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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wörterbuch der wilden 1990er

    Wörterbuch der wilden 1990er

    Lederjacken, Gangs, Sexi-Pepsi, leichte Mädels, Omis, Händler, Sauferei – alles, was heute über die 1990er gerappt wird, begann vor 25 Jahren, genauer: nach dem Erlass über den freien Handel. Er trat im Januar 1992 in Kraft, aber der Handel blühte erst auf, als es wärmer wurde – im Sommer. Sekret Firmy wirft einen Blick zurück in die Zeit.

    Straßenhandel

    Der Handel trieb überall wilde Blüten – monatelang ohne Lohn, wurden die Menschen zu Gewerbetreibenden / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992
    Der Handel trieb überall wilde Blüten – monatelang ohne Lohn, wurden die Menschen zu Gewerbetreibenden / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992

    Am 29. Januar 1992 trat der Erlass des Präsidenten Boris Jelzin Über die Freiheit des Handels in Kraft. Er erlaubte sowohl Unternehmern als auch einfachen Bürgern Handel zu treiben, wo es ihnen beliebte: frei Hand, vom Verkaufstisch oder aus dem Fahrzeug heraus, ohne zusätzliche Genehmigung.

    Vor dem Hintergrund, dass zu diesem Zeitpunkt (laut Angaben von Rosstat) bereits über 40.000 Unternehmen die Löhne monatelang nicht auszahlten, wurden Millionen Menschen im ganzen Land zu Gewerbetreibenden. Der Handel spross allüberall wild empor: auf Plätzen und Boulevards, entlang den Straßen, an Haltestellen, in Straßenunterführungen, in Krankenhäusern und Schulen, in Stadien und vor Geschäften.

    Viele Menschen überwanden ihren Stolz und trieben Handel. Zum Mai hin, als die Temperatur auf 10 °C anstieg, tauchten die ersten regulären Märkte auf. Die größten befanden sich anfangs vor den Kaufhäusern GUM und Detski Mir.


    Markt

    „Für den anderthalb-Mann-hohen Marktstand in Lusha benutzten wir damals das Modewort ‚Jammer‘. So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke.“ / Foto © altyn41/livejournal, 1996
    „Für den anderthalb-Mann-hohen Marktstand in Lusha benutzten wir damals das Modewort ‚Jammer‘. So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke.“ / Foto © altyn41/livejournal, 1996

    Im Frühjahr 1992 beschloss die Moskauer Stadtregierung den Sportkomplex Lushniki zu privatisieren, um hier einen Markt aufzubauen. Nach Aussage des Stadionleiters Wladimir Aljoschin, stammte diese Idee von Bürgermeister Juri Lushkow.

    Lushniki, im Volksmund Lusha (dt. Pfütze) genannt, entwickelte sich zum größten Einzelhandelsmarkt Russlands. 2002 versuchte man ihn in Brand zu stecken, 2006 kam es zu Anschuldigungen, dass hier mit Fälschungen gehandelt würde, doch offiziell geschlossen wurde er erst im Jahre 2011. Der Tscherkisowoer Markt, oder kurz Tscherkison genannt, wurde zur gleichen Zeit eröffnet, ebenfalls im Jahr 1992, und existierte bis 2009.


    Rentner

    Mit dem Verkauf von Hab und Gut die kärgliche Rente aufstocken – für viele Alltag / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992
    Mit dem Verkauf von Hab und Gut die kärgliche Rente aufstocken – für viele Alltag / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992

    Im Mai 1992 wird das Rentengesetz der UdSSR außer Kraft gesetzt, es gelten nun neue Bestimmungen. Laut denen werden die Renten gekürzt (Rentengesetz 90, wie es in den Medien genannt wurde). Für 35 Millionen Rentner wurde der reale Rentensatz um die Hälfte gesenkt, die Renten vieler lagen nun unter dem Existenzminimum. Im Sommer 1992 waren der Großteil der Verkäufer auf den Straßen der Städte Babuschkas.


    Schlangen

    Schlange vor einer Bäckerei, nach Schwarzbrot und Weißbrot / Foto © altyn41/livejournal, 1992
    Schlange vor einer Bäckerei, nach Schwarzbrot und Weißbrot / Foto © altyn41/livejournal, 1992

    Es gab private und staatliche Läden. Während erstere vorwiegend mit Importwaren handelten, vertrieben letztere heimische Produkte für den täglichen Bedarf und zogen gigantische Schlangen an.

    „Für Besucher von auswärts war einkaufen in Moskau ein Ritual“, erinnert sich die Rentnerin Jengelina Tarejewa. „Im Sommer 1992 war im GUM noch mehr los als gewöhnlich. Die Menschen aus den Sowjet-Republiken versuchten ihre sowjetischen Rubel loszuwerden, keiner wusste, wie lange man damit in der Heimat noch würde bezahlen können.

    Auch die Russen erwarteten eine Abwertung des Geldes. Ich wusste nicht, was ich kaufen sollte. Ich machte mir ähnliche Sorgen wie zu Kriegszeiten – und im Krieg habe ich am meisten darunter gelitten, dass es keine Seife gab, vier Jahre lang haben wir keine zu Gesicht bekommen. Deswegen habe ich täglich einige Stücke Seife gekauft. Weil ich drei Monate lang täglich ins GUM ging, waschen wir uns heute immer noch mit Seife von 1992.“


    Alkohol

    Zum Bier ein Trockenfisch, ein echtes Muss – genau wie Kaviar (links auf dem Verkaufstisch) zu Wodka / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992
    Zum Bier ein Trockenfisch, ein echtes Muss – genau wie Kaviar (links auf dem Verkaufstisch) zu Wodka / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992

    Im Juni 1992 unterschrieb Jelzin einen Erlass über die Aufhebung des staatlichen Monopols auf den Vertrieb und Handel mit Spirituosen. Wodka wurde überall und rund um die Uhr zugänglich, er wurde sogar im Fernsehen beworben.

    Die staatlichen Standards [GOST Gossudarstwenny Standard], nach denen Alkohol früher hergestellt worden war, wurden nicht mehr eingehalten – durch das Land floss billiger Sprit (der bekannteste davon war Royal). Alkohol wurde zur wichtigsten Importware, der Absatz stieg im Jahr 1992 um das Dreißigfache (nach Angaben Rosstats). Wurden im Jahr 1990 in Russland 5,4 Liter Alkohol pro Person getrunken, so hatte sich diese Zahl bis 1995 verdoppelt. Proportional dazu schoß auch die Zahl der Sterbefälle in die Höhe.


    Preissteigerungen

    Schocktherapie – die Inflationsrate stieg auf 2600 Prozent / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992
    Schocktherapie – die Inflationsrate stieg auf 2600 Prozent / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992

    Vor den Gaidarschen Reformen hatten alle Waren feste Preise, die Nachfrage überstieg das Angebot. Im Januar 1992 trat die Anordnung über die Liberalisierung der Preise in Kraft. Zum Ende des Jahres belief sich die Inflationsrate auf 2600 Prozent, die Preise der meisten Waren waren um einige hundert Mal gestiegen. Diese Periode ging unter dem Namen Schock-Therapie in die Geschichte ein.

    Erst im Jahre 1998 fiel die Inflation wieder auf zweistellige Zahlen (83 Prozent betrug sie in diesem Jahr). 1992 lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Dafür ergoss sich zum Sommer hin ein Strom von Waren auf den Markt. Die Epoche des chronischen Warendefizits ging zu Ende.


    Prostituierte

    Prostituierte waren oft besser gekleidet als Angehörige der Nomenklatura / Foto © Kommersant Archiv, 1990er
    Prostituierte waren oft besser gekleidet als Angehörige der Nomenklatura / Foto © Kommersant Archiv, 1990er

    1980 wurde für ausländische Touristen das Hotel Meshdunarodnaja [dt. Hotel International dek] eröffnet. Dort arbeiteten junge Frauen, die Huren oder Edelprostituierte genannt wurden. Einen Paragraphen zur Prostitution gab es im Strafgesetzbuch der Sowjetunion nicht, deswegen belangte man sie wegen Rowdytum, Alkoholmissbrauch und Lärmbelästigung. Ihnen drohten nicht mehr als 15 Tage Haft.

    Die Sex-Arbeiterinnen der 1990er waren besser gekleidet als die Ehefrauen der sowjetischen Nomenklatura. Viele von ihnen hatten Stammkunden, die manche später auch heirateten. Das Schicksal einer solchen jungen Frau wird in dem Film Interdewotschka (dt. Intergirl) beschrieben. Laut Studien der Akademie des Innenministeriums ergaben Befragungen russischer Schülerinnen, dass der Berufszweig der Edel-Prostituierten 1988 in die Top Zehn der begehrtesten Berufe einging. 1992 begann man auf der Straße Zeitschriften mit den Telefonnummern von Sexarbeiterinnen zu verkaufen. Diejenigen, die nicht die ganze Zeitschrift kaufen wollten, konnten sich für fünf Rubel die Bilder anschauen.


    Straßenkinder

    Straßenkinder in St. Petersburg / Foto © Screenshot aus „Die Kinder von St. Petersburg“/ Spiegel TV, 1991
    Straßenkinder in St. Petersburg / Foto © Screenshot aus „Die Kinder von St. Petersburg“/ Spiegel TV, 1991

    Der sprunghafte Anstieg von Alkoholismus und Armut führte zum Auftauchen von obdachlosen Kindern auf den Straßen, was man seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hatte. Sie versammelten sich in der Gegend um den Kurski Woksal, viele schnüffelten Kleber der Marke Moment. 1992 tauchten erstmals Menschen in Armeeuniformen auf, die um Almosen bettelten. Erst Mitte der 2000еr gelang es der Moskauer Regierung Probleme wie Bettelei und Kinderprostitution in den Griff zu bekommen.


    Währung

    Ansturm auf die Wechselstuben – seit Juni 1992 können auch Privatpersonen Devisengeschäfte machen / Foto © altyn41/livejournal, 1991
    Ansturm auf die Wechselstuben – seit Juni 1992 können auch Privatpersonen Devisengeschäfte machen / Foto © altyn41/livejournal, 1991

    Zu Sowjetzeiten wurde der Umtauschkurs des Dollars durch den Staat festgelegt: Er war überaus schlecht, Privatpersonen konnten keine Devisengeschäfte machen. Diese Regelung wurde im Juli 1992 aufgehoben. Im ganzen Land schossen die Wechselstuben aus dem Boden. In der ersten Zeit waren sie in Kleinbussen stationiert. Als Wachleute arbeiteten zumeist Milizionäre.


    Gangster

    Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm
    Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm

    In der Armee gab es für die Soldaten nichts mehr zu essen, humanitäre Hilfe wurde ihnen von den ehemaligen Feinden bereitgestellt – den Amerikanern. Profisportler und Soldaten verloren jegliches Vertrauen in die Zukunft. Mit heller Freude wurden sie von organisierten, kriminellen Banden in ihre Reihen aufgenommen.

    Die Anzahl krimineller Vereinigungen in Russland stieg von 80 im Jahre 1988 auf 6000 im Jahre 1992 an. Kampfübungen von Gangs und Banden wurden teilweise direkt auf militärischen Truppenübungsplätzen durchgeführt. Und als Trainer arbeiteten Menschen, deren ehemalige Schützlinge in internationalen Wettkämpfen Goldmedaillen für die Sowjetunion gewonnen hatten. Bis heute nennt man muskulöse, kräftige Jungs in Verbrecherkreisen „Sportsmänner“. Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle.


    Privatisierung

    Herrenanzug oder drei bis vier Flaschen Wodka – der Wertverfall der Voucher war enorm / Foto © altyn41/livejournal, 1992
    Herrenanzug oder drei bis vier Flaschen Wodka – der Wertverfall der Voucher war enorm / Foto © altyn41/livejournal, 1992

    Im August 1992 erging eine Anordnung über Privatisierungscoupons. Wenn bis dahin alles Eigentum dem Staat gehört hatte, konnten es nun die Bürger erlangen. Die Menschen erhielten massenweise Voucher. Aber die meisten verkauften sie sofort. Deswegen fiel ihr Wert unter den Nennbetrag, die größten Betriebe wurden zu Spottpreisen verkauft.

    Wenn man bis zum Herbst 1992 durch den Verkauf eines Vouchers einen Herrenanzug mittlerer Preisklasse erwerben konnte, glich sein Marktwert gegen Ende des Jahres 1993 dem von drei bis vier Flaschen Wodka.

    Jene, die bereit waren, etwas zu riskieren, stückelten sich durch das Kaufen und Weiterverkaufen ganzer Bündel von Vouchern ihr erstes Vermögen zusammen.


    Pepsi

    Generation P – eine ganze Generation trank Pepsi / Foto © altyn41/livejournal, 1991
    Generation P – eine ganze Generation trank Pepsi / Foto © altyn41/livejournal, 1991

    Die wohl auffälligste Ware auf den Straßen des sommerlichen Moskau im Jahr 1992 war Pepsi. Schon 1974 war ein Abfüllwerk von Pepsi-Cola in Betrieb genommen worden. 1990 schloss die Firma einen Vertrag mit der Führung der Sowjetunion über den Bau von 26 weiteren Fabriken ab.

    Im selben Jahr 1992 beschließt auch Coca-Cola ein Werk in der Sowjetunion zu errichten. Es wird jedoch erst im Jahre 1994 in Betrieb genommen. Deswegen nennt der Schriftsteller Viktor Pelewin die Jugend dieser Epoche denn auch Generation P und nicht „Generation C“.


    Türkische Jacken und Lammfellmäntel

    Schwarze Ledejacken waren der letzte Schrei / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm
    Schwarze Ledejacken waren der letzte Schrei / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm

    Der Traum des Durchschnittsbürgers zu Beginn der 1990er war eine schwarze Lederjacke oder ein Lammfellmantel. Sie wurden von fliegenden Händlern aus der Türkei angeliefert. 1992 war das modisch der letzte Schrei.

    „In den Handel kam mein Freund Anton über Bekannte, von denen einer Glyba (dt. Brocken) genannt wurde: Mit Nachnamen hieß er Glybin“, erinnert sich der Journalist Juri Lwow. „Glyba gelang es, durch’s Verkaufen Geld für einen alten Volvo-Pickup zusammenzukratzen. Mit dem fuhr er Ware an, die wir bei Tagesanbruch auf einer metallischen Konstruktion aushängten. Das war auf dem Lushniki-Markt. Den anderthalb-Mann-hohen Stand bezeichneten wir mit unserem damaligen Modewort Beda (dt. Jammer). So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke. Die und das kürzere Modell mit dem Code-Namen Halb-Jammer trug halb Moskau.“

    Text: Xenia Leonowa
    Übersetzung: Peregrina Walter

    Weitere Themen

    Prostitution in Russland

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    Wandel und Handel

    Garagenwirtschaft

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  • Wieso ist Stalin heute so populär?

    Wieso ist Stalin heute so populär?

    Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.

    80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?

    „Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“

    Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?

    Juri Saprykin

     

    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Juri Saprykin (geb. 1973) ist ein russischer Journalist. Bekannt geworden ist er durch seine Arbeit als Chefredakteur bei dem Online-Magazin Afisha.ru. 2011/2012 war er maßgeblich an der Organisation der Protestreihe Sa tschestnyje Wybory (dt. Für freie Wahlen) am Bolotnaja-Platz beteiligt. Von 2011 bis 2014 war er Chefredakteur der Mediengesellschaft Afisha-Rambler. 2015 wechselte er zur Moscow Times, wo er als Redaktionsleiter tätig ist..

    Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes

    In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte. 

    Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Partei bestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.

    Verbotene Volkshelden

    Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.

    Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.

    Wunsch nach starker Führung

    Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.


    Ella Panejach

     

    © tv2.today
    © tv2.today
    Ella Panejach (geb. 1970) ist eine renommierte Soziologin aus Sankt Petersburg. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft, des Managements und der Finanzen in Sankt Petersburg promovierte sie 2005 an der Universität Michigan, USA. Seit 2015 ist Panejach Dozentin an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.

     

     

     

    Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit

    Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.

    Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.

    Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen

    Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.

    Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter. 

    Komplex historischer Mythen

    Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.

    Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.

    Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer. 
    Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.

    Keiner will die Repressionen zurück

    Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“ 

    Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“  In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.


    Ilja Wenjawkin

    © theoryandpractice.ru
    © theoryandpractice.ru
    Ilja Wenjawkin (geb. 1981) ist ein russischer Philologe und Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Sowjetische Kultur und Literatur. Neben seiner Forschung leitet er Bildungsprogramme der Diskussionsplattform InLiberty und ist Gründungsmitglied des Internetprojekts Proshito – einer elektronischen Sammlung sowjetischer Tagebücher.

     

     

     

    Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen


    Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.

    Kein fundamentaler Elitenwechsel

    Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.

    Legitimation des heutigen Regimes

    Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.

    Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.

    Gewalt als Norm

    Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.

    Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.

    In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.


    Nikita Petrow

     

    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Nikita Petrow (geb. 1957) ist ein russischer Historiker, zu dessen Forschungsschwerpunkten Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste zu Zeiten des Großen Terrors gehören. Er arbeitet als stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich für die historische Aufarbeitung der politischen Repressionen und für die soziale Unterstützung von Gulag-Überlebenden einsetzt.

     

    Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt


    Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.

    Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.

    Willkür statt Gesetze

    Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.

    Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.

    Es tut sich was

    Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.

    Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.

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