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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Meine Nummer eins sind die Kriegsgefangenen“

    „Meine Nummer eins sind die Kriegsgefangenen“

    Es war eine dieser im Krieg so seltenen guten Nachrichten: Beim Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine am 18. Oktober ist unter den 95 aus russischer Kriegsgefangenschaft befreiten Ukrainern auch der Menschenrechtler und Journalist Maxym Butkewytsch.  

    Butkewytsch, geboren 1977, trat zum ersten Mal, damals als Siebtklässler, während der sogenannten „Revolution auf Granit“ 1990 öffentlich für eine unabhängige Ukraine auf. Später wurde er Journalist und Menschenrechtsaktivist mit Überzeugungen zwischen christlichen Werten, Anarchismus und Pazifismus.  

    Im Zuge des Euromaidan, der folgenden russischen Annexion der Krym und dem von Russland forcierten Krieg im Osten der Ukraine baute Butkewytsch mit Kollegen das unabhängige Radio Hromadske und das Menschenrechtszentrum mit Medienplattform Zmina auf. Er engagierte sich besonders für Binnenvertriebene und -Flüchtlinge in der Ukraine. 

    Als Russland im Februar 2022 die Ukraine mit seinem vollumfänglichen Angriffskrieg überzieht, meldet sich Butkewytsch freiwillig zum Militär. Im Juni 2022 gerät er in der Oblast Luhansk in russische Kriegsgefangenschaft. Dort wird er im März 2023 von einem russischen Besatzungsgericht zu 13 Jahren Haft verurteilt, weil er in Sewerodonezk mit einer Panzerfaust auf ein Wohngebäude geschossen haben soll. Seine Einheit war zu diesem Zeitpunkt nicht dort, wie Kameraden und Angehörige von Butkewytsch betonen.  

    Mit Butkewytschs Freilassung im Oktober ist zum ersten Mal ein in Russland verurteilter ukrainischer Militärangehöriger ausgetauscht worden. Erstmals kann jemand direkt vom Ablauf und den Bedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft und Gerichtsverfahren im Krieg berichten. Kurz nach seiner Ankunft in Kyjiw gibt Butkewytsch mehrere Interviews: Dieses Gespräch mit seinen Kolleginnen von Hromadske Radio ist das allererste, nach gerade mal fünf Tagen in Freiheit.  

    Dieses Interview ist ein Anfang, über das Erlebte zu sprechen. Denn mit der Befreiung beginnt ein komplizierter Verarbeitungsprozess. Das Befragen ehemaliger Kriegsgefangener ist – und das zeigt auch die YouTube-Aufzeichnung des Interviews – schwierig, will man Retraumatisierung vermeiden. Die ukrainische Medien-NGO Instytut massowoji informaziji (dt. Institut für Masseninformationen, IMI) hat dazu Tipps einer ehemaligen Kriegsgefangenen veröffentlicht. Das Wichtigste: Der befragte Mensch bestimmt den Ablauf. 

    Maxym Butkewytsch kurz nach seiner Freilassung in Kyjiw, Foto © Ruslana Krawtschenko/Hromadske Radio
    Maxym Butkewytsch kurz nach seiner Freilassung in Kyjiw, Foto © Ruslana Krawtschenko/Hromadske Radio

    Hromadske Radio: Wie geht es dir? 

    Maksym Butkewytsch: Mir geht es wunderbar. So gut ist es mir in den letzten zwei Jahren und vier Monaten nicht gegangen. Wahrscheinlich sogar in den letzten zweieinhalb Jahren nicht. Wahrscheinlich bin ich glücklich. Ich erlebe etwas, das die Menschen Glück nennen. Generell und in vielen kleinen Momenten über den Tag verteilt – wenn ich Dinge sehe, die ich kannte und vergessen hatte, wenn ich Menschen treffe, die mir nah sind und mit denen ich jetzt reden kann, den einen oder anderen sogar sehen. Das ist wunderbar. Natürlich hat das alles auch seine Schattenseiten.   

     

    Unsere Zuschauer wissen ja, wie lange du festgehalten wurdest. Aus den ersten Videos und Informationen aus der Strafanstalt haben wir geschlossen, dass dein Zustand nicht sehr gut war, sich mit der Zeit aber besserte. Erzähle ein bisschen darüber. 

    Ich denke, eines der ersten Videos war aus dem Untersuchungsgefängnis Luhansk. Die Soldaten stehen aufgereiht an einer Wand. Es heißt, wir seien in Hirske und Solote gefangengenommen worden. Das war eine PR-Aktion. Dafür haben sie die erstbesten Kriegsgefangenen genommen. Darunter waren natürlich Leute, die an diesen Orten gefangengenommen wurden. Wir aber wurden woanders gefangengenommen.  

    Selbst bei so unwichtigen Dingen, bei denen es keinen Sinn macht zu lügen, gab es keine Wahrheit.  

    Was meinen Gesundheitszustand betrifft – ich hatte Probleme, allem voran mit einer Verletzung, die mir am zweiten Tag nach der Gefangennahme zugefügt wurde. Das war auf dem Weg nach Luhansk. 

    Die Verletzung stammte von einem Holzknüppel, mit dem ich geschlagen wurde, ich weiß nicht mehr wie oft, aber ich denke, ziemlich oft. Mein Arm war daraufhin für einige Zeit teilweise bewegungslos. Zum Glück heilte es irgendwie. Ich befürchtete einen Bruch, aber es war keiner. Ob davon etwas geblieben ist, werden wir bald erfahren, es sind Untersuchungen geplant. 

     

    Es gab noch ein Video, in dem ihr zur sogenannten Luhansker Beauftragten für Menschenrechte gebracht wurdet und angeblich Verwandte anrufen durftet. Damals kam ich für mich zu dem Schluss, dass sie sich auf ihre Weise noch immer mit euch beschäftigten, obwohl seit der Gefangennahme schon etwa ein halbes Jahr vergangen war. 

    In den ersten Wochen war es natürlich am intensivsten, da wurden wir von Personen aus verschiedenen Strukturen befragt. Man konnte nur raten, welche Strukturen das waren, denn selbstverständlich hatte niemand die „dumme“ Angewohnheit sich vorzustellen. Dann war da noch die eher formale Prozedur des Ministeriums für Staatssicherheit der sogenannten Volksrepublik Luhansk. Danach kehrte für einige Zeit Ruhe ein. 

    Später, im September 2022, wurde ein sogenanntes Strafverfahren gegen mich eingeleitet. Das war eine Woche vor dem Treffen mit der „Beauftragten für Menschenrechte“ der „Volksrepublik Luhansk“. Dieses Treffen war eine Überraschung für uns. Denn sie kam mit einem Mitarbeiter der UNO-Menschenrechtskommission. Danach beschäftigte man sich aufgrund des Strafverfahrens mit mir. 

     

    Du bist einer der ersten Ausgetauschten, den die Russen in einem Fake-Prozess verurteilten, aber schließlich zum Austausch freigaben. Und das, obwohl in den ukrainischen Menschenrechtskreisen im letzten Jahr große Unsicherheit und Zweifel darüber bestanden, ob die Russen verurteilte Kriegsgefangene herausgeben würden. Erzähl bitte, ob zwischen verurteilten und nicht verurteilten Gefangenen unterschieden wurde, wie ihr behandelt wurdet und wozu das alles war. 

    Wir hatten Informationen darüber, dass im letzten oder in den beiden letzten Austauschen Verurteilte gewesen waren, aber wir konnten das nicht überprüfen. Informationen kommen zwar zu den Gefangenen, aber oft spät und unvollständig. Viele Männer waren besorgt, dass keine verurteilten Kriegsgefangenen ausgetauscht würden. Zumindest in der Oblast Luhansk. Darin waren wir uns sicher. Weil in der Oblast Luhansk unseres Wissens alle verurteilten Kriegsgefangenen in derselben Strafkolonie festgehalten wurden. Dort war auch ich – in der früheren Strafkolonie Nr. 19, jetzt Strafkolonie Nr. 2 des Föderalen Strafvollzugdienstes Russlands in der „Volksrepublik Luhansk“. 

    Wir Verurteilte befanden uns dort gemeinsam mit anderen, die nach dem [russischem – dek] Strafrecht verurteilt worden sind. Es ist eine Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen für sogenannte „Erstsitzer“, für solche also, die zum ersten Mal im Freiheitsentzug sind. Andere Kriegsgefangene gab es dort nicht. Sie befinden sich in anderen Strafkolonien der Oblast Luhansk, die sich durch ihre Haftbedingungen unterscheiden.  

    Der Umgang und die Haftbedingungen waren in der Strafkolonie eher zum Leben geeignet.

    Ich könnte nicht sagen, dass es eine spürbare Unterscheidung zwischen verurteilten Kriegsgefangenen und „normalen“ Verurteilten gab, jedenfalls meistens nicht. Obwohl es für Kriegsgefangene natürlich zusätzliche Beschränkungen gab. 

    Sie waren zu bestimmten Arbeiten nicht zugelassen, und noch andere Dinge. Aber es war nicht belastend. Im Großen und Ganzen war der Unterschied zwischen der Strafkolonie, in der wir uns aufhielten, und dem Untersuchungsgefängnis, wo wir zuvor noch als Kriegsgefangene gewesen waren, sehr groß. Der Umgang und die Haftbedingungen waren in der Strafkolonie eher zum Leben geeignet

    Wir waren gemeinsam mit anderen Verurteilten untergebracht. In denselben Baracken und denselben Blocks. Wir gingen zu derselben Arbeit, aber nicht zu allen Arbeiten waren Kriegsgefangene zugelassen. Wir aßen in derselben Kantine. 

     

    Arbeit – meinst du damit, dass man euch zwang zu arbeiten?  

    Genau. Eine andere Sache ist, dass nicht alle dazu gezwungen wurden und nicht jeder zu allen Arbeiten. Als meine verurteilten Kameraden und ich vor mehr als einem Jahr dorthin gebracht wurden, teilte man uns inoffiziell mit, dass das Arbeiten verpflichtend sei. Und dass eine Verweigerung bestraft würde.  

     

    Aus manchen Strafkolonien hört man, dass die Gefangenen dort russische Militäruniformen nähen. 

    Ich habe von Strafkolonien gehört, in denen genäht wird. Ob Uniformen, habe ich nicht gefragt. Aber das waren Strafkolonien in Russland. In der Oblast Luhansk werden Kriegsgefangene hauptsächlich für Wartungsarbeiten und Arbeiten zur Aufrechterhaltung des täglichen Lebens im Wohnbereich eingesetzt. Aufräumen, Lasten transportieren, Bordsteine streichen, Reparaturarbeiten. Im Industriegebiet arbeiten natürlich kaum Kriegsgefangene. Meistens gab es dort aber auch kaum Arbeit. Die Industriezone ist sehr klein, von ihr ist fast nichts übrig. Sie wurde in den zehn Jahren davor ziemlich heruntergewirtschaftet. 

     

    Du bist Armeeangehöriger und nun ehemaliger Kriegsgefangener, darüber hinaus bist du Menschrechtsaktivist. Als du den Russen in die Hände fielst, hattest du eine Ahnung, was weiter passieren würde – weil du ja an Menschenrechtsaktivitäten zum Schutz und zur Befreiung von ukrainischen Häftlingen teilgenommen hattest? 

    Ich hatte vage Erwartungen, die sich nicht bewahrheiteten. Allem voran muss ich sagen, dass ich überhaupt nicht erwartete, in Gefangenschaft zu geraten. Dieser Gedanke tauchte nur als eine der Varianten auf, wie es weitergehen könnte, aber niemand stellte sich darauf ein, niemand war bereit dafür. Das waren hauptsächlich Leute, die 2022 in Gefangenschaft gerieten. Sie hatten sich darauf vorbereitet, 300er [verwundet – dek] oder 200er zu werden.  

    Als wir bereits in Gefangenschaft waren, hatten wir entweder die allerschlimmsten Erwartungen, die nichts mit dem internationalen humanitären Völkerrecht gemein hatten, oder solche, die sich zumindest irgendwie mit dem humanitären Völkerrecht und der Genfer Konvention in Zusammenhang bringen ließen … Ein Lager für Kriegsgefangene … Wie sieht ein Lager für Kriegsgefangene aus? Wer weiß das schon, bevor er nicht selbst dort gewesen ist. Alles war ganz anders. Und ich kam erst nach einiger Zeit dahinter, dass man uns in einem Untersuchungsgefängnis festhielt. 

    Wie sieht ein Lager für Kriegsgefangene aus? Wer weiß das schon, bevor er nicht selbst dort gewesen ist.

    Später wurde uns klar, worin sich der Umgang mit den Menschen, die dort einsaßen, weil sie eines Verbrechens beschuldigt wurden, unterschied. Und er unterschied sich deutlich. Besonders 2022. Und ganz besonders bis Anfang Oktober 2022. Danach kam „offiziell“ Russland, was gewisse Änderungen mit sich brachte … Kam „offiziell“, weil Russland von dort in den Jahren zuvor ja nie weggegangen war. Aber es wurden einige Praktiken geändert, damit sie nicht allzu skandalös waren. Manche blieben gleich, mache wurden geändert. Um ehrlich zu sein, erwartete ich kein Strafverfahren. Dieser Teil war eine Überraschung für mich. 

     

    Wurde der Prozess gegen dich begonnen, weil du Menschenrechtsaktivist bist? 

    Ich weiß es nicht, ich glaube nicht, dass das der eigentliche Grund war.  Denn die meisten, fast alle Kriegsgefangenen, die in der Oblast Luhansk in solchen „Verfahren“ verurteilt wurden, wurden nach ein und demselben Schema verurteilt. Es waren absolut typische Strafverfahren. 

    Aber ich war der Erste, der verurteilt wurde, vielleicht auch der Erste, gegen den ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Das könnte damit zusammenhängen, dass ich Menschenrechtsaktivist bin, denn bei den Verhören wurde natürlich – neben den Kampfhandlungen und meiner Einheit – besonderes Augenmerk darauf gelegt, was ich in meinem früheren Leben und im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit gemacht habe.  

    Vielleicht ist das tatsächlich der Hauptgrund dafür, dass ich der Erste war … Unter den verurteilten Kriegsgefangenen waren Menschen unterschiedlicher geografischer Herkunft, unterschiedlichen militärischen Rangs, mit verschiedenen militärischen Funktionen sowie Berufen im zivilen Leben. Es war ein Querschnitt durch die ukrainische Armee, wirklich sehr unterschiedliche Menschen.  

    Der menschliche Verstand sucht immer nach einem System, einer Gesetzmäßigkeit, aber wir fanden nichts. 

    Und wir versuchten in den Strafverfahren, in den Details im Umgang mit uns und der Unterbringung in den Zellen, ein System zu finden. Der menschliche Verstand sucht immer nach einem System, einer Gesetzmäßigkeit, aber wir fanden nichts. Manchmal hatten wir den Eindruck, ein Zufallsgenerator sei am Werk: „Wen sollen wir heute zum Kriegsverbrecher machen?“ 

    Noch dazu war offensichtlich, dass sie im August und Anfang September 2022, als die sogenannten „Untersuchungen“ zu meinem Strafverfahren durchgeführt wurden, große Eile hatten. Sie wollten so viele Menschen wie möglich nach diesem Schema verurteilen. Womit das zusammenhing, weiß ich nicht, aber vielleicht mit dem Zeitpunkt der formalen Annexion der „Volksrepublik Luhansk“ durch Russland. 

    Aber sie schafften es nicht. Deshalb kam es zu einer Pause von mehreren Monaten. Und danach hatten sie von manchen Formularen bereits die russische Version ausgefüllt. Zuvor waren es die Formulare der „Volksrepublik Luhansk“ gewesen, obwohl das Verfahren die ganze Zeit vom Russischen Ermittlungskomitee geleitet wurde. Verurteilt wurde ich bereits „im Namen der Russischen Föderation“. 

     

    Ich habe eine Frage zu jenen, die zurückgeblieben sind. Alle Kriegsgefangenen, die freikommen, reden immer von denen, die zurückgeblieben sind – sicher hast auch du eine Liste jener im Kopf, die noch dort sind. Aber ich frage dich im Zusammenhang damit, was du weiter tun wirst. Du hast einige Optionen, inwieweit könnten die Menschenrechte zum jetzigen Zeitpunkt eine Option sein? 

    Was meine weiteren Optionen betrifft, vermeide ich derzeit noch, eine mehr oder weniger endgültige Entscheidung zu treffen. Denn Optionen habe ich zum Glück einige. Es ist toll, mehrere Optionen zu haben. Sogar in der Situation, in der wir uns jetzt befinden – mit „uns“ meine ich die Ukraine. 

    Ich versuche, mir Möglichkeiten offen zu halten, einfach um zuerst verstehen zu können, was sich in den zweieinhalb Jahren verändert hat. Ich brauche genug Informationen. Aber ja, die Menschenrechte sind eine dieser Optionen. Wahrscheinlich die führende. Die Menschenrechte sind mein Leben. Sie sind ein Teil dessen, was den Kern meines Lebens ausmacht. 

    Es ist toll, mehrere Optionen zu haben. Sogar in der Situation, in der wir uns jetzt befinden – mit ‚uns‘ meine ich die Ukraine. 

    Aber in welcher Form das stattfinden wird, wird sich noch zeigen. Und natürlich wird mich das Thema jener, die ihre Heimat gegen ihren Willen verlassen mussten, immer begleiten. Das Thema Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge. Auch der Kampf gegen Diskriminierung und ungleiche Behandlung hat für mich an Relevanz gewonnen … das Thema der freien Meinungsäußerung und des freien Denkens hat neue Schattierungen angenommen, Dinge, die auch zuvor wichtig waren. 

    Mein Interesse für das Thema Strafvollzug wurde geweckt. Ich weiß jetzt einfach viel mehr darüber … 

    Aber natürlich sind unsere inhaftierten Kriegsgefangenen, sowohl die verurteilten als auch jene, die ohne Urteil festgehalten werden, mein Thema Nummer eins, der „Nagel“ in meinem Kopf. Und die Zivilisten, die festgehalten werden oder verurteilt wurden, weil sie auf irgendeine Weise gegen die Okkupation waren. Im Gefängnisjargon werden sie „Politische“ genannt. 

    Das sind menschliche Tragödien. Es gibt Familien, die einsitzen. Manchmal ganze, manchmal halbe. 

    Diese Menschen haben es sehr schwer, weil sie so viel riskiert haben und sich die Ängste, die sie dabei hatten, bewahrheiteten. Und viele fürchten, dass in der derzeitigen Situation, in der es viele Kriegsgefangene gibt, jemand vergessen werden könnte, und das wäre falsch. Schließlich gibt es Menschen, die gegen das Gesetz ihrer Freiheit beraubt werden. Ohne „gerichtliche Urteile“. Unter ihnen sind sogenannte prewentywnyky. Sie stehen unter präventivem Arrest, weil sie früher bei den ukrainischen Streitkräften gedient haben, bei der Polizei, in staatlichen Strukturen oder ähnlichem gearbeitet haben, davon gibt es viele. Ich habe sie in der Untersuchungshaft und im Gefängnis getroffen. Das sind menschliche Tragödien. Es gibt ganze Familien, die einsitzen. Manchmal ganze, manchmal halbe. 

    Die Atmosphäre trägt dazu bei, dass etwa bei Nachbarschaftskonflikten zur einfachsten „Lösung“ gegriffen und denunziert wird. Und sofort verschwinden die Probleme gemeinsam mit dem Nachbarn.  

    Aber vor allem sind unsere Kameraden und Kameradinnen Menschen, die von dort zurückgeholt, dort herausgeholt werden müssen. Ihre Würde steht unter ständigem Druck, immer, jeden einzelnen Tag. Das sind Druck und Bedrohungen, die man niemals vergisst. 

     

    Du hast gesagt, dass du in diesen fünf ersten Tagen in Freiheit versuchst zu verstehen, was sich verändert hat. Vielleicht hast du schon irgendetwas bemerkt. Zum Beispiel in Kyjiw, das du heute zum ersten Mal in all der Zeit gesehen hast. 

    Wir waren die meiste Zeit in einem Reha-Zentrum und halten uns auch weiterhin dort auf. Ich habe heute zum ersten Mal die Hauptstadt gesehen und auch meine Heimatstadt ganz kurz. Ich hatte heute nicht den Eindruck, wie andere oft sagen, durch eine „völlig unbesorgte Stadt zu fahren, die versucht zu verdrängen, dass Krieg ist“. Sagen wir so: Die Stadt ist fast friedlich, aber doch nicht ganz, ist fast ruhig, aber doch nicht ganz. 

    Aber das sind meine ersten Eindrücke, ich werde weiter sehen. Überhaupt nehme ich wahr, dass sich viel verändert hat, der Krieg ist alltäglich geworden, als „verstünde er sich von selbst“. Armeeuniformen, Militärfahrzeuge, verschiedene Besonderheiten, die es in Friedenszeiten nicht gab. Sie werden offensichtlich einfach als Teil der Landschaft wahrgenommen, was 2022 noch nicht der Fall war, damals war das noch eine Extremsituation.

     

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  • Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Belarus spielt eine undurchsichtige Rolle bei der Verschleppung ukrainischer Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. Belarussische NGOs wie Nasch dom verfolgen schon länger, wie schon hunderte Kinder aus der Ukraine über Belarus letztlich nach Russland gebracht wurden. 

    Gleichzeitig holt Belarus immer wieder auch für kurze Zeit ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten zu sich ins Land: angeblich, um ihnen eine Auszeit vom Krieg zu ermöglichen. Diese ferienlagerartigen Projekte nutzen häufig die belarussischen Staatsmedien für ihre Propagandasendungen: Dann lassen sie die Kinder russische Propaganda nacherzählen und ideologische Phrasen aufsagen. Oft stellen die Moderatoren so lange Fragen zu Angriffen, Verletzungen und Todesfällen, bis die Kinder in Tränen ausbrechen.  

    Die ukrainische Menschenrechtsplattform Zmina hat diese Sendungen analysiert und fasst zusammen, wie die belarussischen Medien die ukrainischen Kinder dazu benutzen, russische Propaganda zu verbreiten. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tränen, TV und Traumata 

    In belarussischen Medien gibt es immer wieder Berichte, in denen Kinder aus den (von Russland – dek) besetzten ukrainischen Gebieten ihre Erlebnisse aus dem Krieg erzählen und dabei weinen. Es kümmert die Propagandisten nicht, dass solche Aufnahmen Traumatisierung und Retraumatisierung auslösen können. Dabei erwähnen sie oft, dass die Kinder den Angriff, die Verletzungen oder den Tod der Angehörigen eigentlich vergessen wollen. 

    Ein Beispiel dafür ist der Bericht des staatlichen Senders ONT über „Kinder mit besonderem Schicksal, die zur Rehabilitation in Belarus sind“. In dem Video erzählt eine 11- bis 12-jährige Weronika aus Horliwka von ihrer Freundin, die beim Brotkaufen getötet wurde. Während der Aufnahme wird das Kind buchstäblich zum Weinen gebracht. 

    Der gesamte Bericht basiert auf Retraumatisierung. 

    Das Gleiche passiert in einem Video auf dem YouTube-Kanal der Belteleradiokompanija. Bereits in den ersten Sekunden sagt dort ein Mädchen, dass dies ein „schmerzhaftes Thema“ sei, während ein anderes Kind weint. Die Autorin der Reportage, Daria Ratschko, setzt die Kinder jedoch weiter unter Druck und stellt ihnen unangenehme Fragen: Sie fragt nach den Angriffen, ob sie Angst hatten und ob es normal sei, dass dabei alle Fenster zerbrechen. Ratschkos gesamter Bericht basiert auf der Retraumatisierung der Kinder aus den besetzten Gebieten. 

    Genauso macht es ihre Kollegin Anastassija Benedisjuk in der Popagandadoku „Donbas. Belarus ist da“, zum Beispiel im Interview mit einem 11-jährigen David aus Mariupol. Zu Beginn des Films sieht man außerdem Mädchen vor der Kamera weinen, deren Namen nicht genannt werden. 

    „Russische Kinder mit russischen Pässen“  

    Ein anderes Propagandanarrativ in Belarus dreht sich um die Behauptung „ukrainische Nazis töten russische Kinder“. Russland würde sie dann retten und Belarus sei dabei ein märchenhaft ruhiges Land. Die Organisatoren der „Transporte“ seien Zauberer, die heilen und dabei helfen, die Schrecken der sogenannten Spezialoperation zu vergessen. 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    In einem Telegram-Video zeigen Kinder aus dem besetzten Teil der Region Cherson, die im März 2024 in Belarus waren, ihre russischen Pässe. Der Paralympiker und glühende Lukaschenko-Anhänger Alexej Talaj, eine Schlüsselfigur bei der Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten nach Belarus, kommentiert dazu im Video: „Das sind russische Kinder mit russischen Pässen.“ 

    Eine andere Propagandareportage des belarussischen Fernsehsenders CTV fokussiert sich indes auf Berichte über Minenverletzungen und andere Verwundungen von Kindern, wie etwa von Swjatoslaw Rytschkow. Swjatoslaw erzählt, er habe eine Schrapnellverletzung an der Lunge erlitten, als ein ukrainischer Panzer auf den Zaun seines Hauses zielte. Danach behauptet er, die Soldaten hätten keinen Krankenwagen zu ihm durchgelassen, stattdessen gemeint: „Lasst ihn sterben.“ 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tatsächlich war es jedoch das ukrainische Militär, das Swjatoslaw Rytschkow nach seiner Verletzung, welche die Journalistin auf dramatische Weise schildert, in ein Militärkrankenhaus in Bachmut brachte. Anschließend wurde er im Intensivwaggon eines Sanitätszuges ins St.-Nikolaus-Krankenhaus von Lwiw gebracht. 

    „Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen.“ 

    In einem anderen Fall brachte man 11 Kinder in die von Ksenija Lebedijewa moderierte Sendung „Das ist etwas anderes“ des Senders „Belarus“ und kündigte sie als Kinder aus „Orten der DNR“ an. Die Jugendlichen mussten berichten, wie sie die [russische – dek]  Besetzung ihrer Städte erlebten und was sich jetzt dort abspielt.  

    Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen, denn sie reproduzieren nur russische Narrative. So sprechen sie von der „militärische Spezialoperation“, sagen, dass „ukrainische Kämpfer die Stadt planlos beschießen“, dass „Russland sie rettet“ und dass „Mariupol sich zu erholen beginnt“. Auf Nachfrage der Moderatorin antworten die Kinder, dass sie „russische Kinder“ seien. 

    Einer der Jungen antwortet auf eine bewusst provokante Frage der Moderatorin: Wäre er älter, würde er in den Krieg ziehen, weil die Ukraine in sein Land gekommen sei und Leute wie ihn umbringe.  

    „Walerija hält ein Sturmgewehr.“ 

    Das Thema der anti-ukrainischen Militarisierung von Kindern und ihrer Bereitschaft, gegen die Ukraine zu kämpfen, wird von der belarussischen Propaganda häufig bespielt. Wie etwa in einem Bericht über den Aufenthalt von Kindern aus Donezk und Mariupol im Sanatorium Wolma im Juni 2022: 

    „Walerija Ljachowa hält ein Sturmgewehr. Sie sagt, sie habe keine Angst vor Waffen und sei bereit, noch heute für ihr Heimatland in den Krieg zu ziehen, doch sie sei noch nicht alt genug. Lera ist dreizehn…“ 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Besonders charakteristisch ist der in der Propaganda konstruierte Kontrast zwischen von „der EU, den USA und den Nazis“ ins Unheil gestürzten Kindern in den [russisch – dek] besetzten Gebieten der Ukraine und den glücklichen Kindern in Belarus, denen Batka eine glückliche und unbeschwerte Kindheit beschere. In verschiedenen Sendungen wird die Verbringung von Kindern aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Belarus als Abenteuer beschrieben, von Zauberern organisiert, die sie mit einem schönen Zug ins Märchenland bringen. Hier ist es ruhig, es gibt leckeres Essen und es wird gefeiert.  

    „Wir sind ein Volk“ 

    Belarussische Medien berichten außerdem häufig über Veranstaltungen, bei denen Kinder aus der Besatzung die russische Ideologie der „Dreieinigkeit der Völker“, der „russischen Welt“ und des „Unionsstaates“ verbreiten. 

    So sangen beispielsweise Kinder aus Horliwka nach der Neujahrsshow im Palast der Republik in Minsk, wahrscheinlich auf Anregung des Organisators Pawlo Tschulochin: „Wir sind eine Familie. Zusammen sind wir eine Rus‘ – Horliwka und Belarus!“ Oft werden ukrainische Kinder auch in Propagandaveranstaltungen gezeigt, in denen sie als „russisch“ und die besetzten Gebiete als „neue Regionen Russlands“ bezeichnet werden. Auch Alexej Talaj nennt in einem Video diese Gebiete einen Teil der Russischen Föderation und ein Mädchen aus der besetzten Region Donezk ein „russisches Mädchen“. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Im Video von einer Aufführung im belarussischen Kinderferienlager „Dubrawa“ verkündet gar der Kulturberater des russischen Botschafters, Sergej Afonin, ukrainischen Kindern aus den besetzten Gebieten seine ideologische Agenda: „Wenn die russischen Jungs erst das heilige Land im Donbas befreien, haben die Kinder schönste Aussichten auf ein Leben in den gelobten Ländern Russland und Belarus.“ 

    Für die Kinder werden außerdem Ausflüge zu „Orten des Ruhmes“ organisiert und diese Veranstaltungen aktiv in den Medien verbreitet. So wurden Kinder mit Behinderungen aus Donezk Teil einer Propagandakampagne der Alexej-Talaj-Stiftung zum Großen Vaterländischen Krieg und machten einen Ausflug zum „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“. Das Programm für Kinder aus Dokutschajewsk und Mariupol umfasste einen Besuch der Festung Brest

    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. / Video © Youtube-Kanal news.by

    „Niemanden kümmern die Interessen der Kinder“ 

    Onysija Synjuk, Rechtsanalystin am ZMINA-Menschenrechtszentrum, betont, dass sich niemand um die Interessen der Kinder kümmert, wenn ukrainische Kinder in Belarus so zu Propagandazwecken benutzt werden: „Niemand kümmert sich darum, dass solche Beiträge sowohl Sicherheits- als auch Datenschutzaspekte ignorieren, indem sie persönliche Informationen über die Kinder preisgeben. Außerdem werden die Kinder durch gewisse Fragen retraumatisiert.“ Die Expertin nimmt weiter an, dass die militarisierten und indoktrinierten Kinder aus den besetzten Gebieten später dazu benutzt werden, ihre Altersgenossen zu beeinflussen. 

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  • Die Hexen von Butscha

    Die Hexen von Butscha

    In der Kyjiwer Vorstadt Butscha hat sich die erste Freiwilligen-Flugabwehreinheit der Ukraine gegründet, in der nur Frauen dienen: Einerseits, weil es mit dem anhaltenden Krieg immer mehr an Männern mangelt. Andererseits, weil eigene Erfahrungen und Verluste durch den russischen Aggressor seit dem brutalen Massaker an der Zivilbevölkerung im Frühjahr 2022 diese Frauen zur Landesverteidigung motiviert. 

    Wenn der Arbeitstag als Ärztin oder Lehrerin endet, Kinder und Familie versorgt sind, dann kommen diese Frauen zum Militärtraining und schieben Bereitschaftsdienste bei der lokalen Flugabwehr: Nähern sich russische Drohnen oder Raketen vom Nordwesten der Hauptstadt, stehen die „Hexen von Butscha“ bereit, um die todbringenden Geschosse unschädlich zu machen. Ihre Vorgesetzten im Verteidigungsstab sind weiterhin Männer. Einer von denen sagt: „In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer.“ 

    Ein Reporter-Team des ukrainischen Onlinemediums Frontliner hat die erste Flugabwehr-Frauentruppe bei Militärübungen besucht und stellt einige der Kämpferinnen vor. 

    Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Eine zierliche Frau reinigt ein Maschinengewehr und gießt Wasser hinein. Sie erzählt: „Meine Aufgabe ist es, das Maschinengewehr mit Wasser zu füllen, es zu zerlegen und zusammenzubauen, das Wasser abzugießen und die Waffe in Kampfstellung zu bringen.“ Wie ein Maschinengewehr funktioniert, hat sie gelernt, als sie sich der Einheit „Hexen von Butscha“ anschloss, die den Himmel über der Region Kyjiw vor russischen Drohnen und Raketen schützt. 

    Die Gemeinde von Butscha beschloss aufgrund der demografischen Situation in der Stadt, die ersten mobilen Flugabwehrtrupps in der Ukraine zu bilden, die ausschließlich aus Frauen bestehen. Während der Besatzung von Butscha wurden fast alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, die die Stadt nicht verlassen konnten, umgebracht. Insgesamt wurden in der Stadt mehr als 600 Menschen getötet und zu Tode gefoltert. Die Russen erschossen in Butscha ganze Familien. Nach der Befreiung gingen viele Männer der Stadt an die Front. Der lokale Freiwilligenverband brauchte dann eine Fraueneinheit. 

    Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Zu den „Hexen von Butscha” gehören Frauen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlicher Bildung, aus verschiedenen Berufen und mit unterschiedlicher Lebenserfahrung. Doch jede hier sei eine Kämpferin, sagt der Stabschef mit Kampfnamen „Weles“ vom Freiwilligenverband Butscha: 

    „Männer sind stärker und eher bereit zu vehementem, aggressivem Handeln. Frauen dagegen sind reflektierter, organisierter und verantwortungsbewusster. Unsere ukrainischen Frauen sind Kosakinnen, sie sind vielen Orks überlegen. In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer“, so „Weles“. „Ein Kämpfer zu sein, bedeutet, mehr als Mann oder Frau zu sein. Dann ist man ein Mensch, der Verantwortung für sich selbst, für das Land und für die Menschen übernimmt, die er verteidigt.“ 

    Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Die Frauen gehen alle drei Tage in den Kampfeinsatz, dadurch können sie den Dienst mit ihrem zivilen Leben verbinden. Manche der „Hexen von Butscha” erziehen neben ihren Einsätzen zum Schutz des Luftraums noch zwei oder drei Kinder und arbeiten Vollzeit. Die Einwohner von Butscha statten den Freiwilligenverband mit Ausrüstung und Waffen aus. Geld bekommen die Kämpferinnen jedoch nicht, denn sie tun ihren Dienst bei der Flugabwehr als Freiwillige. 

    Die zwei unzertrennlichen Freundinnen „Mala” und „Forsash” sind gemeinsam der mobilen Flugabwehrtruppe beigetreten. Gemeinsam trainieren sie nun, Sturm- und Maschinengewehre zu reinigen, zu laden, damit zu schießen und in Abschnitten zu patrouillieren. Neben ihrem Dienst bei den „Hexen von Butscha” arbeiten sie in einem Krankenhaus. 

    Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    „Mala“, 26 Jahre  

    „Mala“ [ukr. die Kleine] ist Maschinengewehrschützin und lernt schnell den Umgang mit der Waffe. Es ist ein Maschinengewehr aus dem Jahr 1944, noch aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Sie nennt es liebevoll „Maximka“. Obwohl es aus dem letzten Jahrhundert stamme und ein vormodernes Wasserkühlsystem habe, schieße es gut, wenn es richtig gewartet werde, meint sie. 

     „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Mala“ trainiert seit einem Monat bei den „Hexen von Butscha”. Als der Freiwilligenverband die Rekrutierung von Frauen zur Flugabwehr ankündigte, schloss sie sich ihm sofort an. „Ich wollte schon länger dienen, denn in meiner Familie sind viele bei der Armee, aber ich kann nicht zu den Streitkräften gehen, weil ich als Ärztin in einem Krankenhaus arbeite“, sagt sie. 

    Eine zusätzliche Motivation, sich der mobilen Flugabwehrgruppe anzuschließen, war die schwere Verletzung ihres Freundes, der im Serebrjanka-Wald durch eine Mine sein Bein verlor. Ihr Freund bestärkte ihre Entscheidung, sich freiwillig zu melden, und plant auch selbst, nach der Rehabilitation seinen Dienst bei „Asow” fortzusetzen. 

    „Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    „Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    „Forsash”, 27 Jahre  

    Mit „Mala” im Team arbeitet „Forsash”. Sie dient als Ladeschützin und Fahrerin. Bei einem Luftangriff muss sie schnell das Maschinengewehr laden und in Gefechtsstellung bringen. Ihren Kampfnamen (ukrainischer Titel des Films „Fast & Furious” – dek) gab ihr der Waffenmeister, als er das erste Mal mit ihr als Fahrerin unterwegs war. 

    „Forsash“ meint, dass Schnelligkeit für die mobilen Flugabwehrtrupps essentiell sei, da die Shahed-Drohnen sehr schnell fliegen (etwa 200 Stundenkilometer – dek). Nur wenn man die Position rechtzeitig erreicht, kann man sie abschießen. 

    „Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Forsash“ kam vor einem Monat zu der Flugabwehreinheit, um ihre Angehörigen zu schützen. „Niemand möchte, dass seine Wohnung von einer Rakete getroffen wird. Ich habe hier meine Brüder, Schwestern, Freunde, Pateneltern und Patenkinder in Butscha“, sagt sie. Sie mag es, etwas Nützliches zu tun und freut sich, dass sie ihren Dienst im Freiwilligenverband mit ihrer Arbeit als Anästhesistin auf der Intensivstation im Krankenhaus von Irpin verbinden kann. 

    Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Sowohl „Mala” als auch „Forsash” arbeiteten während der Kämpfe um Butscha und unter russischer Besatzung weiter in der medizinischen Einrichtung. Nun sind sie froh, dass sie ihren Militärdienst mit ihrem Beruf verbinden können. Es sei zwar anstrengend, im Krankenhaus und in der Territorialverteidigung Schichten zu absolvieren. Dennoch sagen die Frauen, dass sie sich daran gewöhnt hätten und mit diesen Schwierigkeiten fertig würden. 

    „Tajana”, 41 Jahre  

    Während der Kämpfe um Butscha verlor „Tajana” ihren Mann, der seinen Beruf als Journalist aufgegeben und sich am ersten Tag der Invasion als Freiwilliger der Territorialverteidigung angeschlossen hatte. Ihre Mutter starb aufgrund der ständigen Stressbelastung durch die Kämpfe und auch ihr Schwager kam ums Leben. Während der Besatzung von Butscha wurde ihr Haus und auch das ihrer Eltern zerstört, sodass sie selbst ohne Dach über dem Kopf zurückblieb. Nach dem Tod ihrer Liebsten wollte „Tajana” sich den ukrainischen Streitkräften anschließen, was man ihr jedoch wegen ihrer Traumatisierung zunächst verwehrte.

    „Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Heute trainiert „Tajana” bei den „Hexen von Butscha” und arbeitet außerdem als Prüferin beim Wasserversorgungsunternehmen. Auch sie sagt, dass es schwierig sei, die Arbeit, ihren Dienst im Freiwilligenverband und die Erziehung ihrer 14-jährigen Tochter unter einen Hut zu bringen. Das Schwierigste sei jedoch nicht die körperliche Erschöpfung, sondern das Unverständnis vieler Menschen: „Nachdem ich mich hierzu entschied, sagten mir Leute: ,Hast du sie noch alle’, ‚Du hast Kinder‘, ‚Warum hast du das gemacht‘, ‚Dein Hauptberuf ist wichtiger, als den Staat zu schützen‘. In solchen Momenten wende ich mich ab und gehe, denn der Schutz unseres Staates ist für mich das Wichtigste, was wir haben.”  

    „Sie verstehen nicht, dass es ohne Sicherheit auch ihren Beruf nicht mehr gibt”,  sagt „Tajana” mit Tränen in den Augen. „Wenn es keine Ukraine mehr gibt, gibt es keine Arbeit, kein Leben, einfach nichts. Nur dank uns Freiwilligen, den Helfern und den Frauen und Männern an der Front, haben sie Arbeit, können schlafen und ihr Leben weiterleben.“ 

    Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Für „Tajana” war die Entscheidung, sich dem mobilen Flugabwehrtrupp anzuschließen, durch ihren persönlichen Schmerz bestimmt. Sie sagt, das Training bei den „Hexen von Butscha” habe ihr nach dem Tod ihres Mannes gutgetan. Nun habe sie das Gefühl, endlich wieder zu leben. 

    „Cherry”, 51 Jahre  

    „Cherry” ist durch Zufall bei den „Hexen von Butscha” gelandet. Eigentlich fuhr sie ihre Freundin zu einem Gespräch mit dem Kommandeur und beschloss dann kurzerhand, selbst dem Freiwilligenverband beizutreten. 

    Jetzt dient sie in der Einheit als operative Einsatzleiterin, fährt auf dem Territorium Patrouille und meldet Gefahren. Gleichzeitig arbeitet „Cherry” als Mathematik- und Informatiklehrerin und hat drei Kinder. Sie sagt, dass es schwierig werde, wenn im September die Schule beginne, doch sie möchte etwas zur Gemeinschaft beitragen. 

    „Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Trotz der körperlichen Herausforderungen genießt „Cherry” ihre Zeit bei den „Hexen von Butscha”. Sie sagt: „Jede hier ist sie selbst, man unterstützt und hilft sich gegenseitig.“ Jeder Ukrainer sollte seinem Land größtmöglichen Nutzen bringen. „Wenn jeder das Land wirklich liebt und schätzt und nicht so tut, als gehe ihn all dies nichts an, wenn jeder ein echter Patriot ist, dann werden wir auf jeden Fall gewinnen. Man darf einander nicht hängen lassen, sondern muss sich nach eigenen Kräften so gut wie möglich unterstützen“, so „Cherry”.  

    Sie ist froh, dass ihre Familie und Freunde ihre Entscheidung für die Territorialverteidigung unterstützen, und glaubt, dass auch ihre Schüler stolz auf sie sein werden. 

    „Kalypso“, 31, Kommandeurin der „Hexen von Butscha” 

    „Kalypso” kam als erste Frau zum Freiwilligenverband in Butscha. Mit ihr begann die Gründung der Fraueneinheit. Deshalb wurde sie zur Kommandeurin ernannt. 

    „Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Als die vollumfängliche Invasion begann, brachte sie ihre Mutter an einen sicheren Ort und griff selbst zur Waffe. Zunächst arbeitete „Kalypso” in einer schnellen Eingreiftruppe, welche die Gegend patrouillierte und Bombenschutzkeller kontrollierte, um sicherzustellen, dass sie während der Luftalarme nicht verschlossen waren. Außerdem beteiligte sie sich an der Bekämpfung von Saboteuren. Jetzt bildet sie neue Freiwillige aus, um den Himmel über der Region Kyjiw zu schützen. 

    Vor dem Krieg leitete Kalypso die Serviceabteilung einer Ladenkette, die Türen verkauft und arbeitete als Restaurantmanagerin. „Jetzt habe ich keine Zeit mehr für das zivile Leben und widme mich ganz meiner Arbeit im Freiwilligenverband. Es wäre toll, wenn in der ganzen Ukraine Frauen ihre Familien schützen könnten. Wir arbeiten im Team. Jede einzelne ist für die anderen da“, erzählt sie. 

    „Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Kalypso” ermutigt andere Frauen, sich den „Hexen von Butscha” anzuschließen. Sie sagt: „Wir haben zwar Waffen, aber nicht genügend Hände, um sie zu bedienen, also suchen wir ständig nach Freiwilligen. Viele Männer haben Angst, dass sie zur Armee eingezogen werden, wenn sie sich beim Freiwilligenverband melden, also rekrutieren wir Frauen.“ 

    „Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Laut Stabschef „Weles“ machen Frauen bereits mehr als die Hälfte im gesamten Freiwilligenverband von Butscha aus. Ihre Zahl ist jedoch nicht ausreichend, weshalb die Rekrutierung fortgesetzt wird, um die „Hexen von Butscha” aufzustocken. 

    „Weles” ist stolz auf die Frauen, die sich dem mobilen Flugabwehrtrupp angeschlossen haben: „Dank ihnen können die meisten Menschen in Kyjiw und unsere Bewohner in Butscha friedlich in ihren Häusern schlafen und reagieren oft nicht einmal mehr auf Luftalarm.“ 

    Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

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  • „Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt”

    „Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt”

     

    Belarussische Freiwillige kämpfen schon seit 2014 auf Seiten der Ukraine, mittlerweile sind es so viele, dass sie ihre eigene Einheit unter der ukrainischen Armeeführung haben: das Kastus Kalinouski-Regiment

    Was bringt Belarussen dazu, sich diesem Kampf im Nachbarland anzuschließen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Welche Konsequenzen hat dies für sie selbst, aber auch für ihre Familien in Belarus? Die ukrainische Journalistin Anhelyna Straschkulytsch hat einen freiwilligen Soldaten getroffen: Pawel Schurmei ist ein ehemaliger belarussischer Ruderer, der 2004 und 2008 für sein Land an den Olympischen Spielen teilnahm. Dem Online-Medium Ukraijanska Prawda hat Schurmei, der mittlerweile Kommandant des Kalinouski-Regiments ist, in Charkiw seine Geschichte erzählt.  

    Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht verabschieden 

    Die Frage, ob ich für die Ukraine in den Kampf ziehe oder nicht, stellte sich für mich im Februar 2022 gar nicht. Ich habe mich von klein auf für Geschichte interessiert. Die meisten Bücher, die ich darüber las, behandelten die Geschichte der UdSSR. Zum Großfürstentum Litauen, das Gebiet des heutigen Belarus, gab es nur ganz wenig im Sinne von: „Unterjocht von den polnischen und litauischen Feudalherren strebte das belarussische Volk einen Bund mit dem brüderlichen Russland an“.

    Mit der Zeit bekam ich mehr Wissen und ich begriff, dass alles, was ich früher gelesen hatte, eine Lüge war. Die sowjetische Macht hatte versucht, die belarussische Geschichte zu vernichten. Wir sollten nur von unserem „großen Bruder“ wissen, der alles für uns entschied: unser Schicksal, unser Leben, unseren Weg. 

    Bereits zu Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 überlegte ich, mich der ukrainischen Armee anzuschließen, tat es aber nicht, weil ich mir um meine Mutter in Belarus Sorgen machte. Das war ja eine Einbahnstraße. Die belarussischen Freiwilligen, die sich der Verteidigung der Ukraine anschlossen, konnten nicht mehr nach Hause zurückkehren. 2022 konnte ich nicht mehr anders, als für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Und nicht etwa wegen meiner ukrainischen Frau und die Familie – diese Horde muss einfach in die Schranken gewiesen werden. Die Russen waren schon in der Ukraine. Sind einfach einmarschiert, als wären sie da zu Hause. Haben Türen eingetreten, Menschen in die Knie gezwungen, ihnen Waffen an die Köpfe gehalten, Frauen, Mütter, Kinder vergewaltigt und umgebracht. Man hätte diese Wilden schon viel früher aufhalten müssen. 

    Ich war seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr in Belarus. Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht von ihr verabschieden. Ein paar Tage nach Beginn des großangelegten Kriegs bin ich aus den USA nach Polen geflogen und am 1. März in Warschau gelandet. Im dortigen belarussischen Zentrum versammelten sich Freiwillige. Belarussen im Warschauer Exil halfen mir, Ausrüstung und Medikamente zu besorgen. Polnische Sportruderer organisierten einen Kleinbus für mich, mit dem wir in die Ukraine fuhren. Bereits am Abend des 8. März kamen wir in Kyjiw an. 

    Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker 

    Am nächsten Tag verkündeten die belarussischen Freiwilligen die Gründung des Kastus-Kalinouski-Bataillons. Der Kommandant Jorik forderte alle auf, sich einen Kampfnamen auszusuchen. Hätte ich nicht Dzjadzka (dt. Onkel) genommen, hätte ich Babaj (dt. Waldgeist) geheißen. Aber das ist mir erst später eingefallen. Heiße ich also „Onkel“. Wenigstens nicht Tante. (lacht) Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und hatte viele Onkel. Sie waren kaum älter als ich, aber ich nannte sie trotzdem Onkel. Daraufhin begannen sie auch, mich Onkel zu nennen. So ist dieser Spitzname entstanden. 

    Zu Beginn waren die belarussischen Freiwilligen zusammen mit einer Einheit der Territorialverteidigung von Asow in Kyjiw stationiert. Man wollte uns nicht sofort als Kanonenfutter in den Kampf schicken, sondern ließ uns zuerst ein mehrwöchiges Anfänger-Training absolvieren. Nur wenige von uns hatten militärische Erfahrung, aber wir gaben uns Mühe, alles so schnell wie möglich zu lernen. Ich habe gute physische Voraussetzungen dafür, mit einer schweren Waffe zu laufen. So wurde ich MG-Schütze. Ich bekam ein leichtes Maschinengewehr und wurde zu meinem ersten Einsatz nach Irpin geschickt – das war zwischen 20. und 30. März. 

    Wir verbrachten dort sechs Tage. In der Region Kyjiw erlebte ich etwas, das ich nie vergessen werde. Zusammen mit einem ukrainischen Soldaten sollte ich ein Gebäude bewachen, aber nach einer halben Stunde starb er vor meinen Augen. Er wurde in der Leistengegend verletzt und verblutete innerhalb weniger Minuten. 

    Ende März kehrten wir aus Irpin zurück. Am nächsten Morgen unterschrieben wir unsere Verträge für den Dienst in den Streitkräften der Ukraine. In unserer Einheit bemühen wir uns, belarussisch zu sprechen. Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker. Dass ein Teil der belarussischen Bevölkerung die Landessprache nicht spricht, ist die Folge der systematisch auf die Vernichtung der Identität abzielenden russischen Politik. Russland versucht, alles Nationale auszurotten, damit seine Panzer problemlos durch unser Land rollen können. 

    Pawel Shurmei, Kommandant des Kalinouski-Regiments / Foto © privat
    Pawel Shurmei, Kommandant des Kalinouski-Regiments / Foto © privat

    Lukaschenko ist ein Leibeigener Putins. Putins Regime hat Belarus okkupiert, und Lukaschenko hat seine Heimat verkauft, um an der Macht zu bleiben. Solange Lukaschenko an der Macht ist, wird die Ukraine in Gefahr sein. Denn am 24. Februar 2022 fuhren von Belarus aus Militärkolonnen in die Ukraine ein. Raketen wurden von belarussischem Boden aus abgefeuert. Am Anfang schrie Lukaschenko: „Kyjiw in drei Tagen“. Ich glaube, er hätte sich dem Krieg angeschlossen, wenn Putin schnell Erfolg gehabt hätte. Und er wäre zur Parade der Russen in Kyjiw gekommen. Aber als er sah, dass Russland vorerst scheiterte, mischte er sich lieber nicht ein und wartete ab, wohin das Ganze führen würde. Er versucht, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, aber das kann sich jeden Moment ändern. Zudem kann Russland ihn jederzeit gegen einen angenehmeren Leibeigenen austauschen. Lukaschenko ist ein Monster, das sich alle Optionen offenhalten will, um so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Und solange er an der Macht ist, ist die Ukraine nicht vor Panzern und Raketen aus dem Norden sicher. Das Training russischer Soldaten und die Stationierung russischer Atomwaffen auf belarussischem Gebiet sind zumindest dazu da, den Ukrainern, Europäern und der NATO Angst einzujagen. Und im schlimmsten Fall dazu, die Ukraine oder Litauen von belarussischem Gebiet aus mit taktischen Kernwaffen anzugreifen. 

    Wenn wir gefragt werden: „Wollt ihr Kalinouski-Kämpfer den Krieg etwa nach Belarus bringen?“, verneinen wir das natürlich. In der Ukraine sehen wir, was Krieg bedeutet, im Gegensatz zu Lukaschenko und seinen Generälen, die der Meinung sind, die alles nur für ein Spiel halten. Indem sie sich in Putins Leibeigenschaft begeben haben, haben sie Belarus in eine Lage gebracht, in der das Volk erleben kann, was Krieg bedeutet. 

    In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig 

    Wenn die Belarussen denken, es hänge nicht von ihnen ab, riskieren sie, den Krieg am eigenen Leib zu erfahren. Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 war das Volk irrtümlich der Meinung, die Situation im Land mit friedlichen Protesten ändern zu können. Die Menschen hofften, Lukaschenko und der ganzen Welt zeigen zu können, dass er keine Mehrheit hinter sich hat. Aber die Leute müssen kapieren, dass nichts im Leben gratis ist. Sie müssen endlich den entscheidenden Schritt tun. Der kann sie die Freiheit kosten, die Gesundheit, das Leben, aber ohne diesen Schritt wird nichts passieren. Die Ukraine ist an diesem Punkt angelangt. Ich weiß nicht, ob die Belarussen schon verstanden haben, dass in Belarus ohne Blutvergießen leider keinen Machtwechsel geben kann. 

    In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig. Eine Woche nach den Wahlen stattete er einer belarussischen Fabrik einen Besuch ab. Die Arbeiter schrien ihm entgegen: „Hau ab! Du kannst uns mal!“ Lukaschenko reagierte schockiert: „Wie kann das sein? Wie könnt ihr so was sagen?“ Manche denken, dass Russland damals bereit war, seine Truppen nach Belarus zu schicken, um die Proteste niederzuschlagen. Aber dann wäre diese Geschichte ganz anders verlaufen. Die Belarussen müssen verstehen, wenn sie nach dem Prinzip leben: „Das hängt nicht von mir ab, das geht mich nichts an, das ist nicht meine Entscheidung“, dann werden die Entscheidungen tatsächlich von anderen getroffen. 

    In unserer Einheit sind viele Freiwillige, denen das Jahr 2020 im Bezug auf die Situation in Belarus und den russischen Einfluss auf Belarus die Augen geöffnet hat. Damals wanderten viele von ihnen in die Ukraine aus und schlossen sich später den Ukrainischen Streitkräften an. In meinem Leben gab es noch einen bezeichnenden Moment. Ich hatte in Belarus einen Freundeskreis, in dem ich einer der Jüngsten war. Viele meiner Freunde hatten in der Sowjetarmee gedient. Sie waren mit Lukaschenko immer unzufrieden, fanden aber Putin ganz in Ordnung. Nach 2014 fingen unsere Treffen oft friedlich an, es kam aber dann fast zu Schlägereien. Auch wenn sie es nicht ganz ernst meinten, nannten sie mich „Ukro-Yankee-Schwein“ und „Bandera-Jude“. Aber nach 2020 verstanden fast alle – acht bis neun von zehn Leuten – dass Putin noch schlimmer als Lukaschenko ist. Sie haben es am eigenen Leib erfahren. 

    Wissen Sie, wenn man überlegt, wieso man für den Nachbarn kämpfen soll, muss man sich bewusst machen, dass man selbst als Nächster dran ist. Es gibt eine Redewendung: „Jedes Volk hat den Führer, den es verdient“. Das trifft leider auch auf Belarus zu. Belarus ließ sich 1994, als nach dem Zerfall der Sowjetunion alle Stabilität, medizinische Versorgung und anständige Löhne forderten, von einem Kolchosendirektor die Ohren vollschwafeln: „Ich hole alles zurück. Ihr werdet alles haben.“ Tja, seit mehr als 30 Jahren „haben wir alles“ … 

    In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott 

    Die Familien der belarussischen Freiwilligen, die für die Ukraine kämpfen, sind in Gefahr. Sobald der belarussische Geheimdienst von so etwas erfährt, fängt es an mit Hausdurchsuchungen, die Familien werden verhört und strafrechtlich verfolgt, es werden Anklagen erhoben, Eigentum wird konfisziert, sie werden gezwungen sich vor der Kamera von ihren Familienmitgliedern loszusagen – und diese Videos werden im Fernsehen gezeigt. Sogar die Eltern oder die 70-, 80-jährigen Großeltern unserer Jungs und Mädels werden zu Verhören geladen. 

    Die Repressionen in Belarus sind brutal. Die Freiwilligen können Anrufe vom Handy des Vaters oder der Mutter bekommen, und dann zeigt man ihnen, wie diese gefoltert werden – wie man ihnen die Fersen verbrennt oder sie schlägt. Sie können mit den Menschen absolut alles machen, können sie sogar totschlagen, ohne dass ihnen etwas passiert. In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott. Unabhängigen Rechtsanwälten wurde die Lizenz entzogen. Man kann sich keinen rechtlichen Beistand mehr holen. In Belarus ist es immer sehr brutal zugegangen, aber seit 2020 haben sich die Repressionen noch weiter verschärft. 

    Die belarussischen Freiwilligen stehen unter besonderer Beobachtung der Geheimdienste. Denn oppositionelle bewaffnete Verbände sind für Lukaschenko die Gefahr Nummer 1. Die belarussische Führung hat große Angst vor dem Kastus Kalinouski-Regiment. Deshalb haben Lukaschenkos Agenten es besonders im Visier. Im März 2023 wurde ich in Belarus angeklagt – „wegen Extremismus und der Teilnahme an den Kampfhandlungen auf der Seite der Ukraine“. Und Anfang Juni 2024 in Russland. Wie ich davon erfahren habe? Im März letzten Jahres bekam ich plötzlich Anrufe von meinen Bekannten, die mir gratulierten und sagten, ich sei nun ein Belarusse mit Gütesiegel. Bei uns gibt es einen Witz: Wenn du in Belarus vor Gericht kommst, hast du alles richtig gemacht.  

    Später begannen mir Journalisten zu schreiben und baten mich zu kommentieren, baten mich um Stellungnahmen und fragten, wie es mir gehe. Wie soll es mir schon gehen? Wir sitzen hier beisammen, unterhalten uns, und jeden Moment kann eine Rakete einschlagen. Was soll eine Anklage in Belarus oder Russland schon ändern? Manchmal scherze ich, dass ich gerade nicht persönlich nach Russland fliegen kann, deshalb schicke ich stattdessen eine Drohne. 

    Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, bis die Ukraine, Europa oder Amerika unser Schicksal entscheiden. Wir sind selbst die Herren unserer Zukunft. Geholfen wird nur denen, die kämpfen. 

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    „Der Westen sollte alles vergessen, was er bisher über die Ukraine wusste“

    Am heutigen Dienstag, 21. Juni 2022, ist der 118. Tag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Den 100. Tag des Kriegs am Freitag, dem 3. Juni, hatten zahlreiche Medien genutzt, um in Analysen, Hintergründen, Interviews die hundert Tage zu reflektieren, die Europa schon jetzt grundlegend verändert haben.

    Für das ukrainische Online-Medium zbruc.eu hat Juri Andruchowytsch einen Text dazu verfasst. Andruchowytsch, der aus Iwano-Frankiwsk in der Westukraine kommt, dem historischen Galizien, ist eine der weltweit bekanntesten literarischen ukrainischen Stimmen. Seine Gedichte, Essays und Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und international ausgezeichnet, auch in Deutschland, etwa mit der Goethe Medaille (2016) oder dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2006). 

    Andruchowytschs Text ist allerdings nicht am 100. Tag, sondern am 107. Tag des Krieges erschienen. Also nach dem runden Datum, aber noch bevor sich Olaf Scholz zusammen mit weiteren europäischen Staats- und Regierungschefs Ende vergangener Woche für einen baldigen EU-Kandidatenstatus für die Ukraine ausgesprochen hat. Vermutlich hätte es Andruchowytschs sehr grundlegenden Text nicht geändert – von dem er selbst schreibt: „Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen.“ dekoder hat ihn aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt.

     

    © zbruc.eu
    © zbruc.eu

    Zum 100. Kriegstag hat es bei mir [mit einem Text] nicht geklappt, aber am 100. haben auch ohne mich alle über den 100. gesprochen. Genauer gesagt, nicht nur über den 100., sondern über alle 100 Tage, die dieser miteinschließt.

    Und das ist nicht verwunderlich, im Gegenteil: 100 Tage sind vermutlich die erste bedeutende politische Zeiteinheit. Die wohl, wie unschwer zu erraten, mit Napoleons 100 Tagen begonnene Methode, 100 Tage nach Beginn jedes beliebigen Prozesses ein Fazit zu ziehen, gefiel und bürgerte sich ein. Mittlerweile ist es nicht nur eine Methode, sondern eine ganze Methodik, um nicht zu sagen eine Methodologie: 100 Tage neue Regierung, 100 Tage missglückte Reform, 100 Tage Diktatur, 100 Tage Pandemie, Protest, Regen, Überschwemmung etc.
    Ich denke auch an die Hundert Tage, Genosse Soldat. Hier werden jedoch die Tage bis zur Entlassung aus der Armee heruntergezählt, es geht um eine Verminderung, um eine Reduktion, eine Regression, eine Reversion. Also um die Annäherung an die gierig herbeigesehnte, wunderbare Null, mit der die neue Freiheit beginnt. 

    Heute aber sind wir in der gegenteiligen Situation: Vermehrung, Progression und Aversion. Vor einer Woche war der 100., heute ist der 107. Tag des Krieges, den man häufig großangelegt nennt. In meinen Augen ist er aber noch nicht vollumfänglich. Zur Vollumfänglichkeit fehlt ihm nicht viel: die Generalmobilmachung zum Beispiel, oder ein Atomschlag. Das wissen alle und alle denken daran.

    Auch ich denke daran, und ein paar Gedanken habe ich hier versammelt, eigentlich ist es ein ungeordnetes Wirrwarr an Gedanken. Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen. Wenn es denn noch jemanden geben wird, der es lesen und dem man es vorlesen kann. Dennoch sammle ich.

    Punkt für Punkt also. Was beobachten wir?

    1) Die Regierung – die zentrale, in Kyjiw – ist nicht geflohen, nicht ausgereist, hat sich nicht in Luft aufgelöst (oder wie sie sich selbst rühmt: „Der Präsident ist hier, der Ministerpräsident ist hier.“). Das ist schließlich normal, so muss es sein. Aber die Propaganda modelliert daraus einen unvergleichlichen Heroismus, der in meinen Augen allmählich auf die Nerven geht. Sie sind nicht geflohen, tolle Kerle. Trotzdem sind nicht sie die Helden.

    2) In der westlichen Auslegung der ukrainischen Gegenwehr hat sich eine wesentliche Entwicklung vollzogen (und vollzieht sich auch weiterhin): Sie galt als unmöglich, vergeblich, zum Scheitern verdammt, unerwartet, verzweifelt, verlustreich, hoffnungslos, mutig, heroisch, effektiv, gekonnt, erfolgreich. Jetzt hat die Spirale anscheinend dialektisch eine neue Windung erreicht: sie ist gefährlich und sie muss begrenzt werden. „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren, aber auch russland [sic – dek] darf diesen Krieg nicht verlieren.“ Diese absurde These wird offenbar gerade zum westlichen und insbesondere europäischen Mainstream.

    3) Ich weiß nicht, welcher Schlaumeier die in letzter Zeit oft wiederholte These formuliert hat, dass „jeder Krieg mit Verhandlungen endet“. Nein, nicht jeder. Es gibt auch Fälle von bedingungsloser Kapitulation. Das in unseren Breiten bekannteste Beispiel dafür ist Berlin, 8. Mai 1945.

    4) Einer der amerikanischen Geheimdienste hat sich für seine ungenauen Vorkriegsprognosen bereits entschuldigt – ein unerwarteter Faktor wurde nicht berücksichtigt: der Kampfeswille der Ukrainer. Doch die schwärzesten Schwäne kommen noch. 

    5) Immer deutlicher wird, dass das Zeichen Z für Zombies steht. Im Krieg gegen die Ukraine spielen Leichen eine führende Rolle: kobson, shirinowski, motorola, putin.

    6) Alles reimt sich mit allem. Wir haben Volonteure, sie Marodeure. Bei uns wird vertraut, bei ihnen geklaut.

    7) Sowohl bei uns als auch bei ihnen sterben Menschen. Aber unsere für Freiheit und Würde, und ihre für putins Hirngespinste. Hier reimt sich nichts miteinander, denn bei uns rettet man Hunde, und bei ihnen isst man sie.

    8) Der Wirbel im Internet um das „Canceln“ der GRK (der Großen Russischen Kultur) ist im Grunde nichts anderes als ein gezieltes Ablenkungsmanöver. Während die GRK  boykottiert wird, wird die ukrainische Kultur vernichtet. Ein Boykott ist eine Form gewaltloser Ablehnung. Vernichtung ist ein Gewaltakt. Lauthals über das Erste klagen, und das Zweite „nicht zu bemerken“ – das ist ein Element der russischen Kriegsführung. Die Säuberung von Bibliotheken im okkupierten Gebiet wird merkwürdigerweise nicht so lebhaft besprochen wie das „Verbot“ von Tolstoi und Bulgakow.

    9) 2014 war es shirinowski, jetzt sind es lawrow, lukaschenko, patruschew und unzählige andere, die immer aufdringlicher auf die mögliche „Annexion der Westukraine durch Polen“ hinweisen. Die Mitglieder von putins Politbüro sind von einer Manie des Zerteilens befallen. Transkarpatien werde auf Bitten Orbans nicht angegriffen. Es gibt plötzlich so viele Orwell, dass ganz Russland auf einen Kommentar zu seinem Roman zusammengeschrumpft ist.

    10) Während die Opinionmaker weltweit bedrückt über Millionen von „refugees from Ukraine“ berichten, erwähnen sie lieber nicht, dass ein Drittel dieser Millionen bereits zurückgekehrt ist. Das ist unbequem, es passt nicht in ihre kollektive „Syrer-Schublade“: Lässt man ihn einmal herein, wird man ihn nie wieder los. Und die hier gehen freiwillig zurück, obwohl sie es schon reingeschafft hatten. Sind sie anders?

    11) Wir sind anders. Der Westen sollte alles vergessen, was er bisher über die Ukraine wusste. Heute ist der 107. Tag, an dem sie – wie sich gezeigt hat – anders ist. Man sollte lernen ihr zuzuhören, damit man mit den eigenen Friedensbemühungen weniger Schaden anrichtet. Man sollte sie bei ihrer schwierigen Aufgabe internationaler Teufelsaustreibung nicht stören.

    12) Das Böse wird bestraft werden. Gott ist kein Naivling.

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