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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Likes – das täglich Brot der Extremistenjäger

    Likes – das täglich Brot der Extremistenjäger

    Noch vor fünf Jahren galt das russische Internet als sehr freizügig. Etwas mehr als 40 Prozent der Menschen im Land hatten es da für sich entdeckt. Das russische facebook-Pendant VKontakte war nicht nur ein Freundesnetzwerk, sondern auch Musiktauschbörse, vorbei an jedem Copyright. Es gründeten sich neue junge Internetmedien, und das Livejournal – die damals mit Abstand am meisten genutzte Blogplattform in Russland – war ein Tummelplatz.

    Mit dem 1. November 2012 trat ein tiefgreifendes Gesetz zu konkreten Internetsperren in Kraft. Das erste einer Reihe weiterer Gesetze, mit denen das Internet offiziell vom Kinderschutz bis zum Urheberrecht seitdem umfassend reguliert wird, ähnlich wie in anderen europäischen Staaten. Daraus ist in der Praxis auch ein mächtiges politisches Kontrollinstrumentarium erwachsen – teils ohne dass Gerichtsbeschlüsse erforderlich sind. Der Jurist Damir Gainutdinow von der Menschenrechtsorganisation Agora berät Menschen, die in dieses Räderwerk geraten und erklärt im Gespräch mit der Novaya Gazeta, wovor Nutzer inzwischen auf der Hut sein müssen und was von der Anwendung des jüngsten Überwachungsgesetzes, dem Jarowaja-Paket, zu halten ist.

    Welche Tendenzen beobachten Sie beim Umgang des Staates mit dem Internet?

    In den vergangenen zwei Jahren waren die folgenden Trends zu beobachten: Zum einen wurde der Druck auf konkrete Nutzer erhöht, zum anderen wurden diverse Überwachungstechniken entwickelt. Im Prinzip ist der Staat vor etwa fünf Jahren auf das Internet aufmerksam geworden. Das hatte mit steigenden Nutzerzahlen zu tun, deren Anteil an der Bevölkerung im Land  mittlerweile jenseits der 50-Prozent-Marke liegt. Das Internet wurde für die Bürger eine Quelle unabhängiger alternativer Informationen. Der Staat hat dann begonnen, Maßnahmen zur Kontrolle dieser Informationen zu ergreifen.

    Seit dem Jahr 2012 wurden sehr viele Gesetze zum Internet verabschiedet, größtenteils Gesetze mit Verbotscharakter. Angefangen hat alles mit der gesetzlichen Sperrung von Seiten über schwarze Listen. Ein paar Jahre lang wurde diese Richtung verfolgt, doch mit der Zeit wurde klar, dass Internetfilter nicht funktionieren. Die Nutzer lernten, die Sperren zu umgehen. Jeder geblockten Internetquelle von Bedeutung wird dadurch außerdem erhöhte Aufmerksamkeit zuteil.

    Vor Kurzem gab es einen Skandal um die Sperrung von Pornhub, zuvor wurde die Webseite der Gruppe Krovostok geblockt. Und das, wo doch die Gesetzgebung zu schwarzen Listen und zu Extremismus nur einzelne zu sperrende Content-Arten vorsieht: darunter die Propagierung von Drogen und Selbstmord … Heißt das, man kann mit gerichtlichem Beschluss sperren, was man will?

    Es gibt momentan fünf Gründe für Sperren ohne Gerichtsbeschluss: Kinderpornographie, das Propagieren von Drogen und Selbstmord, das Veröffentlichen von Informationen über minderjährige Gewaltopfer und Aufrufe zu extremistischen Handlungen und nicht genehmigten öffentlichen Veranstaltungen.

    Zugleich gibt es im Paragraphen 15.1 des Informationsgesetzes eine Ergänzung, die besagt, dass auch jedwede Information blockiert werden kann, die durch Gerichtsbeschluss als verboten erklärt wird. Dies ist eine scheinbar harmlose Klausel, doch auf ihrer Grundlage erfüllen die Staatsanwälte sehr effektiv ihre Statistiken, indem sie sich mit Klagen jeglicher Art an die Gerichte wenden. Vor ein paar Jahren zum Beispiel wurde ein Beitrag von Gazeta.ru gesperrt, in dem erklärt wurde, wie man Schmiergelder zahlt. Solche Fälle gibt es ziemlich häufig. Es wurden Seiten gesperrt, auf denen Parmesan angeboten wurde – wegen des Embargos und der Gegensanktionen. In Petersburg gab es die Forderung, Seiten zu sperren, auf denen über das Ende der Welt diskutiert wird.

    Die Gerichte werfen hier alles Mögliche zusammen. Auch die Seite von Krovostok versuchten sie über diesen Kamm zu scheren und zu verbieten, weil sie asoziales Verhalten propagiert – ohne jegliche Gesetzesgrundlage. Mit Pornhub ist es dasselbe. Für Kinderpornos gibt es ein absolutes Verbot, für gewöhnliche Pornos aber besteht keinerlei Verbot. So hat man sich auf einen Strafrechtsparagraphen gegen die Verbreitung und Herstellung von Pornographie berufen, in dem es allerdings um illegale Pornographie geht. Das heißt, es existiert auch legale Pornographie, die nicht verboten werden kann. Solche Gerichtsbeschlüsse sind daher gesetzwidrig und gehören aufgehoben.

    Das Problem ist, dass Staatsanwälte und Richter hier Hand in Hand arbeiten. Die erdrückende Mehrheit solcher Fälle wird verhandelt, ohne die beteiligten Parteien hinzuzuziehen – also die Inhaber der Seiten und die Autoren der Inhalte. Richter und Staatsanwalt sitzen sich einfach gegenüber und machen die Sache unter sich aus. Als ich mir die Akten zu Krovostok genau ansah, fand ich darin auch das Gerichtsprotokoll zur Sperrung. Zehn Minuten hat die Sitzung gedauert, bei der es um das Verbot der Seite ging. Dabei ist das Gericht formal verpflichtet, alle Materialien zu prüfen, die verboten werden sollen. Auf der Webseite gab es mindestens vier Alben mit einer Spielzeit von jeweils etwa einer Stunde. Sie innerhalb von zehn Minuten zu prüfen, ist schlicht unmöglich.

    In diesem Fall gelang es, hinter die verschlossenen Türen zu schauen und zu sehen, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden. Ich bin mir sicher, dass die anderen Fälle in der Mehrheit genauso ablaufen.

    In Ihrem Bericht für 2015 haben Sie geschrieben, die Behörden seien dazu übergegangen, die entwickelten Instrumente zur Druckausübung auf das Internet nun umsetzen. Was heißt das?

    Parallel zum Ausweiten der Gründe für das Blocken von Webseiten wurde das Strafmaß für Rechtsbrüche im Internet verschärft. Für bestimmte Netzaktivitäten wurden Paragraphen eingeführt, zum Beispiel wenn es darum geht, die Verletzung der territorialen Integrität des Landes zu propagieren. In einem dieser Prozesse hat das Gericht angeführt, dass es einen Straftatbestand darstellt, die Wörter „Annexion“ und „Okkupation“ in Bezug auf die Halbinsel Krim zu verwenden. Anders ausgedrückt: Diese Wörter wurden für gesetzeswidrig erklärt.

    Auch bereits bestehende Paragraphen wurden verschärft, zum Beispiel Paragraph 282 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation, zum Schüren von Hass und Feindseligkeit. Außerdem fallen die Urteile schärfer aus. Im Jahr 2015 haben wir 21 Fälle genau verfolgt, in denen Nutzer zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt wurden, plus mindestens zwei Fälle von Zwangseinweisungen auf medizinischer Grundlage. Auch dies ist Freiheitsentzug, der allerdings in einer psychiatrischen Anstalt verbüßt wird und zudem von unbestimmter Dauer ist. Es ist schwer zu sagen, was grausamer ist.

    Im Jahr 2015 wurde auch damit begonnen, gewöhnliche Nutzer aktiv zu verfolgen. Zuvor waren das hauptsächlich Fälle, in denen es um die Veröffentlichung rassistischer und nazistischer Videos ging, das täglich Brot der Extremismuszentren. Jetzt aber ist der gewöhnliche Nutzer in Gefahr, wenn er irgendetwas geliked hat oder irgendeiner falschen Gruppe beigetreten ist. Der Fall von Jekaterina Wologshenninowa aus Jekaterinburg (schuldig gesprochen für den Repost proukrainischer Gedichte – М. А.) zeigt dies sehr deutlich.

    Der Staat baut darauf, die Nutzer einzuschüchtern. Außerstande alles zu blockieren, versucht er, die Veröffentlichung von Inhalten zu verhindern.

    Im Zusammenhang mit den letzten Gesetzesnovellen wie dem Jarowaja-Paket zeigt sich, dass der Staat versucht, dem Nutzer nachzuspüren, Schriftverkehr zu lesen, Gespräche abzuhören. Noch läuft der Konflikt hauptsächlich zwischen Staat und Service-Anbietern ab, die ganz offensichtlich kein Interesse daran haben, dem Staat die Daten ihrer Nutzer zur Verfügung zu stellen, denn hier steht ihr Ruf auf dem Spiel. Es ist unklar, wie sie aus dieser Situation herauskommen. Unterdessen ergreifen die Nutzer diverse Schutzmaßnahmen. So wie sie zuvor gelernt hatten, Sperren zu umgehen, machen sie sich nun mit Verschlüsselungstechniken wie PGP vertraut  und geheimen Chats bei Telegram. Es ist so eine Art Wettrüsten.

    Man kann nicht gleichzeitig alle Unterhaltungen aller Nutzer mitschneiden, sie ein halbes Jahr lang speichern und auch noch die Krim-Brücke bauen

    Ein paar Monate sind seit der Verabschiedung des Jarowaja-Pakets vergangen, besondere Proteste sind jedoch nicht zu sehen. Könnte das Paket unter öffentlichem Druck aufgehoben werden?

    Ich bin mehr als sicher, dass der Protest existiert. Eine solch grobe Einmischung in ihr Privatleben werden die Menschen nicht akzeptieren. Ja, es stimmt, die Leute sind nicht bereit, zu Hunderttausenden auf die Straße zu gehen. Und die Nutzer selbst leiden noch nicht besonders darunter.

    Doch bald werden die Preise fürs Internet steigen, weil Rostech den Zuschlag für den Bau von Datenzentren erhalten hat und nun von den Betreibern Geld für die Umsetzung des Jarowaja-Pakets einfordern kann. Oder die Betreiber werden gezwungen sein, zusätzliche Ausrüstung einzukaufen, um die Überwachung der Nutzer zu gewährleisten; diese Ausgaben werden selbstverständlich in die Tarife einfließen. Die Nutzer werden es zu spüren bekommen. Dass der Staat dieses Gesetz zurücknimmt, nur weil die Gesellschaft dagegen ist, damit braucht keiner zu rechnen.

    Eher sollte man darauf setzen, dass sie nicht genug Ressourcen haben, um alles umzusetzen. Die ständig ausgeweiteten Kontrollmechanismen werden immer kostspieliger. Man kann nicht gleichzeitig alle Unterhaltungen aller Nutzer mitschneiden, sie ein halbes Jahr lang speichern und auch noch die Krim-Brücke bauen. Darum hoffe ich, dass diese Gesetze zum größten Teil Papiertiger bleiben.

    Wenn schon finanziell nicht machbar, wie sieht es denn technisch aus: Wie realistisch ist es, den gesamten Internet-Verkehr zu entschlüsseln? Davon träumt ja unser Staat.

    Mathematisch scheint mir das nicht machbar. Zumindest stehen die technischen Ressourcen, die man dafür aufzuwenden plant, in keinem Verhältnis zum Wert der Informationen, die man abschöpfen kann. Man geht beispielsweise davon aus, dass der Verschlüsselungsalgorithmus, den der Dienst PGP verwendet, nicht gehackt werden kann. Wie soll dann ein Signal abgefangen werden? Höchstens, indem man jedem Nutzer ein Spionageprogramm unterjubelt, das das Signal abfängt, bevor es verschlüsselt wird, indem jeder Tastendruck gespeichert wird. Doch das kann man unmöglich bei allen Nutzern machen.

    Die Sicherheit der Gesellschaft ist weitaus stärker gefährdet durch Staatsanwälte als durch die Inhalte, die über Likes und Reposts verbreitet werden

    Steht denn das Jarowaja-Paket im Einklang mit den internationalen Konventionen, die Russland ratifiziert hat?

    In der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt es den Artikel 8, der jedem Menschen das Recht auf Achtung der Privatsphäre garantiert. Die Konvention verbietet die massenhafte, flächendeckende Kontrolle der Kommunikation von Bürgern. Zuweilen muss dieses Recht bei einzelnen Bürgern für die Aufdeckung von Verbrechen eingeschränkt werden, doch bedarf es in jedem Fall einer genauen Begründung.  Es gibt die Entscheidung des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte im Prozess Roman Sacharow gegen Russland, für den das Gericht Rahmenbedingen und Praxis der Überwachung von Mobilfunknutzern  in Russland analysiert hat und zu dem Schluss kam, dass es in der russischen Gesetzgebung keine Garantien gegen Missbrauch gibt und dass die gerichtliche Kontrolle nicht effektiv ist.

    Wir haben die Statistik des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation eingesehen und so die Anzahl der genehmigten Anträge zum Abhören durch Exekutivbehörden festgestellt. Angefangen im Jahr 2007 haben die russischen Gerichte 4,5 Millionen solcher Genehmigungen erteilt. 97 bis 98 Prozent dieser Anträge der Exekutivbehörden wurden bewilligt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn es gibt in der Gesellschaft keinerlei Kontrollmechanismen für die Nutzung von SORM. Auch das Gericht hat keine Kontrolle darüber, wie seine Genehmigung für das Abhören umgesetzt wurde und ob das Abhören nach Ablauf der Genehmigungsdauer eingestellt wurde. Das System, das in Russland üblich ist, entspricht nicht den Anforderungen der Konvention, auch dies wurde vom Europäischen Gerichtshof festgestellt.

    Andererseits haben die Vereinten Nationen im Mai 2015 ein Papier zu Regeln der Informationsfreiheit verabschiedet, aus dem hervorgeht, dass das Recht auf Anonymität im Internet sowie die Verschlüsselung von Daten ein unabdingbares Menschenrecht darstellt. In dieser Hinsicht widerspricht das Jarowaja-Paket natürlich den für Russland verbindlichen internationalen Prinzipien.

    Sollte es denn überhaupt eine Kontrolle des Internets geben und wie müsste eine entsprechende Gesetzgebung aussehen?

    Ich denke, lieber keine Kontrolle über das Internet als die, die wir jetzt haben. Die Sicherheit der Gesellschaft ist weitaus stärker durch die derzeitigen Netzaktivitäten der Staatsanwälte gefährdet als durch die Inhalte, die über Likes und Reposts verbreitet werden. Zweifelsohne muss die Gesetzgebung zur freien Meinungsäußerung reformiert werden. Da muss sehr vieles geändert werden. Zunächst ist festzuschreiben, dass Einschränkungen des Informationszugangs ausschließlich über den Gerichtsweg erfolgen können. Wird über die Sperrung von Sites verhandelt, müssen die Inhaber der Seiten und die Autoren der Inhalte unbedingt hinzugezogen werden. Die Antiextremismus-Gesetzgebung muss ganz offensichtlich geändert werden, um das Prinzip aufzuheben, dass sich ein Staatsanwalt in irgendeinem Kaff ans Bezirksgericht wenden und etwas verbieten kann, während die Betroffenen zweitausend Kilometer entfernt leben.

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    „Sie wird zweifellos schuldig gesprochen“

    Nadija (russ. Nadeshda) Sawtschenko, Leutnant der ukrainischen Armee, wird in Russland der Prozess gemacht. Ihr wird vorgeworfen, für den Tod russischer Zivilisten auf ukrainischem Territorium  mitverantwortlich zu sein und danach illegal die Grenze nach Russland übertreten zu haben. Die Verteidigung erklärt hingegen, Sawtschenko sei bereits rund zwei Stunden vor dem Tod der Zivilisten gefangen genommen und nach Russland entführt worden. Am 21. und 22. März soll das Urteil verkündet werden. Ihr Schlusswort in dem Prozess hielt Sawtschenko bereits am Mittwoch vergangener Woche, dabei zeigte sie dem Gericht den Stinkefinger und sagte: „Russland wird mich so oder so an die Ukraine übergeben, ob tot oder lebendig.“

    Die Staatsanwaltschaft fordert für die Militärpilotin und Freiwillige des Bataillons Aidar sowie inzwischen auch Abgeordnete des ukrainischen Parlaments 23 Jahre Haft.

    Sawtschenko trat zwischenzeitlich in den Hungerstreik, teilweise nahm sie auch keine Flüssigkeit mehr zu sich. Viele Politiker aus dem Westen, darunter US-Außenminister John Kerry, aber auch Intellektuelle wie die belarussische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy forderten die Freilassung der 34-Jährigen.

    Der hochpolitische Fall erregt sowohl in Russland als auch in der Ukraine die Gemüter: Die einen sehen in Sawtschenko eine Mörderin, die anderen eine Märtyrerin. In der Ukraine erfährt Sawtschenko breite Unterstützung von Seiten der Bevölkerung und der Politik, Präsident Petro Poroschenko erklärte sie gar zur „Heldin der Ukraine“. In Moskau und Petersburg wurden hingegen vereinzelte stille Aktionen, die Solidarität mit Sawtschenko zeigten, sofort aufgelöst und endeten teilweise sogar mit Festnahmen.

    Kurz vor der geplanten Urteilsverkündigung sprach Anton Krassowski von snob.ru mit Sawtschenkos Anwälten Mark Feigin und Nikolaj Polosow über den Fall.

     

    Wer ist Nadeshda Sawtschenko?

    Feigin: Sawtschenko ist Oberleutnant der Streitkräfte der Ukraine, die einzige Pilotin der ukrainischen Armee. Formell ist sie Waffensystemoffizier eines Kampfhubschraubers. Das ist das, was in ihren Militärunterlagen steht. Sie ist ein gradliniger, prinzipientreuer und unbequemer Mensch. In der normalen Gesellschaft wäre sie schwer zu ertragen. Damit meine ich, dass Menschen, die nicht ihrem Kreis angehören, sie seltsam finden, sich in ihrer Anwesenheit nicht wohlfühlen. In diesem Sinne haben wir es mit einer typischen Armeeangehörigen des frühen 21. Jahrhunderts in der Ukraine zu tun.

    Ist sie vielleicht durchgedreht? Wenn man sie sieht, wie sie im Gerichtskäfig auf den Stuhl springt, das Geschrei, die ausgestreckten Mittelfinger, fragt man sich: Verhält sie sich angemessen?

    Feigin: Angemessen in Anbetracht der Lage, in der sie sich befindet. Nein, sie ist nicht durchgedreht. Man sollte sie einfach so nehmen, wie sie ist. An sie werden Maßstäbe angelegt, die für die umgebende Gesellschaft ganz normal sind, während sie immer wieder in Extremsituationen war, sei es im Irak, auf dem Maidan oder im Donbass zu Beginn des Krieges.

    Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – da haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.

    Im Irak?

    Feigin: Ja, ein halbes Jahr lang hat sie im Kontingent der Koalition im Irak gedient. Sie war einfache motorisierte Schützin. Für diese sechs Dienstmonate stand ihr eine Belohnung zu: die Aufnahme an der Charkiwer Universität für Luft- und Raumfahrt. Wir haben es also mit einer einzigartigen Persönlichkeit zu tun, hier greifen andere Kriterien. Wenn man alles addiert – also: Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – dann haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.

    Ich vermute, in Russland gibt es Hunderte weiblicher Armeeangehörige, Leutnants. Es gibt sogar weibliche Generäle. Was ist daran besonders?

    Feigin: Pilotinnen gibt es beispielsweise nicht. In Russland ist man der Ansicht, dass eine Frau weder ein Kampfflugzeug noch einen Kampfhubschrauber steuern könnte. Auch in der Ukraine war man dieser Ansicht. Bis Sawtschenko kam. Sie hat mit diesem Stereotyp gebrochen.

    Wie geriet sie in russische Kriegsgefangenschaft?

    Polosow: Das passierte am 17. Juni 2014. In diesem Moment gab es bereits heftige Zusammenstöße, die ukrainische Armee rückte von Norden her in Richtung Lugansk vor, das unter der Kontrolle der Aufständischen war. Sawtschenko ist dann mit den anderen Kämpfern des Bataillons Aidar in die Offensive gegangen.

    Wie unterscheidet sich das Bataillon Aidar von den regulären Streitkräften der Ukraine?

    Polosow: Aidar ist ein Freiwilligenbataillon, das Teil der Streitkräfte der Ukraine wurde. Das sind keine Freischärler vom Schlage der Machnowzi.

    Grob gesagt, hat Sawtschenko nicht gegen den Fahneneid verstoßen, sondern einen Befehl nicht befolgt: Sie hat Urlaub genommen und ist aus dem heimischen Brody in der Oblast Lwiw, wo ihr Regiment stationiert war, in den Donbass aufgebrochen, um die unerfahrenen Rekruten auszubilden, da sie die nötige Erfahrung besaß. Und als am 17. Juni die Offensive begann, ging sie mit. Während eines Panzerdurchbruchs beim Anmarsch auf das Dorf Stukalowa Balka gerieten die Panzer und Schützenpanzer in einen Hinterhalt. Als sie den Gefechtslärm hörte, bewegte Sawtschenko sich darauf zu, traf auf verwundete Soldaten, die bereits getroffen waren; sie leistete Erste Hilfe und versuchte, da sie keine vernünftige Verbindung hatten, im Stab anzurufen, damit die Kämpfer abgeholt werden.

    Sie hat mit dem Mobiltelefon angerufen?

    Polosow: Ja. Dazu ging sie auf die Mitte der Straße. Sie geriet unter Beschuss, ihre Hand wurde durchschossen, ein glatter Durchschuss. Nach einiger Zeit kam dann einer der Freischärler auf sie zu, ein junger Kerl. Wie sie später erklärte, schoss sie nicht auf ihn, trotzdem sie bewaffnet war, weil sie keinen Ukrainer töten wollte. Direkt hinter diesem Jungen tauchte ein zweiter auf, ihr Sturmgewehr wurde ihr abgenommen und sie wurde mit ihrem eigenen Schulterriemen gefesselt und in die Wehrverwaltung von Lugansk gebracht, wo sich zu diesem Zeitpunkt der Stab des Bataillons Sarja befand. Geleitet wurde der Stab zu der Zeit von Igor Plotnizki, dem späteren Oberhaupt der LNR. Sie verbrachte dort eine Woche. Danach wurde sie durch irgendwelche Schächte auf russisches Gebiet gebracht und in ein Auto mit russischen Nummernschildern gesetzt.

    Waren ihre Augen verbunden?

    Feigin: Ihre Augen waren mit einem gelb-blauen Kopftuch mit der Aufschrift „Selbstverteidigung des Maidan“ verbunden.

    Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt.

    Wie hat sie dann die russischen Nummernschilder sehen können?

    Polosow: Sie sagte, dass sie zu diesem Auto durch einen Wald gelaufen seien, der von lauter Gräben durchzogen war. Sie stolperten die ganze Zeit und dieses Kopftuch verrutschte immer wieder, sodass sie zumindest sehen konnte, was sich direkt unter ihr, also unmittelbar vor ihren Füßen befand. Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt. Eine Zeitlang wurde sie mit diesem Auto transportiert. Schließlich wurde sie in ein drittes Fahrzeug gesetzt, einen Lada Samara. Im Zuge der Ermittlungen hat sich herausgestellt, dass das bereits in der Oblast Woronesh geschah. Das bedeutet, dass sie im Norden der Oblast Rostow über die Grenze und bis zur Oblast Woronesh gebracht wurde. Im Samara saßen zwei Personen in Zivil. Einer saß am Steuer. Sie wurde zu dem zweiten auf den Rücksitz gesetzt. Außerdem war sie gefesselt.

    An einer Kreuzung vor dem Dorf Kantemirowka in der Oblast Woronesh wurde das Fahrzeug von einer Streife der Verkehrspolizei angehalten. Die Verkehrspolizisten schauen ins Fahrzeug, fragen „Ist sie das?“ – „Das ist sie.“ Dann folgen Anrufe und nur wenige Minuten später kommt ein Minibus mit FSB-Mitarbeitern, von denen nur einer nicht maskiert gewesen ist. Sie setzen sie in den Minibus und bringen sie direkt nach Woronesh. Sie kommen an, bringen sie in der Nacht zur Ermittlungsbehörde, wo sie ein Ermittler in Empfang nimmt. Der hält Sawtschenkos Mobiltelefon in den Händen, das ihr in Gefangenschaft abgenommen worden war.

    Danach wurde sie aus dem Gebäude der Ermittlungsbehörde geführt und in den Minibus gesetzt. Sie sagt, man habe ihr Woronesh bei Nacht gezeigt, irgendein Schiff und irgendeine Kirche, dann wurde sie in einen nahegelegenen Vorort gebracht, in die Siedlung Nowaja Usman, wo sich das Hotel Jewro befindet, eine gewöhnliche Fernfahrer-Absteige: ein nicht sonderlich großes, zweigeschossiges Gebäude mit Imbiss im Hof. Dort bringt sie diese ganze Kawalkade bewaffneter Kämpfer auf die zweite Etage in ein Hotelzimmer, das aus zwei Räumen besteht. Sie wird allein in dem einem Zimmer untergebracht, die Bewacher bleiben in dem anderen. Dort verbringt sie eine weitere Woche. Genau zu dieser Zeit wird sie vom Ermittlungsbeamten aufgesucht. Dies ist Nadeshdas Version der Ereignisse.

    Man brauchte jemanden der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta.

    Warum wurde sie gefangen genommen, warum wurde sie hergebracht und warum wird ihr dieser Schauprozess gemacht?

    Fejgin: Man brauchte wenigstens jemanden von Bedeutung, jemanden, der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta, das sind sie, die freiwilligen Strafkommandos, wie dieses Aidar. Sie hat am besten gepasst, weil sie eine Frau ist. Die haben wohl damit gerechnet, dass sie leicht zu brechen sei, grob gesagt, um sie zu einem Geständnis zu zwingen unter Androhung einer langen Haftstrafe und so weiter.

    Woher stammt diese ganze Geschichte mit der Richtschützin, die für den Tod der russischen Journalisten Woloschin und Korneljuk verantwortlich sein soll? Konnte sie die Treffer beeinflussen?

    Polosow: Die Feuerleitung ist eine recht komplexe Sache. Wobei Pilot und Artillerist zwei unterschiedliche Dinge sind.

    Davon abgesehen wird sie beschuldigt, den Beschuss von einem Gebiet geleitet zu haben, das von Widerstandskämpfern kontrolliert wurde: Die Anklage behauptet, sie sei in das vom Bataillon Sarja kontrollierte Gebiet vorgedrungen, habe einen Mast bestiegen, die Zielkoordinaten angepasst, sei dann heruntergestiegen, habe die Positionen des Bataillons Sarja umlaufen und sei dabei in Gefangenschaft geraten.

    Was ist das für ein Mast? Konnte man von ihm aus erkennen, dass es sich um Journalisten handelte?

    Polosow: Nein. Die Journalisten konnte man als solche überhaupt nicht erkennen, sie trugen weder besondere Helme noch Flakwesten. Daher wurde dieser Anklagepunkt fallengelassen.

    Ein Gutachten hat festgestellt, dass dieser Mast der einzige Punkt ist, von dem aus man überhaupt hätte Menschen erkennen können. Deshalb wird sie nun des Mordes an Zivilisten aufgrund ihrer persönlichen Abneigung gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine beschuldigt.

    Nicht alle Opfer werden untersucht. Warum nicht? Weil der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.

    Kam außer Woloschin und Korneljuk noch jemand bei diesem Beschuss ums Leben?

    Polosow: Es sind nur Freischärler des Bataillons Sarja getötet worden. Allerdings will die Anklage nicht alle Opfer untersuchen. Warum nicht? Weil anderenfalls der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.

    Wie haben in diesem Fall die Ukrainer gezielt feuern können?

    Feigin: Der Beschuss war ja gar nicht gezielt. Die schossen, wohin sie konnten. Sie kennen die ungefähren Koordinaten, also wird nachjustiert und gefeuert. Möglicherweise gab noch ein Zivilist per Telefon ein Signal, so geht das üblicherweise vor sich.

    Im Prinzip kamen damals alle zufällig ums Leben, auch die Journalisten vom WGTRK.

    Das heißt also, als unsere Journalisten getötet wurden, kam ein Anruf aus Moskau und es wurde schlicht befohlen, den idealen Sündenbock  zu finden?

    Fejgin: Ganz genau.

    Wie erklären die Ermittler denn die Tatsache, dass eine Bürgerin der Ukraine auf russischem Gebiet vor Gericht steht wegen der Teilnahme an Kampfhandlungen auf dem Staatsgebiet derselben Ukraine – an denen Russland angeblich nicht beteiligt ist?

    Feigin: Das ist eine Frage der sogenannten Rechtshoheit. Es gibt da den Artikel 12 des Strafgesetzbuchs, nach dem ein ausländischer Staatsangehöriger tatsächlich in Russland vor Gericht gestellt werden kann, wenn eine Straftat gegen einen russischen Bürger oder gegen die Interessen Russlands begangen wurde. Dann kann die betreffende Person strafrechtlich belangt werden. Das Problem ist ein anderes: Da sie der allgemein-strafrechtlichen Linie gefolgt sind, haben sie de facto die Kriegskomponente ausgeklammert, die in der Genfer Konvention geregelt ist. Warum? Weil es sich nicht um einen internationalen, bewaffneten Konflikt gehandelt hat. Warum er nicht international ist? Weil Russland seine Beteiligung daran leugnet.

    Polosow: Sie sprechen zudem nicht davon, dass sie entführt worden ist, sondern sie behaupten, sie sei selbst eingereist. Aus allgemein-humanitären Erwägungen heraus habe Plotnizki, so die Lesart der Anklage, zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt, dass Sawtschenko einfach freigelassen werden müsse.

    Das heißt also, eine Woche lang saß sie in dieser Wehrverwaltung, und dann sagt er: 'Kommt, wir lassen sie frei’?

    Polosow: Ja, sie ist eine Frau und es gibt keine getrennten Toiletten und nur einen einzigen Raum, da können wir sie doch nicht gemeinsam mit männlichen Kriegsgefangenen festhalten, soll er gesagt haben, außerdem müsse sie auch verpflegt werden etc. Dann hat er sie angeblich an einen Mann mit dem Rufnamen „Cap Moisejew“ übergeben, der soll sie anschließend an den ungeregelten Grenzübergang Sewerny in der Nähe von Donezk gebracht und gesagt haben: Du bist frei, geh, wohin du willst. Und aus irgendeinem Grund geht sie nicht in Richtung Charkiw, sondern in Richtung Woronesh.

    Für die Erfüllung des Straftatbestands nach Artikel 322, Abschnitt 1, „Illegaler Grenzübertritt“, bedarf es des unmittelbaren Vorsatzes. Man braucht ein Motiv. Warum gehst du dorthin? Was ist dein Ziel? Sie ist in ihrem Leben noch nie in Russland gewesen. Warum sollte sie dorthin gehen?

    Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich.

    Lass uns über das Verfahren sprechen. Wie seid ihr zu Nadeshda Sawtschenkos Anwälten geworden?

    Feigin: Am 9. Juli 2014 wurde bekanntgegeben, dass sich eine gewisse Nadeshda Sawtschenko auf russischem Staatsgebiet befindet und sich strafrechtlich vor Gericht zu verantworten hat. Und am 10. Juli, also buchstäblich am darauffolgenden Tag, rief mich Ljudmila Koslowskaja an, die Leiterin der Stiftung Offener Dialog. Das ist eine polnisch-ukrainische Organisation mit Sitz in Warschau. Sie sagte: Also, folgende Geschichte: Sawtschenko wurde ein Verteidiger namens Schulshenko zugeteilt, im Augenblick werde im Außenministerium die Frage erörtert, wer sich des Falls annehmen solle, da es ein sehr schwerwiegender Fall sei.
    Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits die Aufnahmen von Sawtschenkos Befragung gesehen, wo sie Plotnizkis Fragen sehr frech beantwortet. Ich habe mir diese Aufnahmen noch einmal angesehen und nach nur zehn, fünfzehn Minuten gesagt: Gut, ich bin bereit. Der Chef des Konsularischen Dienstes beim Außenministerium der Ukraine rief mich an und sagte: Ich habe hier Vera Sawtschenko sitzen, Nadeshdas Schwester, könnten Sie ihr erklären, was jetzt zu tun ist? Darauf sagte ich: Es ist ganz offensichtlich, dass dieser Fall angesichts des Krieges kompliziert ist und ein politischer sein wird; alles, was ich momentan anbieten kann, ist, dass dieser Prozess sehr öffentlichkeitswirksam vonstatten gehen wird. Es wird nichts von dem geben, was, wie wir wissen, im Falle Senzows vorgefallen ist. Wir wussten bereits, dass Senzow gefoltert worden war. Am selben Tag bekam ich den von Vera Sawtschenko unterzeichneten Auftrag.

    Warum haben sie gerade Euch als Anwälte ausgewählt?

    Feigin: Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass sich jeder um diesen Fall gerissen hätte. Der Fall ist ja in der Tat toxisch. Kolja [Polosow] wird es bestätigen, er bekam einen Anruf: „Was treibst du da? Das ist dein Ende – sowohl beruflich als auch sonst." Darum ist es lachhaft zu behaupten, es hätte einen ernsthaften Wettbewerb gegeben. Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich. Daher gab es auch in der Anfangsetappe, als der Fall noch nicht das war, wozu er heute geworden ist, nicht wirklich sonderlich viele Interesse.

    Na schön. Doch warum habt ihr euch so auf diesen Fall gestürzt? Er ist politisch und eine Niederlage vorprogrammiert.

    Polosow: Auch wenn es in Russland für solche Fälle keine funktionierende Gerichtsbarkeit gibt, sind wir überzeugt, dass das System dennoch bezwungen werden kann. Wir haben schon Erfahrung: Dies ist nicht unser erster Fall mit großer öffentlicher Resonanz, über den man nicht nur in Russland spricht. Davor haben wir unsere Erfahrung mit Pussy Riot gemacht. Ob diese Erfahrung ein Erfolg oder ein Misserfolg war, ist eine andere Frage. Aus Fehlern lernt man, nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Und daher waren wir der Ansicht, dass wir diesen Fall der Nadeshda Sawtschenko schultern können.

    Wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.

    Verstehe ich das richtig, dass die Tätigkeit eines politischen Anwalts nicht wirklich Anwaltstätigkeit ist, sondern vielmehr ein politisches Statement?

    Polosow: Die Tätigkeit des politischen Anwalts ist mehr als gewöhnliche Anwaltschaft. Es gibt die juristische Ebene, auf der Rechtsmittel eingelegt, bestimmte Prozessentscheidungen angefochten werden, nach Unschuldsbeweisen gesucht und Schuldbeweise angefochten werden. Damit befassen sich hundert Prozent aller Anwälte. Wir fügen dieser Ebene noch die öffentliche Kommunikation mit Politikern verschiedener Schichten hinzu, ob im Ausland oder hier, das spielt keine Rolle.
    Wir helfen dabei, bestimmte politische Rahmenbedingungen zu schaffen. Da wird, wie zum Beispiel im Fall von Nadeshda Sawtschenko, eine Person in die Oberste Rada gewählt, wird Abgeordnete der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und erlangt damit Immunität (die sich Russland übrigens anzuerkennen weigert).
    Dazu kommt noch eine Medienkampagne, um den Kreis derer zu erweitern, die auf die eine oder andere Weise in diesen Prozess involviert sind.

    Verstehe ich richtig, dass in einer solchen Situation die Freilassung keine Priorität ist?

    Feigin: Nein, im Gegenteil. All das ist letztendlich auf die Freilassung ausgerichtet, denn nur das kann die Freilassung des Angeklagten bewirken. Andernfalls, wie im Fall Senzow, wo es keine politische Anwaltschaft gibt, kriegt er trotzdem 20 Jahre. Eins musst du verstehen: Wenn du öffentlich nicht davon sprichst, dass jemand unschuldig ist und du beweist das nicht mit Prozessmitteln, sondern mittels politischer Methoden, dann ist das allen scheißegal, es ist allen gleich. Denn wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.

    Das ukrainische Justizministerium wird eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat.

    Was wird weiter mit Sawtschenko geschehen?

    Feigin: Sie wird zweifellos schuldig gesprochen und verurteilt werden.

    Zu 23 Jahren?

    Feigin: Ob nun zu 20 oder 15 Jahren, für die spielt das überhaupt keine Rolle. Die Urteilsverkündung ist für den 21. und am 22. März angesetzt. Nach zehn Werktagen – am 1. bzw. 2. April wird das Urteil dann rechtskräftig. Ab diesem Moment wird das ukrainische Justizministerium im Rahmen der Konvention über die Auslieferung von Verurteilten aus dem  Jahr 1983, an der auch die Ukraine und Russland beteiligt sind, eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat, in die Ukraine, damit sie ihre Strafe dort ableisten kann. Dies ist die wahrscheinlichste Variante.

    Das wäre dann gewissermaßen die Organisation eines Austauschs?

    Feigin: Ja, und die anderen schicken dafür Jerofejew oder Alexandrow nach Russland.

    Habt ihr nicht den Eindruck, dass die Ukrainer selbst gar nicht wirklich wollen, dass sie nach Hause zurückkehrt?

    Feigin: Nein. Denn wenn das der Fall wäre, wenn auch nur etwas davon nach außen dringen würde, dann wäre Poroschenko im A***.

    Warum?

    Fejgin: Das würde bedeuten, jemand spielt mit ihren Leiden ein politisches Spiel. Die ukrainische Gesellschaft, in der es ganz gewiss eine öffentliche Meinung gibt, würde das niemals verzeihen.

    Wird Senzow auch Teil dieses Deals sein?

    Feigin: Nein. Sawtschenko ist ein Sonderfall, das ist eine Kriegsgefangene, die sich im Ergebnis einer militärischen Operation auf dem Gebiet des – faktischen – Feindes wiederfand. Mir wurde gesagt, dass Putin ursprünglich gar nicht über Senzow sprechen wollte. Na schön, die Sawtschenko, das ist eure Gangsterbraut. Aber Senzow? Von dem will ich nicht ein Wort hören, er ist russischer Staatsbürger, wenn wir ihn an euch ausliefern, dann bedeutet das was, bitteschön? Die Krim gehört nicht uns? Doch das ist nur ein Gerücht, das haben mir in der Ukraine Leute erzählt, die mit den Gesprächen im Normandie-Format zu tun haben.
    Ob das so ist oder nicht, kann ich nicht sagen, doch das ist deren Logik: Voilà, die Krim ist unser, den Prozess machen wir, wem auch immer wir wollen.

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  • Die verlorene Halbinsel

    Die verlorene Halbinsel

    Seit einigen Wochen wird die Versorgung der Krim über die ukrainische Festlandverbindung mehr und mehr erschwert. Zunächst waren offenbar allein informelle Gruppen für die Blockadebestrebungen verantwortlich, nun hat sich auch die ukrainische Regierung eingeschaltet. Auf wessen Konto die Sprengungen der Hochspannungsleitungen am 20. und 21. November gingen, scheint weiter unklar – doch sie werden die Einwohner der Krim nur noch mehr von Kiew entfremden, kommentiert Andrej W. Kolesnikow.

    Die Krim ist selbst ein Symbol – ein Symbol des Triumphs und des Stolzes, so 52 % der vom Lewada-Zentrum befragten Russen – und sie produziert ausschließlich Symbole. Denn ihre materielle Bedeutung ist nicht besonders groß. Wenn man ehrlich ist, wurde das Gebiet im Stich gelassen. Von Russland im Stich gelassen: Nach Krymnasch die Sintflut.

    Deutlich wurde dies nach der Sprengung der Hochspannungsmasten und dem Blackout der Halbinsel, die sich nun wirklich langsam in Aksjonows Die Insel Krim verwandelt hat. Das Interesse an der Krim und Ukraine erlischt in Russland und der Welt mehr und mehr. Möglicherweise wären auch die Bewohner der zur Insel gewordenen Halbinsel zu der nüchternen Erkenntnis gelangt, dass dieses Gebiet den Großen Bruder gar nicht in Bezug auf Hilfe und Investitionen interessiert, sondern nur als Flagge und Reliquie. Denkbar wäre das gewesen, wäre es nicht zur Unterbrechung der Stromversorgung gekommen und zur dadurch doppelt so gravierenden Entscheidung Petro Poroschenkos, die Transportwege auf die Halbinsel zu blockieren.

    Mit einem Mal erinnern sich alle wieder an die Ukraine, und der hybride Krieg im Donbass verwandelt  sich in einen Handels- und Informations- (und in diesem Sinne auch einen hybriden) Krieg um die Krim. Keine einzige Forderung der Krimtataren, die die ukrainische Seite übermittelt, wird erfüllt, stattdessen wird die Ablehnung gegenüber der Ukraine stärker, sowohl vonseiten der Krimbewohner als auch vonseiten der Kontinentalrussen.

    Wladimir Putin bekommt gleich mehrere Trümpfe auf die Hand. Er wird auch hier wieder in der Rolle Batmans auftreten, des Beschützers von über einer Million Menschen, denen Licht und Wärme genommen wurde. Und der Welt wird wieder die animalische Fratze der ukrainischen Fascho-Juden präsentiert. Auch die leicht abgenutzte Bedrohung durch die ukrainische Regierung kann man völlig überteuert wiederverkaufen. Es ist sowieso merkwürdig, dass die russische Propaganda die Blockade der Krim bislang noch nicht mit der Blockade Leningrads verglichen hat.

    Die ukrainische Regierung und die informellen Widersacher Putins haben, wie es oft geschieht, politisches Regime und einfache Menschen verwechselt. Sie wollten sich am Regime rächen, trafen aber die einfache Bevölkerung. Das Regime wird dadurch natürlich nur stärker, die belagerte Festung wird noch belagerter und somit zu einem sakralen Objekt, und die Werktätigen scharen sich noch enger um ihren Batman, der mit seinen Bomben Syrien den Frieden bringt.

    Genau den gleichen Effekt – die Ausbildung des Stockholm-Syndroms gegenüber ihrem Präsidenten – hatten die westlichen Sanktionen bei den Russen. Hier allerdings erfolgte die „Bombardierung von Woronesh“ vor allem durch die russische Führung selbst, die ihren Mitbürgern mittels Gegensanktionen einen Teil der Lebensmittel verwehrte, deren Qualität verschlechterte und die Preise eigenhändig in die Höhe trieb. Die Sanktionen aber hatten hauptsächlich die Eliten und Unternehmen getroffen. Im Falle der Krim nun sind es nicht die eigenen Leute, die den Betroffenen die Lebensgrundlage nehmen, sondern die ehemalig eigenen Leute, die zu Fremden werden. Es wird ja auch nicht gegen irgendwelche feststehenden Gangster aus der Führungsriege ausgekeilt, sondern gegen alle Bewohner der Halbinsel.

    Selbstverständlich wird die Krim für den Westen unter keinen Umständen zu einer Tauschwährung oder zum Verhandlungsgegenstand. Doch wird es bei den westlichen Führern wohl kaum auf viel Gegenliebe stoßen, dass die ukrainischen Eliten so effektive Unterstützung geleistet haben, um das positive Image des russischen Präsidenten in den Augen der russischen Bürger zu fördern. Solche Turbulenzen haben ihnen gerade noch gefehlt.

    Putins Russland wollte die Ukraine zu sich hinüberziehen, hat sie aber auf lange Sicht verloren. Die ukrainische Führung hat durch die Bestrafung der Krimbewohner die Krim verloren. Und Putin eine Steilvorlage geliefert.

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    Löst Syrien die Ukraine-Krise?

    Ein möglicher Schulterschluss zwischen Russland und dem Westen nach den jüngsten Terroranschlägen könnte auch Auswirkungen auf die Ukraine-Krise haben. Was hieße das für den Status der Krim, die Sanktionen gegen Russland, den Kurs der NATO? Kann es gar zu einer raschen Entspannung der Lage in der Ostukraine kommen? Arkadi Mosches dekliniert in EJ die Szenarien durch und bleibt skeptisch.

    (Der Originaltext wurde vor dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei am 24.11.2015 veröffentlicht.)

    Die weitaus meisten Beobachter sind sich einig, dass die schrecklichen Anschläge der letzten Tage den Kontext der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wesentlich verändert haben. Objektiv betrachtet ist das der Fall, weil eine gemeinsame Bedrohung zur Einigkeit zwingt. In dieser Hinsicht sind die Worte Wladimir Putins, der die Franzosen als Verbündete bezeichnete, von großer Bedeutung. Aber auch auf subjektiver Ebene stimmt es, denn jene Politiker und professionelle Lobbyisten im Westen, die auch schon zuvor dazu aufgerufen hatten, die durch die Ukraine-Krise entstandenen „Missverständnisse“ in den Beziehungen zu überwinden und zu „Dialog und Zusammenarbeit“ zurückzukehren, erhalten damit ein schlagkräftiges Argument. Im übertragenen Sinne haben Nicolas Sarkozy und der derzeitige deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel, die diesen Standpunkt vertreten und im Oktober Moskau besucht hatten, in ihrer Auseinandersetzung mit den französischen und deutschen Staatsoberhäuptern François Hollande und Angela Merkel die Initiative übernommen.

    Daher sollte man bereits in allernächster Zukunft erwarten, dass Bewegung in diese Diskussion kommt, und wahrscheinlich auch, dass praktische Schritte um den sogenannten Abtausch von der Ukraine und Syrien erfolgen. Es ist allerdings alles andere als selbstverständlich, dass ein solcher Abtausch tatsächlich Ergebnisse bringen wird.

    Erstens ist nicht wirklich klar, worin er bestehen könnte. Soll es um eine Änderung der Positionen des Westens zur Krim gehen? Diese Frage steht derzeit faktisch nicht auf der Tagesordnung. Formhalber abgegebene Verlautbarungen zählen nicht, und eine juristisch verbindliche Anerkennung der Zugehörigkeit der Halbinsel zur Russischen Föderation ist für den Westen unmöglich, was allen Beteiligten, auch dem Kreml, klar sein sollte. Geht es um eine Abkehr von der Osterweiterung der NATO und der EU? Wiederum: Da ohnehin weder Washington noch die europäischen Hauptstädte einen besonders starken Wunsch nach einer Erweiterung verspüren, könnten inoffiziell bestimmte Zusicherungen gegeben werden. Aber zum einen ist fraglich, ob Moskau ihnen Glauben schenken würde, zum anderen: Was soll mit dem Programm der schrittweisen Integration der Ukraine, Moldawiens und Georgiens in die EU geschehen, um das es sich ja beim Assoziierungs- und Freihandelsabkommen handelt? Soll sich Europa die russische Sichtweise mit einer Zukunft des Donbass' als Teil der Ukraine zu eigen machen? Berlin und Paris üben ohnehin schon maximal möglichen Druck auf Kiew aus, um von der Ukraine eine einseitige und vorgreifende Umsetzung des Minsker Abkommens in einer Auslegung zu erreichen, die für die DNR und LNR vorteilhaft ist. Weiterer Druck und Einmischungen in den konstitutionellen Prozess könnten dazu führen, dass das politische System der Ukraine destabilisiert wird und dass an die Stelle Petro Poroschenkos ein radikalerer Führer tritt, womit sich der Konflikt nur verstärken würde.

    Zweitens muss innerhalb der EU in einer ganz bestimmten Richtung gearbeitet werden. Es geht hier nicht um die berüchtigte „wertebasierte Politik“: Dass vor Kurzem die Sanktionen gegen Minsk ausgesetzt wurden beweist, dass Geopolitik und Pragmatismus Brüssel ganz und gar nicht fremd sind; nein, es geht um Prozeduren, auf denen die Union basiert. Im März 2015 hat der Europarat nämlich einen Beschluss gefasst (Paragraph 10 für jene, die es ganz genau wissen wollen), der unmissverständlich besagt, dass die gegen Russland gerichteten Sanktionen von der vollständigen Umsetzung des Minsker Abkommens abhängen, sprich, von der Rückgabe der Kontrolle über die Grenze an die Ukraine. Selbstverständlich ist dieses Dokument nicht in Stein gemeißelt, es kann durch ein anderes ersetzt werden. Doch dies kann nicht schnell geschehen. Zunächst wird eine öffentliche Diskussion entbrennen, dann schaltet sich das Europaparlament ein, und irgendwann werden sich die europäischen Führer überlegen, dass ihnen persönlich der politische Preis für die Aufhebung der Sanktionen zu hoch sein könnte.

    Drittens ist der Westen nicht mit der EU gleichzusetzen. Selbst wenn man für eine Sekunde die USA, Kanada und Australien außer Acht lässt, kann man doch eine andere überaus machtvolle politisch-bürokratische Maschinerie nicht ignorieren: die NATO. In den letzten anderthalb Jahren ist die transatlantische Allianz, wie man sagt, „zu ihren Wurzeln zurückgekehrt“ und orientiert sich nun gründlich in Richtung Abwehr von Sicherheitsrisiken ihrer Mitgliedsländer, die deren Ansicht nach vom Osten ausgehen. In einem Klima des gegenseitigen Misstrauens wird es sehr schwierig sein, die in Fahrt gekommene Allianz aufzuhalten. Moskau seinerseits wird wie gewohnt Gegenmaßnahmen ergreifen. Damit hätte eine Einigung in einzelnen Fragen der nahöstlichen Agenda keinerlei signifikante Bedeutung.

    Zuletzt das Wichtigste: Der russisch-ukrainische Konflikt an sich wird nicht einfach verschwinden. Selbst wenn eine weitere Eskalation im Osten der Ukraine vermieden werden kann, bekommt es der Westen, allen voran die EU, mit russischen Sanktionen gegen Kiew zu tun, die im Januar eingeführt werden, wenn die bereits erwähnte Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU in Kraft tritt. Hinzu kommt die Umschuldung, der Gastransport durch die Ukraine und der Ankauf von russischem Gas für den innerukrainischen Bedarf, Fragen von europäischen Bürgern und Unternehmen zur Krim, gegen die die Sanktionen ganz sicher nicht aufgehoben werden etc. Sollte dann jemand die Nerven verlieren und der Osten wieder in Flammen aufgehen, so kann man sämtliche Entwürfe einer möglichen Aussöhnung sofort zu Grabe tragen.

    Leider hat der Konflikt zwischen Russland und dem Westen für den heutigen Tag systemischen Charakter und geht weit über die Grenzen der Meinungsverschiedenheiten zur Ukraine und zu Syrien hinaus. Dieser Konflikt schwelte schon lange und er wird nicht schnell überwunden werden können, schon gar nicht durch irgendeinen „Abtausch“.

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