen mehr dabei, die für den Krieg sind. Wissen Sie, wir hatten einen Burschen aus der Kompanie in der Gruppe, der mit Gorobez befreundet war – Walera Shutschko, der jetzt auf der Seite der Ukraine kämpft.   
    Die haben nach der Suworow-Militärschule gemeinsam die Panzerausbildung in Charkiw gemacht. Walera hat gesagt, er hat mit ihm gesprochen und versucht, ihm die Augen zu öffnen. Wir sind wirklich eine Generation des Zusammenbruchs. Das ruiniert natürlich jeglichen Verstand. Wie kann man von Bruderschaft sprechen, wenn man gegeneinander Krieg führt? Gorobez hatte übrigens ukrainische Wurzeln – er war, glaube ich, einmal auf der Beerdigung seines Großvaters in Shytomyr. Vielleicht wollte er deshalb seine Ausbildung in Charkiw machen. Und seine Eltern leben überhaupt in Transnistrien. Er hat in Tschetschenien und in Syrien gekämpft. Womöglich wurde er einfach eingesetzt, wo Personalmangel war.“ 
     
    Alexej Gorobez’ Eltern wohnen in Tiraspol. Der Vater Nikolaj Gorobez ist Gemeinderatsvorsitzender der Stadt. Die Mutter Nina Gorobez veröffentlichte nach dem Tod ihres Sohnes auf der Website der Absolventen der Minsker Suworow-Militärschule einen Brief:

    „Danke an alle, die unseres Sohnes gedenken und ihm die letzte Ehre erweisen. Ein ehrlicher, anständiger, gerechter, unbestechlicher, kluger und zielstrebiger Mensch wie er, der seine Heimat und seinen Beruf so aufrichtig liebt, ist in der heutigen Zeit nicht leicht zu finden. Sein ganzes nicht immer leichtes Schicksal liegt in diesen Zeilen:

    Minsker Suworow-Militärschule; Hochschule für Panzer Charkiw; Dienst in Tiraspol nach dem Krieg; Dienst in Fernost; Juristische Hochschule Blagoweschtschensk; Allgemeine Frunse-Militärakademie; Dienst als Regimentskommandeur auf Stützpunkt 201 in Tadschikistan; Dienst in Dagestan und Tschetschenien; drei Einsätze in Syrien; Studium an der Generalstabsakademie, Abschluss mit Silbermedaille im Juni 2021.
    Seitdem bei der Division in Wolgograd.

    Sie sehen ja: Dieser Mann war an allen Brennpunkten im Einsatz. Dreimal wurde ihm von den Streitkräften die Ernennung zum General (Dienstgrad) versprochen, aber wie es so schön heißt: Es blieb alles beim Alten.
    Gorobez A. N. erhielt den Dienstgrad des Oberst mit 36 Jahren. Gibt es in der Führungsriege der Streitkräfte jemanden, der 13 Jahre lang denselben Dienstgrad führt? Weil wir in unserer Familie und Verwandtschaft kein Vitamin B, kein Geld im Überfluss und keine hohen Tiere haben. Und mein Sohn seine Erfolge aus eigener Kraft und mit dem eigenen Kopf erreicht hat. Verzeiht, das ist mein mütterlicher Schmerz und meine Verzweiflung über den Verlust eines echten Menschen, meines geliebten und liebenden Sohnes. Gott habe ihn selig, in ewiger Erinnerung. Und viele Herzen werden ihn in Erinnerung behalten – so viel Gutes hat er den Menschen getan!“ 

    So eine Bruderschaft kann man sich sonstwohin stecken – sie existiert nicht

    Zur Beerdigung von Oleg Makartschuk kamen seine Kommilitonen von der Suworow-Militärschule, die in der Ukraine leben und dienen. Sie sammelten Geld für seine Familie. Gorobez wurde ganz leise auf dem Soldatenfriedhof von Mytischtschi bei Moskau bestattet. Jetzt verbindet Makartschuk und Gorobez nur mehr die Rubrik Dritter Trinkspruch auf der Website der Absolventen der Minsker Suworow-Militärschule. (Da findet man übrigens auch Pawel Piwowarenko aus dem 36. Jahrgang, Held der Ukraine, der vor acht Jahren bei der Einkesselung von Ilowajsk umgekommen ist.) Im Leben hätte sie nichts mehr verbinden können – nicht die gemeinsame Kindheit, nicht die Kaserne, nicht die Schulzeit in derselben Stadt, nicht die Offiziers-Schulterklappen, die sie in Charkiw bekommen haben. Seit dem 24. Februar ist von der Bruderschaft der Kadetten nichts mehr übrig als der Dritte Trinkspruch. 

    Sogar der Beirat der Belarussischen Union der Suworow-Absolventen und Kadetten hat – obwohl außerhalb des Kriegsgebiets angesiedelt – zu bröckeln begonnen. Dem Beirat gehören Absolventen verschiedener Jahrgänge an, die Bälle, Sportfeste und Absolvententreffen organisieren und Beiträge und Spenden sammeln. „Ich war viele Jahre im Beirat“, sagt Alexander aus Minsk, Abschlussjahrgang 1995 (er bat uns um Anonymität), „aber im Februar bin ich ausgetreten. Ein paarmal habe ich mich nach dem 24. noch mit Kollegen ausgetauscht. Aber wissen Sie, denen, die den Krieg rechtfertigen, gebe ich nicht mehr die Hand. Mit Menschen, die diese Aggression unterstützen, habe ich nichts zu besprechen. Ein paar andere sind derselben Meinung wie ich. Aber die Beiratsleitung und ein Großteil der Mitglieder unterstützen diese Aggression. Und nicht nur zum Beirat habe ich den Kontakt abgebrochen – auch zu vielen meiner Kommilitonen, mit denen ich jahrelang befreundet war. So eine Bruderschaft kann man sich sonstwohin stecken. Sie existiert nicht.“ 

    Die Kadettenbruderschaft, an die viele dieser Jungen einmal geglaubt haben, war offenbar nichts weiter als ein sowjetisches Ideologem wie so vieles andere. Nach der UdSSR hielten sie die Absolventen noch aufrecht. Sie unterhielten Gruppen in sozialen Netzwerken, halfen einander, gratulierten einander zum Geburtstag. Am 24. Februar war das alles vorbei. Ja, sogar von der Alten Oper, in die sie kolonnenweise geführt wurden, ist längst nichts mehr übrig – seit dem Umbau sieht sie aus wie ein türkisches Hotel.

    Verblichen sind die Erinnerungen; was bleibt, ist die Rubrik Dritter Trinkspruch auf der Absolventenseite. Da ist leider Platz für alle. Für viele Kriege im Voraus.

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    Wie hoch sind die menschlichen Verluste auf Seiten Russlands? Offizielle Zahlen zu Gefallenen in der „Spezialoperation“, die in Russland von Gesetz wegen nicht als Krieg bezeichnet werden darf, werden seit März nicht mehr veröffentlicht. Doch Schätzungen zufolge sind etwa 80.000 russische Soldaten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verwundet oder getötet worden. In den Straßen größerer russischer Städte wirbt derweil das private Militärunternehmen TschWK Wagner mit Plakaten um neue Söldner. Einige Söldnertruppen bestehen laut Recherche der Novaya Gazeta Europe zu etwa einem Drittel aus verurteilten Straftätern und Vorbestraften, manche Rekrutierer versprechen den Bewerbern Straferlass.

    Diese „verdeckte Mobilisierung“, so schreibt die Novaya Gazeta Europe, laufe auf vollen Touren. Die weiterhin im Land arbeitenden Korrespondenten der Zeitung haben dazu verdeckt recherchiert und auch mit Militärexperten gesprochen, um herauszufinden, wie die Rekrutierung funktioniert und welche Ausbildung die Söldner bekommen, bevor es an die Front geht. In ihrer umfangreichen Recherche gibt die Novaya detailliert Einblick in ein „zynisches und unmenschliches System“ der Söldneranwerbung in Russland.

    Achmat  

    Alexander (Name geändert) hat ein Drittel seines Lebens hinter Gittern verbracht – aufgrund „schwerer Vergehen“ und „besonders schwerer Straftaten“. Dieses Mal fand er sich jedoch ein paar Monate nach seiner Entlassung aus der Haft in der Nähe der Stadt Rubishne in der Oblast Luhansk wieder, in den Reihen des Freiwilligenbataillons Achmat – und unter Beschuss der ukrainischen Armee. Sein „Diensteinsatz“ fiel auf März und April, als bei Sewerodonezk eine der blutigsten Schlachten des Krieges ausgetragen wurde. 

     „Dass sie Freiwillige suchen, wusste ich von einem Bekannten beim FSB. Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Irgendwann haben sich unsere Wege getrennt, aber nach meiner Entlassung schickte er mir einen Link: Hier, da suchen sie Freiwillige“, erzählt Alexander.

    Nach seiner Entlassung aus der Strafkolonie wurde Alexander unter „administrative Kontrolle“ gestellt: Das ist ein System zur strengen Überwachung ehemaliger Häftlinge. Man kann ihnen zum Beispiel verbieten, nachts aus dem Haus zu gehen, die Region zu verlassen oder an Massenveranstaltungen teilzunehmen. Außerdem werden sie verpflichtet, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, und die Silowiki können sie ganz legal beschatten. Laut Alexanders Aussage hinderten ihn diese Auflagen daran, Arbeit zu finden und sich um seine betagte Mutter zu kümmern. Er beschloss also, in die tschetschenische Stadt Gudermes zu fahren – es hieß, man könne dort seine Probleme mit dem Gesetz lösen, wenn man im Gegenzug dafür in den Krieg zieht.

    In Gudermes werden auf dem Gelände der Russischen Speznas-Universität die Freiwilligen des Achmat-Regiments für den Krieg in der Ukraine ausgebildet. Mit Kampferfahrung dauert die Express-Ausbildung ein bis drei Tage, ohne – sieben bis zehn. Die Anforderungen an die Kandidaten sind minimal: Sie müssen zwischen 20 und 49 Jahre alt sein und fit genug, um täglich mit Gepäck Fußmärsche von sieben Kilometern zu bewältigen.

    „Mein Hauptmotiv für den Kriegseinsatz war es, nicht mehr überwacht zu werden, damit ich in Ruhe in diesem Land leben kann. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht, indem sie mir verboten, nachts rauszugehen, mir ständig Tagesarrest verpassen wollten und es mir unmöglich machten zu arbeiten“, sagt Alexander. Beim Achmat versicherte man ihm, dass „jedes Problem mit dem Staat lösbar“ sei – die tschetschenischen Behörden können dein Strafregister in Absprache mit den Silowiki in anderen Regionen löschen.

    In Gudermes verbrachte unser Gesprächspartner zehn Tage. In der „Universität“ (eine private Organisation, die an den Achmat-Kadyrow-Fonds gekoppelt ist) lernt man, wie man ein Maschinengewehr hält und lädt, übt Schießpositionen sowie das schnelle Wechseln des Magazins und erfährt etwas über taktische Medizin und Kartografie. Außerdem werden die Rekruten auf ihr Aggressionspotential hin überprüft.

    „Die Aggressivität wurde ganz praktisch gemessen – sie haben geguckt, wie sich jemand im Team verhält, wenn man ihn provoziert. Wenn sich einer als Weichei entpuppte, also als nicht kampftauglich, wurde er einfach nach Hause geschickt“, berichtet Alexander. Der Gesundheitszustand interessierte die Anwerber dabei kaum – unser Gesprächspartner wurde trotz Hepatitis C aufgenommen.

    Zu den „Absolventen“ von Gudermes gehören Leute mit ganz unterschiedlichen Biografien: Söldner der Gruppe Wagner, OMON-Leute, ehemalige Häftlinge. Jeder Dritte war vorbestraft.

    „Nach zehn Tagen wurden wir über die Donezker Volksrepublik nach Sewerodonezk geflogen. Jeder bekam 300.000 Rubel [im März/April 2022 rund 3000 Euro] und Tarnkleidung. Kampfstiefel und Schutzwesten mussten wir uns selbst kaufen. Wer das Geld sparen wollte, zog sie direkt von den Ukropy ab, wenn wir ihre Stellungen einnahmen.“

    Laut unserem Interviewpartner hatten die Freiwilligentrupps während der Kämpfe um Sewerodonezk keine richtige Verbindung zu der regulären Armee. Dadurch sei es immer wieder zu „friendly fire“ und Unstimmigkeiten mit der Volksmiliz der DNR gekommen.

    Um den 20. Mai marschierten die Achmatowzy in Rubishne ein. Zu diesem Zeitpunkt war von dem Regiment nur noch ein Drittel übrig. „Fast alle wurden getötet, ich selbst habe es durch ein Wunder aus der Kampfzone herausgeschafft. Es war, als würden sie uns einfach als Kanonenfutter da reinwerfen, bis zum letzten Mann“, erzählt der Ex-Söldner.

    Alexander beschloss zu desertieren. Er nahm ein paar Granaten als Souvenir mit und tauchte in Russland unter. Um seine Geschichte zu erzählen, ruft uns Alexander nachts an, manchmal stark alkoholisiert – wegen der Folgen seiner Kriegsverletzungen kann er nicht schlafen, und weil er sich eigenmächtig vom Einsatzort entfernt hat, hat er Angst, zum Arzt zu gehen.

    Nach dem Vorbild in Tschetschenien haben auch andere Regionen Bataillone gebildet 

    Für das Achmat-Regiment, in dessen Reihen Alexander gekämpft hat, hatte Dimitri Kisseljow im Staatsfernsehen zur besten Sendezeit Werbung gemacht. Es hat in diesem Krieg berüchtigte Bekanntheit erlangt. Wegen der vielen inszenierten PR-Videos werden Kadyrows Kämpfer auch als „TikTok-Armee“ bezeichnet. Nach Aussage der ukrainischen Seite kämpfen ethnische Tschetschenen in der Regel in den hinteren Reihen der Angriffsbataillone. Nichtsdestotrotz soll vor allem das Achmat-Regiment an der brutalen Folterung ukrainischer Kriegsgefangener und dem Massaker an der Zivilbevölkerung in Butscha beteiligt gewesen sein.

    Nach dem Vorbild Tschetscheniens haben auch andere Regionen begonnen, Bataillone zu bilden, die Eigennamen tragen und zwischen 150 und 400 Mann stark sind. Insgesamt haben wir 52 Bataillone in 33 Regionen gezählt, die bereits an der Front sind oder gerade gebildet werden. Ausgehend von dieser Zahl könnten so insgesamt 9500 bis 20.000 Mann rekrutiert werden.

    „Diese Dinge entwickeln sich in Russland meist hybrid. Eine Region – in diesem Fall war es Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow – bietet ein Modell an. Daraufhin, auch um sich vor dem Kreml verdient zu machen, fangen Gouverneure in anderen Regionen an, dem Beispiel zu folgen. Genauso war es diesmal“, sagt Politologe Iwan Preobrashenski.

    Der Kreml geht laut Preobrashenski davon aus, dass die Bataillone aus Häftlingen und sozialen Randgruppen bestehen, die als Kanonenfutter an der Frontlinie „utilisiert“ würden oder als „Hilfspolizisten“ auf den okkupierten Gebieten bleiben. Doch in Wirklichkeit berge die Situation das Risiko, dass es nach dem Krieg zu separatistischen Stimmungen kommt.

    Parallel zum Staat werden die Freiwilligen auch von anderen Strukturen angeworben, die offensichtlich oder verdeckt mit dem Verteidigungsministerium in Verbindung stehen. Wir haben über zehn verschiedene Organisationen gezählt, die miteinander um die Rekruten konkurrieren. Wir haben diese Einheiten nach formalen Merkmalen in verschiedene Gruppen unterteilt: Es gibt die, die direkt dem Verteidigungsministerium unterstellt sind und die, die einer privaten Militäreinheit oder gar den Strukturen der sogenannten LNR und DNR unterstehen. 

    „Verdeckte Mobilisierung“: Söldner statt Soldaten

    Die massenhafte Anwerbung von Söldnern und Freiwilligen ist Teil der sogenannten „verdeckten Mobilisierung“. Eine offizielle Zwangsmobilisierung kann der Staat aus politischen Gründen nicht ausrufen – das würde zu massenhafter Wehrdienstverweigerung, wachsender Korruption unter den Mitarbeitern der Musterungsbehörden und in der Folge zu massenhafter Unzufriedenheit unter den Bürgern führen, erklärt Militärexperte Juri Fjodorow.

    Fjodorow geht davon aus, dass in der Ukraine bis zu 10.000 Söldner kämpfen. Das wären rund zehn Prozent des Gesamtkontingents der russischen Streitkräfte. Militärexperte Pawel Lusin schätzt die Zahl der Söldner und Freiwilligen in den verschiedenen „nicht-regulären“ Einheiten auf etwa 15.000 bis 20.000 Mann.

    Der Staat verfolgt mit dem Anwerben von Söldnern drei Ziele, meint der Experte: „Kanonenfutter“ zu kumulieren, „überflüssige“ Personen loszuwerden, die theoretisch die Waffe gegen die Macht erheben könnten (wie z. B. die Primorskije Partisany, die 2010 Mitarbeiter des Innenministeriums angegriffen hatten), und ein Gegengewicht zu den Streitkräften zu bilden.

    Die strengsten Aufnahmekriterien herrschen bei zwei Privateinheiten (Private Military Company, PMC): Redut und Wagner (obwohl Wagner wegen des zunehmenden Mangels an potentiellen Bewerbern seine Ansprüche allmählich herunterschraubt: Das maximale Alter wurde von 45 auf 52 angehoben, Wehrdienst geleistet zu haben ist keine Voraussetzung mehr, Vorstrafen werden in Kauf genommen). Beide PMCs stehen implizit in Verbindung zum Staat. Die Gruppe Wagner wird von Putins Vertrautem, dem Unternehmer Jewgeni Prigoshin finanziert, Redut wird mit dem Verteidigungsministerium in Verbindung gebracht.

    Kämpfer mit weniger Kampferfahrung wenden sich an die Freiwilligenunion des Donbass unter der Führung des Duma-Abgeordneten Alexander Borodai oder die Russische Legion des Ex-Nationalbolschewisten Sergej Fomtschenkow. Die Freiwilligen dieser Einheiten werden offiziell als Reservisten der Armeereserve des Landes registriert, dem BARS, der dem Verteidigungsministerium untersteht. Eigentlich sollen die Barsiki, wie sie genannt werden, auf den Blockposten eingesetzt werden und Konvois bewachen, also im Hinterland dienen. Aber faktisch landen diese Bataillone oft direkt an der Front.

    Die Miliz-Einheiten der selbsternannten LNR und DNR schließlich nehmen so gut wie jeden „Bewerber“ auf. Allerdings verspricht man ihnen dort weder Geld noch Ausrüstung. Für den Dienst gibt es die russische Staatsbürgerschaft oder die der DNR.
    „Der Kreml hat Angst vor der Armee, davor, dass ein neuer Shukow, ein neuer Lebed, Rochlin oder meinetwegen Troschew kommen könnten (Аlso bekannte, populäre Generäle, die zu einer eigenständigen politischen Macht werden könnten – Anm. d. Novaya Gazeta Europe). Die Fragmentierung der militärischen Macht ist ein charakteristischer Zug aller autoritären Regime“, so Pawel Lusin.

    Die Freiwilligenunion des Donbass (SDD)

    „Begreifen Sie überhaupt, wohin Sie da gehen? Was dort passieren kann? Haben Sie alle Risiken gut abgewogen?“

    Wir rufen bei der Freiwilligenunion des Donbass (SDD) an. Unser „Freiwilliger“ ist 23 Jahre alt, er hat bereits gedient und will an die Front. Doch die Anwerberin Anastassija versucht überraschend, ihn davon abzuhalten.

    „Das Mindestalter ist 23, ja, aber eigentlich wollen wir keine Kinder im Bataillon sehen“, sagt Anastassija. „Denken Sie an Ihre Mutter …“
    „Ich denke immer an meine Mutter.“

    „Wie viele Kinder haben Sie?“, fragt die Anwerberin weiter.
    „Keine.“
    „Aber Russland braucht Kinder! Wir haben eine demografische Krise im Land! Vielleicht kümmern Sie sich lieber darum?“

    Schließlich gibt sie aber nach. Die Freiwilligenunion des Donbass schließt mit den Freiwilligen offizielle Verträge des Verteidigungsministeriums. Die Mindestlaufzeit beträgt zwei Monate. Als Gehalt winken einem einfachen Soldaten 205.000 Rubel [heute 3400 Euro]  pro Monat, außerdem staatliche Zahlungen im Fall von Verwundung oder Tod. Wenn der Staat einen „fallen lässt“, heißt es, werde man helfen, das Versprochene „rauszuboxen“.

    Militärexperte Pawel Lusin nimmt an, dass die Freiwilligenunion des Donbass an den FSB angegliedert ist. Aber faktisch werden die Freiwilligen in den Bataillonen der Reservearmee registriert. Das Verteidigungsministerium hatte bereits im Herbst 2021 angefangen, Reservisten zu rekrutieren.
    „[Die Freiwilligen] sind meistens Leute über 40“, berichtet der Kommandeur des Bataillons Grom (BARS 20) Alexej Naliwaiko mit dem Rufnamen Ratibor.

    Anforderungen an die Freiwilligen der BARS gibt es fast keine. In ihren Reihen kämpfen laut Ratibor auch Opas – ab 60 aufwärts. Für diese Infanterie-Bataillone sind weder Panzer, Kriegsgerät noch Artillerie vorgesehen, nur eine Mörsereinheit. Die Freiwilligen kämpfen nicht autonom wie 2014. In der Regel werden die Bataillone der BARS einer regulären Armeeeinheit angeschlossen und von professionellen Militärs kommandiert.

    Von den Anwerbern, aber auch von den Söldnern selbst, werden die Barsiki offen als Kanonenfutter bezeichnet. Vielleicht hat uns Anastassija deshalb so nachdrücklich davon abgeraten, in das Bataillon einzutreten.

    Einfacher kommt man nur noch in die Einheiten der selbsternannten Republiken – Sparta oder Pjatnaschka. Hier wird man mit ukrainischem, russischem Pass, den Pässen der LNR, DNR oder der ehemaligen Sowjetstaaten aufgenommen, unabhängig davon, welche Probleme oder Dokumente man hat. Dafür gibt es auch null Garantien.

    Freiwillige müssen auf eigene Faust bis Donezk kommen. Auch die Ausrüstung bezahlen sie selbst. „Die Versorgung ist schlecht, für Schutzwesten und Helme gibt es Wartelisten“, heißt es ganz offen bei der Organisation Drugaja Rossija von Eduard Limonow, die Söldner für den Pjatnaschka-Bataillon rekrutiert. Das Kommando über die Einheit hat Achra Awidsba, Rufname Abchas.

    „Offiziell läuft alles über die DNR. Das Geld kommt aus Donezk. Kann sein, dass es damit und mit den zugesicherten Garantien Probleme gibt, das will ich nicht leugnen. Besser, man klärt alle finanziellen Fragen selbst. Garantien bei Verwundung oder Tod gibt es keine.“

    Ausgebildet werden die Freiwilligen innerhalb von zehn Tagen direkt in Donezk – „es ist halt Krieg.“ Laut Aussage von Experten sind es vor allem die schlecht ausgerüsteten Truppen der LNR und DNR, die die größten Verluste davontragen.

    Söldner-Suche über soziale Netzwerke

    Wir beschließen, die Einheiten, die in sozialen Netzwerken Freiwillige anwerben, abzutelefonieren und die Vertragsbedingungen herauszufinden. Unsere Basisgeschichte ist die: junger Mann von 27 Jahren, militärische Ausbildung – Schütze, Erfahrung als Vertragssoldat – zwei Jahre. Manchmal erwähnen wir noch eine offene Vorstrafe, um zu erfahren, ob man sie durch den Kriegseinsatz in der Ukraine „löschen“ kann.

    In der Regel reicht diese Basisinformation aus, um unsere Fragen zu beantworten und eine Einladung zum Treffpunkt zu bekommen. Das kann ein Hotel, ein Truppenübungsplatz, ein Rathaus oder sogar ein Privathaus sein, wie beim Bataillon Weterany. Die Anwerber teilen uns mit, dass die Papiere der potentiellen Freiwilligen direkt vor Ort überprüft würden.

    Die Anforderungen an die Kandidaten unterscheiden sich je nach Einheit. Die Kriterien sind Alter, Staatsbürgerschaft, Kampferfahrung und Vorstrafen. Dabei stehen die Headhunter oft in Konkurrenz zueinander und werben sich die Kandidaten gegenseitig ab.

    Redut

    Redut ist eine der größten inoffiziellen Formationen in diesem Krieg. Laut Berichten von Meduza waren es vor allem Redut-Truppen, die als erste PMC an der Front waren und am 24. Februar aus der LNR, DNR und Belarus in die Ukraine einmarschiert sind.

    Unmittelbar hinter der PMC Redut stehen hochrangige Generäle des Verteidigungsministeriums. Darüber berichteten (damals hieß die PMC Redut noch Schtschit) die Novaya Gazeta, Meduza und Ura.ru. „Der Vertrag wird mit der PMC geschlossen. Aber wir unterstehen dem Verteidigungsministerium“, erklärt am Telefon Timofei Bormin, der Redut-Anwerber mit dem Rufnamen Kescha.

    Das Gehalt bekommen die Redut-Kämpfer einmal im Monat ausgezahlt – bar auf die Hand, in Dollar. Bei Bedarf kann man sie gleich vor Ort umtauschen oder auf sein Konto überweisen. „Es gibt auch Kompensationen: Bei Verwundung 5000 bis 20.000 Dollar. Bei Grus 200 bis 60.000 Dollar“, sagt Kescha.

    Zum Vergleich: Die offiziellen Zahlungen bei Verwundung oder Tod sind um ein Vielfaches höher. Armeeangehörige oder Kämpfer der Rosgwardija bekommen bis zu 6 Millionen Rubel [derzeit rund 100.000 Euro – dek], wenn sie verletzt sind, und die Angehörigen 12,5 Mio. Rubel [derzeit etwa 200.000 Euro – dek], wenn der Armeeangehörige stirbt.

    Ein Teil der Ausrüstung (Kleidung, Schlafsack, Rucksack, Geschirr) kommt von Redut. Aber alles andere – Einsatz-, Schutzwesten und so weiter – bezahlen die Söldner selbst. In der Regel kostet sie das um die 700 Dollar.

    Für den Staat ist es günstig, Söldner anzuheuern. Sie gehen nicht in die offizielle Verluststatistik ein (die seit Ende März nicht mehr aktualisiert wurde), viele von ihnen bekommen weder die staatlichen Auszahlungen im Todesfall noch eine kostenlose Reha, kostenlosen Wohnraum oder sonstige Vergünstigungen für Armeeangehörige.

    Russitsch und Russische Reichslegion

    Zuweilen kämpft man an der Front gegen die „Nazis“ paradoxerweise in rechtsextremen Einheiten. Freiwillige werden unter anderem auch von der Russischen Reichslegion und dem Bataillon Russitsch rekrutiert.

    „Ich bin ein Nazi. Reiße auch mal die Hand hoch“, sagt Alexej Miltschakow im Interview mit dem Nationalisten Jegor Proswirnin.

    Miltschakow, Kommandant von Russitsch, wurde 2011 für ein Video auf VKontakte bekannt, in dem er einen Welpen grausam tötet und dann isst. Im Grunde hat er nie einen Hehl aus seinen Ansichten gemacht. 

    „Wenn du einen Menschen umbringst, spürst du: a) Jagdeifer (wer noch nie auf der Jagd war – versucht es mal) und b), dass es jetzt ein Problem weniger gibt“, brüstet er sich im selben Interview.  

    Die Reichslegion wird faktisch von Denis Garijew angeführt. Das Motto der Bewegung ist: Gott. Zar. Nation. 

    „Die angekündigte Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine sehen wir skeptisch. Für uns ist das ein Glaubenskrieg. Wenn wir diesen Krieg verlieren, wird die russisch-orthodoxe Kirche von Malorossija ausgelöscht. Das passiert schon. Die Kirchen werden bereits zu Unionen zusammengeschlossen. Es heißt schon, dass im Fall eines Sieges der Ukraine die russisch-orthodoxe Kirche ausgemerzt wird“, erklärt Denis Garijew in einem Video zur Mobilisierung seiner Anhänger. Als wir die Rekrutierer der Legion nach der Bezahlung fragen, kommt zurück, bei ihnen „geht es nicht um Geld“, und dann folgt Stille. 

    Sowohl die Reichslegion als auch Russitsch waren von Anfang an am Krieg im Donbass beteiligt – seit 2014. In beiden Formationen ist Nationalität ein Aufnahmekriterium – es werden nur Russen genommen. Bei der Legion vor allem Orthodoxe und Kriegsveteranen. 

    Die Heimat lässt dich im Stich, mein Sohn

    Den Bedingungen der Freiwilligenrekrutierung nach zu urteilen, sieht der heutige Krieg nicht so aus, als hätten sich die Streitkräfte viele Jahre darauf vorbereitet. Situationen, in denen Grundwehrdiener, die gerade mal ein MG richtig halten können, ohne jede Vorbereitung an die Front geschickt werden, waren charakteristisch für die Verteidigung im Zweiten Weltkrieg und den im Chaos der 1990er beginnenden Ersten Tschetschenienkrieg. Die Freiwilligen sehen sich zudem häufig dazu gezwungen, sich auf eigene Kosten einzukleiden. Im Fall einer Verwundung bleiben die Entschädigungszahlungen oft aus, genauso wie das „Bestattungsgeld“ für die Familie. 

    Ja, freiwillige Soldaten kommen in Militärspitäler. Ihnen wird Erste Hilfe geleistet. Aber Anspruch auf hochwertige Prothesen oder Rehabilitation haben sie aus staatlicher Sicht keinen. 

    [Begünstigungen für Veteranen] sind Peanuts im Vergleich zu den sozialen Begünstigungen, die Berufsmilitärs zustehen. Diese müssen lange ausgebildet und mit Kleidung und Waffen ausgestattet werden. Sie gehen früh in Rente. Wenn sie fallen, beziehen ihre Familien eine Hinterbliebenenrente. Und die Kinder haben ohne Aufnahmeprüfung das Recht auf Hochschulbildung.

    „Das ist ein sehr zynisches und unmenschliches System. Die Söldner haben keine Garantie auf solche sozialen Begünstigungen“, sagt Militärexperte Pawel Lusin. „In der Armee müssen sie diese Soldaten einkleiden und ernähren, sie mit Funkgeräten und Drohnen ausstatten. Viele Truppen – viele Veteranen. Aber hier rekrutiert man tausende Söldner und überlässt sie ihrem Schicksal. Wenn sie sterben – umso besser.“

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  • Jahr des historischen Gedenkens

    Jahr des historischen Gedenkens

    Julia Artjomowa, 1985 geboren, hat sich in Belarus als Autorin einen Namen gemacht. In ihrem 2021 erschienenen Roman Ja i jest rewoljuzija (dt. Ich bin die Revolution) erzählt sie „eine sehr aufrichtige, sehr weibliche und sehr verruchte Geschichte: über Revolution und Liebe, über Brüderlichkeit und Schwesternschaft, über den Zerfall von Illusionen und das Erwachsenwerden als Wahl“. In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft, der im Titel sarkastisch auf das von Alexander Lukaschenko verkündete Jahr des historischen Gedenkens anspielt, reflektiert Julia Artjomowa (die mittlerweile in der Ukraine lebt) die Gewalteskalation, die sich im Zuge der historischen Proteste 2020 in ihrer Heimat und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in ihrer Region eingestellt hat. Und sie fragt sich, ob man mit dem Wissen um diese schreckliche Gewalt überhaupt noch an diese Orte zurückkehren kann.

    Russisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Diesen Text kann ich nur in der ersten Person schreiben. Normalerweise würde ich ihn niemandem zeigen – Tagebucheinträge sind nicht für fremde Augen bestimmt, und das hier ist fast einer. Aber wir haben (kein) Glück – wir leben in einer Zeit und an einem Ort, wo unsere Erinnerungen zu Tagebüchern werden und unsere Tagebücher zu Dokumenten. Unsere Balkone und Fenster werden zu Tribünen, unsere Körper zu Zeugen und Beweisen von Verbrechen. Die Buchstaben presst du mühevoll aus dir heraus, weil es dir wie so vielen die Sprache verschlägt, deine Stimme ist heiser, aber immer noch da, und deswegen muss sie erklingen, ja, muss. Daher kann ich diesen Text schlichtweg nicht nicht veröffentlichen.

    Ich glaube, es war im Februar 2021. Wirklich, im Februar? War es nicht Januar? Oder doch März? Vielleicht schon im Dezember? Ich weiß noch genau, dass es geschneit hat – doch das ist ein zweifelhafter Anhaltspunkt. Herrscht in Belarus in diesen Monaten nicht fast immer unerträglich graues, matschiges Schneewetter? Oder hat sich in diesen Tagen einfach alles verknäuelt, verklumpt, verklebt, wie ein Schneeball, zu einem einzigen langen Monat des Wartens? Aber für das hier sind Chronologie und dokumentarische Genauigkeit überhaupt nicht wichtig. Also, sagen wir Februar. Im Februar 2021 trieb ich mich abends in der Stadt herum und machte ein paar Besorgungen. Auf dem Heimweg wollte ich Geld abheben. Ich suchte in der App den nächsten Geldautomaten und machte mich auf.
    Auf halbem Weg erwischte es mich. Eine Druckwelle versetzte mich zurück in die jüngste Vergangenheit. Ein halbes Jahr zuvor hatten mein Freund Kolja und ich uns öfter genau bei diesem Geldautomaten getroffen. Das war einfach ein praktischer und eindeutiger Treffpunkt. Am Samstag, den 15. August, um 12 Uhr waren wir von hier aus zusammen zur Beerdigung von Alexander Taraikowski gegangen.
    Damals, an jenem Februarabend im Schnee, begriff ich, dass es die Stadt meiner Kindheit, die Stadt, in der ich den Großteil meines Lebens verbracht hatte, nicht mehr gibt. In Minsk gibt es keine Geschäfte mehr, keine Läden, keine Höfe, Zäune, Cafés. Minsk ist überzogen mit einem Netz aus Narben: Da drüben sind wir davongerannt – und dorthin entkommen; da haben wir uns in der Hauseinfahrt versteckt; da haben wir gestanden und gesehen, wie sie auf die Menschen einprügeln und sie auseinandertreiben, und waren selbst erstarrt; da eine Spur von einer Blendgranate; da marschierten die Frauen durch; da wurde mein Mann Shenja geschnappt, und jedes Mal – wirklich jedes Mal – wenn wir an dieser Stelle vorbeifuhren, sagte er: „Da haben sie mich festgenommen“; dort waren im Winter die Hofproteste mit dem Nachbarbezirk; da standen wir in der Solidaritätskette, zusammen mit Roma und anderen Leuten aus unserem Hof. Und da, da wurde Roma umgebracht. 
    Ich schließe die Augen. Auf dem Stadtplan gibt es keine blinden Flecken mehr, keine sauberen Stellen, keine Erinnerungen mehr an das vorrevolutionäre Leben. Erstaunlich, wie das Gedächtnis funktioniert – es legt sich in Schichten übereinander wie Wandverputz. Und jede neue Schicht scheint die vorherige zu verwischen, zu überdecken, zu ersetzen. 
    Was ist auf der vorigen Schicht? Straßen, die ich als verliebte Sechzehnjährige entlangspazierte, mit immer derselben Kassette im Walkman. Den Park zehn Minuten von unserem Haus entfernt, in den meine Mutter immer mit mir ging, als ich klein war. Den Hof, wo meine beste Freundin und ich so gern saßen, uns am Karussell drehten und billigen Rotwein direkt aus der Flasche tranken, die wir uns teilten. Sogar die Schule, die ich neun Jahre lang besuchte, ist jetzt die, die an mein Wahllokal grenzt, und meine Lehrer sind zu Mitgliedern der Wahlkommission geworden, die ein gefälschtes Protokoll unterschrieben haben. Als hätte es mich als Sechzehnjährige nie gegeben. Das Private ist politisch. Mein Privates wurde in nur drei Tagen, 9. bis 11. August, mit einem groben Radiergummi aus dem Stadtplan gelöscht. Tage der Folter. Unser 9/11.   
    Wäre es doch nur die Stadt. Aber auch ganz normale Dinge bekamen plötzlich eine andere Bedeutung, einen anderen Sinn. Im August/September/Oktober 2020 waren wir ein riesiger Menschenfluss. Wie der kleine Fluss Nemiga, der einst in eine Betonröhre gezwängt wurde. Als unsere Demonstrationen endgültig von der Straße verdrängt waren, wurden gewöhnliche Bänke, Zäune, Bäume, Aufzüge und Haltestellen zu Plakaten, zu Leinwänden für politische Statements. Die Wände verlassener Häuser und normaler Plattenbauten fingen an zu weinen wie Ikonen: Nichts vergessen, nichts verzeihen. Diese Worte in roter Schrift drangen immer und immer wieder durch mehrere Schichten weißer Farbe. Als die Schichten zu viele wurden und die Buchstaben nicht mehr durch die Farbe schimmerten, wussten alle, was sich hinter den weißen Rechtecken verbarg.   

    ***

    Ein Junimorgen, Samstag, im Zentrum von Warschau. Meine Schulfreundin und ich sitzen auf der Terrasse eines Cafés (sie war immer einfach meine Schulfreundin gewesen, bis sie zu eben jener Freundin aus Irpin wurde, die mit ihrer Mutter und ihrer Katze zehn Tage unter Beschuss der Stadt überlebt hat). Hier in Warschau ist der Krieg überhaupt nicht spürbar, auch wenn überall viele ukrainische Flaggen hängen, sehr viele. Ich stelle meiner Freundin eine Frage, die mir schon lange im Kopf herumgeht: „Willst du zurück in die Ukraine?“ Sie sagt: „Weißt du, ich würde gern manchmal hinfahren, mal eine Woche oder zwei nach Lwiw oder Kyjiw, mal nach Odessa oder in die Karpaten. Aber richtig zurück … Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie ich jetzt in Irpin leben soll, wo in dem Park mit Designerbänken Menschen beerdigt wurden.“
    Sie redet und redet, und ich höre ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, sie spricht, und ich  merke mir, was sie sagt, sie spricht, und ich begreife – sie antwortet für uns beide, sie beantwortet auch meine eigene Frage, vor der ich jedes Mal wieder Angst habe, weil ich dann ehrlich mit mir selbst sein muss. Will ich zurück nach Minsk? Will ich jeden Tag vor meinem Fenster den Hof sehen, in dem mein Nachbar Roma erschlagen wurde? Will ich auf dem Spielplatz, der jetzt eine Gedenkstätte ist, Kaffee trinken? Will ich durch Straßen gehen, in denen Menschen geprügelt wurden, wo auf Menschen geschossen wurde, wo Granaten auf Menschen geschleudert wurden?

    Es ist unmöglich, in einer Stadt leben zu wollen, in der Parks zu Massengräbern und Spielplätze zu Gedenkstätten werden.

    So wird mir ein Jahr nach meiner Ausreise, während ich in der Warschauer Morgensonne sitze, endgültig bewusst – du kannst nicht zurück nach Minsk, diese Stadt gibt es nicht mehr, sie existiert nur in deinem Gedächtnis, sie besteht aus erinnerten Bildern wie Frankensteins Monster. Wir wollten sie umschreiben, aber haben es nicht geschafft. Jetzt ist sie nurmehr der Entwurf einer Stadt, der von einem unfähigen Schriftsteller mittendrin verworfen wurde. 
    Und trotzdem, und trotzdem ist es die Stadt, in deren Adern die Nemiga unseres Widerstands fließt. Wieder schlage ich mein Tagebuch auf und lese den Eintrag:  

    Letzten Sommer waren mein Mann und ich Fahrradfahren. Wir fuhren über die Stela auf den Siegerprospekt. Im Jahr davor hatte diese Gegend an Sonntagen ganz anders ausgesehen, und wir hatten so sehr gehofft, dass wir die Sieger sein würden. Jetzt überall rot-grüne Flaggen, demonstrativ viele, mehr als Menschen weit und breit. Und was für Menschen. Gleichgültige, die herumspazierten, als wäre nichts gewesen. Als hätten wir wirklich das nächste Kapitel aufgeschlagen. Es war bitter – vor einem Jahr noch war hier ein weiß-rot-weißer Fluss geflossen. Wir setzten uns auf eine Bank vor ein Gebäude mit dem Schriftzug: Minsk – Heldenstadt. Ich verschwand in meinem Handy, um mich abzulenken. Auf die nächste Bank setzte sich ein junger Vater mit seinem kleinen Sohn. Zufällig drang ihr Gespräch zu mir durch, es war nicht zu überhören – sie sprachen Belarussisch. Das war wie ein kleines Wunder. Als würde dir die Stadt in dem Moment, in dem du die Hoffnung verlierst, zuzwinkern.       

    Minsk gibt es nicht – es existiert nur in unserem kollektiven Gedächtnis.

    Minsk gibt es – es existiert in unserem kollektiven Gedächtnis. 

    Und solange wir uns an alles erinnern, gibt es eine Chance. Eine Chance, die Stadt neu zusammenzusetzen, die Narben mit Tattoos zu verdecken, den Orten neuen Sinn zu verleihen. Hinaus auf die Straßen zu gehen und sich die Stadt zurückzuholen. Keine neue Seite aufzuschlagen, sondern diese sauber umzuschreiben, ins Reine. Dort Gedenkstätten zu errichten, wo der Schmerz wirklich groß war. Nicht zu vergessen und nicht zu verzeihen. Den Straßen neue Namen zu geben. Die Nemiga aus dem Rohr zu befreien. 

    ***

    Es gibt noch etwas, das unser kollektives Gedächtnis lange prägen wird. 2020 haben die Belarussen eine erstaunliche Kraft in sich entdeckt, aus der unsere Nationalidee entstand. Damals war niemand in der Lage, diese Kraft richtig zu benennen, keiner konnte diese Idee formulieren. Die unglaublichen Belarussen? Das klang zu begeistert und zu naiv. 
    Jetzt, wo unsere ukrainischen Nachbarn so hingebungsvoll für ihre Freiheit kämpfen und uns manchmal Schwäche und Feigheit vorwerfen, ist es besonders schwer, sich das nicht zu Herzen zu nehmen, sich nicht selbst zu geißeln und sich nicht zu schämen. Wir hören nicht auf zu vergleichen. Und immer schneiden wir schlecht ab bei diesem Vergleich. 
    Doch auch, wenn wir uns so ähnlich sind, so sind wir doch ganz verschieden. Während die Ukrainer sagen: „Kämpft, und ihr werdet gewinnen!“, sagen wir: „Wir werden nicht vergessen, nicht verzeihen.“ Und diese Worte scheinen mir die ehrlichste und treffendste Losung von allen zu sein, die aus unserer gescheiterten Revolution 2020 hervorgegangen sind. Diese Worte sprechen aus jedem verletzten Herz. Diese Worte stehen für 9/11 genauso wie für Taraikowski, Bondarenko, Schutow und Aschurak. Diese Worte stehen für Sawadski, Gontschar und Sacharenko. Für 1307 politische Gefangene. Für 30 Journalisten, die von Repressionen betroffen sind. Für 28 Jahre ohne Wahl. Für Dima Stachowski, den 17-jährigen Jungen, der wegen Teilnahme am Protest strafrechtlich verfolgt wurde und Selbstmord beging. Für Andrej Selzer. Diese Worte stehen für Hunderte von Raketen, die seit Februar von meinem Land aus auf die Ukraine abgefeuert werden. Sie stehen für Kuropaty. Die Worte stehen für Bykau, Karatkewitsch, Kupala und Kolas. Die Worte stehen für die Nacht der erschossenen Dichter.    

    Heute, da ich in der Ukraine bin, sehe ich jeden Tag, wie sogar auf dem unfruchtbarsten Boden Leben entsteht. Es bahnt sich seinen Weg durch Schmerz, Krieg und Horror. Ich weiß, das ist es, was mein Volk am besten kann, genau das ist die nationale Idee der Belarussen – nicht zu kämpfen, sondern wie Gras durch den Asphalt zu dringen, trotz des rauen, harten Winters. Zu wachsen, wo sonst nichts mehr wächst. Zu überleben, zu leben und zu gedenken, sich immer wieder zu erinnern. Nicht zu vergessen, nicht zu verzeihen.
    … nicht zerschlagen, nicht stoppen, nicht aufhalten.

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  • „Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

    „Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

    Russlands Krieg gegen die Ukraine wird auch in den Köpfen der Menschen geführt. Das Politische schneidet dabei so scharf ins Private ein, dass ganze Familien zerbrechen. Seit der Invasion passiert das in Russland zigfach, noch mehr als das ohnehin schon seit 2014 und dem Krieg im Donbass der Fall war. Diese Kluft verläuft entlang der offiziellen Linie der russischen Führung, zwischen Eltern und ihren Kindern, unter Geschwistern, ja sogar Eheleuten. Der bekannte russische Journalist Andrej Loschak hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht: Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch). Er wurde auf YouTube veröffentlicht, eine der wenigen Nischen, in der in Russland noch kritische Standpunkte zum Krieg zu finden sind. 

    Mit Loschak hat die ukrainische Journalistin Anna Filimonowa, Herausgeberin des Online-Magazins Majak, für Holod über seinen Film gesprochen – über Mütter, die Putin alles glauben, das Klammern an Mythen und die letzten Chancen des Zweifelns. 



    Hier gibt es die Doku Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch) mit englischen Untertiteln

    Anna Filimonowa: Ich wollte Sie eigentlich zunächst fragen, seit wann Sie sich für das Thema Ukraine interessieren. Doch in Ihrer Dokumentation Rasryw swjasi geht es im Grunde gar nicht um die Ukraine, oder?

    Andrej Loschak: Das ist heute schwer zu trennen – es ist nicht das erste Mal, dass Russland in die Ukraine einmarschiert und dort einen Krieg beginnt. Leider hängt die Situation in der Ukraine jetzt davon ab, was die Russen dazu denken und fühlen. Da gibt es eine direkte Verbindung: Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein. Und für mich als Journalist, der immer mit dem russischen Kontext gearbeitet hat, lag es in der Natur der Sache, etwas darüber zu machen, wie das alles in Russland wahrgenommen wird. Allein schon, weil ich viel weniger davon verstehe, wie es die Ukrainer wahrnehmen.

    Die Idee mit der Kluft zwischen Familienmitgliedern hatte ich eigentlich seit 2014. Schon damals hat die Krim die Gesellschaft stark polarisiert. Wobei es jetzt, wie mir scheint, mehr Menschen gibt, die gegen den Krieg sind – oder zumindest zweifeln. Weil sie diesmal nicht mit irgendwelchen Märchen über grüne Männchen durchkommen und von Anfang an alles schiefgelaufen ist. Die Menschen sehen, dass das eine blutige, schwerwiegende, furchtbare Geschichte ist, sodass trotz allem Zweifel aufkommen.  

    Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein

    Ich habe mir diese Mütter in Ihrem Film angesehen und hatte den Eindruck, dass für sie allein schon der Gedanke unerträglich ist, dass ein russischer Soldat vergewaltigen, plündern und Zivilisten töten kann. Sie schieben diese Vorstellung weit von sich – das kann nicht wahr sein, das ist Fake. Meines Erachtens ist das ein sehr wichtiger Aspekt, denn er zeigt, dass nicht alles Menschliche in ihnen abgestorben ist.   

    Natürlich. Für mich ist genau das der Knackpunkt des Films: Eigentlich sehen wir ganz normale Menschen. Das heißt, sie sagen ziemlich ungeheuerliche Sachen, aber wir sehen auch, dass sie liebende Eltern, Ehemänner und dergleichen sind. Das war der Grund, warum ich familiäre Beziehungen zum Thema machte – die sind immer sehr menschlich: Man sieht lebendige Gefühle, Leiden, Freude etc. Auch hier. Aber wenn sie über das zu sprechen anfangen, was in der Ukraine passiert, verlieren sie ihre Menschlichkeit irgendwie. Ob sie jetzt Zombies sind oder Unmenschen – irgendetwas stimmt mit ihnen nicht. Ihre Gedanken sind nicht ihre Gedanken. Als ob sie nicht mit eigenen Worten sprechen würden. Ihre Stimmen, die Intonation, ihr Gesichtsausdruck – an allem sieht man, dass das nicht ganz sie sind. Als würde etwas von ihnen Besitz ergreifen, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Das ist wahrscheinlich etwas Psychologisches oder Psychiatrisches.

    Die Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird

    Wenn sie den Gedanken zulassen würden, dass die Russen das alles wirklich machen, dass sie auf fremdem Territorium Menschen umbringen, dann wäre das sehr schlimm für sie, sehr schockierend. Mit diesem Gedanken will die Mehrheit der Menschen, nach allem zu urteilen, einfach nicht leben.      

    Diese Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles gut ist, dass Putin unser Präsident, unser nationaler Leader ist, dass er gegen Feinde der Heimat kämpft, gegen den Westen, der uns zerstören will. Ihnen schien, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird. Es ist sehr schwer, das zu glauben, es ist sehr schwer, das zu akzeptieren. Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe, die sein Bewusstsein ihm hinwirft. „Unsere Soldaten sind zu so etwas schlichtweg nicht imstande.“ Wirklich nicht? Haben Sie gesehen, was sie in Tschetschenien angerichtet haben?

    Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe

    Ich habe Bücher über einfache Leute und über Soldaten im Dritten Reich gelesen, die ungeheuerliche Verbrechen begingen, aber bis dahin ganz normale Bürger waren. In ihren Verhörprotokollen ging es darum, wie sie sich verhalten haben und warum sie sich so verhalten haben. Sie sagten, sie wollten dazugehören. Alle machen das, soll ich etwa nicht? Bin ich etwa keiner von ihnen? Bin ich denn schwach, bin ich feige? Nein, ich will auch dabei sein. Man will nicht in der Minderheit sein – das macht Angst. Wenn man zur Mehrheit gehört, fühlt man sich irgendwie wohler. Und dann zimmert man sich seine Realität zurecht: Unsere Soldaten würden das nie tun. Punkt. Sie glauben das ja wirklich. Es ist nicht so, dass sie mich zynisch hinters Licht führen wollten, sondern sie glauben das. 

    Ihr Film wurde in Tbilisi öffentlich gezeigt, und die Zuschauer lachten an den Stellen, wo Befürworter des Kriegs sprachen. Hat Sie das beeindruckt?

    Ich habe davon gehört, dass die Leute gelacht haben, ja. Und meine Redakteurin Darina Lukutina sagte, dass das wie eine Schutzreaktion klang, ein sehr nervöses Lachen. Ich habe im Grunde kein Problem damit, wenn jemand über Dummheit oder logische Ungereimtheiten lacht – davon gibt es in den Antworten jener, die für den Krieg sind, genug, und ich habe bewusst versucht, sie herauszustellen.   

    Es gibt da auch einen interessanten Effekt. Sie übernehmen quasi irgendwelche Formeln aus dem Fernsehen oder woher auch immer. Doch wenn man weiterbohrt und versucht, in die Tiefe zu gehen, fangen sie an, sich zu widersprechen und zu stammeln wie Studenten bei einer Prüfung, für die sie nicht gelernt haben. Das zu zeigen, war mir wichtig. Wie Menschen, die sich vor der Realität verstecken, einfach das glauben, was ihnen die Propaganda vorgaukelt. Aber die Propaganda benimmt sich oft seltsam – wenn sie etwas richtig verschissen haben, dann verbreiten sie einfach tonnenweise unterschiedliche Versionen und überfluten den Informationsraum mit Dreck. So wie bei Butscha. So kriegt man das Gefühl, dass alle lügen, und glaubt niemandem mehr – auch den Ukrainern nicht. 

    Sie sind Menschen, normale Bürger, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, auf keinen Fall

    Ich glaube nicht, dass das Publikum aus Herzlosigkeit gelacht hat. Und ich wollte meine Protagonisten auch nicht karikieren und lächerlich machen. Ich wollte, dass die Zuschauer in ihnen Menschen sehen. Weil das alles sehr komplex ist, sie sind nicht einfach irgendwelche Trolle oder Orks. Sie sind Menschen, normale Leute, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, das auf keinen Fall.

    Sie sprechen davon, wie brüchig ihre Haltung ist. Wobei es unmöglich ist, sie von etwas anderem zu überzeugen.

    Das ist deswegen unmöglich, weil es ein Glaube ist und sich somit außerhalb jeglicher Logik befindet: Es ist absurd, also glaube ich.

    In Ihrem Film spricht eine Psychotherapeutin über eine narzisstische Spaltung: ein beklemmendes Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, das man mit einem Gefühl von Grandiosität bekämpft. Das wird als narzisstischer Schutz bezeichnet. Mit der Mutter dieser Psychotherapeutin hatte ich am meisten Mitgefühl, weil sie so vertrauensselig in dieser Falle sitzt und inständig glaubt, für das Gute zu sein, aber in Wirklichkeit auf der Seite des Bösen steht. Was alle anderen betrifft, kommt natürlich so ein Gefühl auf, wo man auf Revanche hofft: Ich warte auf den Moment, wenn ihr endlich die Wahrheit erfahrt. So einen Film würde ich mir gern anschauen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das je passieren wird.  

    Ja, ich träume auch davon, das zu sehen. Nicht aus Schadenfreude – für mich als jemanden, der immer noch russischer Patriot ist und dem Land  nur das Beste wünscht, ist es wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung. Das würde ich gern noch erleben. Denn solange mindestens die Hälfte des Landes in einem realitätsfremden Zombie-Zustand verharrt, wird in diesem Land nichts besser werden. Und das ist eine echte Bedrohung für die ganze Welt.

    Es ist wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung

    Ich weiß nicht, was die Soldaten denken. Ich würde ja gern eine Methode erfinden, wie ich in die Köpfe jener Leute hineinkriechen kann, die die Kriegsverbrechen verübt haben. Die Protagonisten von Rasryw swjasi kann man als Opfer betrachten – sie wurden gehirngewaschen, für dies und jenes drohen Haftstrafen, sie haben Angst und all das. Aber sie sind nicht direkt an Kriegsverbrechen beteiligt. Doch die, die im Krieg sind – ich würde nur zu gern wissen, was in ihnen vorgeht, was sie antreibt zu tun, was sie tun.  

    Verfolgen Sie weiterhin, was mit Ihren Protagonisten passiert? Diejenigen, die in Russland leben und gegen den Krieg sind, gehen ja bestimmt ein Risiko ein. Hat sich in ihrem Leben etwas verändert?

    Noch scheint alles relativ okay zu sein. Bis auf ein paar nervenaufreibende Anrufe ist bisher nichts passiert. Es sah zwar so aus, als gäbe es [für die staatliche Willkür] überhaupt kein Halten mehr, aber vielleicht doch. Den Leuten wird nicht einfach gekündigt, nur weil sie im Film sagen, dass sie gegen den Krieg sind. Mehr sagen sie ja nicht, sie sagen nichts Strafbares. Nur: Wir wollen keinen Krieg. 

    Halten Sie es für möglich, dass Sie nie mehr nach Russland zurückkehren können?

    Ja. Wahrscheinlich ist mir das noch nicht sehr bewusst, aber ich will nicht so wie die Protagonisten in meinem Film sein und mich an irgendwelche illusorischen Konstrukte klammern. Man muss sich deutlich bewusst machen, dass diese Möglichkeit besteht. Die Erfahrung früherer Migrationswellen zeigt, dass sich das jahrzehntelang hinziehen kann. 

    Noch habe ich keine nostalgischen Anfälle von Heimweh, weil diese Erfahrung ja noch ganz frisch ist. Später wird das schon noch kommen, aber darum geht es nicht. Das Problem ist, dass mein Beruf mit Russland verbunden ist. Das ist das, wo ich mich halbwegs kompetent fühle: Ich kann Geschichten aus der russischen Pampa erzählen, über Russland und die russische Mentalität. Mich haben die Paradoxa dieser Mentalität immer interessiert, und damit habe ich gearbeitet. Ich kannte die Antworten nicht, aber ich wusste, welche Fragen ich stellen will. Jetzt muss ich mich wohl irgendwie umorientieren. Hinfahren [nach Russland] wird kaum gehen, dabei mache ich hauptsächlich Reportagen: Man fährt an den Ort, in die Gegend, und unterhält sich mit den Leuten dort. Wie es für mich jetzt ohne dieses Land weitergehen soll, das ist die große Frage.   

    Wie es für mich jetzt ohne Russland weitergehen soll, das ist die große Frage

    Wahrscheinlich wird sich mit der Zeit der Kontext ändern, es werden andere Interessen dazukommen. Aber ich stelle mir auch die Frage: Wozu machst du das? Weil ich eigentlich schon die russische Zielgruppe vor Augen hatte. Für wen soll ich sonst arbeiten, wenn nicht für sie? Wenn die Verbindungen jetzt endgültig abreißen – wenn das Internet abgedreht wird oder einfach bei jedem, der irgendetwas aus dem Ausland anklickt, sofort Genosse Major anklopft. Das ist denkbar, es geht in diese Richtung, ich bin darauf gefasst. Aber es macht mich fertig.    

    Ich kann die Ukrainer nicht dazu bewegen, mit den Russen mitzufühlen, aber ich glaube, wir vergessen manchmal, dass ihr euer Land verliert. Wir verlieren unser Land nicht. Es stimmt, uns droht der Tod, aber was uns bleibt, ist unser Land. 

    Ja, das ist ein grundlegender Unterschied. Ihr habt ein Land, in das ihr zurückkehren könnt. Also, natürlich müsst ihr euch erstmal von dieser Horde befreien, aber dann könnt ihr zurückkehren und aufbauen. Und ihr wisst, was ihr bauen wollt und wie. Bei uns herrscht absolute Ungewissheit. Vor uns liegt die Finsternis, ansonsten sieht man nichts mehr.          

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  • „Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

    „Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

    Wie viele russische Soldaten sind seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gefallen? Woher stammen sie? Und führt die große Zahl der Toten zu einem Umdenken in der russischen Gesellschaft gegenüber der offiziellen Darstellung einer „militärischen Spezialoperation“?  

    Was die Gefallenen angeht, so gibt es kaum offizielle Zahlen. Das russische Verteidigungsministerium hält sich weitgehend bedeckt. Nur zwei Mal wurden Angaben gemacht: Am 2. und am 25. März wurden 498 beziehungsweise 1351 Tote vermeldet. Es sind spärliche Zahlen, an denen schon mit Blick auf die Propaganda Zweifel mehr als berechtigt sind. Experten wie Sönke Neitzel gehen von einer vielfach höheren Zahl aus. Der Militärhistoriker hält beispielsweise US-Angaben von bis zu 15.000 für plausibel.

    Die Redaktionen von Mediazona und BBC versuchen sich mit Recherchen über Soziale Netzwerke ein genaueres Bild zu machen, haben bis Ende Juli mehr als 5100 Tote aus den Reihen des russischen Militärs identifizieren können.

    Dafür sind auch Berichte in Regionalmedien wichtig. Sie sind es, die vor Ort recherchieren, zu Beerdigungen gehen, bei Verwandten nachfragen und sich dabei von lokalen Behörden nicht einschüchtern lassen. Ein solches Medium ist Ljudi Baikala aus Irkutsk. Das Online-Magazin, seit April im russischen Internet blockiert, berichtet über den Krieg und die Beerdigungen in Russland – auch, nachdem Dutzende russische Journalisten wegen des neuen Zensurgesetzes ins Exil gegangen sind. Was ihnen hilft: Es gebe deutlich mehr Spenden, wie Chefredakteurin Olga Mutowina der The New Times sagte. Um ihr Magazin  trotz Websperre weiter lesen zu können, hätten viele russische Leser VPN installiert. 

    Oftmals haben Angehörige der Toten erst von den Journalisten erfahren, dass ihre Söhne in der Ukraine eingesetzt wurden oder in Gefangenschaft geraten sind – und aus Angst dennoch jede Kommunikation mit den Medien verweigert, wie Ljudi Baikala-Redakteurin Jelena Trifonowa in einem Interview erzählt.

    Für die folgende Reportage ist Trifonowa zu einer Trauerfeier in einer Turnhalle von Ulan-Ude gegangen, in den Sportkomplex Lukodrom, dort hat sie auch zur Frage recherchiert, „die in jeder Küche der Republik diskutiert wird“: Warum fallen in der Ukraine so viele Männer aus Burjatien? 
    Denn die verfügbaren Daten zeigen: Die meisten Soldaten kamen bisher aus den ärmsten Regionen Russlands, allen voran aus dem nordkaukasischen Dagestan und aus der Teilrepublik Burjatien (im Südosten Sibiriens). Armut und Perspektivlosigkeit führt sie oft zu einem Vertrag mit der Armee, die in diesen Regionen häufig der einzig stabile Arbeitgeber ist. Aus den beiden – sehr viel wohlhabenderen – Metropolen Moskau und Sankt Petersburg gab es dagegen bisher die wenigsten Toten. 

    Trifonowas Reportage zeigt, wie Trauerfeiern für tote Soldaten in Russland ablaufen, wie offizielle Amtsträger im Angesicht der Gräuel, des Massakers von Butscha und all der zerbombten ukrainischen Städte wie Mariupol und Charkiw in jenem Lukodrom verkünden: „Sie sind nicht umsonst gestorben.“ Und dass viele Menschen selbst dann keine Zweifel bekommen, wenn sie, wie in Ulan-Ude, am Sarg mit dem eigenen Sohn oder Enkel stehen. 

    Das Lukodrom wurde vor einem Jahr fertig gebaut. Mit seinem gelben Dach und der Fassade aus weiß-blauen Platten sieht man es inmitten der windschiefen Holzbaracken mit Plumpsklos schon von Weitem. Es ist in Burjatien das wichtigste Zentrum für Bogenschießen – ein Nationalsport, der sehr beliebt ist. Hier trainiert der Nachwuchs, hier finden Wettkämpfe statt, zu denen Sportler aus der Umgebung und anderen Städten anreisen.

    Seit Anfang März werden in der großen Halle des Lukodrom Trauerfeiern für die in der Ukraine gefallenen Soldaten abgehalten. Die Kindermannschaften haben in dieser Zeit nicht aufgehört zu trainieren. Sie tun das gleich nebenan, im angrenzenden Gebäudeteil. Von der Tür zu den Trainingsräumen ist die Tür, aus der die Särge herausgetragen werden, nur wenige Meter entfernt.   

    „Die Eltern sind nicht erfreut darüber, dass die Sportanlage als Trauerhalle umgenutzt wird“, sagt Tatjana, deren Sohn hier Bogenschießen lernt. „Kürzlich hat es dort, wo die Kinder trainieren, auch begonnen, nach Tod zu riechen. Alles hier war von Leichengeruch durchdrungen.“

    Das Lukodrom steht direkt an einer Straße, die Verkehrspolizei hat die Zufahrt zum Gebäude abgesperrt. Am Eingang stehen noch keine Polizisten, aber zwei Tage später werden auch hier welche positioniert sein. Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die für die Organisation der Zeremonie zuständig sind, begrüßen die Trauergäste. Sie fragen: „Von wem möchten Sie sich verabschieden?“

    Die regionalen Medien haben berichtet, dass am Montag, den 28. März, im Lukodrom eine Trauerfeier für einen Soldaten anberaumt ist – für Naidal Zyrenow. Doch zur angesetzten Zeit stehen vier Särge in der Sporthalle. 
    An den Särgen sind weder Schilder noch Fotos. Wer in welchem Sarg liegt, erklären die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. 

    Im ersten liegt der 24-jährige Naidal Zyrenow, KWN-Mannschaftskapitän seiner Schule und Schüler des Jahres 2016. Er war Sanitäter. Naidals Hände sind auf der Brust seiner grauen Uniformjacke übereinander gelegt. Eine Hand ist bandagiert. 
    Im zweiten liegt der 35-jährige Bulat Odojew, der in der fünften Panzerbrigade gedient hat und eine schwangere Frau und eine Tochter hinterlässt. „Alle fragten ihn: Wozu? Aber er sagte immer: Soll ich denn meine Kameraden im Stich lassen?“, erzählt Olga, die Frau seines Cousins. 
    Im dritten liegt Shargal Daschijew, 38. Er hinterlässt ebenfalls eine schwangere Frau und zwei Töchter. 
    Im vierten liegt der 20-jährige Wladislaw Kokorin, der im Kinderheim aufwuchs und dann in eine Pflegefamilie kam. 

    An jedem Sarg stehen Verwandte. Nur bei Wladislaw fast niemand. 

    Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft

    Die Särge stehen in jenem Teil der Halle, wo sonst Kinder mit Pfeil und Bogen um die Wette schießen. Jetzt sitzen Trauergäste auf den Zuschauerbänken. Ein Teil von ihnen muss stehen, es gibt zu wenig Sitzplätze. Die große Halle der Sportanlage ist brechend voll, mindestens 600 Menschen sind gekommen.
    An den Kopfenden der Särge stehen Soldaten stramm. Die Rücken gerade, die an Riemen hängenden Maschinengewehre an die Brust gedrückt. Mit ihren jungen Gesichtern wirken sie wie Oberschüler bei der Ehrenwache am Ewigen Feuer. Manche der Soldaten weinen. Die Tränen dürfen sie nicht abwischen, so laufen sie die Wangen herunter. 

    Zwischen den Särgen und den Menschen, die sich verabschieden wollen, steht ein Tisch. An dem sitzen vier buddhistische Lamas in ihrer bordeauxroten Tracht, Chubsahan genannt. Drei der Gefallenen waren Buddhisten, sie werden nach buddhistischem Ritual bestattet. Auch ein orthodoxer Priester ist anwesend, doch hält er für Wladislaw Kokorin keine Begräbnisfeier ab, sondern steht etwas abseits mit Beamten. 

    Vor den Lamas steht ein mit rot-gelben Fransen verziertes Gefäß mit einer Pfauenfeder auf dem Tisch, und auf einem Stück roten Stoffs liegt ein offenes Buch. Daraus lesen die Lamas tibetische Trauergesänge. Und eine Sula steht auf dem Tisch, ein buddhistisches Lämpchen mit einer Flamme. Auf einem Kupfertellerchen glimmt Räucherwerk. 
    Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Die Toten müssen über weite Strecken transportiert werden, manchmal vergeht zwischen Tod und Beerdigung ein ganzer Monat oder sogar zwei. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft. 
    Die Nacken der Lamas schaukeln im Takt ihrer Gesänge. Durch die kurzen Stoppel ihrer schwarzen und grauen Haare schimmern unzählige Narben auf ihrer Kopfhaut. 

    Ohne ihre Gebete zu unterbrechen, stehen die Lamas auf und beginnen, rund um die Särge herumzugehen – das buddhistische Trauerritual geht dem Ende zu. Alle die möchten, treten noch einmal an die Verstorbenen heran und verabschieden sich. Auch sie umrunden den Sarg, berühren dabei eine Sekunde lang die Schuhe des Toten oder die Sargwand.
    Weinen ist nicht zu hören. Buddhisten dürfen bei Bestattungen nicht weinen und sollen überhaupt nicht allzu sehr um ihre Verstorbenen trauern. Nach dem Tod muss die Seele ihren Weg über den Himmel nehmen und nach 49 Tagen in einem neuen Körper zur Welt kommen. Tränen versperren dem Toten den Weg und lassen ihn nicht ziehen.

    Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände

    Am nächsten Tag werden Amgalan Tudupow und Eduard Shidjajew verabschiedet. Am übernächsten wieder zwei: der 23-jährige Bator Dondokow und Anton Chatchejew. „Die Eltern eines Gefallenen haben uns angesprochen und gesagt: ‚Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände‘“, erzählt eine Verwandte von Bator Dondokow.
    Zusammen mit einem weiteren Soldaten, der in seinem Heimatdorf bestattet wird, sind es im Laufe einer Woche zehn Bestattungen. 

    Nach der Zeremonie beginnt einer Trauerkundgebung.
    „Sie sind nicht umsonst gestorben“, sagt der Vizepräsident der Republik, Bair Zyrenow, zuerst auf Russisch, dann auf Burjatisch. „Sie sind für Russlands Größe gestorben. Für das Ende des Blutvergießens in der Ukraine.“
    „Sie sind gefallen, als sie die freie Zukunft unseres Landes verteidigten“, sagt der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow.
    „Niemand hat Russland jemals besiegt. Und niemand wird es je besiegen!“, sagt Zyren Dorshijew, Vizesprecher des Burjatischen Volkschurals
    „Die Fallschirmspringer haben ihren letzten Sprung in den Himmel getan. Der Schmerz ist groß. In ewiger Erinnerung“, sagt der Statthalter des Kommandanten der 11. Luftsturmbrigade, Unterleutnant Witali Laskow. Denselben Satz mit dem letzten Sprung hatte er einen Monat zuvor bei der ersten Versammlung gesagt.   

    Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen. Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen

    In der Halle steht ein Dutzend Polizisten. Sie achten darauf, dass niemand fotografiert oder Videoaufnahmen macht. 

    Etwa 15 Minuten nach Beginn der Zeremonie tritt ein Polizist an die Journalisten heran.
    „Wer sind Sie?“
    „Presse.“
    „Hier ist Fotografieren und Filmen verboten. Sie müssen sich eine Genehmigung des Organisators besorgen.“
    Die Organisation der Trauerfeiern obliegt Larissa Stepanowa, der stellvertretenden Vorsteherin des Sowjetski-Bezirks von Ulan-Ude, zuständig für Soziales. Sie bespricht gerade lebhaft etwas mit dem Bürgermeister.
    „Nein, hier ist Filmen verboten. Nein, kein Kommentar“, sagt sie zu unserer Frage, wie oft hier Bestattungen stattfänden. Vollkommen unerwartet schluchzt Frau Stepanowa auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Wissen Sie, wie viele dieser Trauerfeiern ich schon organisiert habe … Und mein Sohn ist auch dort … in der Ukraine.“  

    Der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow, und der Vizesprecher des Volkschurals, Zyren Dorshijew, lehnen einen Kommentar ab.
    Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen.

    Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen, dort nehmen sie unsere personenbezogenen Daten auf.

    „Wenn Sie noch mal filmen, nehmen wir Sie mit auf die Wache.“
    Aus der windschiefen Holzbaracke neben dem Lukodrom torkelt ein Mann in einer schmutzigen Jacke heraus, er riecht nach Schnaps.
    „Wissen Sie zufällig, wie oft im Lukodrom Bestattungen stattfinden?“, frage ich ihn.
    „Hey, mich braucht ihr nicht zu filmen!“ Er winkt mit den Armen, als wollte er mich verscheuchen. „Spione wie euch erkenn ich von Weitem. War selbst beim Geheimdienst.“  

    ‚Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber‘, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht 

    Am 26. April umfasst die Liste, die Ljudi Baikala führt, 102 gefallene Soldaten aus Burjatien. Sie alle haben in der Republik gedient oder sind dort geboren. Ihren Tod haben entweder Verwandte oder regionale Behörden gemeldet, oder es waren Journalisten von Ljudi Baikala bei ihrer Bestattung anwesend. 
    Die Republik steht bei der Anzahl der Verluste an zweiter Stelle. Mehr gefallene Soldaten verzeichnet nur Dagestan. Mediazona (in der Russischen Föderation als ausländischer Agent gesperrt) zufolge waren es zu dem Zeitpunkt, als es in Dagestan 125 waren, in Burjatien 85. Bewohner Moskaus oder Sankt Petersburgs, wo fast zwölf Prozent der Bevölkerung Russlands leben, scheinen in der Statistik der Gefallenen fast keine auf. [Die Zahlen sind aus dem Erscheinungszeitraum des Textes bei Ljudi Bajkala vom April 2022; aktuelle Zahlen, soweit bekannt, stehen in der Heranführung zu diesem Text – dek]
           
    Seit März werden die Namen der Gefallenen in Burjatien nur in Bezirkszeitungen oder Sozialen Netzwerken veröffentlicht. 
    Auf der Website der Regionalverwaltung findet man keine Informationen zur Zahl der Verluste. Der Militärkommissar der Oblast Irkutsk, Jewgeni Fushenko, sagte, er wolle die Zahl der Verluste nicht angeben, sie sei nicht wirklich „nennenswert“. Der Militärkommissar der Region Krasnojarsk, Andrej Lyssenko, antwortete, es sei „unanständig und ungehörig, nach der Statistik zu fragen“. Niemandem seien in Burjatien öffentlich Fragen zum Ausmaß der Verluste gestellt worden. 
    „Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber“, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht. Sie möchte nicht namentlich genannt werden. „Selbst wenn wir darüber schreiben, führt das nur zu Tränen und Skandalen.“

    Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen 

    Eine andere Journalistin hat versucht, die Verwandten eines gefallenen Soldaten zu kontaktieren. Diese haben beim Militär um Erlaubnis zu dem Gespräch angefragt. Am selben Abend teilte ihr der Chefredakteur ihrer Zeitung mit, er habe einen behördlichen Anruf erhalten mit der Anweisung, nicht mit Angehörigen zu sprechen. „Bei diesem Thema herrscht ein ungeschriebenes Verbot“, fügt unsere Gesprächspartnerin hinzu.

    Shambo Chozajew, Arzt in einer Klinik für traditionelle östliche Medizin in Ulan-Ude, beerdigt am 28. März seinen Neffen Sorigto Chozajew. Er erklärt uns: Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen. „Ukrainische Hacker stehlen Informationen und machen daraus Fakes, das haben uns die vom Militär gesagt.“   
    Wie die „ukrainischen Hacker“ die „Daten“ verwenden sollen, weiß Chozajew nicht genau. Vor ein paar Tagen hat seine Frau auf Viber eine Nachricht von einer unbekannten Nummer mit einer Beileidsbekundung zum Tod ihres Neffen erhalten. Shambo und seiner Frau gefiel das nicht. Oft gehen bei Verwandten Beschimpfungen von ukrainischen Nummern ein. So etwas schreiben ukrainische User auch unter fast jeden Post in Sozialen Netzwerken, in dem es um den Tod russischer Soldaten geht.

    Als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen

    Am 19. April hat das Verteidigungsministerium auf den Weg gebracht, den Zugang zu Daten der Verwandten von gefallenen Soldaten zu beschränken. In einem Video über die Rückkehr von Truppen aus der Ukraine sind die Gesichter sowohl der Soldaten als auch ihrer Verwandten verpixelt.   

    Naidal Zyrenow, Bulat Odojew, Wladislaw Kokorin und Shargal Daschijew werden aus dem Lukodrom hinaus auf den Südfriedhof gefahren, an den Stadtrand von Ulan-Ude. Der Trauerzug ist einen Kilometer lang. In dem Augenblick, als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen mit der Aufschrift „Bestattungsdienst“ ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen.   

    Gefallene Soldaten werden entweder hier auf dem Südfriedhof beerdigt oder in ihren Heimatstädten beziehungsweise -dörfern. Das entscheiden ihre Verwandten. Am Rand des Südfriedhofs hat das Verteidigungsministerium seinen eigenen Bereich. Seit Ende Februar sind 27 Gräber dazugekommen. Noch einmal 15 sind ausgehoben, und die Totengräber arbeiten an weiteren. 
    „Wir sollen bis morgen zwei Reihen fertigstellen, es wird wieder ein Flugzeug mit Gefallenen erwartet“, erklärt Dimitri, der hier Gräber aushebt. Es fehlen noch sechs Gräber, bis die beiden Reihen voll sind. „Man kann nicht sagen, dass viel mehr als sonst beerdigt werden“, fügt Dimitri hinzu. „So zwei oder drei Soldaten pro Tag. Während der Pandemie waren es 15 am Tag. Da hatten wir wirklich zu tun.“

    Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. ‚Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.‘ 

    Die Frage, warum so viele Burjaten umkommen, wird in jeder Küche der Region diskutiert. Manchmal dringt der Unmut nach außen.
    „Was glauben Sie, warum so viele Soldaten aus Burjatien fallen?“, sagt Jekaterina, die Schwester des gefallenen Michail Garmajew. „Es gibt überhaupt keine Arbeit, daher werden die Jungs Vertragssoldaten.“ Dasselbe sagen andere Angehörige. Michail Garmajew interessierte sich als Jugendlicher fürs Theater und zeichnete. Nach dem Wehrdienst fing er zusammen mit seinem Bruder bei einer Firma an, die Alarmanlagen installierte. Er verdiente 10.000 bis 20.000 Rubel. Nach etwa zwei Jahren kündigte er und wurde Vertragssoldat. 
    Der Bruder, Alexander, arbeitet immer noch bei dieser Firma. Jetzt bezieht er „ein normales Gehalt, 30.000 bis 35.000&ldquo. Er arbeitet in Schichten und ist fast nie zu Hause. 

    Amgalan Tudupow hat an der Burjatischen Staatlichen Universität Sport studiert. Er unterrichtete Sport an einer Schule. „Alles hat er mit den Kindern gemacht, Skifahren, Basketball. Er hatte seine Arbeit gern“, sagt seine Mutter Zyrema Tudupowa. Aber sein Gehalt lag bei 7000 Rubel. Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. „Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.“ Dort bekam er sofort 40.000 bis 50.000 Rubel. „Er war so froh und so glücklich“, erinnert sich Zyrema. „,Mama, sie nehmen mich!‘ Früher haben sie nicht alle genommen, jetzt schon.“

    Der Dienst gefiel Amgalan, obwohl er sagte, dass „die Arbeit schwer“ sei. Er kam immer spät nach Hause. Ganz früh am Morgen, gegen drei oder vier, stand er auf und fuhr wieder los. „Ich sagte zu ihm: ‚Vielleicht lässt du es doch lieber?‘“, erzählt Zyrema. „Aber er meinte: ‚Und wie soll ich dann die Kinder durchfüttern?‘“
    Die Soldaten, die in die Ukraine mussten, sagen anonym, dass sie mindestens 250.000 Rubel im Monat bekommen.

    2020 stand Burjatien bezüglich Lebensqualität von den 85 Föderationssubjekten auf dem 81. Platz. Die angrenzende Oblast Irkutsk landete auf Platz 55. Laut offizieller Statistik der Republik hatten 20 Prozent der Einwohner im Jahr 2020 ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums. 2013 waren das 17,5 Prozent gewesen. 2019 schnitt Ulan-Ude bei einem Vergleich der Lebensqualität in 78 Städten mit über 250.000 Einwohnern am schlechtesten ab. 

    Öffentlich zugänglichen Informationen zufolge verfügt die Republik über 15 Militäreinheiten. Die Zahl der Vertragssoldaten ist nicht bekannt. 2015 wurde von einer Verdoppelung berichtet. Damals war geplant, die Zahl im östlichen Militärbezirk um 26.000 Soldaten aufzustocken. 2020 schlossen weitere 1300 Soldaten einen Vertrag ab, 2021 noch einmal 600.     

    Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht‘

    Am 28. März, dem Tag, an dem auf dem Südfriedhof die vier jungen Männer begraben werden, findet im Dorf Alla die Trauerfeier für den 22-jährigen Sorigto Chozajew statt. Seine Familie ist 2014 nach Ulan-Ude gezogen, hat jedoch beschlossen, Sorigto in seinem Heimatdorf zu bestatten. „Dort sind schöne Berge, sauberes Wasser. Dort ist die Nabelschnur, über die er mit der Erde verbunden ist“, sagt der Onkel des Verstorbenen, Shambo Chozajew.

    Sorigto war das älteste von drei Kindern. Er hat in einer technischen Berufsschule programmieren gelernt, ging zur Armee und wurde Vertragssoldat. Bei der 11. Sturmbrigade saß er an den Geschützen und hat in Syrien gekämpft. Er hinterlässt seine Eltern, seinen Bruder und seine kleine Schwester, die in die zweite Klasse geht.  
    Am 25. Februar ist er gefallen, begraben wurde er am 28. März. „Wir wurden als erste zur Identifizierung geholt“, sagt Shambo Chozajew. „Fünf aus der Stadt und zehn vom Dorf lagen im Leichenschauhaus. Unserer war am stärksten verbrannt. Man musste ein genetisches Gutachten machen, darum wurde er so lange nicht bestattet.“ 
    Als auf dem Friedhof den Verwandten das Wort gegeben wurde, hat Shambo sich beim Militär bedankt: „Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht. Zwölf Stunden Flug bis Ulan-Ude. 450 Kilometer bis Alla, eine ganze Nacht im Bus. ‚Wir lassen die Unseren nicht im Stich‘ – das sind keine leeren Worte‘“, so erzählt uns Shambo von seiner Abschiedsrede.   

    Shambo sagt, es seien jetzt viele aus Alla in der Ukraine, aus manchen Familien sogar zwei Söhne auf einmal. Bei der Trauerfeier für Sorigto haben viele geweint – sie mussten an die eigenen Söhne denken. 

    „Wenn man sagt‚ gegen den ‚[von Roskomnadsor verbotenes Wort]‘, dann ist das schlecht, das ist eine Verneinung“, fügt Shambo hinzu. „Man muss sagen ‚für den Frieden‘. Wir sind alle für den Frieden. Ich rechtfertige keinen [von Roskomnadsor verbotenes Wort], aber es ist dieselbe Situation wie 1941, derselbe Faschismus. Ich habe nicht alle Informationen, aber das weiß ich.“    

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