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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Keiner hat ein Bild von der Zukunft“

    „Keiner hat ein Bild von der Zukunft“

    Wie sprechen die Menschen in Russland über den Krieg? Was denken sie wirklich? Wie sehen sie ihr Leben, ihre Rolle im militarisierten Getriebe der Putinschen Kreml-Diktatur?  

    Einwandfreie, wissenschaftlich saubere, freie und offene Meinungsstudien sind in einem Land wie dem heutigen Russland schon seit mehr als zehn Jahren unmöglich. Informationskanäle sind beschränkt, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit beschnitten und Regimekritiker werden verfolgt, verhaftet, verurteilt und gefangen gehalten. 

    In den ersten zwei Jahren des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gab es Versuche, die Haltung der „normalen“ russischen Bevölkerung zum Krieg zu ergründen: zum Beispiel vom Meinungsforschungszentrum Lewada oder auch von dem russischen Exil-Medium Meduza. Die Frage nach Schuld und Mitverantwortung spaltet selbst oppositionelle Kreise bis heute. 

    Um trotz allem wenigstens einen Eindruck von der Stimmung im Land im vierten Kriegsjahr zu bekommen, hat das Onlinemagazin Ljudi Baikala einen unabhängigen Sozialpsychologen (aus Sicherheitsgründen anonym) mit einer Umfrage beauftragt. Der Wissenschaftler sollte herausfinden, was sich die Leute von einem irgendwann vielleicht möglichen Ende der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ („SWO“) erwarteten und wünschten.  

    Aufgrund der repressiven Kremlpolitik gestaltete sich die Teilnehmersuche schwierig: Der Autor befragte zehn Personen aus verschiedenen Regionen Russlands sowie eine Fokusgruppe aus acht Personen in der Region Irkutsk. Die Interviewpartner konnte er nur „über Bekannte von Bekannten“ finden. „Man merkt, dass es nicht okay ist, einfach so von einer fremden Nummer anzurufen und dann zu sagen: ‚Wissen Sie, wir machen da so eine Recherche …‘ Die Leute sind sehr angespannt“, so der Forscher gegenüber Ljudi Baikala. Trotzdem konnte er Gesprächspartner:innen für seine Studie gewinnen: „Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte nach Alter, sozialem Status und beruflicher Stellung, um Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zu erreichen. Ich habe versucht, die Positionierung einer Person zur ‚SWO‘ zu berücksichtigen. Nicht im Sinne von positiv oder negativ, sondern danach, ob er oder sie Verwandte hat, die vielleicht tot oder verschollen sind.“ 

    Der Wissenschaftler legte den Befragten keine vorgefertigten Antwortmöglichkeiten vor, wie in der quantitativen Forschung üblich. Stattdessen sollten die Teilnehmenden möglichst ausführlich auf offene Fragen antworten. Daher liefert die Studie keine Prozentzahlen zu bestimmten Standpunkten, aber einen Einblick in die Weltsicht der Antwortenden. 

    Ljudi Baikala fasst Antworten einzelner Befragter und Fokusgruppenteilnehmenden zusammen. Deutlich wird: Eine überwiegende Mehrheit verbindet „positive Veränderungen“ mit einem Kriegsende, aber eine konkretere Vorstellung von der Zukunft hat niemand. 

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    Frage: Wie stellen Sie sich Ihr eigenes und das Leben Ihrer Familie in fünf bis sieben Jahren vor? 

    Diese Frage war für die Befragten offensichtlich die schwierigste. Es fiel ihnen schwer, ihr Leben auch nur ein Jahr im Voraus zu planen – selbst denjenigen, deren Arbeit von effektiver Planung abhängig ist, zum Beispiel Unternehmer. 

    Die Hälfte der Befragten antwortete verallgemeinernd: „Ich glaube, alles wird gut“, „Ich hoffe, dass alle gesund und glücklich werden.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Ich denke, es wird besser werden, irgendwann muss der Krieg ja zu Ende gehen und sich alles normalisieren. Also … insgesamt wird es in unserem Land einen positiven Trend geben. Auch in der Familie wird es bergauf gehen.“ 

    Die andere Hälfte hielt Zukunftsplanung für grundsätzlich unmöglich. Die Menschen fühlten sich, so fasst es der Forscher zusammen, „abhängig von äußeren Umständen“. Sie müssten „sich von heute auf morgen überlegen, wie sie unter den sich verändernden Umständen leben sollen, anstatt einem Plan zu folgen“. 

    Mitarbeiter einer NGO, 36, Oblast Irkutsk:  

    „Der Planungshorizont in unserem Land ist generell sehr kurz. Über eine Zeitspanne von fünf bis zehn Jahren zu sprechen, ist reinste Spielerei. Es wäre eine glatte Lüge zu sagen, dass wir für die nächsten zehn Jahre etwas genau vorhersagen könnten. Für das nächste Jahr ist das schon schwierig. Buchstäblich vor drei Wochen lebten wir in der einen Realität, und dann kommen – zackbumm – plötzlich irgendwelche Firmen nach Russland zurück. Was bedeutet das? Dass sich das Schicksal tausender Menschen verändert. Heute arbeiten sie in einer Branche ohne Konkurrenz, morgen haben sie plötzlich Konkurrenz usw. Ich wünsche mir sehr, dass alles gut wird, aber wie es tatsächlich wird, kann ich nicht sagen. Das kann nur die Zeit zeigen.“  

    „ZU VIEL STERBEN“ 

    Frage: Was denken Sie, wie sich ein Ende der „Spezialoperation“ auf Ihr Leben auswirken wird? 

    Die Mehrheit der Befragten erwartet von einem Ende des Krieges, dass ihre Ängste und Sorgen abnehmen. 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Die Nachrichten drücken natürlich auf die Stimmung. Also, der Krieg an sich, meine ich. Wenn das alles vorbei ist, gibt es sicher mehr Positives. Rein emotional wird alles leichter, glaube ich.“ 

    Nachfrage: „Was empfinden Sie gerade als emotional schwierig?“ 

    „Das ständige Sterben in den Nachrichten. Der Tod ist überall … Die Nachrichtenkanäle sind voll von Videos davon, überall Mord und Totschlag. Egal ob es ‚unsere‘ Toten sind oder ‚deren‘ Tote. Es gibt einfach zu viel Sterben.“ 

    Drei der Befragten sagten, dass sich ihr Leben gar nicht verändern würde. Vier glaubten, dass nach dem Krieg eine neue Krise im Land ausbrechen könnte. Sie befürchteten, dass Medikamente knapp werden, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch die Kriegsrückkehrer zunehmen und der Staatshaushalt nur noch in den Aufbau der zerstörten Regionen fließen könnte. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Mein Leben hängt nicht so sehr von dem Beginn oder Ende der ‘Spezialoperation’ ab. Ich habe zum Beispiel monatsweise auf einer Baustelle gearbeitet. Als das im Februar 2022 losging, saßen wir ganz entspannt irgendwo hinter Magistralny (Dorf in der Oblast Irkutsk – Anm. d. Red.), bauten ein Wohnheim für Gasarbeiter, und da ging’s los. Unsere Arbeit ging weiter und weiter, und wir hatten das Gefühl, in einer Art Kapsel zu sein. Als wir vom Bau wiederkamen, so im Mai, hatte sich in der Stadt nichts verändert.“ 

    „Ich habe davon gehört bzw. eine Sendung im Fernsehen gesehen, dass die Kriminalität explodieren wird, der Alkoholismus, Schlägereien, Morde. ‚Ich war da [an der Front – dek], und du nicht‘ – diese Art von Konflikten. Vor der wachsenden Kriminalität habe ich Angst. Wie gefährlich wird das Leben dann sein? Außerdem macht mir die ganze Atmosphäre Angst. Also, ich meine, die Frauen gehen regelrecht auf die Jagd nach ‚SWO‘-Teilnehmern: Sie bringen ein Kind zur Welt, er stirbt, sie bekommt Geld. Das ist die Tendenz, ich sehe das, weil ich in solchen Chatgruppen sein muss. Das ist keine gesunde Situation, alle sind Konkurrentinnen. Männer gab es sowieso nicht viele, und die, die jetzt da sind, werden Folgen davontragen, Verletzungen, Komplikationen, Behinderungen. Vor den Invaliden habe ich Angst.“ 

     

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    Frage: Was denken Sie, wie sich Ihre Stadt bzw. Ihr Land nach dem Ende der „Spezialoperation“ verändert wird? 

    Der Sozialpsychologe hat während der Gespräche bemerkt: „Es ist einfacher, über die Veränderungen im Land zu sinnieren, weil man darüber was in den Nachrichten gehört hat, oder man schöpft aus seinem Geschichtswissen. Aber wenn es um die eigene Stadt geht, gibt es keine vorgegebenen Antworten, du musst selbst überlegen, was sich hier verändert. Du musst also deine eigene Wahrnehmung einschalten, über den Tellerrand schauen, nicht nur: ‚Was habe ich im Kühlschrank, wie sieht mein Kontostand aus?‘, sondern: ‚Was passiert in meiner Stadt? Ich lebe hier ja nicht alleine.‘ Wenn die Leute über lokale Veränderungen nachdenken, wird es kompliziert, das sieht man auch bei anderen Befragungen.“ 

    Etwa ein Drittel der Befragten äußerte dann auch die Einschätzung, dass sich ein Ende der „Spezialoperation“ gar nicht auf das Leben in ihrer Stadt auswirken würde. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Wenn der Krieg zu Ende geht, fangen sicher irgendwelche Steuerrepressionen an. Unseren Staat kann man nicht verkohlen. Ich glaube, die Wirtschaft ist etwas gereift, gesünder, also wird es die Möglichkeit geben, sich etwas zu entspannen, aber insgesamt die Veränderungen in der Stadt … ehrlich gesagt, haben wir uns abgewöhnt, an die ganzen Versprechungen zu glauben. Sie machen irgendwas zum Schein, aber nicht wirklich.“ 

    Ein Drittel der Befragten erwarteten negative Veränderungen wie sinkende Löhne und einen Anstieg der Kriminalität: „Das Geld wird immer knapper werden“, „Wir werden nachts nicht mehr auf die Straße gehen können, nicht in Clubs oder Restaurants“.  

    Aber ebenso viele hofften auf Besserung: „Es wird mehr Arbeitskräfte geben“, „Das Budget der Stadt wird wachsen“, „Es wird wieder mehr gebaut“. 

    Nach den Veränderungen im ganzen Land gefragt, stellen die Befragten ebenfalls genauso viele positive wie negative Prognosen auf. Zu den positiven zählten sie auch eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und den USA. Außerdem, dass dann mit dem Wiederaufbau der „neuen Gebiete“ begonnen wird, dass das Leben insgesamt positiver und die Menschen ruhiger werden, dass es finanziell leichter werden könnte, eventuell sogar durch Steuererleichterungen durch den Staat. 

    Die Negativprognosen indes lauten: Das Land wird ärmer werden; das Land wird geächtet; der technische Rückstand wird sich drastisch bemerkbar machen; jeder wird in den Staatsapparat streben, um sein Stück vom Kuchen abzukriegen; die Kriminalität wird zunehmen. 

    Dabei lässt sich nicht beziffern, wie viele der Befragten positiv und wie viele negativ gestimmt sind, weil ein und dieselbe Person zuweilen beide Meinungen äußert. So versuchten die Menschen, die Situation objektiv zu bewerten, meint der Forscher. 

    Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk: 

    „Vielleicht werden die Menschen ruhiger, die nicht wollen, dass ihre Angehörigen bei der ‚Spezialoperation‘ landen oder dass die überhaupt stattfindet. Aber sonst, nein, ich denke nicht, dass sich groß was ändert. Vielleicht wird es sogar schwieriger … Schwieriger, weil eine große Masse von Menschen Gewalterfahrungen gemacht hat. Weil man, wenn man jemanden getötet hat, wahrscheinlich nicht mehr so leben und denken kann wie vorher. Wenn da plötzlich so viele solche Menschen sind, ist das nicht gut. Es wird nicht leichter. Irgendwann wird sich natürlich wieder alles zum Besseren wenden, aber das braucht Zeit.“ 

    „WAHRSCHEINLICH KOMMT DAS MILITÄR AN DIE MACHT“ 

    Frage: Welche Schwierigkeiten sehen Sie für eine Zukunft nach der „Spezialoperation“? Was muss der Staat nach deren Ende sicherstellen? 

    Bei diesen Fragen kommen die Teilnehmenden häufig auf die Kriegsrückkehrer zu sprechen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn. 

    Rentnerin, 65, Kaukasus:  

    „Wahrscheinlich wird das Militär an die Macht kommen. Die kehren aus dem Krieg zurück und fangen an, die Korruption zu bekämpfen, aber richtig. Beseitigen alle Diebe, die jetzt die Staatskassen leerräumen. Weil sie als Helden zurückkommen und vor nichts mehr Angst haben … Ich glaube, wenn das Militär an die Macht kommt, werden sie den Präsidenten unterstützen, aber sie werden viel strenger sein. Weil sie jetzt an das Gesetz der Zeit gewöhnt sind – erschießen und fertig. Das wird dem ganzen Land guttun.“ 

    Andererseits werden mit den Veteranen der „Spezialoperation“ auch künftige Probleme verbunden. Etwa ein Drittel der Befragten sehe zwar keine Schwierigkeiten, vor denen sie Angst hätten. Doch der Rest fürchte vor allem einen Zuwachs der Kriminalität, eine mögliche Überlastung des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste durch die Kriegsrückkehrer. Manche befürchteten auch, dass es zu einer Ungleichheit zwischen den Teilnehmern der „Spezialoperation“ und dem Rest der Bevölkerung kommen könnte und damit zu einem Wertekonflikt zwischen diesen Gruppen. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Bald wird ein Kind, ein normales, gesundes Kind aus einer vollständigen Familie nicht mehr studieren können, wenn die Männer dieser Familie nicht im Krieg waren. Weil es Quoten geben wird, Vorrang für Kinder von Kriegsversehrten, ‚SWO‘-Teilnehmern, Gefallenen und so weiter. Es wird eine Spaltung geben, ein Kastensystem, Benachteiligungen. Wenn einer studieren will, kann er ja nichts dafür, dass keiner aus seiner Familie an der Front war. Aber wenn einer im Gefängnis war und als Soldat gedient hat – dessen Kind wird aufgenommen, auch wenn es schlechte Noten hat. Ist das etwa gerecht?“ 

    „Vor allem, wenn der im Krieg gefallen ist.“ 

    „Und noch etwas, wissen Sie, plötzlich haben Frauen von Häftlingen einen ganz anderen Status. Früher nannte man sie verächtlich Knastweiber. Heute zieht der Mann in den Krieg, wird getötet, die Frau kriegt eine Rente, extra Kindergeld, einen Haufen Geld. Und schon ist sie eine gute Partie.“ 

    Der Studienautor weist darauf hin, dass die Kriegsheimkehrer generell als neue soziale Schicht gelten. Und das, obwohl keiner der Befragten von persönlichen Erfahrungen im Umgang mit ihnen berichtete, weder positiv noch negativ. Die bestehenden Befürchtungen seien wahrscheinlich auf Nachrichten zurückzuführen, die die Leute in den Medien und sozialen Netzwerken sehen.  

    An den Antworten auf die Frage, was der Staat nach Kriegsende gewährleisten müsse, sehe man außerdem: In erster Linie sollten sich die Behörden sich um die Integration der Kriegsheimkehrer kümmern. Gefragt seien vor allem psychologische Unterstützung für Soldaten und ihre Familienmitglieder, ihre Integration in den Arbeitsmarkt und Rehabilitationsangebote.

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    „DIE MENSCHEN KÖNNEN DIE REALITÄT, IN DER SIE LEBEN, NICHT AKZEPTIEREN“ 

    Frage: Welche Perspektiven eröffnen sich nach Kriegsende für Sie und Ihre Angehörigen? 

    In der Befragung ging es an keiner Stelle darum, ob der Krieg mit einem Sieg oder einer Niederlage für Russland enden würde oder sollte. Dennoch zeichnete sich ab, dass diejenigen Befragten, die dieses Thema überhaupt in ihren Antworten aufgriffen, ausschließlich von einem Sieg Russlands sprachen. Sie gehen aber auch davon aus, dass ein Sieg Russlands den Hass anderer Länder hervorrufen könne.  

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Das war ganz richtig formuliert: Wir sagen ‚nach der SWO‘ und meinen damit, dass wir siegen und das alle akzeptieren. Dass die Sanktionen vorbei sind, zumindest die meisten. Und dass wir wieder reisen können, dazu müssen auch etliche Sanktionen weg, sonst kriegen wir kein Schengenvisum, zumindest nicht als normale Staatsbürger. Wenn es in diese Richtung geht, dann ist hoffentlich Aussicht auf Freiheit. Weiß’ nicht, ob es Instagram wieder geben wird, aber YouTube wäre schon gut. Ich will Freiheit.“  

    „Ideal wäre: Wir siegen, und alle freuen sich darüber. Ich weiß ja, dass sich keiner freuen wird. Weil die besiegte Partei sich nicht freuen kann, und das sind leider alle, mit denen wir so gern wieder Friede-Freude-Eierkuchen machen würden. Sie werden zwar aufhören, diese ganzen Sachen über uns zu schreiben, werden die Sanktionen aufheben und wieder unsere Ressourcen nutzen und Handelsbeziehungen aufnehmen, aber verzeihen werden sie uns nicht.“ 

    Obwohl es vor allem um Persönliches ging, kamen die Befragten in ihren Überlegungen immer wieder auf Perspektiven zu Russland und seiner Gesellschaft im Ganzen zu sprechen. Der Sozialpsychologe vermutet dahinter ein Streben nach Gemeinsamkeit. Und obwohl die Frage auf positive Entwicklungen abzielte, sprach rund ein Viertel der Befragten auch über negative Konsequenzen. Offenbar haben diese Menschen Schwierigkeiten damit, die Realität, in der sie leben, zu akzeptieren.

    „In der Psychologie gibt es den Begriff der Selbstidentifikation“, so der Wissenschaftler.  „Wenn ein Mensch sich nicht mit der Umgebung, mit der Situation um sich herum identifizieren kann, dann sieht er Dinge eher negativ. Das heißt, es geht ihm schlecht, weil er sich in diesem Kontext nicht wiederfindet. Das heißt nicht, dass solche Leute nichts tun oder nicht arbeiten, nein, sie leben ganz normal, haben Arbeit, haben Geld. Das sind keine gescheiterten Existenzen. Aber auf emotionaler Ebene haben sie es schwer.“  

    Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk:  

    „Positive Perspektiven sehe ich überhaupt keine. Na ja, vielleicht lassen die Sanktionen nach. Vielleicht können die Leute doch wieder ein bisschen in die Welt hinaus. Natürlich wünsche ich mir, dass die Grenzen wieder aufgehen, dass man wieder reisen kann, wieder in den Urlaub fahren … einfach in Ruhe leben. Das Leben ist sowieso kurz, und wenn man dann noch lauter Stress hat, bleibt gar nichts mehr davon übrig. Jeder Tag sollte einem Freude machen. Ich weiß ja nicht, meiner Meinung nach ist nichts Gutes in Sicht.“ 

    BACK TO USSR  

    Frage: Was wird es in der Gesellschaft nach Kriegsende Neues geben, was es vorher nicht gab? 

    Etwa ein Drittel der Befragten glaubt, dass es in der Gesellschaft nichts Neues geben wird, rund 20 Prozent befürchten negative Veränderungen. Rund die Hälfte kann sich aber auch positive gesellschaftliche Veränderungen vorstellen. Genannt werden beispielsweise eine neue „patriotische“, „heroische“ Erinnerungskultur, neue Werte abseits von materiellen Zielen und „Raffgier”.  

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Was Neues – das klingt, als ob es was Gutes sein müsste. Na ja, wahrscheinlich ziehen sie irgendwann die Schrauben an. Sagen darf man nichts, Versammlungen und Demonstrationen verboten. Irgendwas werden sie sich bestimmt einfallen lassen und uns allen Zügel anlegen, damit wir nicht Reißaus nehmen, sobald die Grenzen aufgehen.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Ich hoffe, dass die Männer, die von dort [von der Front – dek] zurückkommen, neue Werte mitbringen. Auch was Gutes, nicht nur Negatives. Was hat die heutige Gesellschaft denn für Werte? Immer nur das scheiß Geld. Überall Geld, Geld, Geld. Schön wär’s, wenn es auch andere Werte gäbe, ich weiß nicht … Vielleicht eine Art Gleichheit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit. Wahrheit, endlich mal.“ 

    Rentnerin, 65, Kaukasus:  

    „Was Neues … Ich glaube, in der Kindererziehung wird das Gewissen eine größere Rolle spielen. Unsere Kinder werden mehr auf ihr Gewissen hören. Wir kämpfen ja gegen den Faschismus, nicht? Es wird keine Hakenkreuze mehr geben, auch nicht mehr diese schrecklichen Filme, die müssen einfach aus unserem Leben verschwinden, dann wird alles anders.“ 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Ein Aufschwung des Patriotismus, mehr Zusammenhalt. Weil wir ja wirklich in der Sowjetunion ein Riesenland hatten, wir waren echt tüchtig, die Ersten im Weltall, aber nach dem Zerfall kam erstmal sehr lange nichts. Jetzt kann das, wie es aussieht, wiederkommen, an den Schulen wird schon Patriotismus unterrichtet.“ 

    Bei ihren Überlegungen zu Werten sprechen Teilnehmer verschiedenen Alters über die Sowjetunion wie über ein Land, in dem sie gelebt haben. Sie idealisierten die Sowjetzeit mit ihrer „richtigen Ideologie“ und ihrem „richtigen Umgang mit Menschen“: „Bemerkenswert ist, dass auch Jugendliche so reden“, sagt der Forscher. „Allerdings halte ich das für einen Informationseffekt. Also, das sind Sachen, die viele sagen und die auf Social Media verbreitet werden. Und so hört und liest das alles auch die Jugend und nimmt es auf wie ein Märchen, an das zu glauben schön und beruhigend ist.“ 

    „POTENZIAL FÜR DIE ARBEIT AN DER GESELLSCHAFT“ 

    Frage: Wie müssen sich die Menschen nach dem Krieg verändern? In welche Richtung müssen die Regierung, die Wirtschaft gehen? 

    Auch auf diese Frage hin sprachen die Teilnehmenden von „Wertewandel“, darüber, dass die Menschen kollektive Verbesserungen anstreben müssten und nicht nur persönlichen Reichtum. Sie sollten warmherziger und mitfühlender sein. Laut dem Autor der Studie sei diese Sehnsucht nach Miteinander in der russischen Gesellschaft bereits vor rund zehn Jahren aufgekommen: „Das war natürlich noch ein schwaches Stimmchen, wenn man so will, aber es war schon vor der ‚SWO‘ da. Es kann eben sein, dass die ‚SWO‘ diesem Kollektivdenken, der Zusammengehörigkeit mehr Schwung verliehen hat.“ 

    Unternehmerin, 61, Sankt Petersburg:  

    „Die Menschen müssen zu 100 Prozent freundlicher werden. Humaner, auch zu den besiegten Feinden. Ich finde diesen Tanz auf den Knochen widerlich, dieses ‚Ätsch-bätsch, sie haben verloren!‘, verstehst du? Man kann ja trotzdem nett sein.“ 

    Außerdem sind in den Antworten auf diese Frage zum ersten Mal auch jene Russen erwähnt worden, die das Land verlassen haben.  

    NGO-Mitarbeiter, 36, Oblast Irkutsk:  

    „Ich finde, es gibt in der Gesellschaft widersprüchliche Signale. Einerseits hält ein Teil der Bevölkerung angesichts des gemeinsamen Problems umso besser zusammen. Da steckt Potenzial für die Arbeit an der Gesellschaft. Andererseits sehen wir eine Tendenz zur Spaltung, da manche das Land verlassen haben. Superbrutale, drakonische Maßnahmen vonseiten des Staates gab es nicht gegen sie. Ich glaube, wir müssen als Gesellschaft einfach einsehen, dass die Menschen eine Wahl haben, für die sie dann auch die Verantwortung tragen.“   

    Um einiges vielfältiger waren die Antworten auf den zweiten Teil der Frage – wie sich die Regierung ändern müsse. Zwei der Befragten sagten, sie könne bleiben wie sie ist, zwei andere bezweifelten das. 

    Hausfrau, 47, Krym:  

    „Oj, ich weiß gar nicht, wie sich die Regierung ändern sollte und ob überhaupt. Ich hab in meinem Leben so viele Machtwechsel erlebt, dass ich heute finde – besser bleibt alles beim Alten.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Die Regierung muss sich grundlegend ändern, weil sie es war, die diese ‚SWO‘ zugelassen hat. Auf Kosten von Menschenleben wird der Krieg zu Ende gehen, und die Überlebenden müssen Entschädigung fordern. Damit so was nicht wieder passiert.“ 

    Alle anderen Befragten nannten außerdem Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen: Ausbau von psychosozialen Diensten und Landwirtschaft, Aneignung von Territorien, Bekämpfung der Korruption, Milderung von Verboten und Beschränkungen, Verringerung von Kreditzinsen und so weiter.  

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    „EINE INNERE KAMPFBEREITSCHAFT HABEN DIE LEUTE DEFINITIV NICHT“ 

    Ziel der Befragung war es auch, Ressourcen und Motivation der Teilnehmenden zur Beteiligung am Wiederaufbau eines Lebens nach Kriegsende zu ermitteln. In Summe ergeben aber die erhaltenen Antworten, dass vor allem staatliche Ressourcen gefordert würden. „Damit sind nicht nur materielle Ressourcen gemeint, sondern auch organisatorische Ressourcen und Informationsstrukturen, auch moralische und emotionale Unterstützung“, sagt der Sozialpsychologe und Leiter der Befragungen. Die Teilnehmenden erwähnen oft psychologische Hilfe, die zur Stabilisierung der Gesellschaft, zur Versöhnung verschiedener Bevölkerungsgruppen und für die Arbeit mit Kriegsrückkehrern und ihren Angehörigen notwendig sei.   

    Rund 70 Prozent der Befragten rechnen mit positiven Veränderungen nach Kriegsende: „Sie sagten nicht direkt: ‚Wir haben diesen Krieg satt, wann ist er endlich vorbei‘, aber es war klar, dass alle schon auf den Frieden warten. Eine innere Kampfbereitschaft haben die Leute definitiv nicht.“  

    Oft erwähnten die Befragten gewünschten Werte wie Zusammenhalt, Kollektivdenken, Patriotismus. Die vorherrschende Stimmung sei allerdings ängstliche Besorgnis, weil keiner so recht wisse, wie das Leben nach dem Krieg wirklich aussehen könnte.  

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  • „Wie kann man zum post-roten Menschentyp durchdringen?”

    „Wie kann man zum post-roten Menschentyp durchdringen?”

    Der „rote Mensch“ ist das Lebensthema von Swetlana Alexijewitsch. Warum hat der homo sovieticus das Ende der Sowjetunion überlebt und sorgt in seiner Untertänigkeit auch für die Stabilität eines Systems Putin? Bei einer Diskussion, die Mitte Juni 2025 in Warschau stattfand, reflektierte die belarussische Literaturnobelpreisträgerin über diese Frage. Das Online-Portal GazetaBY hat Alexijewitschs Antwort veröffentlicht.

    Swetlana Alexijewitsch vor einer Lesung in Stockholm am 24. März 2025. / © Foto Viktoria Bank/ TT/ Imago 

    „Trotz 21. Jahrhundert leben wir immer noch in einer Art neuem Mittelalter“, sagte Swetlana Alexijewitsch bei einer Lesung in Warschau, die von Euroradio übertragen wurde. „Vor 30 Jahren waren wir alle naiv. Wir dachten, der Kommunismus ist tot, diese ‚rote Idee‘ ist tot und auch der ‚rote Mensch‘, der von ihr verschluckt wurde.  

     
    Swetlana Alexijewitsch bei ihrem Auftritt am 16. Juni 2025 in Warschau. 

    Uns war nicht klar, dass ein Mensch des Sozialismus, der Jahrzehnte im Lager verbracht hat, nicht einfach aus dem Lagertor treten und sofort frei sein kann. Diese Mythen sitzen tief in seinem Bewusstsein. Und dieses Unbewusste ist stärker als unsere Worte. Und deswegen ist der Kommunismus noch nicht tot, und diese ‚roten Menschlein‘ ziehen in die Ukraine in den Tod.  

    Und heute sterben Russen, um sich einen Kühlschrank zu kaufen oder eine Wohnung zu bezahlen. 

    Als ich damals in Afghanistan war und mein Buch über jenen Krieg schrieb, hat keine der Mütter, hat keiner der Jungs, mit denen ich dort sprach, den Krieg unterstützt. Sie hassten den Kommunismus. Und heute sterben Russen, um sich einen Kühlschrank zu kaufen oder eine Wohnung zu bezahlen. Das erzählen sie auch so: ‚Wir haben uns alle zusammengesetzt – meine Frau, meine Tochter und ich – und kamen zu dem Schluss, dass wir zu viele Schulden haben. Wir müssen den Kredit abbezahlen, brauchen ein Auto, also muss ich in den Krieg – und ich zog in den Krieg.‘   

    Ein anderer sagte: ‚Ich hasse die chochly.‘ Ich fragte: ‚Warum?‘ – ‚Ich hasse sie einfach.‘ Und ich weiß nicht, wie man zu diesem post-roten Menschentyp durchdringen soll.“  

    Die Schriftstellerin macht sich Sorgen, dass die Ideen des „roten Menschen“ sich immer weiter in der Welt verbreiten.  

    „Ich glaube, die Menschen in Russland sind gekränkt, dass dieser große russische Kuchen ohne sie aufgeteilt wurde: Wenn zum Beispiel ihre Großeltern oder Eltern in irgendeiner Fabrik gearbeitet haben und diese Fabrik dann für ein paar Kopeken an irgendwen verscherbelt wurde, der jetzt Milliarden daran verdient. Und selbst können sie ihren Kindern keine Ausbildung finanzieren. Einer sagte zu mir, er könne seiner Tochter keine ordentliche Hochzeit zahlen. 

    Mir als Schriftstellerin scheint, dass ich überall eine Art Aufstand der Gekränkten sehe. 

    Ich glaube, etwas Ähnliches passiert in Amerika. Ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung hat das Gefühl, übergangen zu werden, nichts wert zu sein. Und da kommt Trump, der im Namen dieser Menschen spricht. Ich glaube, so funktioniert das auch in Ungarn, wo ich kürzlich war, und in der Slowakei. Dort habe ich genau solche gekränkten Menschen gesehen. Mir als Schriftstellerin scheint, dass ich überall eine Art Aufstand der Gekränkten sehe. In Deutschland, wo ich jetzt lebe, wird die AfD genau von solchen Leuten gewählt. Sie bekommt immer mehr Stimmen. Doch vor allem sind wir demgegenüber so hilflos. 

    Von einem russischen Schriftsteller stammt die Metapher, dass wir lange Zeit gegen einen Drachen gekämpft haben, gegen den Kommunismus. Wir gefielen uns in diesem Kampf, er war schaurig, aber schön. Und dann haben wir den Drachen besiegt, und sahen uns um – und da waren ringsum lauter Ratten, doch wir wissen nicht, wie man Ratten bekämpft. Weder unsere Literatur noch unsere Kunst weiß, wie man Ratten bekämpft. Diese Monster sitzen in jedem von uns. Sie steigen in uns auf wie etwas Wildes, wie irgendwelche Instinkte. Und über die wissen wir kaum etwas. Wir haben den Begriff des Kommunismus zu stark vereinfacht.  

    Gefährlich ist die Natur des Menschen als solche. Sie neigt ohnehin nicht zur Vollkommenheit. Wenn man ihr dann noch eine Idee in den Kopf setzt, zum Beispiel die sozialistische, die den Menschen verdirbt, dann wird man diese Version des Menschen sehr schwer wieder los. Weil zwar immer neue Generationen nachkommen, diese aber von denselben Großmüttern, denselben Lehrern erzogen werden. Und dann passiert wieder, was wir in Russland sehen: wieder ein Krieg, wieder Arme und Reiche – alles gerät wieder in die alten Bahnen.        

    Ich würde sagen, unser Problem ist heute eine Kultur der Gewalt und eine Kultur der Ungerechtigkeit.   

    Vor Kurzem noch dachte ich, es ist vorbei, ich habe sogar in einem meiner Bücher den Untertitel: Das Ende des roten Menschen (dt. Titel: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus). Aber es ist noch lange nicht vorbei. Ich schreibe jetzt ein neues Buch darüber, was mit diesem Menschen heute passiert. Warum er so lange überlebt, was ihn hält, auf welchem Nährboden sein Klonen erfolgt und warum das nicht nur ein russisches oder ein sozialistisches Problem ist.  

    Früher sagten Europäer zu meinen Büchern: Das ist bei euch vielleicht so, aber bei uns sind solche Rückschritte nicht möglich. Ich würde sagen, unser Problem ist heute eine Kultur der Gewalt und eine Kultur der Ungerechtigkeit. Woher kommt die Gewalt? Vom Menschen. Wir haben die Vorstellung, dass sie nur an Putin oder Lukaschenko delegiert wurde. In den ersten Jahren versuchte Putin, der Nato beizutreten, und wollte von den europäischen Eliten in ihren Kreis aufgenommen werden. Er konnte nicht verstehen, dass er mit seinem Verständnis, mit der Welt, die er in sich trug, ein Fremder für sie war. Fremdsprachenkenntnisse taten hier nichts zu Sache. Damals war dann plötzlich von einer souveränen Demokratie die Rede, davon, dass es eine Art russische Demokratie gäbe. Das alles geht also von Menschen aus, die in dieser Zeit lebten.  

    Wir dürfen uns in der heutigen Welt nicht so einfach damit abfinden, dass die Demokratie verschwindet. 

    In letzter Zeit mache ich viele Aufnahmen mit Belarussen, die an den Protesten teilgenommen haben. Sie sagen: Ja, wir haben eine Niederlage eingesteckt, aber wir lassen uns nicht unterkriegen. Es ist eine neue Philosophie entstanden: eine Philosophie der kleinen Schritte. Die Leute sagen, das sei Selbstschutz, es helfe ihnen, sie selbst zu bleiben, ihre Persönlichkeit beizubehalten und trotzdem den einen oder anderen winzigen Schritt zu tun.  

    Wir dürfen uns in der heutigen Welt nicht so einfach damit abfinden, dass die Demokratie verschwindet. Wir müssen Widerstand leisten. Und diese Menschen, die ich in verschiedenen Ländern getroffen habe, suchen nach Formen des Widerstands. Aber es ist enorm wichtig, dabei man selbst zu bleiben. Sich von diesen finsteren Zeiten nicht zertrampeln zu lassen.”  

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  • „Die guten Russen“

    „Die guten Russen“

    „Die Russen sind die neuen Deutschen“ – dieser Vergleich kam in russischen Exil-Kreisen schon wenige Wochen nach Beginn der russischen Vollinvasion auf. Hintergrund war die Annahme, dass alles Russische wegen der Aggression gegen die Ukraine nun pauschal gecancelt würde, genauso wie alles Deutsche während des Zweiten Weltkriegs.  

    Um zu verdeutlichen, dass man nicht alle über einen Kamm scheren könne, haben einige russische Oppositionspolitiker alsbald das Konzept der „guten Russen“ entwickelt: Russen, die gegen den Krieg und gegen Putin sind und deshalb etwa auch einen entsprechenden Pass verdienen sollten, mit dem sie im Exil nicht Opfer von Diskriminierung würden. Die Idee wurde von allen Seiten verrissen, einer der zentralen Vorwürfe: Eine Selbstviktimisierung sei angesichts des ukrainischen Leids zynisch, alle Russländer trügen kollektiv Verantwortung. 

    Das Konzept „gute Russen“ wurde in Folgezeit zu einem beliebten Meme, mancherorts mit ironischen Anklängen an den „guten Deutschen“ während der Hitlerzeit. Und obwohl die Idee damit völlig diskreditiert schien, wird das Label immer noch mit jenen Russländern verknüpft, die Hoffnung auf eine liberal-demokratische Zukunft Russlands hegen. 

    Wenige Tage nach der „Operation Spinnennetz“ gegen mehrere russische Militärflugplätze schreibt der ukrainische, russischsprachige Schriftsteller Boris Chersonski einen Facebook-Beitrag, in dem er dieser Hoffnung widerspricht und dafür plädiert, weniger die „guten Russen“ zur Zielscheibe zu machen und sich stattdessen auf das Wesentliche zu konzentrieren.

    Ein brennender russischer Pass, Symbolbild. © Pavlo Bagmut/ Ukrinform/ Imago

    Ein paar Worte über „die guten Russen“. Wir sind in vielem derselben Meinung. Zumindest hätten sie, wäre es nach ihnen gegangen, nie und nimmer einen Krieg gegen die Ukraine begonnen. Deswegen möchte ich nicht, dass diese Menschen, von denen ich viele schon sehr lange persönlich kenne, zur Zielscheibe scharfer und in weiten Teilen unfairer Kritik werden. Antiputinismus, eine Orientierung an europäischen Werten und liberales Denken – ist das, was uns vereint.  

    Ihre wichtigsten Schwachpunkte sind offensichtlich, und vielleicht spricht man deswegen nicht gern über sie, weil irgendwie ja ohnehin alles klar ist.  

    Und das war’s dann wohl auch schon mit den Gemeinsamkeiten zwischen uns und den guten Russen.  

    Sie lieben ihre Heimat. Sie sorgen sich um sie, wollen dahin zurück und wollen weiter eine Rolle in Kultur und Politik spielen.  

    Auch wir lieben unsere Heimat, sorgen uns um sie, wollen dahin zurück und nach Kräften an ihrem kulturellen und (nicht alle!) politischen Leben teilhaben.  

    Ist das eine Gemeinsamkeit? Nein, denn ihre Heimat ist für uns etwas anderes. Ihr Land verstümmelt seit vielen Jahren unser Land, tötet unsere Leute.  

    Unser Land hat gerade erst gezeigt, dass dieses Spiel in beide Richtungen geht. Wir greifen ihr „unantastbares Territorium“ an, zerstören Militär- und Energie-Infrastruktur und ja, bringen Tausende ihrer Soldaten um (genauso wie sie unsere).  

    Und das ist der Punkt: Um unsere Soldaten tut es mir leid. Um ihre – nicht wirklich. Bei ihren Worten naschi maltschiki (dt. unsere Jungs) schüttelt es mich.  

    Gleichzeitig verstehe ich, dass es ihnen um ihre Jungs leidtut, aber um unsere … na ja, anstandshalber. Ich verstehe das. Ja, sie identifizieren sich mit denen, die auf den ukrainischen Schlachtfeldern fallen.  

    Sie machen sich Gedanken, wie es mit ihrer Kultur auf unserem Territorium weitergeht. Dieses Thema beunruhigt mich als vorwiegend russischsprachigen Schriftsteller ebenfalls. Aber natürlich anders als sie: Aus ihrer Sicht müsste ich mich irgendwie mehr dafür einsetzen. Ich finde aber, sie sollten sich fragen, wie sie ihre Kultur auf ihrem Territorium schützen können.  

    Sie sehen die Zukunft ihres Landes als liberale, demokratische Gesellschaft. Was ich NICHT SEHE. Auch nicht, wenn ich näher hinschaue, mir die Augen reibe, eine Brille aufsetze. ICH SEHE DAS NICHT: Sehe ich meine Freunde in eine demokratische Föderation zurückkehren? Nein. Höchstwahrscheinlich werden sie ihr Leben im Exil verbringen. Und Hoffnungen auf Reformen … sind Wunschträume.  

    Und bei alldem – sie sind nicht unsere Feinde. Eher sind sie temporäre Bündnispartner, Wegbegleiter, die trotz aller Gemeinsamkeiten bestimmt irgendwann eine andere Abzweigung nehmen. Lasst uns aufhören, sie zur Zielscheibe zu machen. Wir haben genug andere, die unsere Pfeile verdient haben, wo wir schon den Bogen gespannt haben. 

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  • Flucht de force mit Tscheburaschka

    Flucht de force mit Tscheburaschka

    Fünf Jahre nach Beginn der Massenproteste sind immer noch fast 1200 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen und Lagern interniert. Die Haftbedingungen werden von ehemaligen Häftlingen und NGOs als unmenschlich bezeichnet. Mindestens sieben politische Gefangene sind seit 2020 verstorben. 

    Um diesem Schicksal zu entgehen, hat sich der Regimekritiker Alexander (Sascha) mit Ehefrau und Tochter zur Flucht entschieden. Diese geriet zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, das die Familie durch mehrere Länder führte. Jewgeni Kornejewez hat ihre Geschichte für das Online-Portal Mediazona Belarus aufgeschrieben. 

    Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat
    Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat

    „Sie können unsere echten Namen benutzen. Von unserer Familie lebt nur noch Saschas Mutter. Meine Mutter haben sie bis zum Infarkt getrieben. Als wir weg sind, kamen ständig die Silowiki: ‚Wir schnappen sie uns [deine Kinder] und sperren sie ein, sie werden eh zurück nach Belarus abgeschoben, sie sind erledigt.‘ Die haben lauter schlimme Sachen über uns gesagt, ihr Angst gemacht, und nochmal Angst. Das hat ihr Herz nicht mitgemacht. Drei Tage Koma und … ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren. Zwei Jahre ist sie jetzt schon tot. Und wir haben nur noch eine Mutter für uns beide. Und zu ihr kommen sie auch“, erzählt Natalja. 

    Als einziges Erinnerungsstück an ihre Mutter ist Natalja eine Tscheburaschka-Puppe geblieben. Die Belarussin hatte gerne gestrickt, und Nataljas Mann Alexander hatte seit seiner Kindheit von einem Tscheburaschka-Kuscheltier geträumt. „Er hatte diese fixe Idee: Ich will Tscheburaschka“, erinnert sich Natalja. Da strickte ihre Mutter ihm ein Kuscheltier zum Geburtstag. „Er kommt zu ihr, und sie sagt zu ihm: ‚Hier, Sascha, für dich.‘ Er hatte sogar Tränen in den Augen. ‚Meine Schwiegermutter hat mir Tscheburaschka geschenkt, die immer bei mir bleiben wird.‘“ 

    Im November 2022 musste Sascha mitten in der Nacht aus Belarus fliehen, indem er den Njoman überquerte. Er packte seine Sachen in einen Rucksack, Tscheburaschka steckte er in einen Plastikbeutel und befestigte ihn an einer Schnur. Als Alexander am litauischen Ufer ankam, bemerkte er, dass das Stofftier weg war. „Ich zog an der Schnur, und die Plastiktüte schwamm in Richtung Belarus davon. Ich dachte nur: ‚Tscheburaschka. Den hat meine Schwiegermutter doch für mich gestrickt.‘ Ich schwamm zurück. November. Ohne Tscheburaschka geh ich nicht ins Exil!“ 

    Sascha kehrte um, fand das Kuscheltier und schwamm wieder nach Litauen. Danach irrte er zwei Stunden lang nass durch den Wald und suchte die Grenzbeamten. Jetzt begleitet Tscheburaschka das Ehepaar quer durch Europa. 

    Festnahme in Belarus 

    Früher lebte Natalja mit ihrem Mann Sascha in Hrodna. Sie hatten ein großes Grundstück inmitten von Seen gepachtet, bauten eine Ferienanlage auf, züchteten Fische und veranstalteten regelmäßig Angelwettbewerbe. Vor seiner Verhaftung, erinnert sich Sascha, hatten oft Beamte aus Hrodna bei ihnen Urlaub gemacht. „Ich konnte den Verwaltungsleiter der Oblast persönlich anrufen, wenn es ein Problem gab. Wir hatten fangfrischen Fisch, Grillplätze, auf denen die Abgeordneten sich ganz umsonst besaufen konnten. Deshalb war ich praktisch ‚unantastbar‘. So läuft das in diesem Business.“ 

    Im Pandemiejahr 2020 organisierte das Ehepaar eine Spendenaktion und stattete das Stadtkrankenhaus Nr. 2 in Hrodna mit Schutzausrüstungen aus. Als im selben Jahr die Wahlkampagne begann, trat Alexander dem Stab von Viktor Babariko bei und sammelte Unterschriften. Dann unterstützten sie Swetlana Tichanowskaja. Bei Videoaufnahmen von ihren Auftritten in Hrodna kann man Alexandra und Natalja in der ersten Reihe sehen.  

    Zwei Jahre später, 2022, holten Alexander die Silowiki.  

    „Er fuhr auf den Markt, um Fisch zu verkaufen. Da holten sie ihn. Ich habe ihn mehrmals angerufen, er drückte mich immer weg – geht nicht dran, ruft nicht zurück. Das kannte ich nicht von ihm. Ich habe einen Freund angerufen: ‚Juri, kannst du mal auf dem Markt vorbeischauen, mit Sascha stimmt was nicht.‘ Und er: ‚Vielleicht ist sein Telefon nass geworden oder so.‘ Aber ich war mir sicher, dass etwas passiert sein musste.“ 

    Alexanders Auto mit dem Fisch blieb auf dem Markt stehen, später holten es Bekannte ab. Alexander war von sechs bewaffneten Silowiki festgenommen worden, die aus einem Polizeibus gesprungen und über ihn hergefallen waren. Sie brachten ihn ins Revier, wo er die Nacht verbringen musste, und nach drei Tagen Gewahrsam kam er in U-Haft. 

    „Sie bedrohten mich nicht, aber die Demütigungen nahmen kein Ende. In U-Haft saß ich mit einem Straftäter, für den es sein viertes Mal war. Ein ganz normaler, ruhiger Typ um die 40. Er sagt zu mir: ‚Ich war sechs Jahre draußen, jetzt habe ich was geklaut, und es fühlt sich an wie nach Hause kommen.‘ Er schlief, rauchte, aß. Und ich durfte nur am Tisch sitzen und die Pritsche nicht mal angucken. Aufs Klo mit Handschellen. Die Hände auf dem Rücken. Wie soll man das machen? Und die sitzen da, glotzen und lachen: ‚Dir fällt schon was ein! Auf die Demos hast du‘s ja auch irgendwie geschafft!‘“

    Die Flucht nach Georgien über Russland 

    Währenddessen wurde ihre Wohnung durchsucht: Alles auf den Kopf gestellt, die elektronischen Geräte konfisziert. In der U-Haft überreichte die Ermittlerin Alexander eine Anklageschrift wegen Beleidigung Lukaschenkos. „‚Hier‘“, sagte sie. ‚Gegen dich liegen ein Haufen Beweise vor. Entweder du spuckst ein Scheißgeständnis aus, oder ich brumm dir das alles auf und hol deine Alte ab.‘ So reden die mit einem. Eigentlich eine attraktive Frau. Aber die Art zu reden – einfach nur abstoßend.“ 

    Natalja musste mit ihrer Tochter, einer Studentin, mehrfach zu Verhören. Die Ermittler gaben ihnen zu verstehen, dass sie das Land nicht verlassen durften und erreichbar bleiben mussten. Auch die Ferienanlage bekam Besuch von der Staatsanwaltschaft, vom Umweltministerium und der staatlichen Fischereiaufsicht Rybnadsor. „Während ich einsaß, haben sie sich mein Business unter den Nagel gerissen. Jedes Mal wieder: Anzeige – Bußgeld, Anzeige – Bußgeld, Anzeige – mit denen zu reden war sinnlos.“ 

    Zwei Monate nach seiner Verhaftung kam Alexander vors Gericht. Am 19. Mai 2022 wurde er zu zwei Jahren chimija (dt. Chemie) verurteilt – einer Haftstrafe im offenen Vollzug. Er durfte das Gericht auf freiem Fuß verlassen. Am nächsten Tag bekam das Ehepaar einen Anruf von jemandem, der sich als Anwalt vorstellte. Er wollte kein Geld und schlug ein Treffen vor, bei dem er sagte, er würde ihnen dabei helfen, Berufung einzulegen. Während der Bearbeitungszeit hätten sie die Möglichkeit, das Land zu verlassen. 

    Am 1. Juli machte sich die ganze Familie über Russland nach Georgien auf. 

    Der nächste Plan: Richtung Ukraine 

    Ihre Tochter Diana fuhr mit dem Bus, die Eltern mit dem Auto. Diana kam über die Grenze, aber Alexander und Natalja wurden nicht rausgelassen – sie fanden sich in einem russischen Lager für Personen mit Ausreiseverbot wieder. 

    „Zum Glück hatten wir das Geld für den Weg aufgeteilt. Insgesamt hatten wir 2000 US-Dollar. Unsere Tochter hatte 1000 dabei, die andere Hälfte hatten wir. Das Auto war auch noch ein bisschen was wert. „Wir beschlossen spontan, über Abchasien zu fahren. Panik. Wir fuhren über die Berge nach Tuapse am Schwarzen Meer. Dort redete ich mit den Taxi-Fahrern, die sagten: ‚Vergiss es. Wenn die Georgier ein Auto aus Abchasien sehen, schießen die sofort, und fragen erst dann nach dem Namen.“ Also beschloss das Paar, von Russland über die Ukraine nach Europa zu fahren, wo sie ihre Tochter treffen wollten. Sie entschieden sich für den Grenzübergang bei Belgorod. 

    „Ich bin quasi selbst Grenzer. War 16 Jahre in der Armee. An der Frontlinie kommt man nicht durch, da wird geschossen, alles ist vermint und so. In der Oblast Sumy ist es ruhig, kein Krieg – also wird die Grenze bewacht. Aber dazwischen, in der Grauzone, kann man durchschlüpfen. Also versuchten wir es bei Belgorod, 30 Kilometer von Charkiw entfernt. 200 Meter fehlten uns noch bis zur Grenze“, erzählt Alexander. „Und ich hab geweint: ‚Lass uns einfach hierbleiben! Nicht nach Hause fahren und auch nicht dahin‘“, ergänzt Natalja. 

    Diana schaffte es nach Tbilissi. Sie wollte sich ein Zimmer mieten, doch der Vermieter fing an, sie zu belästigen. Also zog sie weiter. Ziellos schlenderte sie durch die Straßen, bis sie mit einer Frau ins Gespräch kam, die ihr eine Unterkunft anbot. Nach dem ersten Monat durfte sie sogar gratis bei ihr wohnen, seitdem nennt Diana sie ihre „georgische Mama“.     

    In „Kriegsgefangenschaft“ 

    Bevor sie die russische Grenze überquerten, inspizierte Alexander drei Tage lang die Umgebung, suchte auf Google Maps, sah sich alles ganz genau an. Der erste Versuch misslang – Natalja blieb im Sumpf stecken, und sie mussten umkehren. In der nächsten Nacht versuchten sie es noch mal, wurden aber von russischen Soldaten aufgegriffen.  

    „Sie blendeten uns, brüllten: ‚Fresse auf den Boden!‘, schossen mit MGs. Natalja wollte wegrennen, ich konnte sie gerade noch aufhalten. Wären wir geflohen, wäre das hundertpro das Ende gewesen.“ Mit einem Sack über dem Kopf wurden die Belarussen zu einem Stützpunkt geführt, jeder in einen anderen Raum. Dort mussten sie sich nackt ausziehen und wurden befragt, wie sie an die Grenze gelangt waren. Natalja erzählt, sie sind von den Soldaten schikaniert worden.   

    „Sie wickelten sich meine Haare um die Faust und zerrten mich daran durchs ganze Zimmer. Dann fixierten sie mich mit Handschellen an ein Bett, brachten eine Flasche, stellten sie auf den Boden und sagten: ‚Weißt du, was wir gleich mit dir machen? Wir binden dir die Beine ans Bett, holen alle unsere Kameraden und lassen sie der Reihe nach ran.‘“ 

    „Als ich sie schreien hörte, sagte ich: ‚Ihr Schweine, ich werde euch alle finden und euch den Hals umdrehen!‘ Zwei Minuten später spuckte ich meine Zähne aus. Die haben richtig zugeschlagen. Natascha haben sie nicht verprügelt, nur an den Haaren durchs Zimmer gezerrt. Mir fehlen seitdem die unteren Zähne.“ Die Soldaten hielten das Paar bis zum nächsten Morgen fest. „Einer kommt rein und sagt: ‚Wieso liebt so ein junges Mädel einen alten Sack wie dich? Willst du zugucken, wie wir sie alle der Reihe nach rannehmen?‘“  

    Ausgeraubt wurden Alexander und Natalja auch. Alles Geld, das Gold – die Russen hatten ihr Auto gefunden und alles mitgenommen, was irgendwie Wert hatte. Am Morgen wurden sie gezwungen zu unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden gegen die Grenzbeamten hätten. Sie bekamen von ihrem eigenen Geld 2000 Rubel [damals etwa 35 US-Dollar – dek], damit sie gleich ihre Strafe zahlen konnten, und wurden, wieder mit einem Sack über dem Kopf, zu ihrem Auto gebracht und sich selbst überlassen.    

    Zurück nach Moskau und nach Tscheljabinsk  

    Nach der „Kriegsgefangenschaft“ fuhren die beiden zu Nataljas Onkel in die Oblast Moskau. Sie erzählten ihm ihre Geschichte und begriffen, dass er sich über solche Gäste gar nicht freute. „Er war beruflich beim Militär gewesen. Den beiden Rentnern sah man an, dass sie Angst hatten. Wir blieben noch über Nacht, dann sagten wir, wir hätten Arbeit in Moskau gefunden, und reisten wieder ab.“ 

    Alexander fielen seine Verwandten im Ural ein, zu denen er seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Er bat Diana, auf Odnoklassniki ihre Telefonnummer herauszufinden, rief an, stellte sich vor, erklärte seine Situation, dass er momentan keine Bleibe habe, und war sehr erstaunt, als sie ihn freudig einluden. Bis Tscheljabinsk waren es zwei Tage Fahrt. Tante Alexandra überließ den Belarussen ihre Wohnung und fuhr selbst auf ihre Datscha. Alexander und Natalja wandten sich an Bysol, wo ihnen empfohlen wurde, nach Wladikawkas zu fahren und von dort aus die Einreise nach Georgien zu versuchen.  

    „Im September rief Russland die Mobilmachung aus. Was da in Werchni Lars los war! Die von Bysol riefen uns an und sagten: ‚Das wird nichts, Leute, vergesst es.‘ Uns ging die Kraft aus, wir hatten kein Geld mehr, nichts.“ Sie verkauften ihr Auto, um in einem Hostel zu wohnen. Mit Flyer-Verteilen verdienten sie sich das Geld für Essen: Jeden Tag 20 Kilometer zu Fuß. 

    „Wir ernährten uns von drei Backkartoffeln aus der Mikrowelle. Geschirr hatten wir keines, nur die Mikrowelle. Brot nur scheibchenweise. Und ein Kilo 100-Rubel-Wurst. Das ist eine Wurst, die kannst du auf den Löffel nehmen, und sie bleibt dran kleben und fällt nicht runter. Zweimal die Woche kauften wir eine Tomate, so als Leckerbissen. Und Äpfel. Wenn ich irgendwo einen Apfel pflücken konnte und wir Zucker zu Hause hatten, schnitten wir das Kerngehäuse aus, füllten Zucker ein und ab in die Mikrowelle. Das war unser Nachtisch.“    

    Trennung und zurück nach Belarus 

    So lebte das Paar bis Oktober. Im Oktober bot ihnen Bysol eine Evakuierung an, für die sie sich allerdings trennen mussten. Sie fuhren nach Moskau. Natalja bekam schnell ein Visum. Dann kam die Anweisung, nach Kaliningrad zu fliegen und dort in den Zug Richtung Minsk zu steigen. Zwei Tage später war Natalja in Kaunas, Litauen. 

    „Ich hatte überhaupt kein Geld mehr. Keine Kopeke, keinen Cent. Ich kam in Kaunas am Bahnhof an und konnte nicht mal auf die Toilette, weil das was kostet. Ich stand da und heulte. Ein junger Ukrainer und seine Mutter wurden auf mich aufmerksam: ‚Wieso weinen Sie denn?‘ Sie halfen mir mit dem Internet, gaben mir ein bisschen Geld und kauften mir eine Fahrkarte nach Danzig, wo meine Tochter auf mich wartete.“ 

    Alexander bekam Instruktionen: „Bestell dir ein BlaBlaCar und fahr nach Orscha“. Die Fahrt bezahlte ihm Bysol. Eine Weile später kam eine Nachricht, er solle nach 15 Kilometern an einer Kreuzung aussteigen und sich im Wald verstecken. Das machte er. Später kam noch ein weiteres Auto. Der Fahrer fragte Alexander nach seinem Namen, ließ ihn einsteigen und fuhr mit ihm durch die Dörfer. Irgendwann erreichten sie den Stadtrand von Wizebsk, und Alexander wurde gebeten auszusteigen.  

    „Ich sagte: ‚Wie geht’s jetzt weiter, Alter?‘ Und er: ‚Keine Ahnung. Tschüss.‘ Und fuhr weg. Russische SIM-Karte, kein Empfang, kein Geld, dafür umso mehr Hunger. Ich traf ein paar Teenager, fragte sie nach einem Hotspot, sagte, ich sei Russe und hätte vergessen, meine SIM-Karte zu aktivieren.“ Gegen Abend meldeten sich die Fluchthelfer: Sie schickten ihm ein Taxi, das ihn zu einer Mietwohnung brachte, ließen ihm ein wenig Geld zukommen. „Ich stellte mein Zeug ab, kaufte zwei Packungen Pelmeni und Schmand und dachte: Scheiße nochmal, endlich mal sattessen!“ 

    Nach Wizebsk erwarteten Alexander noch ein paar Stationen, etliche Wohnungen, Häuser, Datschen, bis er Mitte November eines Nachts an den Njoman gebracht wurde und hörte: „Schwimm“. 

    Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat
    Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat

    Hiobsbotschaft in der Freiheit 

    In Litauen wurde Alexander in einem Flüchtlingslager untergebracht, bekam jedoch bald die Genehmigung, in die Stadt zu fahren. Dann wurde er nach Polen überstellt, weil er ein polnisches Visum hatte, und traf dort seine Frau wieder. Während das Ehepaar auf seinen Aufenthaltstitel wartete, machten die beiden hohe Schulden, weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt war. Als er seine Dokumente hatte, fing Alexander an, als Fernfahrer zu arbeiten. Er nahm seine Frau mit und seinen Tscheburaschka. „Mein Tscheburaschka hat ganz Europa gesehen“, scherzt er. Jetzt sind alle Schulden abbezahlt.  

    2024 wurde bei Alexander Krebs diagnostiziert.  

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  • Pjotr Mascherau

    Pjotr Mascherau

    Wozu mit dem Volk anbändeln, wenn deine Karriere nicht davon abhängt? Im Unterschied zu vielen Apparatschiks in der sowjetischen Führungsriege war Pjotr Mascherau gewissermaßen ein Politiker westlichen Typs, der wohl auch aus echten Wahlen als Sieger hervorgegangen wäre. Als Vorsitzender des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei regierte er die BSSR von März 1965 bis zum 4. Oktober 1980; an dem Tag verunglückte er bei einem Autounfall. Er war ein äußerst beliebter Politiker, dessen Nähe zum Volk ehrlich und echt wirkte. Er pflegte einen bescheidenen Lebensstil, arbeitete fleißig und engagiert. Den Hubschrauber, der ihm als Oberhaupt der BSSR zur Verfügung stand, nutzte er permanent, um Menschen im ganzen Land zu besuchen und mit ihnen zu sprechen, auch in den entlegensten Dörfern. In der Regel begannen solche Flüge morgens zwischen 4:00 und 4:30 Uhr und dauerten mit etlichen Zwischenstopps fast den ganzen Tag.1  

    Die öffentliche Meinung zu Mascherau ist im heutigen Belarus jedoch gespalten. Seinerzeit brachten die aufstrebenden Städte vielen Belarussen einen höheren Lebensstandard, andererseits waren sie Schmelztiegel, die in den Jahrzehnten nach dem Krieg aus Bauern mit belarussischen Dialekten russischsprachige Sowjetbürger machten. Das ist etwas, wofür Mascherau heute von vielen scharf kritisiert wird.  

    Wer war Pjotr Mascherau und was ist sein politisches Erbe? Eine Gnose von Viktor Schadurski

    Pjotr Mascherau (vorne rechts) zusammen mit Fidel Castro beim Besuch der Gedenkstätte Chatyn im Jahr 1972. / Foto © IMAGO / ITAR-TASS  

    Pjotr Mascherau hatte das Glück, in einer Zeit an der Spitze der BSSR zu stehen, die einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Dieser war, ähnlich wie in vielen anderen Gegenden des riesigen sowjetischen Imperiums, Reformen zu verdanken, die in Moskau initiiert wurden. Die großen materiellen und technischen Ressourcen, die nach dem Krieg in das zerstörte Belarus investiert worden waren, fingen an, sich bezahlt zu machen. In Minsk und anderen großen Städten wurden mit Betriebsanlagen, die in der DDR und anderen Satellitenstaaten der Sowjetunion demontiert und nach Belarus gebracht worden waren, für die damalige Zeit moderne Industriebetriebe gegründet. Belarus bekam den Beinamen „Montagewerk der UdSSR“. 

    Mascheraus politische Laufbahn hatte während des Zweiten Weltkriegs begonnen. Innerhalb weniger Jahre stieg er vom Ersten Sekretär des Partisanenkomitees des Komsomol in der Oblast Wilejka (1943) bis zum Leiter des Komsomol der BSSR auf (1947). Dann überwand er relativ schnell ein paar Stufen im Parteiapparat, um im März 1965 zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Belarus (KPB) ernannt zu werden – das faktisch höchste Amt im politischen System der BSSR. Diesen hohen Rang hatte er mit der Protektion seines Vorgängers Kiryl Masurau erreicht, der im März 1965 Erster Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR geworden war.            

    Der politische Werdegang eines glühenden Partisanen  

    Mascherau wurde zum Symbol der sogenannten Partisanengruppe im Partei- und Staatsapparat der BSSR. Abgesehen von den höchsten Ämtern (Masurow, Mascherau) bekleideten Mitglieder der Partisanenbewegung zahlreiche wichtige Posten im Partei- und Staatsapparat, in der Wirtschaft und in den Sicherheitsdiensten. Wie der US-amerikanische Historiker Michael E. Urban feststellte, verhalfen die Aufopferung der Partisanen „für das Volk“ und ihr Kampf „an der Seite des Volkes“ einer Reihe von Partisanenkommandeuren zum Aufstieg an die Spitze der belarussischen Führungselite.2 So war es auch bei Mascherau.       

    In den ersten Kriegstagen schloss sich Pjotr Mascherau freiwillig der Roten Armee an. Er geriet sofort in Kriegsgefangenschaft, konnte jedoch fliehen und kehrte zurück in die kleine Bezirkshauptstadt Rassony im Norden von Belarus, wo er früher Lehrer gewesen war. Hier begann seine Tätigkeit als Widerstandskämpfer und Partisanenkommandeur. Er gründete eine Familie und fand Mitstreiter, von denen viele ihn sein Leben lang begleiteten. Im April 1942 wurde Mascherau Kommandeur einer kleinen Partisaneneinheit (die Wahl erfolgte zuerst durch ihre Mitglieder und wurde dann vom belarussischen Stab der Partisanenbewegung in Moskau bestätigt). Im August 1944 – er hatte bereits zwei Kriegsverletzungen – wurde ihm der Ehrentitel „Held der Sowjetunion“ verliehen, den einige Dutzend belarussische Partisanen tragen.       

    Unter Pjotr Mascheraus Führung wurde der Mythos vom heroischen Partisanenkampf später Teil der politischen Identität der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik.  

    Heute ist Mascherau für viele Belarussen der mittleren und älteren Generation die beliebteste Führungsfigur des sowjetischen Belarus. Vieles aus seinen Gesprächen mit der Bevölkerung ist in Erinnerung geblieben. Die Sympathien, die so viele Menschen immer noch für ihn hegen, bringen seinem Namen in der offiziellen Ideologie von Lukaschenkos Regime jedoch keine Ehre ein.

    Pjotr Mascherau in Partisanenuniform, 1944 / © Foto Belarussisches Staatsarchiv für Film-, Audio- und Fotodokumente / gemeinfrei
     

    „Sohn eines Volksfeindes“ 

    Der zukünftige Parteifunktionär wurde im Februar 1918 in einer Gegend, die heute zum Rajon Sjanno in der Woblasz Wizebsk gehört, in einer Bauernfamilie geboren. Pjotr Mascheraus Ururgroßvater war der Familienlegende nach ein französischer Soldat in Napoleons Armee, der 1812 aufgrund einer Verletzung im Ujesd Sjanno zurückbleiben musste. Er konvertierte zur Orthodoxie, heiratete eine Bäuerin und bekam den Namen Maschero (wohl vom französischen ma chère abgeleitet). Im Dezember 1937, zur Zeit des Großen Terrors, wurde Pjotr Mascheraus Vater Miron Maschero der antisowjetischen Agitation beschuldigt, verhaftet und zu zehn Jahren Arbeits- und Umerziehungslager verurteilt. Er starb nach wenigen Monaten. Erst 1959 wurde er „wegen fehlenden Tatbestands“ posthum rehabilitiert.3 

    Vielleicht war es Semen Wragow, der Mann der älteren Schwester, der Pjotr und seinem Bruder Pawel nach der Festnahme ihres Vaters beistand. Er hatte eine leitende Funktion im Wizebsker NKWD inne. Vielleicht half es auch, dass sie ihren Namen von Maschero auf Mascherau änderten. Jedenfalls konnte Pjotr Mascherau trotz allem 1939 seinen Abschluss am pädagogischen Institut in Wizebsk machen und anschließend an einer Mittelschule Physik unterrichten. 

    Seine Beteiligung am antifaschistischen Widerstand brachte dem Partisanenkommandeur einen enormen persönlichen Verlust ein: Im September 1942 wurde seine Mutter Darja Petrowna zusammen mit anderen Bewohnern von Rassony wegen Verbindungen zu Partisanen von den deutschen Besatzern gefangengenommen und erschossen. Mascherau kannte diese grausame Praktik im Kampf gegen die Partisanen, hatte gewusst, dass sie sich an Familienmitgliedern der Untergrundkämpfer rächen. Es war ihm jedoch nicht gelungen, seine Mutter rechtzeitig im Wald zu verstecken. Seine Tochter erinnert sich, wie er sich sein Leben lang für den Tod seiner Mutter schuldig fühlte und sich das nie verzeihen konnte.      

    Lukaschenkos Abneigung gegen Pjotr Mascherau 

    Pjotr Mascheraus Tochter Natalja Mascheraua ist ebenfalls politisch aktiv und wurde als Abgeordnete ins belarussische Parlament gewählt. 2001 ließ sie sich als Kandidatin zu den Präsidentschaftswahlen in Belarus registrieren, ihre Kandidatur aber bald wieder löschen, weil ihr klar wurde, dass sie unter den gegebenen politischen Bedingungen keine Chance auf einen Sieg hatte.4 Allein ihr Versuch, am Wahlkampf teilzunehmen, ist ein bekannter Grund für Lukaschenkos Abneigung gegen ihren Vater. Der Diktator äußerte sich öffentlich über seine Kränkung und fügte hinzu, dass eine Frau ohnehin keinen Staat lenken könne. Derartiges sagte er oft, auch als 20 Jahre später Swetlana Tichanowskaja gegen ihn antrat.  

    Noch deutlicher wurde Lukaschenkos Aversion gegen Mascherau 2005, als die zweitwichtigste Verkehrsader durch Minsk „auf Bitte von Kriegs- und Arbeitsveteranen“ von ehemals „Mascherau-Prospekt“ in „Prospekt der Sieger“ umbenannt wurde. Der Name des ehemaligen Oberhauptes der BSSR wurde einem anderen aus drei kleineren Straßen gebildeten Prospekt zugeteilt.   

    Lukaschenko hat ganz offensichtlich etwas gegen Vergleiche seiner Person mit Mascherau.  2018 betonte er in einem Interview, dass Mascherau und er nicht gegeneinander antreten könnten, da sie unterschiedlichen Gewichtsklassen angehörten: Er, Lukaschenko, sei der erste Präsident von Belarus, während Mascherau innerhalb des großen sowjetischen Staates einfach nur eine Art Gouverneur gewesen sei (für den alle Entscheidungen in Moskau getroffen wurden). Wobei sich Lukaschenko selbst in seiner ersten Wahlkampagne für die Wiederherstellung der BSSR einsetzte und somit für die Verwaltung durch einen „Gouverneur“.5 

    Gleichzeitig versuchte Lukaschenko, Mascherau die Schuld am Versiegen der staatlichen Förderung für die belarussische Sprache und Nationalkultur anzuhängen – obwohl Lukaschenko im Mai 1995 selbst dafür gesorgt hatte, dass Russisch die zweite Amtssprache wird. Davor hatte diesen Status nur Belarussisch gehabt. Trotzdem wälzte er in einem Interview 2015 die Frage nach dem vulnerablen Zustand der belarussischen Sprache auf das ehemalige Oberhaupt der BSSR ab: „Das war alles Mascherau. Nicht ich, verstehen Sie? Ich nicht. Ich hab ein Land übernommen, in dem Russisch und manchmal Trassjanka mehr gesprochen wurde als Belarussisch”.6

    Pjotr Mascherau: 1998 wurde zu seinem Andenken noch eine Briefmarke herausgegeben. Heute wird offiziell immer seltener seiner gedacht. / © Foto gemeinfrei 

    Viele Experten haben darauf hingewiesen, dass das Mascherau-Jubiläum zu seinem 100. Geburtstag im Februar 2018 auf offizieller Ebene weitgehend ignoriert wurde. Die einzige sichtbare Veranstaltung war eine temporäre Ausstellung im Museum des Großen Vaterländischen Kriegs. Die Propagandisten versuchen heute sogar, seinen Namen im Kontext der belarussischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg zu vermeiden. Auf Lukaschenkos offizieller Website wird Pjotr Mascherau nur zweimal indirekt erwähnt.     

    Interessenvertreter von Belarus oder Handlanger der Moskauer Politik? 

    Mascherau erfreute sich nicht nur in Belarus großer Beliebtheit, sondern auch außerhalb der BSSR. Mit seiner äußerlichen Attraktivität, seiner ausdrucksstarken, melodiösen Stimme und seinen schauspielerischen Qualitäten fand er geschickt den Draht sowohl zu Staatsoberhäuptern des sozialistischen Lagers als auch zu gewöhnlichen Leuten. Diese Unterhaltungen missfielen häufig den hohen und weniger hohen sowjetischen Beamten.  

    Die Wirtschaftsdaten der BSSR während Mascheraus Amtszeit sprechen für sich, doch sind sie nicht allein sein Verdienst. Alle wichtigen Entscheidungen wurden von der Regierung der UdSSR getroffen, die sowohl bezüglich Wirtschaftsbranchen als auch generell unter den Sowjetrepubliken die Prioritäten setzte. Laut sowjetischer Statistik stieg die Industrieproduktion in Belarus von 1940 bis 1986 um das 40-Fache. Zum Vergleich: In der gesamten Sowjetunion stieg sie um das 26-Fache, in Russland um das 23-Fache und in der Ukraine um das 18-Fache.7 Das führte zu einer rapiden Urbanisierung: Während Minsk 1950 noch 273.600 Einwohner zählte, waren es 1960 bereits 538.500 und 1972 eine Million und 1990 sogar 1.623.500 Menschen.8 

    Seit die Sowjetunion Anfang der 1960er Jahre den Export von Erdöl und Erdölderivaten hochfuhr, verläuft eine Pipeline durch belarussisches Territorium, die zu einem der weltweit größten Erdölleitungsnetze namens Drushba (dt. Freundschaft) gehört. Rohstoffe aus dem erdöl- und erdgasfördernden Wolga-Ural-Gebiet flossen damals nach Ungarn, Polen, in die Tschechoslowakei und DDR. Die Lage der BSSR als Transitland für den Export von Kohlenstoffverbindungen begünstigte den Bau von riesigen Raffineriebetrieben in Nowopolozk (1963) und Mosyr (1975) und die rasche Entwicklung der chemischen Industrie, des Bergbaus und der Energieerzeugung. Nach dem Krieg konnte durch den Produktionsausstoß im Maschinenbau die Versorgung der belarussischen Landwirtschaft mit technischen Geräten und Anlagen hochgefahren werden; früher wurde alles händisch gemacht und brachte dadurch weitaus geringeren Ertrag. Der deutliche Aufschwung in der landwirtschaftlichen Produktion machte Belarus über die Grenzen der UdSSR hinaus zu einem wichtigen Exportland für Nahrungsmittel. Die Errungenschaften jener Zeit in Industrie und Landwirtschaft legten den ökonomischen Grundstein für ein unabhängiges Belarus und wurden von Lukaschenkos autoritärem Regime in vollem Umfang genutzt.      

    Gegen Mascherau hagelt es trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – Kritik. Für manche war er offensichtlich ein Vertreter des sowjetischen Totalitarismus, der in den meisten Fällen linientreu gehandelt hat. Nie erwähnte er öffentlich die Repressionen gegen seinen Vater. Er verteidigte aktiv die Sowjetmacht und spielte von Jugend an nach den Regeln des totalitären Regimes. Wahrscheinlich hatte ihm genau das seinen direkten Weg in die Politik geebnet.  

    Auf Pjotr Mascheraus Initiative wurde die Metro in Minsk gebaut. Auf dem Foto: Haltestelle Jakub-Kolas-Platz / © Foto Antares 610 / CC BY-SA 3.0  

    Doch steht außer Zweifel, dass Mascherau einen gewissen Einfluss auf Qualität und Tempo hatte, mit denen er die Anweisungen aus dem Kreml befolgte und sie mit Logik und Vernunft versehen konnte. Das setzte er haputsächlich für die sozioökonomische Entwicklung der Städte und ländlichen Gegenden ein. Zum Beispiel war es ihm ein Anliegen, in Minsk eine Metro bauen zu lassen. Das konnte er nur umsetzen, indem er sich für Unterstützung an Leonid Breschnew wandte. 

    Die wirtschaftlichen Erfolge der Mascherau-Ära hatten ihren Preis: Die erste Generation von Dörflern, die ihren festen Wohnsitz in der Stadt hatten, wollte mit dem Ablegen der Muttersprache ihren niederen Status als „Kolchosniki“ (dt. Landeier) überwinden. Vertreter der belarussischen Nationaldemokraten, darunter der führende Politiker Sjanon Pasnjak, nannten Mascherau immer mal wieder einen „erzkommunistischen Russifikator“ und „Zerstörer der belarussischen Nation“. Der ehemalige Parteisekretär wurde für die totale Russifizierung des belarussischen Bildungssystems, für die Schädigung der Umwelt durch wirtschaftliche Erschließung und für die beginnende Verödung der kleinen („perspektivlosen“) belarussischen Dörfer verantwortlich gemacht.9 Und tatsächlich hatte Mascherau gegen die Moskauer Politik der Russifizierung von Belarus und anderen Sowjetrepubliken nicht nur nichts einzuwenden, sondern mehr noch: Er fand diesen Prozess in Ordnung und betrachtete ihn als notwendigen Schritt zur Entwicklung des „Sowjetmenschen“, des „Menschen der kommunistischen Zukunft“.                 

    Es gibt jedoch auch positivere Bewertungen seines Erbes. So ist der Politologe Sergej Bogdan der Meinung, Mascherau habe trotz allem eine wichtige Rolle für die spätere Unabhängigkeit von Belarus gespielt, weil unter seiner Führung die Belarussen endgültig zu einer eigenständigen Nation mit einer modernen Wirtschaft, einem Bildungssystem, mit Kultur und Wissenschaft geworden seien.10 Die britische Historikerin Natalja Tschernyschewa vertritt sogar die Ansicht, unter Mascherau sei Raum für zivilgesellschaftliche Strukturen geschaffen worden.11 

    Letzten Endes kann man das Wirken des ehemaligen BSSR-Oberhaupts als Beispiel dafür betrachten, dass auch unter totalitären Bedingungen Persönlichkeiten an führenden staatlichen Positionen sitzen können, die in der Lage sind, im Rahmen ihrer Befugnisse adäquate Entscheidungen zu treffen und damit die sozioökonomische Modernisierung des Landes voranzutreiben und den Lebensstandard seiner Bevölkerung zu verbessern.     

    Mit Mascheraus Tod und der Ernennung eines neuen Oberhaupts der Republik war die „Partisanen-Epoche“ in der belarussischen Nomenklatur vorbei, und es begann die Zeit der sogenannten „Minsker Industrie-Gruppe“, die Belarus bis zum Zerfall der Sowjetunion und in den ersten Jahren seiner Unabhängigkeit regierte.

     


    1 Jarosch, N. Tworil na semle i w nebe // Pjotr Mascherow. Epocha i sudba. K 100-letiju so dnja roshdenija. Wospominanija i statji. — M.: Studija Etnika, 2017, S. 488-490. 
    2 Urban, Maikl (2010). Belaruskaja sawezkaja elіta (1966–1986): alhebra ulady / per. s angl. mowy. Wіlnja: EHU. 
    3 Pjotr Mascherow. Epocha i sudba. K 100-letiju so dnjaroshdenija. Wospominanija i statji. — M.: Studija Etnika, 2017, S. 11. 
    4 Natalja Mascherowa objasnila, potschemu ona snjala swoju kandidaturu s presidentskich wyborow (05. Juli 2001), in: https://www.newsru.com/world/05jul2001/masherova.html
    5 Drosdow, Leonid (2018). Petr Mascherow: padenije wwerch. Minsk: Isdatelskije reschenija. 
    6 Lukaschenko — o belorusskom jasyke: Eto ne ja, woprossy— k Mascherowu, in: Euroradio(15.01.2015), https://euroradio.fm/ru/lukashenko-o-belorusskom   
    7 Ioffe, Grigory (2004). Understanding Belarus: Economy and Political Landscape. Europe-Asia Studies, Vol. 56, No. 1 (Jan., 2004), 85–118 (S. 88 ff): https://www.jstor.org/stable/4147439 
    8 Demografitscheski jeshegodnik Respubliki Belarus (2018). Minsk: Nazionalny statistitscheski komitet Respubliki Belarus, S. 33. 
    9 Pasnjak, Sjanon (09.01.2013). Etnas i nazyja. Pazniak, hier: http://pazniak.info/page_etnas_i_natsyiya-yazyke-eto-ne-ya-voprosy-k-masherovu   
    10 Bogdan, Sergej (31.03.2015). Mascherow, kotory stroil Belarus w teni Moskwy, in: Nasha Niva. https://nashaniva.com/?c=ar&i=146809&lang=ru 
    11 Chernyshova, N. The Soviet Roots of the 2020 Protests: The Unlikely History of Belarusian Civic Nationalism // Belarus in the Twenty-First Century. Routledge, 2023, S. 33–49. 

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  • Wo sind all die Kartoffeln hin?

    Wo sind all die Kartoffeln hin?

    Die Kartoffel ist eines der wichtigsten Nahrungsmittel in Belarus. Viele belarussische Speisen wie draniki (Reibekuchen) basieren auf der Erdknolle, die so auch zum kulturhistorischen Symbol wurde. Die Belarussen bezeichnen sich selbstironisch mitunter auch als bulbaschy (Kartoffelmenschen). Seit Monaten aber ist die Kartoffel Mangelware auf dem belarussischen Markt. Obwohl Belarus bei einer Produktion von bis zu 4.000.000 Tonnen Kartoffeln jährlich und einem Kartoffelverbrauch von durchschnittlich 162,5 Kilogramm pro Kopf und Jahr einen deutlichen Überschuss produziert. Was steckt dahinter?

    Das Online-Medium Mediazona Belarus hat Gründe für das Verschwinden der Kartoffel in Belarus recherchiert. Das Projekt Belarus. Expertise zeigt anhand des Draniki-Index, wie sich die dadurch verursachten Preissteigerungen auf die Zubereitung des dranik auswirkt. 

    Arbeiter eines landwirtschaftlichen Betriebs im Bezirk Lahoisk machen Kartoffeln bereit für den Transport. / Foto © IMAGO/ ITAR-TASS

    Anfang April haben Journalisten von Zerkalo festgestellt, dass sich die Behörden schon seit Mitte Februar Sorgen um Kartoffeln machten. Das MART (Ministerium für Handel und Wettbewerbsregulierung) hatte ein Treffen mit dem Landwirtschaftsministerium, den Verwaltungen von Minsk-Stadt und Minsk-Oblast einberufen sowie mit Vertretern großer Handelsketten.     

    Auf der Versammlung ging es um Gemüse-Engpässe: Unter anderem ging es darum, dass die Stabilisierungsspeicher, in denen bis zur nächsten Ernte Obst und Gemüse gelagert werden, ihren Abnehmern – den Handelsketten – „minderwertige Waren” liefern. Außerdem sei es wegen der Preisregulierung für Produzenten, die ihre Ernte in diese Stabilisierungsspeicher liefern, lukrativer, ihr Gemüse nicht auf dem Binnenmarkt zu verkaufen, sondern zum Beispiel nach Russland zu exportieren.  

    Bereits im Februar war das Kartoffelthema bis zu Lukaschenko durchgedrungen. „Na sowas, wir haben also keine Kartoffeln. Um wieviel sind Kartoffeln bei uns teurer geworden? Und um wieviel steigen die Preise zwischen den Ernten? Sind wir etwa unfähig, ausreichende Mengen Kartoffeln anzubauen, sie in Kellern zu lagern und sie dann der Bevölkerung zu verkaufen?“, empörte er sich.

    Der Illustrator und Designer Vladimir Tsesler hat das Kartoffeldefizit in Belarus auf seine eigene Weise kommentiert. Skarb ist das belarussische Wort für Schatz. / Bild © Vladimir Tsesler 

    Destabilisierung durch rigide Preiskontrolle 

    Der Staat hat auf mehrere Arten versucht, das Kartoffeldefizit zu beheben. Ende März verlängerte die Regierung die Lizenzierung des Kartoffelexports um drei Monate, um „sich die Kontrolle über Vorräte und Exporte aufgrund der steigenden Nachfrage und der hohen Kartoffelpreise jenseits der belarussischen Grenzen zu sichern“.     

    Im Anschluss wurden im Dekret Nr. 713 zur Preisregulierung zum siebten Mal Änderungen vorgenommen: Ab dem 17. April 2025 wurden für die gängigsten Gemüsesorten die Obergrenzen der Preise für den Großhandel und die Endkunden angehoben: für Kohl (außer Frühkraut), (ungewaschene) Karotten, Speisezwiebeln, frische Gurken und gewaschene Speisekartoffeln.   

    Während noch im März das Kilogramm Kartoffeln für den Endkunden höchstens 76 Kopeken (ca. 0,22 Euro) kosten durfte, darf der Preis jetzt mindestens bis zum 15. Mai bis zu 1 Rubel (ca. 0,28 Euro) betragen. Am 17. April reagierte das MART auf die Kartoffelfrage und verkündete, in Belarus würden Maßnahmen ergriffen, um ausreichende Mengen Kartoffeln sowie anderes Obst und Gemüse in den Läden sicherzustellen. In den darauffolgenden zwei Tagen kontrollierte das Ministerium 20 Gemüselager und fand keinerlei Verstöße.         

    „Kartoffeln gibt es genauso auf dem Markt wie alles andere, was in den Borschtsch gehört. Die Regierung hat effektive Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu verbessern die durch Preisdifferenzen entstanden waren, aufgrund derer unsere Produzenten auf den ausländischen Märkten größere Gewinne erzielten”, berichtete Darja Poloskowa, Repräsentantin des Ministeriums. 

    „Das ist von heute auf morgen [eine Preissteigerung um] 30 Prozent. Inflation haben wir ja keine? Wir halten sie unten, solang es geht, und auf einmal, hopp – 30 Prozent“, kommentierte Wirtschaftsanalyst Sergej Tschaly Poloskowas Aussage. Zerkalo berichtete, wie in der Oblast Witebsk über tausend Tonnen Kartoffeln „verlorengegangen“ seien.  Über BelPol hatte das Medium Zugang zu Chats und E-Mails von Beamten bekommen.   

    Außerdem erzählten Journalisten von Zerkalo von einem Brief des MART an das Landwirtschaftsministerium, in dem es vor einem womöglich bevorstehenden „Defizit an frischen Gurken aus den Gewächshausanlagen der Republik auf dem Verbrauchermarkt“ warnte; ebenso erreichten das Ministerium Bitten verschiedener Handelsketten, im April die Versorgung des Marktes mit Gurken zu fördern.  

    „Die Kartoffeln im Laden sind jetzt sehr klein – und so grün wie Hulk.” 

    Eine Woche nach den Kontrollen des MART spricht man in den Gemüsespeichern von Belarus noch immer von Mangel, den Preisen und der schlechten Qualität nicht nur von Kartoffeln, sondern auch zum Beispiel von Zwiebeln und Kohl.  

    „In letzter Zeit ist es plötzlich schwierig geworden, bei Euroopt oder Hit ordentliche Kartoffeln zu finden. Es gibt nur winzige, angeditschte“, erzählte Mediazona eine Befragte aus dem Gebietszentrum. Ein Bewohner einer anderen belarussischen Stadt erzählte, wie er vor ein paar Tagen das ganze Viertel nach Kartoffeln abgesucht hätte. 

    Vor drei Tagen postete eine Belarussin ein Video zu dem Thema auf TikTok: „Das Volk beschwert sich, dass die Kartoffeln im Laden jetzt sehr klein sind – und so grün wie Hulk. Die Bauern kontern: Ihr müsst schon entschuldigen, wie sollen wir was verdienen, wenn wir die Preise nicht erhöhen dürfen. Wenn auch ihr beim Einkaufen schlechte Kartoffeln gesehen habt – schreibt in die Kommentare, was denkt ihr, wer ist daran schuld?“ 

    In einem anderen TikTok erzählt ein Belarusse, er habe in der Vorwoche mit seiner Mutter in Iwanowo vergeblich nach Kohl gesucht. In vier Geschäften seien sie gewesen, doch weder im Dorf noch in der Stadt habe es Kohl gegeben. Auf Instagram ist ein Belarusse der Meinung, das mit den Kartoffeln sei ein Desaster: „Auf den Märkten gibt’s ja noch halbwegs irgendwas, aber im Supermarkt – kannst du vergessen.“ Eine andere Belarussin schreibt: „Kartoffeln sind wieder da, aber wo sind nun die Zwiebeln?“ Die Frage, „wieso die Kartoffeln so sauteuer sind“, stellt sich ein Instagram-User bis heute. 

    Der Draniki-Index verdeutlicht die Teuerungsrate einer der beliebtesten Speisen in Belarus. / Schaubild © Belarus. Expertise
    Der Draniki-Index verdeutlicht die Teuerungsrate einer der beliebtesten Speisen in Belarus. / Schaubild © Belarus. Expertise

    Das Projekt Belarus. Expertise analysiert die ökonomischen Entwicklungen in Belarus, dazu veröffentlicht das Online-Portal regelmäßig den Draniki-Index. Draniki (dt. Reibekuchen/Kartoffelpuffer) sind ein wesentlicher Bestandteil der belarussischen Küche. Der Index wird auf Grundlage von Preisentwicklungen für Produkte berechnet, die zur Zubereitung von Draniki für eine Familie mit drei bis vier Personen nötig sind (siehe Schaubild). „Die Kosten für einen Dranik mit einer teuren Beilage weisen eine hohe Teuerungsrate von 34,9 Prozent auf“, erklären die Wirtschaftsexperten in ihrer Analyse. „Die Kosten für einen Dranik mit einer preiswerten Beilage stiegen im Laufe des Jahres um 9,8 Prozent.  Bei den Zutaten verzeichneten Kartoffeln eine Rekordpreissteigerung von 35,21 Prozent im Laufe eines Jahres. Die Gründe dafür waren die Dürre, die geringere Produktion und die massiven Ausfuhren nach Russland.“ 

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  • Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag

    Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag

    „Nie wieder Krieg“ waren einmal die Worte, die den 9. Mai, den „Tag des Sieges“, über Jahrzehnte hinweg in vielen Familien des (post-)sowjetischen Raumes bestimmten. Eigentlich war es immer schon ein Mythos – mehr Wunschdenken denn Realität: In Wirklichkeit kämpften hunderttausende sowjetische und später russländische Soldaten etwa in Afghanistan und in Tschetschenien, viele Militärangehörige (sog. Wojenspezy) beteiligten sich an Kriegen in Afrika.  

    Außerdem brachen nach dem Zerfall der Sowjetunion zahlreiche regionale Kriege aus. Bergkarabach und Georgien waren bis Februar 2022 die bekanntesten Beispiele. 

    Doch erst der vollumfängliche Krieg Russlands gegen die Ukraine seit dreieinhalb Jahren legt endgültig offen, wie hochproblematisch die Erinnerungskultur in manchen Teilen des postsowjetischen Raums ist: Einige Aspekte dienen Russland im aktuellen Krieg als Rechtfertigung dafür, ein Volk anzugreifen, das zusammen mit dem russischen und vielen anderen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Faschismus Nazi-Deutschlands gespielt hat. So benutzt die (pro-)russische Propaganda das 80. Jahr nach Kriegsende auch, um nicht nur an die Befreiung Europas 1945 zu erinnern, sondern vielmehr an die imperialen Ambitionen des heutigen Russlands. 

    Dekoder-Redakteur Dmitry Kartsev spricht anlässlich des heutigen Gedenktages mit dem Historiker Alexej Uwarow, der derzeit in Deutschland zur Erinnerungskultur in Osteuropa forscht.  

    dekoder: Die russische Propaganda rechtfertigt den Angriffskrieg gegen die Ukraine als angeblichen Verteidigungskrieg gegen „Nazis“ und verweist dabei systematisch auf angebliche Parallelen zum Großen Vaterländischen Krieg. Inwieweit hat sich die Geschichtspolitik des Kreml seit dem Zerfall der Sowjetunion verändert?  

    Alexej Uwarow: Das ursprüngliche geschichtspolitische Konzept, mit dem Russland 1991 angetreten ist, ist in den Hintergrund geraten und hat sich schließlich inhaltlich substanziell verändert. Ich habe eine Zeit lang die Reden der Präsidenten Putin und Medwedew zum 12. Juni verglichen, dem Tag Russlands. In den frühen 2000er Jahren fanden sich dort noch viele Wörter wie Demokratie, Föderalismus, Recht und Freiheit.   

    Seit der berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, vor allem aber seit 2014 wurde der Ton immer aggressiver:  Russland sei mehr als die Russische Föderation, es gebe ja noch das „historische Russland“, für das die Grenzen der 1990er Jahre nicht gelten würden etc. Solche Begriffe wie „Zone privilegierter Interessen“, „russki mir“, „nahes Ausland“ wurden zunehmend wichtiger und verdeutlichten den imperialen Anspruch Russlands. Vor diesem Hintergrund ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg teilweise zu einem Vehikel zur Legitimation des aktuellen Krieges verkommen, und dieser bildet nun in der neuen Geschichtspolitik einen neuen Gründungsmythos, im Rahmen dessen die Ausweitung Russlands auf etwas Größeres, möglicherweise bis hin zu den Grenzen des Russischen Reichs als etwas Normales und Wünschenswertes gilt.  

    Gleichzeitig sehe ich aber keine wirklich neuen gesellschaftlichen und sozialen Praktiken im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Es findet zwar eine aggressive Militarisierung der gesamten Gesellschaft statt, doch diese kommt hauptsächlich von oben. Breitenwirksame Grass Roots Initiativen wie Georgsbändchen oder das Unsterbliche Regiment (die natürlich schnell verstaatlicht worden sind) gibt es heute nicht.  

    Es ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft Elemente aus dem aktuellen Krieg ins gesellschaftliche Bewusstsein zum „Tag des Sieges“ Einzug halten werden, bislang sehe ich aber keine Hinweise dafür, dass die Gesellschaft besonders aktiv auf die politischen Angebote reagiert, die beiden Kriege zu einer gedanklichen Einheit zu verschmelzen. 

    Der Kult um den Sieg im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg galt vielen Beobachtern als die Heilige Kuh der russischen Geschichtspolitik unter Putin. Falls die Menschen diese geschichtspolitische Verschmelzung weiterhin jedoch nicht annehmen und die Erzählungen in Konkurrenz geraten – würde der Kreml da nicht diese zentrale geschichtspolitische Ressource verlieren? 

    Wie sich die russische Erzählung über den Krieg gegen die Ukraine entwickelt, zeigt, wie eklektisch sie ist. Betrachten wir zum Beispiel, wie der russische Staat in den eroberten Gebieten vorgegangen ist, also in den okkupierten Teilen der Oblasten Cherson und Saporischschja. Denn dort gab es erstaunliche Pirouetten: Militärs kamen, um eine sogenannte „Denazifizierung“ vorzunehmen, und sie griffen dabei zu quasi-sowjetischer Rhetorik.

    Dazu brachten sie es fertig, Flaggen und Wappen aus der Zarenzeit hervorzuholen sowie Bilder von Potjomkin oder Suworow. Nicht nur der Zweite Weltkrieg und der andauernde Krieg haben darin Platz. Da finden auch alle möglichen anderen Helden aller erdenklichen Epochen der russischen Geschichte ihren Platz. So werden sicherlich auch die von der Ukraine-Front zurückkehrenden Soldaten als Helden stilisiert und damit in das vorhandene Pantheon aufgenommen.

    Die russische Geschichtspolitik hat weniger ideologische Beschränkungen als das sowjetische. Und das macht es flexibler. 

    Schauen wir auf die Betroffenen der aktuellen russischen Aggression, die Ukraine – wie wurde und wird dort des Zweiten Weltkriegs gedacht? Früher wurde in der Sowjetunion gemeinsam in allen Republiken der „Tag des Sieges“ gefeiert. Wie hat sich das seit den 1990er Jahren – besonders in der Ukraine – verändert? 

    In der Ukraine gab es ab 1999 – unter Viktor Juschtschenko erst als Ministerpräsident, später dann als Präsident – Versuche, zwischen den Veteranen der Roten Armee und den Veteranen, die in den Reihen der OUN und UPA gekämpft haben, zu vermitteln – der sogenannten Division Halytschyna und anderen antisowjetischen Formationen. 

    Ich erinnere mich noch, wie die russische Propaganda das schon Mitte der 2000er Jahre als Gleichsetzung der beiden Seiten, eine Relativierung bis Heroisierung des Nazismus darstellte. 

    In der gesamten Amtszeit von Juschtschenko ging es um die Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins, insbesondere auf Grundlage der historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert. Juschtschenko konzentrierte sich dabei auf die Ukrainische Volksrepublik, auf die Westukrainische Volksrepublik, und auf die Fortsetzung des antisowjetischen nationalen Befreiungskampfes. Vor seiner Amtszeit hatte die UPA keine große Aufmerksamkeit bekommen, Juschtschenko war der erste ukrainische Präsident, der sie in die staatliche Erinnerungspolitik integrierte.  

    Schon damals führte das zu Kontroversen, weil die UPA, die gegen die Sowjetmacht kämpfte, auch Verbrechen gegen Juden und Polen beging. Aber es war nicht Juschtschenkos Absicht, das Gedenken an die sowjetischen Veteranen durch ein Gedenken an die UPA zu ersetzen. Eher war es der Versuch, all das im Sinne einer ukrainischen Nationalerzählung zu verbinden. 

    Der Zusammenhang sollte darauf basieren, dass alle Ukrainer sind, dass alle Teil einer ukrainischen Nation und einer ukrainischen Geschichte sind – mit all ihren tatsächlichen Widersprüchen und Konflikten. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es, stark vereinfacht, Gruppen im Land gibt, die den Zweiten Weltkrieg grundverschieden betrachten. Damit muss man einen Umgang finden. Man braucht man eine nationale Erzählung, die nicht spaltet, sondern eint.  

    Leider widersprach dieser Ansatz der Einstellung vieler, die in der Sowjetunion aufgewachsen und sozialisiert waren. Russland indes hat diese Zerwürfnisse für seine Interessen genutzt und die Konflikte weiter geschürt

    Und wie entwickelt sich der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in Belarus? 2020 klang es ja an, als gäbe es eine Spaltung zwischen der staatlich verordneten Erinnerungspolitik und dem, was die Menschen für richtig halten: Als Lukaschenko die weiß-rot-weiße Flagge verbieten wollte, das Symbol der Massenproteste und der alten national-demokratischen Opposition. Er tönte, dass die Flagge auf die Nazi-Kollaborateure zurückgehe und seine heutigen Gegner ebenfalls Neonazis seien und so weiter. 

    In Belarus gab es schon 1996 erste Tendenzen Lukaschenkos, den Tag der Freiheit am 25. März, an dem 1918 die Belarussische Volksrepublik ausgerufen wurde und der auf national-oppositionelle Initiativen zurückgeht, durch den Tag der Unabhängigkeit am 3. Juli zu verdrängen, an dem die Befreiung von Minsk von der deutschen Besatzung begangen wird. In der Folge wurden Museen bis hin zu Geschichtsbüchern in einer Weise umgestaltet, die selbst russischen Hurra-Patrioten Sorgen bereitete. Denn manche belarussischen Schulbücher konzentrierten sich in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs weitgehend auf die Ereignisse in Belarus  –  also auf die sowjetische Besatzung von Westbelarus ganz zu Beginn, dann die deutsche Besatzung, die Partisanenbewegung, die Operation Bagration, während alles andere, etwa die Schlachten um Moskau und Stalingrad, die Belagerung von Leningrad, in den Hintergrund rückte. Und obwohl die Glorifizierung der Heldentaten im Zweiten Weltkrieg in dieselbe Richtung ging wie in Russland, entstand eine besondere, nationale Version.  

    Es ist zwar eine Geschichte gemeinsamer Helden, der belarussischen Partisanen, die ja auch im russischen Pantheon vertreten sind, aber doch auch eine Abgrenzung vom russischen Narrativ. Das betrifft sogar die Symbolik. Das Georgsband hat sich in Belarus nicht durchgesetzt, dort hält der Staat dazu an, eine Apfelblüte auf einer rot-grünen Schleife auf dem Revers zu tragen. Ähnlich der Mohnblume, die in Großbritannien an die Opfer des Ersten Weltkriegs erinnert und mittlerweile auch das Gedenksymbol der Ukraine für ihre Opfer des Zweiten Weltkrieges ist.   

    Trotz der gestiegenen Abhängigkeit vom Kreml versucht Lukaschenko diese seine nationale Variante der Erinnerungspolitik gegenüber dem sowjetischen Erbe weiterzuverfolgen.   

    Zurück zur Ukraine: Was passierte dort seit Juschtschenko? 

    Da muss ich an ein Video aus dem Jahr 2015 denken, in dem einem alten Offizier, gespielt von Wolodymyr Talaschko aus dem sowjetischen Kultfilm W boi idut odni stariki (dt.: Erfahrene Hasen des Geschwaders), von seinem Enkel, einem jungen Soldaten der ukrainischen Streitkräfte zum Tag des Sieges gratuliert wird. Der Opa setzt sich die Schirmmütze der sowjetischen Armee auf und sagt „Slawa Ukrajini“.

    In dieser Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs findet die sowjetische Bildsprache mit dem ukrainischen Nationalbewusstsein nicht nur ein Auskommen, sondern unterstützt es sogar. Während früher die Verwendung solcher Bilder Teile der Bevölkerung vor den Kopf stieß und eher spaltend wirkte, verloren sie nach der Annexion der Krym und dem Kriegsbeginn im Donbas dieses Konfliktpotenzial.  

    Wolodymyr Selensky setzte diese Linie fort, als er am „Tag des Sieges“ 2022 über den Kampf gegen Eroberer von außen sprach, gegen Faschisten und Raschisten

    Sie leben und arbeiten in Bonn, forschen zur russischen Geschichtspolitik. Wie sehen Sie den Einfluss der russischen Aggression gegen die Ukraine darauf, wie man in Deutschland nun die Rolle Russlands im Kampf gegen den Faschismus wahrnimmt? Auch die Rolle der Ukraine, natürlich.   

    Soweit ich das anhand meiner Gespräche mit Deutschen und anhand dessen, was ich in den Medien sehe, beurteilen kann, ist das Hauptproblem, dass Russland als einziger Rechtsnachfolger der Sowjetunion gilt: als wichtigster Erbe nicht nur, was Eigentum und den Sitz im UNO-Sicherheitsrat angeht, sondern auch, was die Nachkriegszeit und den Sieg über den Faschismus angeht. So wurde Russland der Löwenanteil der Aufmerksamkeit zuteil, bei allem, was den Krieg an der Ostfront betraf. Immer wieder wird Russland oder russisch synonym anstelle von Sowjetunion bzw. sowjetisch verwendet. 

    Erst jetzt fängt das an, sich zu verändern. Auch andere Länder rücken in den Fokus, vor allem natürlich die Ukraine.  

    Als ich dieses Jahr an einer Podiumsdiskussion zum historischen Gedenken im Museum Karlshorst teilnahm, hatte ich dort nicht den Eindruck, dass die deutschen Kollegen dazu geneigt wären, Russland durch die Ukraine zu ersetzen oder die Landkarte der Erinnerung abzuändern. Meinem Eindruck nach unterscheiden sie den heutigen Staat der Russischen Föderation, der einen Angriffskrieg führt, von der Sowjetunion als Befreier von Nazi-Deutschland. Und die Russen als jene Menschen, die heute dort leben, von den Russen als Nachkommen der Opfer des Faschismus. Das ist eine komplexe Angelegenheit mit feinen Nuancen.  

    Trotzdem, ich sehe einfach keine grundsätzliche Möglichkeit, Russland vollends von dieser Erinnerungskarte zu tilgen. Offenbar bleibt uns nichts anderes übrig, als den Staat außen vor zu lassen und mit jenen Vertretern der russischen Gesellschaft zu interagieren, die zum Dialog bereit sind. Ich habe das Gefühl, in Europa besteht Bedarf an neuen Repräsentanten genau da, wo früher Abgeordnete des russischen Staates saßen: Vor nicht allzu langer Zeit ist ein Freund von mir als Memorial-Mitarbeiter zu einer Zeremonie nach Auschwitz gefahren, zu der früher ein russischer Diplomat eingeladen worden wäre, wo aber jetzt er die russische Zivilgesellschaft repräsentierte. Das ist alles ziemlich merkwürdig und noch recht neu.  

    Den Anspruch auf eine eigene Stimme im Dialog über den Zweiten Weltkrieg können nun alle unabhängigen Länder erheben, die einst zur UdSSR gehörten, alle, die das wollen – die Ukraine, Belarus, Usbekistan, Kirgisistan, Kasachstan, Georgien, Armenien … Es hat einfach früher eines davon die meiste Aufmerksamkeit bekommen, das gleicht sich jetzt aus. 

    Sie sprechen von einem Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft. Aber glauben Sie, dass die Russen, die gegen den Krieg sind, irgendeine andere Interpretation des Zweiten Weltkriegs entwickeln könnten, abseits der revanchistischen und expansionistischen Bestrebungen des Staates?  

    Ich glaube, die Menschen, die oppositionell und regierungskritisch eingestellt sind, haben das alles immer schon differenzierter, komplexer und widersprüchlicher wahrgenommen. Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag. Aber natürlich hat der Krieg gegen die Ukraine das alles verschärft. Die Frage ist, ob eine komplexe Sicht auf den Krieg das ablösen kann, was der Staat heute als Begründung für den Kampf gegen den „kollektiven Westen“ durchsetzen will.   

    Aber selbst wenn: Ich befürchte, dass es in der russischen Geschichte sehr viele Kriege gibt, die sich instrumentalisieren und als Teil eines jahrhundertelangen Widerstands abbilden ließen, in dem die Russen und die Sowjetbürger ziemliche Helden waren … Das ist ein Problem, da muss man was tun, ich glaube nicht, dass es darauf schon eine Antwort gibt.  

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    Russische Eskalationsspiele mit Belarus

    Selbst wenn es zu einem dauerhaften Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine kommen sollte, werden die Spannungen zwischen dem Kreml und den Ländern der EU bleiben. Damit komme Belarus, schreibt Artyom Shraibman in seiner Analyse für Carnegie, eine besondere Rolle zu. Putin könnte das Lukaschenko-Regime für weitere Eskalationen jenseits der ukrainischen Front nutzen. Deswegen sei es für die EU wichtig, die Interessen des belarussischen Machthabers zu verstehen, um „Moskau zusätzliche Hindernisse in den Weg zu legen. Und je mehr es davon gibt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein neuer großer Krieg beginnt.“ Shraibman zeigt auf, wie solche Hindernisse aussehen könnten. 

    Alexander Lukaschenko am Tag seiner Inauguration am 25. März 2025 im Kreise von Kadetten und Kadettinnen in Minsk. / Foto © IMAGO / ITAR-TASS 

    Logik der Beteiligung 

    Belarus ist mittlerweile aufgrund seiner geografischen Lage und seiner zunehmenden Abhängigkeit von Russland ein permanenter Risikofaktor für seine Nachbarländer. Daran wird sich wahrscheinlich nichts ändern, solange in Belarus ein Regime herrscht, das seine Macht der wirtschaftlichen und politischen Unterstützung aus Moskau zu verdanken hat. Das Problem ist nicht nur die alte Feindschaft zwischen Alexander Lukaschenko und Polen oder Litauen, sondern auch das Beziehungsmodell, wie es sich in den letzten fünf Jahren zwischen Minsk und Moskau entwickelt hat.  

    Bis 2020 hielt Lukaschenko immer die Balance zwischen dem Westen und Russland, in der Erwartung, von beiden Seiten dafür belohnt zu werden, dass er sich nicht auf die jeweils andere Seite schlägt. Die Bedingung für dieses Manövrieren war die Möglichkeit, sich wie ein Pendel mal an Russland anzunähern, mal sich zu entfernen. Der Bruch mit dem Westen nach den Protesten in Belarus 2020 stoppte dieses Pendel und fixierte es im Kontrollbereich Russlands.  

    In der Folge verlor der Westen das Interesse an den Signalen Lukaschenkos, der verbal weiterhin versuchte, seine Eigenständigkeit zu betonen. Gleich zu Beginn der vollumfassenden Invasion in der Ukraine rief er zu sofortigen Verhandlungen auf und bot sich als Mittelsmann zwischen Kyjiw und Moskau an. Doch diese Rhetorik überzeugte die Adressaten nicht mehr, der Spielraum für seine Manöver war verschwunden. Also warb Lukaschenko mit einer neuen Taktik um die Gunst und Ressourcen aus Russland: Er leistete militärische Dienste, wie Wladimir Putin sie im jeweiligen Moment am dringendsten brauchte.  

    Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren. 

    Lukaschenko versorgte die russische Armee und die Rüstungsindustrie nicht nur mit allem, was Belarus zu bieten hatte. Während der Mobilmachung im Herbst 2022 stellte er auch belarussisches Territorium für die Ausbildung russischer Soldaten zur Verfügung. Als Jewgeni Prigoshin im Juni 2023 den Aufstand probte, trat Lukaschenko als Vermittler zwischen den Konfliktparteien auf und gestattete den Mitgliedern der zerschlagenen Söldnertruppe Wagner den Aufenthalt in Belarus, bis sie der Kreml unter seine Kontrolle nahm. Und als im Sommer 2024 die ukrainische Militäroperation in der Oblast Kursk begann, verschob er die belarussischen Truppen demonstrativ an die südliche Grenze, um Moskau seine Bereitschaft zu bekunden, die ukrainischen Streitkräfte von der Hauptfront abzulenken.  

    Außerdem verkündeten Mitte 2023 Moskau und Minsk die Stationierung taktischer Kernwaffen in Belarus, ein Jahr darauf führten sie Übungen zu ihrer Anwendung durch. Im Dezember 2024 machten die beiden ihre Pläne bekannt, in Belarus die neuen russischen Oreschnik-Mittelstreckenraketen aufzustellen. Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren, und Minsk spielte willig als Partner mit.  

    Manche Aktionen waren eher symbolischer Natur. Etwa das bilaterale Abkommen über Sicherheitsgarantien, das im Dezember 2024 geschlossen wurde. Es berechtigt Russland, im Fall einer Bedrohung von außen Truppen und militärische Anlagen in Belarus zu stationieren, und spannt den Nuklearschirm der Russischen Föderation auch über das Nachbarland. Dieses Dokument brachte weder de jure noch de facto eine Veränderung, weil das alles auch vorher schon möglich war. Doch derartige symbolische Akte erzeugen das Bild einer erstarkenden Sicherheitszone rund um Russland und sind deshalb wichtig für Putin.  

    Indem er sich da, wo es dem Kreml jetzt am wichtigsten ist, nützlich und loyal gibt, sorgt Lukaschenko für die fortgesetzte wirtschaftliche und sonstige Unterstützung seines Regimes. Moskau hält die günstigen Bedingungen für die Lieferung von Energiereserven nach Belarus aufrecht, verlängert Zahlungsfristen alter Kredite, stellt seine Infrastruktur für den Export sanktionierter belarussischer Produkte wie etwa Kalidünger zur Verfügung. Hierbei verlangt Putin von Lukaschenko keine unbequemen Zugeständnisse wie etwa einen Einsatz der belarussischen Armee an der Front oder, wie Moskau 2020 noch vorschlug, die Schaffung supranationaler Behörden im Staatenbund.  

    Dieses Verhältnis zu Russland kommt dem belarussischen Regime gelegen. Zumal es in absehbarer Zeit alternativlos ist. Wenn es Moskau also das nächste Mal einfällt, für eine regionale Eskalation belarussisches Territorium zu nutzen, wird sich weder Lukaschenko noch sein Nachfolger schwer entziehen können. Wahrscheinlicher ist, dass die belarussische Führung sich ausrechnet: Durch demonstrative Loyalität in einem kritischen Moment können wir uns das Recht ausbedingen, eine aktive Teilnahme an einem neuen, von Moskau angezettelten Krieg abzulehnen.  

    (Un)glaubwürdige Leugnung 

    Im Fall einer neuerlichen Eskalation wird der Kreml bestimmt seine mehrmals erprobte Taktik anwenden und versuchen, sein aggressives Vorgehen als Reaktion auf die Bitte eines Bündnispartners oder seiner Schützlinge darzustellen.  

    Ob aufgrund seiner eisernen Gesetzestreue oder weil er vor seinen Anhängern nicht als Aggressor dastehen will, Putin sorgt nach Möglichkeit immer dafür, dass der Eskalation eine „Bitte von unten“ vorausgeht. Das war bei der Krim so und beim Beginn des Großangriffs auf die Ukraine sowie bei der Annexion von vier weiteren ukrainischen Regionen. Trotz der immer geringeren Überzeugungskraft solcher Gesten will der Kreml jedes Mal den Anschein erwecken, Einheimische oder regionale Eliten hätten ihn um Hilfe gebeten.  

    Derselben Logik folgt Moskau auch bei weniger schicksalsschweren Entscheidungen, die Russland und Belarus betreffen. Formal war es Anfang 2022 Lukaschenko gewesen, der russische Truppen zu den Militärmanövern eingeladen hatte, nach denen sie in die Ukraine einmarschierten. Im Herbst desselben Jahres bat er Putin darum, in Belarus eine „Regionaltruppe“ aufzubauen, de facto ein Deckmantel für die Ausbildung der frisch mobilisierten russischen Soldaten und ein Ablenkungsmanöver von der ukrainischen Offensive bei Charkiw und Cherson. Es war auch Lukaschenko selbst, der die übriggebliebenen Wagner-Söldner nach Belarus einlud und um die Aufstellung russischer Kernwaffen und des Raketensystems Oreschnik in seinem Land bat.  

    Moskau delegiert an Minsk die Rolle des Initiators, um seinen Partner nicht mit der willkürlichen Nutzung seines Territoriums zu demütigen. Damit glaubt Putins heimische Anhängerschaft und vielleicht auch so mancher Putinversteher im Ausland eine Weile lang, dass Moskau nur auf Bitten von Freunden reagiert und nicht selbst die Eskalation provoziert.  

    Der Status von Belarus als souveränem Staat liefert eine praktische Ausrede, ermöglicht es, die Mitwirkung am ersten Schuss zu leugnen (plausible deniability). Den Gegner überzeugt das natürlich keineswegs, aber die loyale Öffentlichkeit findet das durchaus glaubwürdig.  

    Verschärfungsszenarien 

    Überlegungen zu möglichen Szenarien einer neuerlichen militärischen Krise in Osteuropa sind spekulative Gedankenspiele. Einzeln betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Szenarien Realität wird, nicht so groß. Doch kann man anhand solcher Erwägungen gut sehen, wie Belarus in diesem Prozess benutzt wird, und es können Wege zur Risikosenkung eingeschätzt werden.  

    Die geografische Lage von Belarus eröffnet Russland zwei Richtungen für ein aggressives Vorgehen: südlich gegen die Ukraine und westlich gegen die Ostflanke der Nato (Polen, Litauen, Lettland). Jedes Szenario eines ernsthaften Konfliktes erfordert die Beteiligung der russischen Armee, denn den belarussischen Streitkräften mangelt es, vor allem ohne vorangehende Mobilmachung, an Personal, an Erfahrung und an Ausrüstung, um im Alleingang und auf Dauer die Wehrhaftigkeit seiner Nachbarn zu durchbrechen. 

    Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU. 

    Das heißt jedoch nicht, dass Russland das Szenario von Anfang 2022 wiederholen wird – also wieder ein paar Wochen vor der Eskalation mit dem Vorwand von Militärübungen ein riesiges Truppenkontingent in Belarus stationieren wird. Hundertprozentig kann dieses Manöver zwar nicht ausgeschlossen werden, aber seit 2022 ist es so erwartbar, dass Moskau bei jedem Versuch, es zu wiederholen, den Überraschungseffekt verlieren würde.  

    Jede Überführung Tausender und erst recht Zigtausender russischer Soldaten nach Belarus würde sofort die Aufmerksamkeit der Geheimdienste der Nato-Länder erregen. Die Bündnispartner würden Reaktionen auf Provokationen vorbereiten. Und wenn eine solches Kontingent wie im Januar 2022, noch dazu mit Kriegs- und Pioniertechnik, nach Belarus ziehen würde, dann würde keines der Nachbarländer mehr darauf hoffen, dass der Kreml blufft oder nur mit den Säbeln rasselt.  

    Bei weniger geradlinigen Eskalationsszenarien geht es um die Einbeziehung russischer Soldaten in ein Geschehen, mit dem man auf angeblich bereits erfolgte Provokationen reagiert. Zum Beispiel auf eine akute Verschärfung der Migrationskrise, die die belarussischen Behörden bereits seit mehreren Jahren in unterschiedlicher Intensität als Druckmittel auf die Nachbarn einsetzen.  

    Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU, als Retourkutsche für deren Sanktionen. Lukaschenko hat schon oft erklärt, dass die russischen Grenzbeamten die Migranten durchwinken werden, solange die Sanktionen aufrecht erhalten werden. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte ändert sich je nach Jahreszeit und wird manchmal von Minsk direkt beeinflusst. Zu Spitzenzeiten wurden monatlich mehrere Tausend versuchte Übertritte gezählt, während es in den Wintermonaten jeweils nur ein paar Hundert sind. 

    Im Jahr 2022 strichen einige Fluglinien auf Druck der EU Flugverbindungen zwischen den Herkunftsländern der Migranten und Minsk. Danach versuchten viele Migranten, über Russland die belarussische Grenze zur EU zu erreichen. Das bedeutet, dass russische Geheimdienste wohl an der Koordinierung dieser mehrjährigen Operation beteiligt sind. Das ist wenig überraschend, bedenkt man das ähnliche Vorgehen Russlands in den letzten Jahren an den Grenzen zu Finnland und Norwegen. 

    Die Sicherheitsbehörden der Nachbarländer von Belarus, vor allem die in Polen, stellen seit den ersten Monaten der Krise fest, dass die Migranten auf jede erdenkliche Weise von belarussischen Sicherheitsbehörden unterstützt werden. Sie wurden zur Grenze gebracht und mit Leitern ausgestattet sowie mit Werkzeugen, um die Grenzbefestigung zu demontieren. Man gab ihnen auch Pflastersteine und Steinschleudern, um europäische Grenzbeamte anzugreifen. Im Mai 2024 kam bei derartigen Zusammenstößen ein polnischer Soldat ums Leben. Daraufhin sorgte Minsk umgehend einige Monate lang für eine Reduzierung des Migrantenstroms. 

    Russland könnte Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen. 

    In einem Szenario, wenn ein bewaffneter Konflikt provoziert wird, könnten Migranten mit gefährlicheren Waffen ausgestattet werden als nur mit Steinschleudern. So könnten, als Migranten getarnt, Söldner oder Sicherheitskräfte versuchen, die Grenze zu überqueren. Ein daraufhin als Reaktion folgender Einsatz tödlicher Waffen durch das polnische, litauische oder lettische Militär könnte zu Zusammenstößen mit den belarussischen Grenztruppen führen. Eine solche Eskalation könnte wiederum formal als Vorwand dienen, die Nato-Staaten einer Aggression zu beschuldigen und russisches Militär hinzuzuziehen, um „die gemeinsame Grenze des Unionsstaates zu verteidigen“. 

    Dabei wäre es möglich, dass Minsk vorab nicht über die russischen Pläne informiert wird. In dem Wissen, dass die belarussische Führung sich nicht proaktiv in einen Krieg verwickelt werden will, könnte der Kreml eine Situation schaffen, in der es für Lukaschenko schwierig wäre, sich nicht für Hilfe an Moskau zu wenden. Ein solcher Einsatz von Migranten ist nicht das einzig denkbare Szenario. Zum Beispiel könnte man als ersten Schritt von Litauen fordern, einen breiteren, durch Belarus führenden Festlandskorridor zur Oblast Kaliningrad zu schaffen, falls der Schiffsverkehr über die Ostsee beschränkt würde. Darüber hinaus könnte Russland Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen. Das wäre sehr viel einfacher, als einen Zusammenstoß mit der Nato zu provozieren. 

    Bei diesem Szenario könnte Russland zunächst seine Luftwaffe und seine Raketensysteme nach Belarus zurückverlegen, die 2023/24 abgezogen wurden. Dann könnte der Beschuss der Ukraine von belarussischen Stützpunkten und Fliegerhorsten wieder aufgenommen werden. Diese Angriffe waren im Herbst 2022 eingestellt worden. Kyjiw hat jedoch in letzter Zeit erhebliche Fortschritte bei der Produktion von Raketen und Drohnen mit großer Reichweite gemacht. Dadurch wären belarussische Militärobjekte als Ziel nicht nur rechtens, sondern auch recht einfach zu treffen, verglichen mit den weiter entfernten und besser von der Luftabwehr geschützten Objekten in Zentralrussland. 

    Im Falle eines systematischen Beschusses aus Belarus, könnte für die ukrainische Führung die Versuchung, diese Gefahr zu beseitigen größer sein als der Wunsch, Belarus nicht in den Krieg hineinzuziehen. Die als Reaktion folgenden ukrainischen Schläge gegen Belarus könnten wiederum Russland mehr Gründe liefern, von Lukaschenko einen Einsatz belarussischer Streitkräfte zu fordern. Das Ziel wäre, den Kriegsschauplatz auf das belarussisch-ukrainische Grenzgebiet auszuweiten und dadurch die Reserven der ukrainischen Streitkräfte auf eine weit längere Front zu verteilen. 

    Risikomanagement 

    Schon jetzt ergreifen europäische Länder, insbesondere geografisch Russland nahe gelegene, Maßnahmen, um eine Eskalation unwahrscheinlicher zu machen. Unter anderem erhöhen sie ihre Investitionen in die Rüstungsindustrie, stocken die Personalstärke ihrer Streitkräfte auf, führen wieder Elemente einer Wehrpflicht ein und treffen allgemeine Kriegsvorbereitungen. Sie stationieren in der Nähe der potenziellen Frontgebiete zusätzliche Truppen und befestigen und verminen ihre Grenzen zu Belarus und Russland.  

    All diese Schritte kommen oft zu spät, sind aber zweifellos notwendig. Sie zielen allerdings nur auf eine Einhegung Russlands ab und vernachlässigen den Faktor Belarus. Eine Wahrnehmung von Belarus, die das Land lediglich als ein Instrument des Kreml ohne eigenen Willen sieht, ist kurzsichtig. Selbstverständlich hat Lukaschenko einigen Anteil daran, dass sein Regime so wahrgenommen wird. Allerdings würde eine Vorstellung, in der sich die Handlungsfähigkeit von Belarus völlig im Willen des Kreml auflöst, das Bild zu sehr vereinfachen. Derzeit denkt kaum jemand über Methoden nach, wie Einfluss auf Minsk genommen werden könnte. Dabei könnte doch das Verhalten von Belarus in einem kritischen Moment eine Krise entweder verschärfen oder aber ein Hindernis für Moskaus Pläne darstellen. 

    Der Westen sollte auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte. 

    Das Regime in Belarus wird zurecht als Satellit Russlands betrachtet. Es bewahrt sich aber gleichwohl einen eigenen Willen und weiß um seine Interessen. Ein Krieg mit der Nato oder eine Ausweitung des russisch-ukrainischen Krieges auf das Territorium von Belarus stehen diesen Interessen klar entgegen. Seit dem Kriegsbeginn 2022 zeigen alle Umfragen, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Beteiligung an den Kampfhandlungen ist. Eine Entsendung belarussischer Soldaten an die Front in der Ukraine wird von nur drei bis zehn Prozent der Befragten befürwortet. Lukaschenko muss das berücksichtigen, wenn er die innenpolitischen Risiken seiner Entscheidungen abwägt. Selbst für ein autoritäres Regime ist es schwierig, sich an einem Krieg zu beteiligen, wenn die Gesellschaft das kategorisch ablehnt. 

    Jedes Szenario einer Eskalation, an der Belarus beteiligt ist, würde bedeuten, dass je länger oder beharrlicher Minsk die russischen Anstrengungen sabotiert oder sich weigert, in den Krieg einzutreten, dies stärker den Interessen der regionalen Sicherheit dient. Daher sollte der Westen – ergänzend zu den Maßnahmen zur Einhegung Russlands – auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte, damit Belarus in einem kritischen Augenblick sich dennoch als eigenständig handelndes Subjekt erweist. 

    Zum einen müssen dazu die Kommunikationskanäle nach Minsk erhalten und neue aufgebaut werden, auch zur militärischen Führung des Landes. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die belarussische Seite diese Kanäle aktiviert, um früh vor einer geplanten Provokation oder Eskalation zu warnen. Schließlich besteht der Staatsapparat in Minsk nicht ausschließlich nur aus prorussischen Falken, die ihr Land an einem neuen Kriegsabenteuer des Kreml beteiligen wollen. 

    Zweitens können die bestehenden diplomatischen Kommunikationskanäle genutzt werden, um Belarus die Konsequenzen klarzumachen, falls Minsk sich voll an einem Krieg gegen die Nato oder die Ukraine beteiligen sollte. Je deutlicher der belarussischen Führung das Risiko einer Zerstörung militärischer oder anderer Objekte – eben nicht nur russischer Truppen oder Anlagen auf belarussischem Territorium – bewusst wird, desto größer ist die Chance, dass Minsk sich einem solchen Szenario widersetzt. 

    Mit einer Verschärfung der Sanktionen zu drohen, wäre wenig sinnvoll. Das Potenzial des Westens für wirtschaftlichen Druck auf Belarus ist nahezu ausgeschöpft. Eine komplette Handelsblockade an der belarussischen Westgrenze, die auch den Transithandel unterbindet, würde Lukaschenko natürlich empfindlich treffen. Allerdings hat Minsk seine Exporte und Lieferketten in beträchtlichem Maße nach Russland umgeleitet, weswegen eine solche Drohung nicht allzu sehr ins Gewicht fallen dürfte. Insbesondere, wenn die militärischen Forderungen seines wichtigsten Verbündeten dem entgegenstehen. 

    Drittens ist es wichtig, Belarus nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn die Verhandlungen über eine Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges einen Punkt erreichen, an dem über Deeskalation und vertrauensbildende Maßnahmen jenseits der Front gesprochen wird. Hier geht es nicht darum, dass Lukaschenko einen Platz am Verhandlungstisch bekommt. Diese Frage ist sehr viel weniger wichtig als die Übereinkommen, die die beiden Seiten in Bezug auf das belarussische Territorium erzielen könnten. 

    Die unabhängigen belarussischen Medien halten die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab. 

    Bedenkt man die strategisch wichtige Lage von Belarus und den Umstand, dass Russland sie seit 2022 genutzt hat, könnten bei den Verhandlungen Beschränkungen für die Stationierung von ausländischen Truppen, Atomwaffen, weitreichenden Waffensystemen und Militärstützpunkten erörtert werden. Dann sollte man auch die Frage des Umfangs und der Häufigkeit von Manövern ansprechen. Ebenso könnte man sich auf Kontrollmechanismen zur Einhaltung der Vereinbarungen einigen. Neben ihrer Hauptfunktion könnten diese Vereinbarungen für Minsk bedeuten, dass sich zukünftig sein Bewegungsspielraum erweitert. Sie würden Minsk Argumente liefern, um sich Versuchen des Kreml zu entziehen – soweit das möglich ist –, bei einer Verletzung eines zukünftigen Friedensabkommens belarussisches Territorium zu nutzen. 

    Viertens hat die Unterstützung durch unabhängige belarussische Medien eine militärpolitische Bedeutung. Sie befinden sich zwar im Exil, halten aber die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten wirken sie der Kriegspropaganda des Kreml entgegen. Sollten also die unabhängigen belarussischen Medien die Phase der globalen Einsparungen bei der internationalen Medienförderung nicht überleben, würde dies es dem Kreml erleichtern, Minsk in einen Krieg hineinzuziehen. 

    Die genannten Maßnahmen sind keine Garantie dafür, dass Russland es nicht dennoch gelingt, Belarus in eine erneute militärische Eskalation hineinzuziehen. Diplomatische Signale oder Gelder für eine Bekämpfung der russischen Propaganda in Belarus befreien die europäischen Länder nicht von der Notwendigkeit, in die eigene Verteidigung zu investieren, ihre Grenzen zu befestigen und sich auf die verschiedenen Konfliktszenarien einzustellen. 

    Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass Minsk seine eigenen Interessen verfolgt, die sich von den russischen unterscheiden. Wenn der Westen das ignoriert, verpasst er die Chance, für Moskau zusätzliche Barrieren zu schaffen. Je mehr Barrieren es gibt, desto unwahrscheinlicher wird der Beginn eines neuen großen Krieges. 

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  • Der Zielaufklärer

    Der Zielaufklärer

    Die russische Oblast Belgorod ist ein zentraler Umschlagplatz für Waffen und Truppen auf ihrem Weg in den Angriffskrieg gegen die benachbarte Ukraine. Die Region ist gut an Rest-Russland angebunden und hat sich schon im Vorfeld des russischen Überfalls zu einem logistischen Knotenpunkt und einer wichtigen Nachschubbasis für die Invasion entwickelt.  

    Die Zerstörung der russischen Nachschub- und Logistikinfrastruktur gehört zu den verteidigungsstrategischen Prioritäten der ukrainischen Streitkräfte: Der Gegner ist zahlen- und waffenmäßig überlegen und scheut keine Verluste, Angriffe auf Nachschubstrukturen helfen der Ukraine, sich dieser Übermacht zu erwehren. Hinzu kommt, dass die russischen Truppen in der Region systematisch ukrainische Städte beschießen, vorwiegend in der Oblast Charkiw. Vor allem aus diesen Gründen ist die Region Belgorod zu einer wichtigen Zielscheibe ukrainischer Gegenangriffe geworden. Satelliten und Drohnen können dabei die Koordinaten liefern, aber auch (pro-)ukrainische Partisanen vor Ort betreiben Zielaufklärung.

    Einen solchen Zielaufklärer hat Viktoria Litwin zufällig kennengelernt. Für die Novaya Gazeta Europe hat sie mit ihm darüber gesprochen, wie er den Krieg dorthin zurückbringt, wo er herkommt – und wie er mit zivilen Opfern auf dem Gewissen umgeht. 

    Die Folgen des Beschusses eines Öldepots in Belgorod, 1. April 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Die Folgen des Beschusses eines Öldepots in Belgorod, 1. April 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Nahe der russischen Botschaft in Warschau ist ein Nawalny-Denkmal errichtet. Ich gehe mit einer Freundin hin, von dem Foto schaut uns ein lachender Alexej an. Das Wetter ist feucht, manchmal fällt Schnee und taut gleich wieder. Ich bin aus Belgorod, meine Freundin aus Moskau, sie ist Aktivistin. 

    „Weißt du, bei uns in Belgorod hat der Bürgermeister nach Nawalnys Verhaftung mal zu einem Journalisten gesagt, es sei nichts gegen oppositionelle Demos einzuwenden. Das kann man sich jetzt kaum noch vorstellen.“ 

    Etwas abseits bemerke ich einen großgewachsenen Typen in Springerstiefeln und khakifarbenen Hosen. Er scheint schon eine Weile hier zu stehen und als er mich hört, dreht er sich erstaunt um. 

    „Du bist auch aus Belgorod?“, fragt er mich. Ich nicke. 

    „Hier, schau mal“, sagt er und holt etwas aus seiner Hosentasche. Es entpuppt sich als eine Flagge der „Volksrepublik Belgorod“ – so wird die Oblast Belgorod scherzhaft von Aktivisten genannt, in Anlehnung an die „Volksrepublik Donezk“. Viele meiner Bekannten in Belgorod machen Witze über die BNR, obwohl natürlich niemand von ihnen von einer „Dekolonisierung“ träumt oder Flaggen druckt. 

    Wir stellen uns vor. Finden schnell heraus, dass wir gemeinsame Bekannte haben. Auf einmal verkündet er: „Weißt du, fast alles, was jetzt in der Oblast Belgorod einschlägt, geht auf meine Kappe.“ Ich war bei vielen Einschlägen, von denen er erzählt, vor Ort und habe fast über alle geschrieben. Und jetzt steht ein Typ vor mir, der mir ohne Umschweife erklärt, dass das sein Verdienst ist – Brände, eingeschlagene Fenster, niedergebrannte Häuser und ihre toten Bewohner. 

    Ich vereinbare einen Interviewtermin. 

    Als wir uns treffen, bestellt er im nahegelegenen Café einen Cappuccino und ein süßes  Brötchen. 

    „Wie bist du dazu gekommen?“ 

    Er nippt an seinem Kaffee, beißt vom Brötchen ab und setzt zu seinem vierstündigen Bericht an. 

    Aktivist 

    „Als ich in die Politik gegangen bin – das war 2011 – war ich noch in der Schule. Ich habe einen Auftritt von Udalzow gesehen. Damals hat er auf der Bühne ein Porträt von Putin zerrissen. Ich wusste, dass Putin ein Arsch ist, weil er an der Militäroperation in Georgien beteiligt war. Ich kannte ein paar Georgier, und mir war schon damals klar, dass Russland der Besatzer ist. Und hier steht einer, der das Porträt von diesem allgegenwärtigen, allmächtigen Putin zerreißt. Das hat mich sehr beeindruckt. 

    Dann begann der Maidan. Ich schrieb im Gruppenchat an meine Freunde, die politisch ähnlich tickten: ‚Seht euch mal den ukrainischen Maidan an, das ist auch für Russland eine Chance.‘ Und die schrieben zurück: ‚Das sind doch alles Banderowzy, Nazis, die hassen uns Russen.‘ 

    Einer meiner Bekannten ist sogar in den Donbas kämpfen gegangen, noch 2014. Ich war schockiert, ich dachte bis dahin, er wäre vernünftig. 

    Ich habe mich von diesen Leuten distanziert, bin fast ganz raus aus dem politischen Aktivismus in Russland. 

    Ich habe die Ukraine immer geliebt, war oft in Charkiw. Das war wie eine zweite Heimat für mich. Aber die meisten meiner Bekannten erzählten, dass die Ukraine Gas stehlen würde, dass sie kein richtiger Staat sei, sondern ein erfundenes Konstrukt, und die ukrainische Sprache nur ein verunstaltetes Russisch. So was sagten sie …“ 

    Allmählich nähert sich seine Erzählung dem Jahr 2022 – und da bekomme ich eine filmreife Geschichte darüber zu hören, wie er anfing, mit den ukrainischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. 

    Mein Gesprächspartner hatte unmittelbar vor dem Krieg als Taxifahrer und Verkaufsvertreter gearbeitet. Als 2022 in den Grenzgebieten Truppen zusammengezogen wurden, beschloss er, Informationen darüber zu sammeln und sie den ukrainischen Geheimdiensten zuzuspielen. Dann brauchte ein russischer Hauptmann ein Taxi nach Belgorod, der fragte wiederum, ob er mal „ein paar Jungs anrufen könne“, und so ging es los. 

    Mein Gesprächspartner erzählt detailliert, wie er betrunkene Militärs in die Sauna fuhr, wie er ihre Gespräche heimlich mitschrieb und einen Haufen Geheiminformationen bekam. 

    „Es war vor allem dieser Hauptmann, der mir diese ganzen Jungs vermittelt hat: Wenn der bei mir im Auto saß, faselte er über Gott und die Welt! Ich schaltete manchmal sogar das Diktiergerät ein, und er merkte es gar nicht …“ 

    Für die beschafften Informationen wurde mein Gesprächspartner nach eigener Aussage von den Ukrainern bezahlt. Sein „Honorar“ – tausend Dollar – hätten sie auf russischer Seite nahe der Grenze vergraben und ihm dann die Koordinaten mitgeteilt. 

    „Dann habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin weg“, setzt er seinen Bericht fort. „Ich hatte eine Abmachung mit den ukrainischen Jungs, denen ich half. Am 18. Februar hörte ich, dass in der DNR und LNR eine Massenevakuierung und Mobilmachung ausgerufen wurde. Da beschloss ich zu fliehen.“ 

    Die Redaktion konnte die Aussagen nicht überprüfen. Unser Gesprächspartner erklärte, er habe beim Grenzübertritt fast alle Daten von seinem Handy gelöscht und könne uns deshalb weder die Chats noch die Diktieraufnahmen zeigen. Das erscheint durchaus plausibel. 

    Uns wurde allerdings bestätigt, dass er wirklich in Belgorod als Taxifahrer gearbeitet und in jenen Tagen mindestens ein Video aus einer Grenzsiedlung in den sozialen Netzwerken gepostet hat. Er konnte uns auch den Nachnamen eines der Militärs nennen, der damals nach Belgorod versetzt wurde – und wir haben dessen Account in den sozialen Netzwerken gefunden. Außerdem kannte er Koordinaten von Militärstützpunkten. 

    Rauch nach dem Beschuss des Umspannwerks „Lutsch“ 14. Oktober 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Rauch nach dem Beschuss des Umspannwerks „Lutsch“ 14. Oktober 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Wahr ist sicher auch, dass er nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion die Koordinaten der russischen Objekte den Ukrainern zuspielte. 

    Und da ist noch eine Tatsache, die ich nicht anzweifle: Mein Gesprächspartner hat ein enormes Bedürfnis, Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ich möchte meinerseits verstehen, wie und warum man bei Beschüssen von Zivilisten mitmachen will. 

    Schuss und Treffer 

    „Am 24. Februar erklärte Putin den Krieg, sie gingen auf Charkiw los“, setzt der Spitzel fort. „Eine Flut von Videos, Mitschnitten. Und da begann dann meine Arbeit mit OSINT. Ich ermittelte anhand von Karten, zufälligen Videos und aus dem Gedächtnis, wo die Technik steht. Diese Information übermittelte ich den ukrainischen Geheimdiensten.“ 

    Er zählt eine lange Liste von Attacken auf, an denen er beteiligt gewesen sein will. Zum Beweis zeigt er mir Chats mit seinen ukrainischen Kontaktmännern, in denen er die Koordinaten teilt, die später beschossen werden würden. 

    „Ich glaube, dass genau dadurch [durch den Beschuss eines Erdöllagers, der dazu führte, dass der Armee der Treibstoff ausging – NG] die Offensive auf Charkiw vereitelt wurde“, sagt er. „Dort befanden sich alle Vorräte. Ich habe ihnen [den Ukrainern – NG] alles praktisch bis auf den Meter genau beschrieben: was, wo, wie.“ 

    Besonders ausführlich beschreibt er, wie genau er in der Oblast Belgorod Informationen sammelt, die er an die ukrainischen Sicherheitsdienste weitergibt. Er erinnert sich zum Beispiel an ein TikTok-Video, das Kolonnen von russischer Kriegstechnik an einem gut erkennbaren Ort zeigte. Dieses Video hatte ein Taxifahrer gedreht: „Er wusste nicht, dass es Leute gibt, die alle Punkte in der Region Belgorod zuordnen können.“ 

    „… Auch eine Operation, die unmittelbar auf uns zurückgeht: Als russische Reporter in Schurawlewka-Nechotejewka filmten, konnte man sehen, wo die Russen stationiert waren. Viele russische Stellungen wurden also von russischen Journalisten und Reportern selbst verraten.“ 

    Während er diese endlose Liste von Angriffen auf die Oblast Belgorod aufzählt, sagt er plötzlich: „Wir erstellten eine eigene ‚Schindlers Liste‘. Das war so ein Witz. Schindler hat ja alle gerettet, aber wir knallten alle ab. Das fanden wir lustig. Auf dieser Liste standen alle Erdöllager, sämtliche Umspannwerke, Fernsehmaste. Plus, wir wussten, dass der Gouverneur der Oblast Belgorod im Dorf Nishni Olschanez wohnt. Dieser Gladkow ist der letzte Vollidiot, er postet oft Videos, wie er morgens seine Joggingrunde dreht. Dann haben wir auch noch die Seiten von seiner Frau und seiner Tochter gefunden. Da beschlossen wir also, Gladkow ins Visier zu nehmen, der ist nämlich ein echter Gauleiter, ein Nazi. Und das haben wir gemacht.“ 

    Ich bestätige: Im November 2022 wurde Nishni Olschanez tatsächlich beschossen. Zwei Menschen wurden verletzt. Gladkow war nicht dabei. 

    Oskol 

    „… Ich habe eine Operation entwickelt, um das Stahlwerk in Oskol lahmzulegen. Es ist eines der größten Werke in Russland zur Herstellung von legiertem Stahl – hochwertigem Stahl, der vom Militär verwendet wird. 

    Die Informationen zu diesem Werk stammen aus dem Open Source: Ein Student hat dort ein Praktikum absolviert und eine umfangreiche Hausarbeit über den Aufbau der Anlage geschrieben, das war noch vor dem Krieg. Wie das Werk funktioniert, über alle Systeme, wo sich was befindet. Es gab eine Menge solcher Fakten, die sehr hilfreich waren. 

    Unsere Idee war, den Strom zu kappen, damit der Stahl in den Öfen aushärtet und diese dadurch unbrauchbar werden. Die Wiederherstellung kostet sehr viel Zeit.” 

    Der Zielaufklärer entsperrt wieder sein Handy, das auf dem Tisch liegt, und sucht in seinen „Rapports“ – so nennt er seine Meldungen – nach diesem Plan. Er findet den richtigen Chat und zeigt ihn mir. Der Text ist auf Ukrainisch, ich überfliege ihn und verstehe, dass es wirklich um diesen Angriff geht. Flächenangaben, lauter Koordinaten, ein paar Karten mit bunten Markierungen und das Datum, an dem die Nachricht gesendet wurde: 26. Januar 2024. Der Angriff selbst wird am 23. März 2024 stattfinden. „… Außerdem fand der Militärnachrichtendienst Saboteure, die auf dem Gelände der Nebenstellen Sprengsätze auslegten. Es war ein kombinierter Angriff, sozusagen. Wir haben die Fabrik neutralisiert, aber leider keine Ahnung, für wie lange.“ 

    „Augen“ 

    „Sogenannte Augen werden an Ort und Stelle bezahlt, ja. Obwohl es auch Freiwillige gibt, die sich unentgeltlich engagieren. Die sagen, sie wollen nichts verdienen, sie nehmen nur die Fahrtkosten, also Benzingeld, mehr nicht. Ich bekomme momentan auch nichts bezahlt. 

    Alle unsere Freiwilligen wissen, für wen sie arbeiten. Alle wissen das, es ist kein Geheimnis …“ 

    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Im Laufe unseres Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass die ukrainischen Geheimdienste auf dem Gebiet der Oblast Belgorod sehr breit aufgestellt sind. Das wundert mich, denn seit den ersten Kriegstagen spüren die Bewohner der Grenzregion unter ihren Bekannten und Nachbarn „Verräter“ auf. So war es sogar für Journalisten schwierig, in die grenznahen Dörfer zu gelangen: Die Einheimischen, die „schon immer hier leben und alle persönlich kennen“, melden jeden mit einer Kamera sofort den Behörden oder gleich dem FSB. Auch Flüchtlinge aus der Ukraine haben kein leichtes Spiel. Insofern ist es eigentlich sehr gefährlich, in der Oblast Belgorod als Partisan zu agieren. 

    Doch mein Gegenüber breitet ein ganzes Panorama einer riesigen Partisanenbewegung vor mir aus.  

    „Wir haben auch für Anschläge auf den FSB unterstützt, dabei wurden sogar dessen Mitarbeiter verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatten sie gerade eine Lagebesprechung zur Oblast Belgorod: Es war Ende Mai 2023, das Russische Freiwilligenkorps und die Legion stießen in [die russische Grenzstadt – dek] Grajworon vor. Und die FSB-ler, diese Deppen, luden zu einer Besprechung direkt in ihr Büro. Wo sie dann auch ein schöner Gruß aus der Luft erreichte. Unsere Männer behielten damals das Gebäude im Visier und sahen, wie mehrere Krankenwagen von da losfuhren. Ja, und auch wenn das den FSB-lern überhaupt nicht schmeckt, es gibt unter ihnen einfach welche, die uns zuarbeiten. Manche haben eben echt Mitleid mit der Ukraine und wollen helfen.  

    Das mit dem 30. Dezember und dem Beschuss von Belgorod ist sowieso interessant“, setzt er fort. Er meint einen tragischen Vorfall im Jahr 2023 mit 25 Toten und über hundert Verletzten. „Unsere Partisanen hatten herausgefunden, dass über einen lokalen Flughafen S-300-Raketen in die Oblast Belgorod gebracht werden, nämlich mit regulären Flügen aus anderen Regionen. Wir wussten außerdem, dass sich die Abschussrampen direkt neben dem Flugplatz befinden, außerhalb von Belgorod nahe Schopino und Nowosadowo. Dementsprechend wollten wir auf diese Ziele feuern: Die Ukraine versuchte, mit Raketenwerfern den Flughafen und die Abschussrampen zu zerstören. Südlich von Belgorod flogen dann Panzir-Abwehrraketen (der russischen Armee) hoch, um diese Raketen abzufangen. Der Panzir ist so ein System, das nicht die Rakete selbst zerstört, sondern auf ihren Antrieb zielt. Das heißt, die Raketen fliegen über Belgorod, der Panzir zerschießt ihnen den Antrieb, und sie fallen den Belgorodern auf die Köpfe.“  

    Während ich mit ihm spreche, erinnere ich mich, wie ich an jenem schrecklichen 30. Dezember langgezogenes Tuten im Telefon hörte. Auf meinem Display stand „Mama“, außerdem war da ein Foto mit einem Geschoss vor dem Gebäude, in dem sie arbeitete.  

    Meine Mama hob ab, sie hatte an dem Tag frei. Ich kenne aber auch Leute, deren Angehörige nicht mehr abhoben. 

    Der Zielaufklärer spricht weiter: 

    „So hat sich Putins Armee hinter der eigenen Bevölkerung verschanzt. Wenn du mich fragst, ist das ein Verbrechen. Wenn die Ukrainer es auf die Zivilisten abgesehen hätten, dann hätten sie doch flächendeckend Dubowoje beschossen, da wohnen die reichsten Leute der Oblast Belgorod, und die Bevölkerungsdichte ist ziemlich hoch.“  

    Oblast verlassen 

    Am 1. Juni 2023 war ich in Schebekino und schrieb an einer Reportage. Später meldeten die Behörden der Oblast Belgorod, dass an jenem Tag 850 Geschosse auf das Stadtgebiet gefallen seien: Ich erinnere mich, wie mich ein Einheimischer ins Stadtzentrum mitnahm, wo ich zerstörte Häuser fotografierte. Es kamen drei Raketen angeflogen, dann war da ein Sausen und Pfeifen, und ein paar Sekunden später lagen Grad-Geschosse zwanzig Meter von uns entfernt verstreut. Weiter erinnere ich mich nur bruchstückhaft: Ich laufe die Straße entlang, überall Glasscherben und Mauerschutt. Am Horizont steigen Rauchsäulen in die Höhe.  

    Als ich den Zielaufklärer nach Schebekino frage, setzt er genauso sachlich fort: „An Schebekino haben wir lange herumgedacht, weil wir wussten, dass die russische Armee im Maschinenbauwerk ihr Kriegsgerät reparierte. Das Krasseste war aber, wie Schebekino Ende 2022 mit Granaten beschossen wurde und die Schäden eindeutig darauf hinwiesen, dass sich da die russischen Truppen selber beschossen hatten.“ 

    Ich glaube ihm das nicht. Er überschüttet mich mit den technischen Spezifikationen der Geschütze, weiß noch auswendig, wie weit sie flogen und wie viel Zerstörungskraft jede einzelne hatte. Wir scrollen durch Fotos der Ortschaft, ich öffne ein Onlinemedium von Schebekino und folge der Timeline zurück bis zum Juni 2023. 

    Das erste Bild, das uns unterkommt, ist eine Rakete, die vor dem Gerichtsgebäude im Asphalt steckt. Er öffnet eine Karten-App und findet die Stelle sofort. Der Schwanz der Rakete zeigt eindeutig in Richtung Ukraine. Doch der Informant besteht darauf, dass alles auf einen Angriff vonseiten Russlands hinweise – etwa, wie die Erde rund um die Einschlagstelle weggeflogen sei. Er versucht, mich mithilfe eines Zuckerpäckchens zu überzeugen. Er nimmt es und beschreibt damit eine Flugbahn durch die Luft. Als die improvisierte Rakete auf dem Tablett aufschlägt, schleudert es den Zucker über die Tischplatte und das Tablett. Enthusiastisch demonstriert mein Gesprächspartner, wie der Zucker verstreut liegt – genau wie die Erde rund um die Rakete in Schebekino. Seiner Meinung nach ist das ein stichhaltiger Beweis dafür, dass Russland im Sommer 2023 Schebekino selbst beschossen hat: 

    „Wir waren natürlich geschockt, das war regelrechter Terror vonseiten Russlands gegen die Bewohner von Schebekino!“, sagt er. „Soweit ich weiß, ist die ukrainische Armee ganz streng, wenn es um zivile Opfer geht, es gibt einen Befehl, die Bevölkerung in Ruhe zu lassen. 

    Ansonsten glaube ich, Belgorod hat noch so einiges vor sich. Schindlers Liste wird weiter abgearbeitet. Belgorod ist beinahe mehr Ukraine als Russland. Vom Verhalten her, der Mentalität, ich habe ja den direkten Vergleich. Ich kenne die Belgoroder Mentalität und die Mentalität im Norden, in Twer, Orjol, Kaluga – die sind ganz anders als wir. Faule Säcke, rühren freiwillig keinen Finger.“  

    Am Ende unseres Gesprächs scrollt er einfach nur noch durch die Fotos auf seinem Handy und kommentiert immer mal wieder, manchmal lachend. Ich stelle ihm kaum mehr Fragen.  

    „Praktisch bei allem, was auf dem Gebiet der Oblast Belgorod zerstört wird, haben wir irgendwo die Finger drin. Ich würde sowieso allen anständigen Belgorodern empfehlen wegzugehen, auch die Oblast zu verlassen. Sie sollten lieber wegziehen, wenn sie eine Möglichkeit haben. Weil es weiterhin Angriffe geben wird und solange sich die russischen Soldaten hinter den Belgorodern verstecken, kann man nichts machen. Auch wenn wir zu den Beschüssen beitragen, auch wenn es die Gegend trifft, in der wir zu Hause sind, wir behalten trotzdem einen kühlen, klaren Kopf – wir wissen, dass Putin schuld ist. Die russische Gesellschaft, die Putin unterstützt, die russische Armee. Die Ukraine kann nichts dafür. 

    Klar haben viele ihre Häuser und Wohnungen verloren, ihre vertraute Umgebung, und es gibt Todesopfer, Kinder und Erwachsene. Das versteht sich von selbst. Das ist schlimm.“ 

    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Wieder habe ich ein Bild aus einer meiner Reportagen vor Augen. Schebekino, auch wieder 2023. Der kleine Sohn meiner Hauptfigur, der Splitter von Geschossen sammelt, die rund um sein Haus explodiert sind, steigt mit seiner Oma und einer Plastiktasche voller Sachen – alles, was er in der Eile zusammenpacken konnte – in ein Auto. Der Junge reist mit mir ab, während seine Eltern im Bombenhagel in Schebekino bleiben – sie haben einfach kein Geld, um ihr Kind zu begleiten. Zum Abschied sagt die Mutter leise zu mir: „Stell dir vor, du kommst an, und da ist kein Krieg.“ 

    Wieder reißt mich der Zielaufklärer aus meinen Gedanken:  

    „… Mein Haus wurde 2022 zerstört. Ich weiß, wie es passiert ist, aber es bringt nichts, darüber zu reden. Nur eines will ich sagen: Für die Zerstörung der grenznahen Dörfer in der Oblast Belgorod ist vor allem die russische Armee verantwortlich. Sie hat sich immer hinter einem Dorf positioniert und von da aus ukrainisches Territorium beschossen. Die Ukrainer haben zurückgefeuert. Manchmal mit Grad-Raketen. Und so wurden unsere Dörfer zerstört. Na ja, damals hatten die Behörden der RF diese Gegend bereits für unbewohnbar erklärt. Aber die Einheimischen …  

    Widerstand leisten 

    Wie viele von den zivilen Todesopfern in Belgorod ich persönlich gekannt habe? Ungefähr zehn mindestens. Alle waren für diesen Krieg, leider. Nur eine der Getöteten war dagegen. Kürzlich kam bei einem Beschuss das Kind eines Bekannten ums Leben. Dieser Bekannte war für den Krieg. War wohl Karma. 

    Ich weiß, auch wenn ich dieses Interview anonym gebe, können sie mich nach solchen Äußerungen ausfindig machen und umbringen. Aber die Menschen sollen wissen, dass der Kampf lebt, dass das ein heiliger Krieg ist. Natürlich geht es mir nicht darum, berühmt zu sein und angehimmelt zu werden, sondern darum, dass die Menschen begreifen, dass man immer, in jeder Situation Widerstand leisten kann. Und auch muss, weil diese Welt auf unseren Schultern lastet, auf den Schultern jener, die sich wehren und kämpfen.“ 

    Mein Gesprächspartner begleitet mich zum Bahnhof. Auf dem Weg frage ich ihn, ob er keine Angst hat. Russen, die der ukrainischen Armee helfen, werden manchmal sogar in Europa ermordet.  

    „Ich glaub nicht, dass sie mich umlegen, guck mal meine Lebenslinie.“ Er fährt mit einer Fingerspitze quer über seine Handfläche. 

    „Willst du nach dem Krieg zurück nach Russland?“ 

    „Nein.“ 

    „Auch nicht zu Besuch?“ 

    „Nein.“  

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