Auffallend viele junge Leute waren am 26. März landesweit auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren. Zuvor hatte der Handymitschnitt einer Diskussion zwischen Lehrern und Schülern im Runet Furore gemacht, bei der die Schüler ganz andere politische Ansichten äußerten als die Lehrkräfte, und diese auch selbstbewusst vertraten.
Politologin Ekaterina Schulmann warnt jedoch davor, den Protest als Protest von Jugendlichen darzustellen – zumal es keine zuverlässigen Zahlen dazu gibt. Sicher dagegen sei: Es war ein Protest von Erwachsenen – mit einem hohen Anteil Jugendlicher. Und was die heute bewegt, das hat Schulmann sich für Takie Delagenauer angesehen:
Plötzlich treten viele junge (und sehr junge) Menschen bei den Protesten am 26. März in Erscheinung – und es kommt zu einem neuen Interesse an Youth Studies in unterschiedlichster Form: Vom allseits bekannten Genre „ein Bekannter hat mir erzählt“ bis hin zu historischen Parallelen (besonders beliebt ist gerade das Jahr 1968, aber auch die Roten Garden werden sukzessive herangezogen).
Der Protest war kein Kinderkreuzzug
Zunächst möchte ich davor warnen, den Protest vom 26. März als eine Art Kinderkreuzzug zu betrachten. Sicherlich war das kein Schüleraufstand und auch keine Studentenrevolte wie 1968 in Europa. Leider haben wir keine zuverlässigen Daten, wie viele Menschen an den Protesten beteiligt waren, geschweige denn Angaben über ihr Alter oder ihre soziale Zugehörigkeit.
Doch nach dem uns vorliegenden Material zu urteilen (Fotos, Videos, Festnahmen), handelte es sich insgesamt um einen Protest Erwachsener mit einem hohen Anteil an Jugendlichen. Dieser sorgt für großes Aufsehen, weil junge Menschen früher nicht an Protesten beteiligt waren – oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Für gewöhnlich gehen sie selten zu Demonstrationen, und zu Wahlen schon gar nicht. Die Jugend ist eine Bevölkerungsschicht, die in unserem politischen Geschehen fehlt.
Was wissen wir denn über unsere Mitbürger unter 25? Vor allem, dass es wenige sind. Sehen Sie sich die demographische Pyramide von Russland für 2016 an. Nach den 25- bis 29-Jährigen folgt ein Einbruch: Die Generation, die in der ersten Hälfte der 1990er geboren wurde, ist relativ klein.
Die nächstfolgende Sparte, die heute 15- bis 19-Jährigen, fällt noch kleiner aus. Ab 2002 steigt die Geburtenrate allmählich, und wir sehen an der Basis unserer Pyramide zwei solide Blöcke – die heute Zehnjährigen und Jüngere. Aber es bleibt abzuwarten, ob und wie sie sich am politischen Prozess beteiligen werden.
In unserem politischen Geschehen fehlt die Jugend
Die meisten Studien zur Generation Z dienen Marketing-Zwecken: Man will herausfinden, wie man diesen Menschen Waren und Dienstleistungen am besten verkauft. Dennoch lassen sich aus diesen Studien auch politische Erkenntnisse gewinnen.
Eine jüngere Untersuchung der Firma VALIDATA im Auftrag der Sberbankhatte zum Ziel, allgemeine Merkmale der Russen zwischen 8 und 25 Jahren zu bestimmen. Methodisch griff man dabei auf Fokusgruppen, die Analyse von Sozialen Netzwerken und Experteninterviews zurück.
Eine vergleichbare Studie wurde kürzlich von der US-amerikanischen Firma Sparks & Honey publiziert. Die RANEPA-Forschungsgruppe Monitoring zeitgenössischer Folklore untersucht das Netzverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und führt Interviews bei Protestaktionen durch.
Familie geht über die Karriere
Von dem, was man bisher über die russische Jugend herausfinden konnte, hat einiges politische Relevanz: Gute sozialen Fähigkeiten (sie werden als sehr wichtig eingestuft), das Streben nach gemeinsamem Handeln und nach Anerkennung, der hohe Stellenwert moralischer Werte („Ehrlichkeit“, „Gerechtigkeit“), das Streben nach Selbstausdruck und Selbstverwirklichung („man selbst sein“, „die richtige Wahl treffen“), das Fehlen eines Generationenkonfliktes – stattdessen warmherzige, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.
Gleichzeitig stufen Eltern wie Kinder die gegenwärtigen Verhältnisse als chaotisch und unberechenbar ein. Sie glauben nicht an langfristige Planung.
Bei den Kindern drückt sich das darin aus, dass sie keinen festen Job „auf Lebenszeit“ anstreben. Bei den Eltern im fehlenden Wunsch, sich aktiv an den Entscheidungen der Kinder zu beteiligen, denn „sie wissen ja selbst nicht, was der richtige Weg ist“.
Sowohl für die Eltern, als auch für die Kinder ist die Familie das höchste Gut. Die Gründung einer Familie gilt als Erfolg im Leben, der über der Karriere oder dem Geldverdienen steht.
Was können wir daraus schließen? Die fehlenden Spannungen zwischen den Generationen sind eine Besonderheit der neuen Zeit. Menschen, die heute um die 35 oder älter sind, haben weitaus häufiger ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern. Die meisten von ihnen sind derzeit oder schon länger mit ihren Eltern zerstritten.
Die heutige Jugend geht für die Alten auf die Straße
Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie. Eltern und Kinder teilen dieselben Wertvorstellungen, die sich grob unter dem Begriff „Gerechtigkeit“ zusammenfassen lassen (diese russische Grundtugend bedeutet mal „Ehrlichkeit, mal „Gleichheit“ und mal „Bestrafung“).
Jung und Alt stören sich an derselben Ungerechtigkeit, aber ihre Reaktionen fallen unterschiedlich aus: Die Kinder werden eher aktiv, die Eltern bleiben eher passiv.
Vom politischen Standpunkt betrachtet ist offensichtlich, was die jungen Menschen brauchen: eine Zukunftsvision, klare Perspektiven, Spielregeln, die sie als fair empfinden, und Aufstiegschancen.
Nicht nur, dass sie diese im Augenblick nicht sehen. Es spricht nicht einmal jemand mit ihnen über diese Probleme. Sie hören ständig nur Debatten über Themen von gestern – die Sowjetzeit, die Vorsowjetzeit, die frühen 1990er, die frühe Putinära. Und über die vergleichsweisen Vorzüge von verschiedenen Toten – Stalin, Breshnew, Iwan der Schreckliche, Nikolaus II. Verständlicherweise steht das einem jungen Menschen bis zum Halse.
Ziel der Fernsehpropaganda ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn
Menschen unter 25 sind mit dem Internet aufgewachsen, sie leben im Internet. Es ist nicht so, dass sie überhaupt nicht fernsehen, aber sie sehen anders fern. Sie schauen sich einzelne Sendungen an, die sie auf Youtube finden. Zur Unterhaltung benutzen sie Youtube, zur Information und Kommunikation die Sozialen Netzwerke. Entsprechend geht die TV-Propaganda an ihnen vorbei. Und selbst, wenn sie das anhören, verstehen sie nicht, was man von ihnen will.
Denn unsere ganze Propaganda ist auf den Sowjetmenschen zugeschnitten. Ihr Ziel ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn. Wenn jemand diese Areale nicht hat, weil sie ihm nicht schon bei Geburt eingepflanzt wurden, dann plätschert das alles an ihm vorbei.
Eine weitere unterschätzte Tugend, die die Kinder- und Elterngeneration verbindet, ist, was man in einem „gesunden“ politischen Regime Gesetzestreue nennen würde. Im politischen Regime des Rauchersdagegen ist genau das ein Protestinstrument: das Bemühen, Regeln einzuhalten, und der Wunsch, dass auch andere das tun.
Die Vorgänge bei uns sind ein ‚legalistischer Protest‘ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption
Denken Sie an die Proteste von 2011/2012. Weder damals noch bei den Ereignissen vom 26. März gingen die Menschen spontan auf die Straße. Es waren organisierte Kundgebungen mit bestimmten Anliegen. Mal waren sie genehmigt, mal nicht, aber immer gewaltfrei. Es waren keine Revolten – noch nicht einmal Proteste gegen die bestehende Ordnung als Ganzes, bei denen Parolen wie „Nieder mit …“ oder „Aristokraten an die Laterne“ skandiert worden wären. Sowas gibt es bei uns nicht (zumindest bisher nicht).
Die Vorgänge bei uns sind ein „legalistischer Protest“ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption. Menschen fordern die Einhaltung der Gesetze und fühlen sich damit offensichtlich ausreichend im Recht, um das hohe Risiko, das ein Protest mit sich bringt, auf sich zu nehmen.
Ein Gefühl der Verbundenheit
Für Menschen unter 25 sind soziale Interaktion und ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen ausgesprochen wichtig. Ihre Generation hat jene für die Sowjetzeit typische Atomisierung überwunden. Dementsprechend hängt ihr weiteres politisches Handeln davon ab, ob sie sich mit anderen Menschen verbunden fühlen und deren Unterstützung spüren (erinnern wir uns an die gewünschte „Anerkennung“) oder ob sie sich einsam und allein gelassen fühlen.
Jeder Mensch hat Angst vor Ausgrenzung. Jungen Menschen ist es allerdings besonders wichtig, nicht zum Außenseiter zu werden. Wenn sie sich nicht als Minderheit und Outcasts empfinden, sondern als Teil eines Netzwerks, besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie ihre sozialpolitische Aktivität fortsetzen. Erst recht, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der jüngeren Generation Erfahrung in Freiwilligendiensten und ehrenamtlicher Tätigkeit mitbringt.
In diesem Punkt besteht eine Ähnlichkeit zwischen der US-amerikanischen Gen Z und den jungen Russen. Außerdem ist eine moralisch relevante Gemeinschaftsaktivität das beste Mittel gegen Angst.
Sie sägen Blöcke aus Schnee, bauen eine Festung daraus und stürmen sie. Die BakschewscheMasljanizaist ein großes Fest an geheimem Ort, organisiert von Freiwilligen. Und am Ende verbrennt der Winter. Wirklich. Pawel Nikulin war für Takie Dela dabei.
„Hier sehen Sie, wie Anarchie funktioniert“, erklärt mir eine Frau um die vierzig und hält mir eine Tasse dampfenden Tee entgegen.
Hier – das ist auf einem namenlosen Feld im Wald hunderte Kilometer von Moskau entfernt. Ich bin hergekommen, um mir die Vorbereitungen der Bakschewschen Masljaniza anzusehen. (Genau so, mit „ja“ schreibt man hier das Fest.) Im Slang der Masljaniza-Veranstalter heißen diese Vorbereitungen Butterbau. Und die freiwilligen Helfer Butterbauarbeiter.
Ich lerne sie am Lagerfeuer kennen. Über den Flammen köcheln Suppen und blubbert Tee. Dicke Äste knacken. Gemahlene Arabica-Bohnen werden in einen kleinen Armee-Kochtopf geschüttet und dazu noch ein paar Tannenzweige. So kocht man Waldkaffee.
Ich versuche, meine Füße trockenzukriegen. Strecke sie möglichst ans Feuer, von den Socken steigen dichte Dampfschwaden auf. Die Frau, die mich auf die Tasse Tee eingeladen hat, lacht. An ihren Füßen trägt sie riesige Überzieher eines Chemieschutzanzugs.
Vom Rand des gigantischen Feldes – mindestens so groß wie ein Fußballfeld – dringt das Heulen einer Motorsäge zu uns herüber. Die Butterbauarbeiter sägen Blöcke aus gepresstem Schnee für den Bau der Schneefestung – ein Bauwerk von mindestens fünf Metern Höhe, das an Masljaniza gestürmt werden soll, unter Anführung des Frühlings-Woiwoden. Aufgetürmt werden die Blöcke mithilfe eines Krans, der ist selbstgezimmert aus ein paar Baumstämmen, Seil und Segeltuch. Darin wird der Schnee mit den Füßen zusammengestampft und zersägt.
Am Waldrand ist die nächste Gruppe Bauarbeiter am Werk, sie errichten Toiletten, stellen das Eingangstor auf oder entfernen die Rinde von gefällten Bäumen. Am schnellsten gelingt das einer jungen Frau, die den Baumstamm gekonnt mit einer großen Machete bearbeitet.
„Ich habe über Freunde, die schon mal hier waren, von dem Fest erfahren. Das erste Mal bin ich nur zum eigentlichen Fest gekommen, das war 2015. Im nächsten Jahr bin ich schon über Nacht geblieben, und diesmal wollte ich auch bei den Vorbereitungen dabei sein. Es ist ein tolles, fröhliches Fest, hier kann ich alle Hektik und Sorgen der Großstadt vergessen und einfach die Seele baumeln lassen“, erzählt mir Olja.
Der längste glattpolierte Baumstamm, etwa zehn Meter lang, wird später in der Mitte vom Feld aufgestellt. Er ist fester Bestandteil des Unterhaltungsprogramms einer jeden Masljaniza. Ganz oben werden Preise angebracht – für diejenigen, die es so weit hoch schaffen. Ich bekomme die Aufgabe, eine Wippe zu bauen. Dafür braucht es einen Baumstamm, Tannen und ein paar Feuerwehrschläuche.
Bliny und Postmoderne
Den richtigen Ort für das Fest suchen die Veranstalter lange im Voraus. Manchmal sind sie bis zu einem Jahr unterwegs, um sich verschiedene Örtlichkeiten anzusehen. Bei der Auswahl spielen viele Faktoren eine Rolle: Entfernung zur nächsten Ortschaft, Erreichbarkeit im Winter wie im Sommer.
Informationen über die Masljaniza findet man auf der Webseite des Vereins Roshdestwenka, einer Bewegung freiwilliger Restauratoren, die sich der Wiederherstellung alter russischer Denkmäler, Bräuche und Volksfeste verschrieben haben.
Natalja Charpalewa, ein aktives Mitglied von Roshdestwenka erzählt, die erste Masljaniza sei noch in den Achtzigern von ein paar Ausflüglern veranstaltet worden. Enthusiasten, die sich im Sommer mit der Restaurierung von Klosteranlagen beschäftigten, hätten die ersten Masljazina-Feste im kleinen Kreis gefeiert und Mal für Mal mehr Folklore-Elemente hinzugefügt. Von den KSP-Anhängern hätte man beispielsweise die Butter-Abzeichen übernommen – die jährlich wechselnden Aufnäher für die Masljaniza-Teilnehmer.
1998 verstarb Michail Bakschewski, ein Gründungsmitglied der Masljaniza, doch das Fest, das nun nach ihm benannt wurde, lebte weiter und fand immer mehr Anhänger. Irgendwann wurde das den Veranstaltern sogar lästig. Der Wald war voller Autos, es wurde immer schwieriger den Müll wegzuräumen. Deswegen wird das Fest mittlerweile fast schon konspirativ durchgeführt: Nur wer sich im Voraus registriert hat, erfährt wenige Tage vorher per Mail, wo die Masljaniza stattfindet. „Schaltet bitte die Ortsangabe aus, wenn ihr während der Vorbereitungen Fotos vom Feld postet“, richten sich die Organisatoren auf der offiziellen Webseite der Roshdestwenka an ihre Helfer.
Örtliche Regierung und Polizei wissen nichts vom Fest. Die Veranstalter informieren nur den Rettungsdienst.
Über die Jahre hat sich ein fester Ablauf etabliert. Bestimmte Protagonisten sind vom Fest nicht mehr wegzudenken: der Frühlings-Woiwode, die Strohpuppe Winter, der Bär.
Es gäbe zwar keine Belege dafür, dass unsere Vorfahren die Masljaniza exakt so gefeiert hätten, räumt Charpalewa ein, aber einzeln kämen alle Figuren in ethnografischen Skizzen vor.
„Irgendwie postmodern“, werfe ich ein. „Ein wenig“, erwidert Charpalewa lächelnd.
Ein verbindendes Ding
„Ich bin seit zwanzig Jahren dabei. Ich bin gern im Wald. Allein fährst du vielleicht ein, zwei Mal im Winter raus. Aber ganz bestimmt nicht jedes Wochenende, und so kannst du immer herkommen. Hier sind viele Menschen, du lächelst, sie lächeln“, erzählt Roshdestwenka-Koordinator Arkadi Jurowizki.
Er trägt einen dicken Lammfellmantel und sieht selbst ein bisschen aus wie ein gutmütiger Bär. Zum Feld ist er mit einem Kettenwagen gekommen. Geduldig erklärt mir Arkadi, dass die Freiwilligen die Masljaniza zwar eigentlich für sich selbst veranstalteten, aber so ganz ohne Gäste wäre es doch langweilig. Wenn Arkadi nicht gerade bei der Roshdestwenka arbeitet, repariert er Computer.
Die Veranstaltung war seit ihren Anfängen unkommerziell. Besucher werden keine Sponsorenwerbung antreffen, und es wird auch niemand Eintrittsgeld von ihnen verlangen. Die Organisatoren machen keinen Gewinn. Auf den Vorschlag, Kassenbuden auf dem Feld aufzustellen, erwidern sie: „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie fehl am Platz bei uns Gespräche über Kassenbuden sind.“
Ein weiteres Tabu ist politische und religiöse Agitation. Nicht zuletzt, weil bei der Masljaniza das ganze politische Spektrum vertreten sei, sagt Jurowizki:
„Wir haben hier Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Ansichten. Es gibt Kommunisten, ich selbst bin Demokrat, Putinisten sind auch dabei. Unterschiedlichste Menschen kommen hier zusammen. Und da passiert dann so ein verbindendes Ding, es ist mal stärker, mal schwächer, aber es ist da. Es sind sicher 50 Berufsgruppen vertreten! Vom LKW-Fahrer bis zum Forscher.“
„Entschuldigen Sie bitte, ist das ein Drakkar?“
Die Nacht vor Masljaniza ist die schönste: Die Leute stellen Kerzen auf, bringen elektrische Lichterketten an, lassen Himmelslaternen aufsteigen, zünden Feuerwerk. Man geht von Lagerfeuer zu Lagerfeuer, bietet sich gegenseitig etwas zu essen an, spielt Gitarre und singt.
Alkoholkonsum ist bei dem Fest nicht besonders gern gesehen. Aber es gibt auch kein Alkoholverbot. Ein angetrunkenes Grüppchen zieht, von einem Akkordeonspieler angeführt, durch den Wald, man könnte meinen, sie wären Braunbären. Kommt ihnen jemand entgegen, verstummt plötzlich die Musik und die soeben noch Kosakenlieder grölenden Männer blicken verlegen um sich.
„Entschuldigen Sie bitte, ist das ein Drakkar?“, frage ich einen Künstler, der mit Gouache-Farbe blaue Wellen auf einen Schiffsrumpf aus Schnee malt. „Ein Drakkar?“, wundert er sich über meine Frage. „Ein Wikingerschiff.“ „Ähm … genau. Ein Drakkar … Was ist denn ein Drakkar?“ „Ein Wikingerschiff.“ „Die Slawen hatten auch solche, die waren wahrscheinlich mit den Wikingern befreundet …“ „Wahrscheinlich“, stimme ich zu und gehe in mein Zelt schlafen.
Morgens sitze ich am Lagerfeuer und versuche wieder, meine Füße trockenzukriegen. Von meinen Socken steigen wie schon beim Butterbau dichte Dampfschwaden auf. Ich hätte mir doch Schuhüberzieher kaufen sollen.
Am Eingangstor herrscht ausgelassene Heiterkeit – alle singen, tanzen und jauchzen Tschastuschki. So „bezahlt“ man hier den Eintritt. Ein paar Meter weiter führt ein Seil über den Bach, für diejenigen, die keine Tschastuschki kennen oder keine Lust haben, zu singen und zu tanzen.
Tausende Menschen tummeln sich auf dem Feld: backen Bliny oder klettern durch das Schneelabyrinth. Ich beobachte, wie eine Frau lachend ein Pawlow-Possad-Tuch um ihre Dreads wickelt und muss daran denken, dass mein Witz über die Postmoderne wirklich ins Schwarze trifft. Ein Mann kraxelt nur mit einer Unterhose bekleidet den Pfosten mit den Preisen hinauf. Das Ausziehen muss sein, denn nur ohne Kleidung, mit nackter Haut, hat man den nötigen Griff an dem glatten Pfosten.
Eroberung der Schneestadt
Die interaktive Vorstellung kann beginnen. Ausgestattet mit einem schmackhaften Blin brechen wir auf, um den Bären aus der Höhle zu locken. (Die Rolle des Bären übernimmt einer der Masljaniza-Veranstalter und der Blin ist der Anschaulichkeit halber aus Papier.) Danach stehlen wir die Strohpuppe Winter und tanzen um sie herum Chorowod.
Schon bemerkt der Bär den Verlust, erobert die Puppe zurück und versteckt sie in der Schneefestung. Der Frühlings-Woiwode ruft zum Sturm auf die Festung. Sie wird von alteingesessenen Masljaniza-Teilnehmern verteidigt, die nicht davor zurückschrecken uns mit Schneebällen zu bewerfen oder von der steilen Mauer in den Schnee zu schmeißen.
„Scheiße“, entfährt es dem jungen Mann neben mir.
Es ist wohl kaum der Raub der Puppe, der ihn so erbost. Eher schon der wuchtige Schneeball, den er soeben abbekommen hat.
„In Stellung! In Stellung! Erster Stock!“, erschallen eindringliche Kommandos aus der Menschenmenge.
Der Startschuss ertönt. Der Sturm kann losgehen. Riesige Kerle aus der Menschenmenge rücken unter einem Schneeballhagel zur Festungsmauer vor, dicht an dicht stehen sie in drei Reihen zusammen.
„Kletter rauf!“, ruft der junge Mann links neben mir.
Ich komme gar nicht dazu, ihm zu antworten, da hievt man mich schon auf die Rücken vom ersten Stock. Ich rutsche auf dem Helm von jemandem aus.
„Rückzug!“
Wer da ruft, kann ich nicht zuordnen, aber ich sehe, wie ein junger Mann neben mir von der Mauer abrutscht. Der menschliche Belagerungsturm fällt in sich zusammen, und ich werde unter einem Haufen Körper begraben. Ich halte die Arme über den Kopf und brülle vor Schmerz: Jemand versucht mich am Bein aus diesem Geknäuel herauszuziehen. Es gelingt mittelprächtig – mehrere Leute liegen auf mir drauf.
Ich stehe wieder auf, wasche mir mit Schnee das Gesicht, weiche einem Schneeball aus und klettere wieder auf die Festung. Beim zweiten Mal bilde ich einen Teil des ersten Stocks. Ich versuche, einen Blick zu erhaschen, was da oben los ist, muss aber schnell einsehen, dass es eine sehr schlechte Idee war – jemand tritt auf mein Gesicht und versucht sich abzustoßen, um höher zu klettern.
Wieder stürzt einer von der Mauer, schließe ich aus dem ohrenbetäubenden Aufschrei. Ich sehe nichts außer Füßen und Schultern. Wir fallen. Ein junger Mann mit blutiger Nase hilft mir auf und spuckt rot in den Schnee. Neben uns ist noch ein Verwundeter. Aufgeschlagene Augenbraue.
Das Herz pocht in den Schläfen, die Beine zittern vor Aufregung, ein Teil vom Armband meiner Uhr ist abgerissen, genau wie die Schnürsenkel-Haken von meinen Schuhen. Trotzdem stürme ich immer wieder die Festung, rutsche wieder ab, falle wieder in die aufgeheizte Menschenmenge. Jemand hat die Festungsmauer erklommen. Jetzt darf er die anderen Angreifer hinaufziehen. Den jungen Mann mit der aufgeschlagenen Augenbraue, den mit der kaputten Nase und mich.
Ich helfe immer mehr Stürmern über die Mauer. Neben mir steht ein Teenager mit einem blutigen Schuhabdruck im Gesicht.
„Tut’s weh?“, frage ich mitfühlend.
„Sch… drauf“ [im russischen Original Mat– dek], winkt er fröhlich ab und blickt verzaubert auf die Strohpuppe Winter, die auf dem Feld langsam in Flammen aufgeht.
Der Krieg in Syrien war bestimmend für die außenpolitische Agenda Russlands. Die Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen wurden nicht müde, unentwegt große Erfolge zu verkünden. Währenddessen rutschte das Land im Innern immer weiter in die Rezession. Die Dumawahl brachte zugleich eine erdrückende Mehrheit für die Regierungspartei Einiges Russland. Was bleibt vom vergangenen Jahr für 2017?
Die Politologin Ekaterina Schulmann sagt in ihrer Analyse für das liberale Webmagazin republic: Vor allem die Sorgen der Menschen bleiben. Wie aber sollen sie diese kanalisieren? Und was bedeutet das für den Kreml? Muss er sich fürchten?
2016 brachte für die russische Gesellschaft vor allem einen Wandel der gesellschaftlichen Forderungen, der mit einer Verlagerung des Interesses auf innere sozioökonomische Probleme einherging. Allerdings lassen sich solche langwierigen Prozesse nicht an Kalenderdaten festmachen – dieser Wandel hat weder 2016 begonnen, noch wird er 2017 oder 2018 enden. Die Stimmungswende ist zweifellos auf die Krise und auf ein für uns neues Phänomen zurückzuführen: auf das Sinken der real verfügbaren Einkommen. Das ist in der Tat etwas Neues.
Für gewöhnlich sagen wir, bei uns herrscht große Armut, oder dass soundsoviele Menschen unter der Armutsgrenze leben. Aber für die Stimmung sind nicht die absoluten Zahlen entscheidend, wer wieviel bekommt, sondern die Änderungen bestehender Tendenzen. Denn erstens vergleichen die Menschen sich mit ihrem Nachbarn, mit ihrer jeweiligen Referenzgruppe und zweitens vergleichen sie ihre eigene Situation von gestern mit der von heute. Der Eindruck einer positiven Dynamik, an die man sich bereits gewöhnt hatte, wurde vom Eindruck einer negativen Dynamik abgelöst, wobei diese bereits seit zwei Jahren anhält, ohne dass eine Veränderung dieses Trends in Sicht wäre.
Das hat zwei konträre Folgen: Entweder die Menschen empören sich über die existierende politische Ordnung und entwickeln ein Protestverhalten, oder niemand entwickelt ein Protestverhalten und die Menschen passen sich an, grob gesagt. Beides ist der Fall: Die Menschen passen sich tatsächlich an – und das ist eine vernünftige Taktik in so einer Situation. Aber die Forderungen der Gesellschaft verändern sich: Die Menschen interessieren sich mehr und mehr dafür, was sie selbst ganz unmittelbar betrifft.
Sogar in den Umfragen zeigt sich: Es wächst die Zahl derer, die auf die recht schwammige Frage: „Denken Sie, dass im Land alles richtig läuft?“ (Das Lewada-Zentrum stellt die Frage regelmäßig in genau dieser Formulierung), antwortet: Nein, es läuft falsch, es läuft nicht so, wie es laufen sollte.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf den Artikel von Sergei Guriew und Daniel Treisman aus dem vergangenen Jahr zu werfen, in dem sie erklären, wie moderne autoritäre und semi-autoritäre politische Führer ihre Legitimität aufrechterhalten. Darin stellen sie eine Theorie der ausreichenden Kompetenz auf. Was versteht man darunter?
Es gibt revolutionäre Anführer wie Hugo Chávez oder Fidel Castro, deren Legitimation auf einer Revolution oder auf Charisma beruht. Für die Aufrechterhaltung ihrer Legitimität müssen sie ständig demonstrative Siege über Feinde erringen, über reale oder fiktive, oder auch Erfolge, reale oder fiktive. Um ihre charismatische und revolutionäre Legitimität zu bekräftigen, müssen sie von Sieg zu Sieg schreiten.
Die außenpolitische Agenda hingegen interessiert offensichtlich die Menschen nicht einfach nur kaum, sie sind offenbar sogar darüber verärgert
Bei neueren Formen eines Semi-Autoritarismus braucht es nach Guriew und Treisman für die Aufrechterhaltung der Legitimität keine demonstrativen Siege für die Bevölkerung. Es gilt lediglich, den Eindruck einer ausreichenden Kompetenz zu erwecken und zu erhalten. Die Bevölkerung muss glauben können, dass die Regierung mit ihren Aufgaben eher zurechtkommt, als dass sie das nicht tut. Daher werden Probleme nie verborgen, im Gegenteil: Sie werden akzentuiert. Deswegen heißt es: „Ja, wir haben eine Krise. Ja, es gibt Sanktionen. Wir sind umringt von Feinden. Die außenwirtschaftliche Konjunktur ist schlecht. Aber schaut nur, wir sind nicht verhungert, wir sind nicht zusammengebrochen, in Einzelteile zerfallen, wir kommen irgendwie zurecht.“
Genau das ist besagte ausreichende Kompetenz. Solange sie in den Köpfen der Menschen vorhanden ist, besitzt die Regierung Legitimität, selbst bei schlechten wirtschaftlichen Ergebnissen. Aus diesem Grund gebe es keine Proteste, nehmen Guriew und Treisman an. (Und zwar nicht nur wegen der repressiven Gesetzgebung und des staatlichen Zwangsapparats, obwohl auch die wichtig sind: Denn den Preis für Protest zu erhöhen, ist ein effektives Mittel, um die Protestaktivität zu senken.) Proteste gebe es auch deshalb nicht, weil die Menschen denken: „Die Staatsführung funktioniert ja offenbar irgendwie. Und kommt sogar halbwegs gut zurecht.“
Erst wenn ein spürbarer Teil der Bevölkerung der Meinung ist, die Staatslenker seien nicht die Lösung, sondern das Problem, beginne die Grundlage für diese Legitimität zu bröckeln – nicht allein aufgrund einer Verschlechterung der Lebensumstände. Wenn also das Gefühl überhand nimmt, dass sie nicht dabei helfen, die Krise zu bewältigen, sondern sie noch verschärfen.
Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und apathisch-depressive Stimmung haben sich besonders deutlich während der Parlamentswahlen gezeigt. Für die Politmanager war davon anscheinend nichts zu erahnen, waren sie doch vornehmlich damit beschäftigt, die Wahlbeteiligung der Unzufriedenen zu senken, aus Angst, sie könnte zu hoch ausfallen. Wie sich herausstellte, hatten sie sich nicht davor zu fürchten: In den Städten und den zentralrussischen Gebieten sind die Menschen einfach nicht zur Wahl erschienen. Tatsächlich aber sind diese Stimmungen, die sich in einer Nichtteilnahme an den Wahlen niederschlugen, weniger harmlos, als man glauben könnte: Sie sind es, die allmählich das Fundament der Legitimität unterminieren – ganz besonders vor dem Hintergrund, dass man unbedingt einen Post-Krim-Konsens und die absolute Einigkeit von Volk und Regierung demonstrieren will. Erschwert wird diese Demonstration zunehmend durch den Umstand, dass die Bürger die gewünschte Zustimmung nur noch bei Meinungsumfragen ausdrücken, indem sie die von ihnen erwarteten Antworten geben. Letztendlich wurde das Wahlergebnis von Regionen bestimmt, die die nötigen Zahlen mit Methoden erzielten, für die sie die Wähler gar nicht brauchten.
Das ist eine ziemlich gefährliche Situation, denn sie bringt Moskau, das föderale Zentrum, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Regionen und verändert die Zusammensetzung der Staatsduma, in der diese Regionen wesentlich mehr Mandate bekommen haben. Das wird 2018 der Knackpunkt sein, denn natürlich kann man unter diesen Umständen Präsidentschaftswahlen abhalten, aber es ist gefährlich. Ich vermute, sie werden sie trotzdem durchführen, weil ihnen nichts Besseres einfällt. Und das wird ein Problem sein.
Das zweite wichtige Thema bei dem Stimmungsumschwung ist das wachsende Interesse an sozioökonomischen Fragen. Die außenpolitische Agenda hingegen interessiert offensichtlich die Menschen nicht einfach nur kaum, sie sind offenbar sogar darüber verärgert. Nicht, weil sie sich nicht über Größe und Macht Russlands freuen würden, das tun sie durchaus, sondern weil andere Probleme für sie prioritär und wesentlich sind – nicht bloß wichtig, sondern aktuell drängend. Und gleichzeitig beobachten sie, wie die finanziellen Mittel konträr zu ihren Prioritäten eingesetzt werden.
Das, was in letzter Zeit als Forderung nach Gerechtigkeit bezeichnet wird, umfasst auch eine gerechte Verteilung finanzieller Ressourcen. Die Vorstellung, dass bei uns Krankenhäuser geschlossen werden, während wir wer weiß wo wer weiß wen bombardieren, ruft stille Verärgerung über offensichtlich unangemessenes Handeln seitens der Staatsführung hervor: Wir sorgen uns um das eine, und die schert etwas ganz anderes.
Das erinnert stark an die Stimmungslage in den USA und Europa, die im vergangenen Jahr zu den, wie es hieß, unerwarteten Wahlergebnissen führte. Eliten und Bevölkerung reden aneinander vorbei. Es gibt keinen Punkt, an dem sie sich treffen und miteinander ins Gespräch kommen könnten, weil sie einander überhaupt nicht hören. Ist so etwas in Demokratien überhaupt möglich, so ist es umso charakteristischer für geschlossene politische Systeme, in denen sich der Regierungsapparat vorsätzlich von der Gesellschaft isoliert, sie als Bedrohung empfindet und keinerlei Kommunikation mit ihr anstrebt.
Das Tragische ist, dass diese Stimmungen in offenen Systemen, wo die Feedback-Kanäle funktionieren, in friedliche, legale politische Aktivität münden können. In Form von Wahlen. Dort kann man sich dann zwar über die Ergebnisse entrüsten, aber es ist und bleibt ein friedlicher, politischer Prozess, der nach der Machtübernahme durch eine neue Partei oder eine neue Führungsfigur zu einer Kurskorrektur führt. Es ist eine friedliche und nicht einmal besonders kostenträchtige Form des Wandels. In Russland ist es komplizierter. Doch auch hier versucht die Regierungsmaschine zu hören, was in den Köpfen der Menschen vorgeht.
Das geschieht auf unterschiedliche Art und Weise – durch geheime Umfragen, über den einen oder anderen Direkten Draht. Besonders bezeichnend war diesbezüglich die Aussage Peskows: „Der Direkte Draht zum Präsidenten ist die beste Meinungsumfrage.“ Darin offenbart sich zum einen der Wunsch nach zumindest irgendeiner Meinungsumfrage und zum anderen das Unwissen darüber, dass beim Direkten Draht nur ausgewählte Personen teilnehmen. Die Auswahl ist nicht repräsentativ und es ist keine Meinungsumfrage, sondern einfach nur eine Parade des Klagens. Aber sie hätten gern Meinungsumfragen, denen man glauben kann.
Wie stimmen sich in Russland Staatsführung und Gesellschaft miteinander ab? In Demokratien geschieht das nach den Wahlen: Die Menschen haben Wünsche, dementsprechend wählen sie etwas aus dem bestehenden Angebot. Diejenigen, die in der Folge Mandate erhalten, beginnen mit der Umsetzung der bestellten Politik.
Die Vorstellung, dass bei uns Krankenhäuser geschlossen werden, während wir wer weiß wo wer weiß wen bombardieren, ruft stille Verärgerung hervor
Bei uns ist es andersherum. Schon vor den Wahlen, deren Ergebnisse wie bestellt ausfallen müssen, versucht die Regierung, zu jenem neuen Kandidaten zu werden – und darauf zu reagieren, was die Menschen brauchen. Deswegen wird der politische Kurs vor den Wahlen korrigiert. Alle Fingerübungen der neuen Leitung in der Präsidialadministration, die gesamten Vorhaben der Staatsführung, die Ausarbeitung neuer Reformprogramme – all dies sind Versuche einer Kurskorrektur vor den Wahlen, die dann bitte die geforderten Ergebnisse bringen mögen. Das ist besser als nichts.
So wird die Agenda 2017 (auch wenn man es nicht so formulieren wird) im Wesentlichen ein Versuch sein, sich selbst zu korrigieren und dabei im Kern zu bleiben, wie man ist. Es wird ein Versuch sein, auf die gesellschaftlichen Forderungen zu reagieren und zu verhindern, dass irgendeine politische Konkurrenz reagiert.
Doch hier beginnen die Schwierigkeiten. Wenn wir beispielsweise darüber sprechen, dass es gut wäre, unsere außenpolitische Aktivität zu drosseln, weil wir kein Geld haben und die Menschen darüber verärgert sind, müssen wir bedenken, dass Wille allein nicht genügt, um die Aktivität einzuschränken – man sollte die persönliche politische Macht Einzelner nicht überschätzen. Es gibt Interessengruppen, die auf den entsprechenden Budgets sitzen und daran interessiert sind, eine Politik des Krieges fortzuführen. Das sind einflussreiche Mitglieder unserer herrschenden Elite – Rüstungsindustrie, Verteidigungsministerium, Mitglieder des Sicherheitsrates. Es wird wohl kaum genügen zu sagen: „Das war’s, Jungs. Sorry. Wir packen ein.“ Die müssten das irgendwie kompensieren. Sich einen Ausweg aus dieser Situation ausdenken – das wird das Jahr 2017 ausfüllen.
Ein weiteres wichtiges Thema der kommenden zwei Jahre wird das Bildungs- und Gesundheitswesen sein mit allem, was dazu gehört. Hier zeichnet sich eine sehr gefährliche, radikale Kluft zwischen der Agenda der Regierung und der Gesellschaft ab. Denn für die Menschen wird dieser Bereich immer wichtiger. Zum einen, weil die Bevölkerung älter wird. Zum anderen, weil sich in den letzten Jahren ein Kinderkult entwickelt hat und die Menschen ihre Elternrolle als eine soziale und zum Teil sogar politische Rolle begreifen. Gleichzeitig entledigt sich der Staat im Bildungs- und Gesundheitswesen massenhaft seiner Verpflichtungen. Eine unglücklichere Kombination ist kaum denkbar. Mit der Diskrepanz dieser zwei Agenden wird man etwas machen müssen, denn sie verärgert die Menschen sehr. Sie können nicht nachvollziehen, warum der Staat sich so verhält. Der Staat hingegen erklärt nichts, er macht noch nicht einmal irgendwelche Versprechungen.
Einerseits scheint es, als würde sich die Situation der 1990er Jahre auf einem anderen Level wiederholen. Andererseits verfügte der Staat in den 1990ern nicht über diese Bereiche, er hatte sie nicht unter Kontrolle. Damals sagte er: „Ich gebe euch kein Geld, verdient es euch, wie ihr wollt.“ Heute heißt es: „Ich gebe euch kein Geld, aber ich sperre euch ein.“ Die Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen unterstehen einer strengen Kontrolle durch Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft, die bei jeder Gelegenheit auftauchen. Gleichzeitig bekommen die Einrichtungen kein Geld. Das ist eine unmögliche Lage.
Für das System ist es sehr schwer, sich selbst zu reformieren, doch es wird gezwungen sein, dies zu tun, weil die Mittel knapper werden. Auf die Forderungen der Gesellschaft muss es wohl oder übel reagieren. Das System könnte autonom sein, wenn es eigene Einnahmequellen hätte wie noch in den Nullerjahren. Aber die hat es nicht mehr. Wenn man sein Geld von den Bürgern und nicht durch Erdölförderung bekommt, kommt man nicht umhin, sich mit den Bürgern gut arrangieren zu müssen. Das System hat das noch nicht so recht begriffen, um nicht zu sagen gar nicht. Es ist nicht gewohnt, in diesem Modus zu agieren und weiß nicht, wie es damit umgehen soll. Die nächsten zwei Jahre wird es versuchen, das zu lernen.
Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.
Die Nachricht, dass Alexej Nawalny für das Präsidentenamt kandidieren will, war vor allem in den unabhängigen Medien des Landes ein großes Thema; staatsnahe Medien meiden ihn gewöhnlich als aktiven Politiker. Den Mann, der sich vor allem mit investigativen Recherchen zu Korruption unter den Mächtigen einen Namen gemacht hat. Vor drei Jahren hat er außerdem bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen als Polit-Newcomer gezeigt, dass er Stimmen mobilisieren kann, wenn man ihn machen lässt. Damals erhielt er 27 Prozent. Um sich als unabhängiger Kandidat für das Amt des Präsidenten zu registrieren – die Wahl ist voraussichtlich im März 2018 – benötigt er jetzt 300.000 Unterstützerunterschriften aus mindestens 40 Regionen Russlands.
Er positioniert sich zu einem Zeitpunkt, den Beobachter als ganz bewusst gewählt sehen: Nawalny ist in den vergangenen Jahren in zwei umstrittenen Gerichtsverfahren zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Aktuell wird eines der beiden Strafverfahren gegen ihn – der Fall Kirowles – wieder aufgerollt. Vor drei Jahren war es genau dieser Prozess, der wie ein Damoklesschwert schon über der Kandidatur um das Bürgermeisteramt in Moskau schwebte.
Wie nun seine Ambitionen auf das Präsidentenamt bewertet werden, will die unabhängige Tageszeitung Novaya Gazeta wissen. Drei gefragte Kommentatoren des politischen Geschehens in Russland antworten.
Alexej Nawalny hat seine Absicht erklärt, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu kandidieren. Obwohl die Wahlkampagnen der Kandidaten für gewöhnlich ein Jahr vor den Wahlen beginnen, haben Nawalnys Leute bereits ein Wahlkampfteam zusammengestellt. Das hat schon die Webseite Nawalny 2018 eingerichtet sowie mit Spendensammlungen und der Suche nach freiwilligen Helfern begonnen.
So ist Nawalny in diesem Augenblick ein möglicher Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, er steht aber auch im Mittelpunkt eines neuen Strafverfahrens. Ziel der Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Kirowles vor dem zuständigen Gericht in Kirow, so hatte Nawalny zuvor geäußert, sei es, seine mögliche Kandidatur zu verhindern.
Im November dieses Jahres hatte der Oberste Gerichtshof in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Urteile gegen Nawalny und Pjotr Ofizerow aufgehoben. Die Akten werden nun erneut geprüft. Glaubt man ihren Anwälten, wird dieser Prozess haargenau wie der letzte ablaufen, sprich: mit einem Schuldspruch enden. Das sind aber bislang nur Prognosen.
Der Kreml reagierte auf Nawalnys Entscheidung, bei der Wahl anzutreten, ausgesprochen nüchtern. Auf die Frage eines Journalisten, welche Haltung man dazu habe, meinte Dimitri Peskow, Sprecher des Präsidenten, nur: „Gar keine.“
Was wird nun aus dem Prozess im Fall Kirowles?
Dimitri Oreschkin: Nawalny ist ein sehr vernünftiger Mensch. Deswegen hat er die Ankündigung genau abgewogen. Ich denke, dieser Zug wird seine Position nicht schwächen, sondern eher stärken. Wenn man einen potentiellen Präsidentschaftskandidaten fertigmacht, reagieren sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die Menschen im Land anders. Und zwar auch in Bezug auf sein Gerichtsverfahren. Denn nun wird das bedeuten, dass ein potenzieller Präsidentschaftskandidat vor Gericht gestellt wird.
Ekaterina Schulmann: Nawalnys Ankündigung stellt das Gericht und diejenigen, die auf das Gericht Einfluss nehmen könnten, vor die Wahl: Entweder sie lassen seine Teilnahme bei den Präsidentschaftswahlen zu oder verbieten sie. Genau das ist proaktives Handeln: Wenn du weniger Ressourcen als deine Gegner hast, aber auf eine Art vorgehst, dass sie auf deine Schritte reagieren müssen und nicht andersherum. Eine Verurteilung würde sofort die Agenda des bevorstehenden Wahlkampfes vorgeben. Und zwar in einer Richtung, die Nawalny in die Karten spielt, und eben nicht den Plänen, die man im neuen innenpolitischen Block der Präsidialverwaltung hat.
Gleb Pawlowski: Diese Ankündigung ist ein selbständiger politischer Schritt. Es könnte allerdings durchaus sein, dass es gar nicht zu einer tatsächlichen Kandidatur kommt. Wichtig ist vielmehr, dass Nawalny sich damit die Führungsrolle in einer politischen Phase gesichert hat, die im kommenden Jahr beginnt und bis zur Präsidentschaftswahl andauern wird. Er ist führender Kopf in dieser Übergangsphase und Herr über die Agenda. Er hat seine Absicht verkündet, Präsident zu werden. Damit steht er als Erster da, denn Putin hat sich noch nicht erklärt und andere auch nicht. Nawalny gibt sozusagen das Tempo vor und bestimmt die Richtung. Und das bedeutet eine führende Position in der Politik.
Vor Gericht ist er jetzt eine wesentlich gewichtigere Figur als früher. Ich denke, das macht es äußerst unwahrscheinlich, dass es bei seinem Prozess zu einer zufälligen Entscheidung kommt. Nawalny steht jetzt zweifellos auf Putins persönlicher Liste. Ich nehme zwar an, dass er da auch schon vorher zu finden war, aber jetzt ist Putin de facto der einzige, der eine Entscheidung darüber treffen kann, wie man mit Nawalny umzugehen hat. Nawalnys Position wird dadurch gefestigt. Wir leben schließlich in Russland und mit Hilfe der Staatsmacht kann Nawalny durch tausenderlei Mittel aufgehalten werden, attackiert, überfallen, eingesperrt … Aber darum geht es nicht. Jeder Schlag gegen ihn würde alle Präsidentschaftskandidaturen treffen – das ist das Neue der politischen Situation.
Wie stehen denn überhaupt Nawalnys Chancen bei den Präsidentschaftswahlen?
Dimitri Oreschkin: Er ist aktiv und bestimmt gern selbst die Spielregeln. Er stellt die Präsidialverwaltung vor die Wahl, die nun entscheiden muss: ihn zuzulassen oder nicht (und wenn nicht, in welcher Phase) und ihn hinter Gitter zu bringen oder nicht. Voraussagen sind da zwecklos. Alles hängt, grob gesagt, davon ab, was für Gedanken in den Schädeln von ein paar Leuten kreisen. Vielleicht werden sie dasselbe versuchen wie bei den Wahlen 2013 in Moskau, als sie Nawalny bei der Kandidatur sogar geholfen haben. Er hatte einen guten Auftritt damals – trotzdem hat der gewonnen, der gewinnen sollte.
Auf föderaler Ebene wird Nawalny es viel schwieriger haben, und alle wissen das. Dort ist sein Bekanntheitsgrad sehr viel geringer: Er ist nicht im Fernsehen präsent und damit auch nicht in den Köpfen der Bevölkerung. Selbst diejenigen, die regelmäßig ins Internet gehen, interessieren sich nicht besonders für Politik oder Nawalny.
Ich denke – selbst wenn man ihn nicht allzu sehr behindert – wird es für ihn schwer, auch nur auf zehn Prozent zu kommen.
Andererseits ist er ein ausgesprochen begabter Politiker, wenn es um das Gespräch mit den Wählern geht. Er schafft Dinge, die kein anderer an seiner Stelle hinkriegen würde. Die Kreml-Strategen müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Aber es wird keine drastischen Entscheidungen geben, denke ich. Äußerlich wird sich das kaum abzeichnen, aber im Innern denken sie schon jetzt darüber nach, wie sie vorgehen sollten.
Nawalny braucht vier Arten von Ressourcen: Die erste, die administrative, wird in seiner Lage kaum eine Rolle spielen. Bei der zweiten, dem Geld, ist es ebenfalls schwierig, weil er sich nicht verdeckt finanzieren kann und ihm kaum jemand offen Gelder geben wird, aus Angst. Bei der dritten, dem Organisatorischen, sieht es auch eher schlecht aus, weil er in den Regionen bisher kaum über ein ernstzunehmendes Netzwerk verfügt. Und bei den letzten, den medialen Ressourcen, bezweifle ich, dass man ihn ins Fernsehen lassen wird. Es wird ihm also wohl oder übel nur das Internet bleiben.
In Moskau konnte er mehrere Kundgebungen pro Tag abhalten und die Administrative Ressource hat ihn nicht daran gehindert. In den Regionen aber wird man das zweifellos tun: hier verhindern, dass er es zu einem Treffen mit den Wählern schafft, dort den Strom abschalten, Sachen dieser Art. Außerdem kann er gar nicht alles schaffen – bei 85 Föderationssubjekten.
Er ist also in einer schwierigen Situation. Und deswegen ist auch nicht ganz klar, wie der Kreml reagieren wird. Sie könnten dort denken: Soll sich der Kerl doch abstrampeln, damit er seine paar Prozent bekommt; anschließend sind alle Fragen erledigt.
Ekaterina Schulmann: Nawalny war bei den letzten Parlamentswahlen nicht dabei. Dadurch blieb er unberührt vom Schatten der Niederlage und des allgemeinen Versagens, der von Beginn an und bis zum Schluss über dem Wahlkampf [der außerparlamentarischen Opposition – dek.] lag. Aus polit-taktischer Sicht war das ein sehr kluger Schritt. Bekanntlich werden in der Präsidialverwaltung viele Varianten diskutiert, wie man die Menschen zum Wählen animieren und den Wahlen damit Legitimität verleihen kann. Eine dieser Varianten lautet: reale Konkurrenz mit starken Kandidaten, und nicht mit jenen, die schon seit zwanzig Jahren kandidieren. Ab jetzt gibt es nur noch zwei Szenarien – mit Nawalny oder ohne ihn.
Gleb Pawlowski: Aktuell ist Nawalny die stärkste politische Figur im Land. Wir müssen heute von einer neuen politischen Bühne sprechen, die bisher ein einziger betreten hat. Er hat einen Schlussstrich gezogen und verkündet: „Das vorige Zeitalter ist vorbei, wir beginnen ein neues. Das Zeitalter, in dem Putin abtritt.“ Nawalny hat dort seinen Platz eingenommen, andere werden ihm folgen müssen. Auf das Feld der realen Probleme des Landes, denn Putin wird so oder so tatsächlich abtreten. Und deswegen braucht es Klarheit darüber, was nach seinem Abgang passieren soll.
Nawalny hat gewissermaßen eine vorübergehende Gleichwertigkeit mit Putin erreicht. Als jemand, der ein Programm, eine Strategie für die Zukunft anbietet. Aber er wird sie nicht halten können, weil er sich verzetteln und wieder auf das Niveau eines Jawlinski herabrutschen wird, der ja auch einmal eine wichtige Figur gewesen ist.
Jede Ankündigung, Putin 2018 herausfordern zu wollen, ist oppositionell, selbst wenn es Medwedew wäre, der sie vorbringt. Vielleicht erweist es sich als Vorteil, dass einer den Zug verpasst hat. Nawalny hat an den letzten Wahlen nicht teilgenommen, deswegen bleibt ihm das Los der anderen oppositionellen Kräfte erspart, den Misserfolg verantworten zu müssen. Das wird jetzt zu einer Ressource für ihn.
Könnte Nawalny zum alleinigen Kandidaten der Opposition werden?
Dimitri Oreschkin: Grigori Jawlinski hat hier ein Problem, nämlich dass Nawalny zwei bis drei Mal mehr Stimmen holt als er. Einfach, weil er neu ist und Jawlinski alt; ich meine natürlich nicht sein biologisches Alter, sondern dass er im Bewusstsein der Wähler mit den Neunzigern assoziiert wird. Ob er damals Gutes oder Schlechtes getan hat, ob er sich richtig oder falsch verhalten hat, das ist mittlerweile egal. Es ist einfach Schnee von gestern. Und selbst wenn Nawalny dasselbe sagt – obwohl er es härter oder vielleicht konkreter formuliert –, dann steht es für ihn drei zu eins gegen Jawlinski, wie man es auch dreht und wendet. Sowohl Jawlinski als auch Kassjanow sind schon zu lange da und das Verhältnis der Wähler zu ihnen sieht in etwa so aus: „Euch Jungs haben wir schon seit 25 Jahren vor der Nase.“ Nawalny ist neu. Wie er aber diese Karte ausspielen kann, ist eine andere Frage.
Ekaterina Schulmann: Wichtig ist die Unterstützung derjenigen, die über Ressourcen verfügen. Die Opposition ist derzeit nicht in der Lage dazu. Parnas ist von der Bildfläche verschwunden, die Ressourcen von Jabloko liegen in den regionalen Parteiorganisationen, und die konnten bei der letzten Wahl nicht beweisen, dass sie irgendwie Wähler mobilisieren könnten.
Gleb Pawlowski: Natürlich könnte die Opposition ihn unterstützen, nur wird das 2018 niemanden interessieren. Tut es ja auch jetzt schon nicht. Es wäre ein Kampf im Bereich von einem Prozent. Auf die wird es möglicherweise ankommen, wenn die Regierung Nawalny von den Wahlen ausschließt. Doch auch in dem Fall wird die Regierung ihm seine Führungsrolle nicht nehmen können, solange er selbst keine Fehler macht.
Dicke breitmaulige Katzen, graubetuchte Großmütter oder grienende rosa Schweine nebst verdutzt blickenden Bären – was Wassja Loshkin zeichnet, ist meist das Gegenteil von süß. Wie Kritiker darüber denken, so sagt er, ist ihm herzlich egal, und es bringt ihm eine Menge Geld ein. Seine Bilder werden seit Jahren zigfach im russischsprachigen Internet geteilt, weiterverwendet oder animiert. Eines der ihm ebenfalls zugeschriebenen Motive (ausnahmsweise keine Katze oder anderes Getier, sondern eine Karte, auf der quer über das in Rot getünchte Land geschrieben steht: „Großes wunderschönes Russland“) ist gar mal auf der Liste extremistischer Materialien gelandet.
Dabei scheint Loshkin alles andere als politisch zu sein, wie der Besuch des Kommersant-Dengi in seinem Atelier zeigt. Der Journalist, offenbar ein Fan, zeichnet das Porträt eines Mannes, der zumindest schwer zu greifen ist: ein äußerst ironischer Zeitgenosse, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt und doch oft ernst genommen wird. Für seinen Geschmack vielleicht zu oft.
Wenn man Wassja Loshkin anschaut, denkt man eher an einen coolen Hipster als an einen Künstler: sorgfältig getrimmter Bart, trendige Brille. Aber im Atelier ist alles wie es sich gehört – ein kreativer Saustall. Von den Wänden blicken einen finstre Kerle mit Axt in der Hand oder menschenähnliche Hasen und Bären an. Mitten im Raum steht eine riesige Statue aus Plastik: ein Fettwanst mit Flügelchen. Und unter dem Tisch schaut Putin von einem Portrait verurteilend hervor. Loshkin ist fleißig, bald hat er eine Ausstellung in der Neuen Tretjakow-Galerie. Etwa 70 Bilder sollen es sein, aber im Atelier sind nur noch ein paar – es wird ordentlich gekauft: „Ich versuche, ein Bild pro Tag zu malen.“
Manchmal erwachsen die Ideen aus irgendwelchen Wortspielen: Einfach ein Wort ausgedacht, „Schworsche“, sich hingesetzt und ein schweineartigen Sportwagen gemalt. Manchmal ist es genau umgekehrt: Er zeichnet eine Komposition, malt sie aus und klatscht irgendein Wort drauf, fast wie früher die sowjetischen Plakatkünstler: „Arbeit“ – und fertig ist das Meisterwerk!
Gleich an der Tür erfreue ich ihn mit einer Nachricht: „Ich kenne das Geheimnis Ihres Erfolgs!“ Vor drei- bis vierhundert Jahren gab es doch diese Lubok-Bilder, da malten Künstler etwa die Hexe Baba Jaga hoch zu Ross auf einem Krokodil oder Mäuse, die einen gefesselten Kater aufs Schafott schleppen. Die These, er habe die freigewordene Nische des Lubok besetzt, gefällt ihm: „Ja, stimmt, das waren witzige Bilder mit lustigen Sprüchen, die auf dem Markt verkauft wurden: Hatte der Bauer seine Produkte an den Mann gebracht, wurde für das Geld ein Bild erstanden und das Haus damit geschmückt.“
Das Schlimmste für ihn: seine Bilder erklären zu müssen. Als er begann, in Galerien auszustellen, kam er plötzlich mit einer ganz neuen Kategorie von Fan in Kontakt: „Im Internet gibt’s keine Rentnerinnen, und hier kommen sie in Scharen, inspizieren, loben und dann martern sie einen mit Fragen: ‚Was wollen Sie damit ausdrücken? Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?‘ Keinen Schimmer, was weiß ich denn woher.“
Als andere Kinder Kosmonaut werden wollten, träumte Wassja Loshkin davon, Schauspieler zu werden. Später in den 90ern, als die Klassenkameraden einen auf Gangster machten, spielte Wassja Punk-Rock: „In den Liedern ging es um Tod und Teufel – kein düsterer russischer Rock, sondern Klamauk mit leichtem Hang zum Wahnsinn. Und das ist irgendwann in Malerei übergegangen.“
Er nahm mehrere Anläufe zum Malen. 1996 fand er auf der Müllhalde eine Rolle Zeichenpapier und machte sich daran, krankes Zeug zu malen – Folter, Mord, ausgeweidete Leichen. Seine Bekannten beeindruckte das nicht. Also machte er einen Abschluss in Jura, um dann keinen einzigen Tag als Jurist zu arbeiten. Er saß ohne Geld da. Anfang der 2000er Jahre versuchte er sich dann in sujethafter Ölmalerei. Und schließlich „verwirklichte er sich in Katzen“. Er hatte ein Bild auf LiveJournal hochgeladen und jemand kaufte es für 3000 Rubel [100 Euro – dek]. Von da an pinselte er Kater wie am Fließband.
Der Preis hängt vom Schwierigkeitsgrad ab: Ein kleines Bild mit zwei Figuren kostet 40.000 Rubel [knapp 600 Euro – dek]; ist das Bild größer und sind mehr Figuren drauf, verdoppelt oder verdreifacht sich der Preis. Gekauft wird in ganz Russland: „Ins Ausland verkaufe ich nicht. Unsere ehemaligen Landsleute wollen zwar gern etwas kaufen, aber die haben da oft ziemlich wenig Geld. Außerdem muss man Bescheinigungen besorgen, dass es sich bei dem Bild nicht um ein Kulturgut handelt …“
Das ist eine ernste Sache: Kunsthistorikerinnen fortgeschrittenen Alters versammeln sich, begutachten das Bild, wiegen den Kopf: wertvolles Kulturgut oder nicht? Meistens fällt das Ergebnis unerfreulich für den Künstler aus. Aber Wassja braucht die Wertschätzung der Kritiker nicht:
„Von den Malern mag ich Schischkin. Wald, irgendwelche Flüsschen – einfach schön. Außerdem mag ich Sawrassow und Aiwasowski. Also alles, was in einer sowjetischen Kindheit in den Wohnungen hing. Meine Bilder sind genauso – in erster Linie was fürs Auge. Hier zum Beispiel: Bären telefonieren mit einem Clown, der oben auf einem Baum hockt. Die Bären lächeln, der Clown hat Angst. Natürlich hat das auch einen Sinn, aber darüber denke ich nicht nach. Mir ist wichtiger, das Auge zu erfreuen.“
Ziel seiner Kunst, so der Maler, sei, dass einer das Bild sieht und „Woah!“ sagt. Dass ihm die Sicherungen durchbrennen und er vor Lachen weinen muss. Er sagt, der beste Ort für seine Bilder seien Büros, zu schade, dass nicht alle Unternehmen das so sähen.
Alle seine Figuren haben denselben Prototyp – als Vorlage dient immer er selbst: „Wenn ich irgendeine Fratze malen muss, dann ziehe ich sie und male sie ab. Mittlerweile schaue ich nicht mehr in den Spiegel. Die sind doch alle gleich bei mir und wandern von einem Bild aufs nächste. Ich kann ja gar nicht malen.“ In Zeiten, wo sich jeder, der eine Vase zeichnen kann, Künstler nennt, besticht Wassja mit Bescheidenheit: Kann ich nicht, weiß ich nicht, darüber denke ich nicht nach. „Ich kämpfe ständig gegen meinen Hochmut, damit ich von der Seite nicht wie ein Idiot aussehe.“
Mit seinem Leben ist er außergewöhnlich zufrieden, mit der Epoche eigentlich auch: „Ich habe noch nie so gut gelebt wie jetzt, auch finanziell gesehen.“ Nennt ihn jemand Kämpfer gegen das Regime, ist er sichtlich überrascht, macht aber keine Anstalten, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. „Kaum postest du etwas im Internet, geht’s auch schon los: Krim, Putin, Ukraine, Misulina – jeder schreibt, was ihn bewegt. Die Leute sind gerade verrückt nach Politik, das ist das Pop-Thema schlechthin. Wir können nicht über Neurochirurgie reden. Aber wie man Russland retten soll, das weiß jeder.“
Dass jeder in seinen Bildern etwas Eigenes sieht, hat einen großen Vorteil: Jeder kann etwas mit ihnen anfangen. Aber es hat auch Nachteile: Ständig werden ihm fremde Ideen angedichtet, manchmal sogar fremde Bilder. Seine Bilder haben sich längst in ein „Do it yourself“-Bastelset verwandelt: Man macht in Photoshop Collagen aus ihnen und alle glauben, Wassja Loshkin hätte das gemalt. Auch beim Bild „Großes wunderschönes Russland“, das auf der Liste extremistischer Materialien gelandet ist, herrscht Unklarheit über den Urheber. Man findet im Internet verschiedene Versionen. Das lässt ihn ruhig schlafen.
Auch ohne Politik findet er das Leben interessant genug. Er hat nicht einmal feste politische Überzeugungen: „Ästhetische habe ich: Ich bin orthodoxer Stalinist. Mir gefällt die Antithese ,Wir und die‘. Wir sind die Lichten, Guten, Wunderschönen, und die haben da Schwule, Lesben, Ausländer.”Bei dem Einwand, unter Stalin hätte er wohl kaum solche Bilder malen können, lacht er: „Ich hätte das gleiche gemalt! Ich bin doch Opportunist. Dann wären es eben Bourgeois, Faschisten und Kapitalisten mit solchen Gesichtern gewesen. Den Bourgeois male ich ja jetzt auch.“ Seine Bilder sind zeitlos, denn er malt nie zur Tagespolitik: „Merinow und andere Karikaturisten machen das, was hier und jetzt ist. Bei mir ist alles ewig. Mystik, ein Appell an den innersten Zustand der Seele. Hier zum Beispiel…“, Loshkin bleibt neben einem Bild stehen, es trägt die Aufschrift: Nur durch Glauben, Liebe, Arbeit und Medizin können wir die schlimme Krankheit Homosexualität besiegen. „Dieses Bild ist neulich bei Facebook aufgetaucht:
Zwischen dem Künstler und seinen Fans klafft ein tiefer Graben des Missverstehens: „Meine Bilder sind in Wirklichkeit gar nicht böse. Und die stopfen sie auf Teufel komm raus mit Politik voll – malen die ukrainische oder die DNR-Fahne rein und geben diese tollen Meisterwerke der Kunst als meine Arbeit aus. Es gab mal diese Talkshow NTWschniki, die haben eine fürchterliche Collage aus meinen Bildern zusammengeschnippelt, um das Studio zu dekorieren. Darin haben sich dann zwei Gruppen – sogenannte Russophobe und Patrioten – versammelt und angefangen zu streiten. Plötzlich zeigt Anton Krassowski auf diesen Schund aus Äxten und schreit: ‚Sogar Wassja Loshkin hasst Russland!‘ Mir blieb fast die Luft weg, als ich das sah: Ey, du mieses Schwein! Oder dieser Trickfilm, der gerade im Netz kursiert. Der Macher ist auf meine Webseite gegangen, hat 400 Figuren ausgeschnitten, das Ganze animiert und einen 40-minütigen Trickfilm unter dem Motto ‚Das finstere Russland‘ daraus gemacht. Stellen Sie sich mal vor, was für eine Arbeit das gewesen sein muss. Der Typ hat sie doch nicht alle. Ich hab mal reingeschaut – du meine Güte! Und überall steht ‚Wassja Loshkin‘ drunter.“
Der Künstler wird nicht müde zu betonen, dass sich seine Bilder an das Herz richten, nicht an den Verstand: „Die Bilder berühren eine Saite der Seele. Eine gute! Heutzutage sind die Menschen in Liberale und Patrioten gespalten. Sie hassen einander, und dann sehen sie mein Bild und allen gefällt es. Mag sein, dass sie durch mich keine Freunde werden, aber ich spinne einen dünnen Faden zwischen ihnen. Eine gottgefällige Tat.“
Höhenflüge in Traum und Wirklichkeit
Wassja Loshkin ist ein Pseudonym. Irgendwann hat sich Alexej Kudelin mal unter diesem Namen im Internetforum von Solnetschnogorsk registriert und ihn später zu LiveJournal mitgenommen. Mittlerweile hat er sich daran gewöhnt, dass man ihn damit anspricht: „Ein Kumpel von mir, der Petersburger Künstler Kopeikin nennt mich Wassja und ich ihn Kolja. Obwohl er eigentlich Oleg heißt und ich Alexej.“ Berühmt fühlt er sich seit etwa fünf Jahren: Sogar seine Mutter hat sich einen Facebook-Account zugelegt und liked die Kunst ihres Sohnes.
Vor drei Jahren ist er mit seiner Familie nach Jaroslawl gezogen. Hier gefällt es ihm sehr: alte Häuschen, ruhige Uferstraßen, alles ist langsamer und sicherer als im Großraum Moskau. Wenn politisierte Fans ihm etwas von Emigration ins ferne Ausland erzählen wollen, wird er fuchsig: „Wohin soll ich bitteschön? Mir haben schon die 300 Kilometer nach Jaroslawl gereicht! Alle hatten versucht, mich davon abzuhalten: Bist du verrückt geworden? Da gibt’s Junkies und ‘ne Farbenfabrik. Und überhaupt: Ich bin Russe und muss hier leben. Auch wenn es pathetisch klingt.“ Russland liebt er, weil es groß und schön ist und Seele hat. Die Natur mag er – die Wälder, Flüsse und Felder. Würde er irgendwo unter Palmen leben, würde er sofort anfangen zu trinken.
Zugegebenermaßen hat er auch hier mal gesoffen. Da gab es so eine Phase in seiner künstlerischen Laufbahn. „Ich hab gesoffen wie ein echter Alki, nicht wie so’n Amerikaner.“
Aber es gibt Dinge, die um einiges interessanter sind als der Suff: Er träumt davon, ein Panorama im Stil der Schlacht von Borodino zu machen, nur mit mystischem Sujet, dass zum Beispiel Engel und Dämonen miteinander kämpfen. Die Leute sollen da reingehen und völlig durchdrehen. Außerdem spielt er in der Band Ebonitowy kolotun [dt. Ebonit-Schlotterei]. Zu den Konzerten kommen rund 50 Leute. Kann ja nicht jeder ein Rockstar sein. Dafür mag sein Kind die Musik vom Papa immer mehr, will ständig, dass er sie beim Autofahren anschaltet. Ist das etwa nix?
Kurzum, nun lebt er das ruhige Leben eines rechtschaffenen Mannes und nicht einmal die Frage, was sein wird, falls seine Kater beginnen sollten, die Leute zu langweilen, kann ihn beunruhigen: „Ich denke mir ja selbst, dass die Kunden bald die Nase voll haben werden davon. Dann werde ich Schauspieler. Ich hatte letztens mein Debut im Gogol-Center in einem Stück mit dem Titel Achtung, F. Das sind mehrere Novellen über Frauen: Mutter und Tochter, Ehefrau und Geliebte, Arzt und Patientin, irgendwelche Leidensgeschichten. Und ich war die männliche Figur, die verbindet – Vater, Ehemann, Geliebter, und sogar ein Kater. Die Rolle war eher klein, aber ich hab gut gespielt und man wird mich wieder fragen. Ach, wär ich doch jünger, es ist ziemlich anstrengend, für die Proben zwischen Moskau und Jaroslawl zu pendeln.“
Außerdem hat Wassja noch ein UFO gesehen – ein riesiges Dreieck aus Licht, das direkt über den Dächern schwebte und dann – zisch! – davongerauscht ist in den Himmel: „Der Kosmos ist ja riesig, der passt gar nicht in unseren Kopf. Da kann es alles geben. Aber noch interessanter ist der Gedanke, dass da gar keiner ist, in diesem wahnsinnig großen Kosmos; dass wir die Einzigen sind und der Kosmos selbst uns erschaffen hat, um rauszufinden: Was bin ich denn nun?“
„HIV in Jekaterinburg offiziell zur Epidemie erklärt“ – diese Meldung erregte kürzlich großes Aufsehen in Russland. Auch weil schnell ein unerwartetes Statement kam: Das sei überhaupt keine Neuigkeit und in vielen russischen Regionen der Fall. Jekaterinburgs Bürgermeister Jewgeni Roisman hatte sich da zu Wort gemeldet, ein unkonventioneller Typ in der russischen Regionalpolitik.
Roisman – der nicht im Tagesgeschäft der Stadtregierung steckt, sondern repräsentative Funktionen hat – sprang mit seiner Stellungnahme zum HIV-Problem dem eigenen Gesundheitsamt zur Seite, das ohne Umschweife einfach nur neueste Zahlen präsentiert habe. Die schockierenden Zahlen einerseits und das halbe Dementi zur Meldung andererseits verschafften dem Thema zusätzlich großes mediales Echo.
Das liberale Webmagazinslon.rubat Anton Krassowski, den Leiter des gemeinnützigen HIV-Präventivfonds spid.center, gemeinsam mit Roisman zum Interview. Ist die Situation in Jekaterinburg tatsächlich schlimmer als anderswo in Russland?
Kürzlich wurde bekanntgegeben, dass in Jekaterinburg 1,8 Prozent der Bevölkerung mit HIV infiziert sind. Aber das bedeutet ja nicht – betrachtet man ganz Russland – dass in Jekaterinburg die meisten Menschen mit HIV leben, sondern dass die Erkrankung in Jekaterinburg am häufigsten festgestellt wurde.
Eine derartige Situation haben wir nicht nur in Jekaterinburg – sondern im ganzen Land. Nur hat unser städtisches Gesundheitsamt den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir haben keine Angst, das laut zu sagen.
In Wirklichkeit unterscheidet sich Jekaterinburg, was die Anzahl von HIV-Infizierten betrifft, überhaupt nicht von anderen russischen Millionen- und Industriestädten. Bei uns ist es genauso wie bei allen anderen. Aufs Ganze gesehen ist die Situation im Land sogar schlechter als in Jekaterinburg. Wir haben nur einfach die höchste Anzahl an getesteten Personen. Das Gesundheitsamt in Jekaterinburg arbeitet schon seit vielen Jahren an der Dokumentation von HIV. Wir haben ein großes Zentrum für Prävention und Bekämpfung von Aids. In Jekaterinburg wurde bislang etwa ein Viertel der Bevölkerung erfasst, also auf HIV getestet. In ganz Russland sind das durchschnittlich weniger als 15 Prozent.
In der Oblast Swerdlowsk ist die Anzahl der HIV-Infizierten auf 100.000 getestete Personen sicherlich höher als in Jekaterinburg. Ganz sicher gibt es auch eine ähnliche Situation in Saratow, Nowosibirsk, Irkutsk, Kimry, Twer, Wyschni Wolotschok und vielen anderen russischen Städten. In landwirtschaftlichen Regionen sieht es vielleicht etwas besser aus, aber in Millionenstädten ist die Situation schlechter.
Warum dann jetzt erst die Nachrichtenschwemme über eine Epidemie?
Еine allgemeine Epidemie liegt vor, wenn mehr als ein Prozent der Bevölkerung infiziert ist. Das haben wir doch schon vor fünf Jahren öffentlich gemacht. Ich persönlich spreche seit 1999 davon, dass sowohl in der Stadt als auch in der gesamten Region eine HIV-Epidemie grassiert, weil es schon damals offensichtlich war.
„Unser Drogenzentrum kann bis zu 300 Leute aufnehmen, davon waren etwa 50 HIV-positiv. Ich weiß also, wovon ich spreche.”
Den Zahlen des Gesundheitsamtes zufolge steigt die Zahl der Infizierten jährlich. Wenn ich es richtig verstehe, handelt es sich bei diesen Zahlen um die im jeweiligen Jahr dokumentierten HIV-Fälle und nicht um Neuinfektionen. Wie steht es denn um die tatsächliche Zahl der Neuinfizierten? Denken Sie, dass sie gerade zurückgeht?
Ich denke, die Dynamik dürfte sich ein bisschen verlangsamen. Dennoch steigt die Gesamtzahl der HIV-Infizierten, und diese werden unweigerlich weitere Menschen anstecken.
Die erste sehr starke HIV-Welle wurde durch Heroinkonsum ausgelöst: Bis zu 40 Prozent der heroinabhängigen jungen Männer hatten HIV. Von den jungen Frauen, die heroinabhängig waren, hatten es fast alle, außerdem waren fast alle von ihnen Prostituierte. Aber seit jener Zeit gibt es in den Apotheken sehr viele Einmalspritzen, so dass man sie problemlos kaufen kann.
Dann kam die zweite Welle durch die Droge Desomorphin, im Volksmund auch Krokodil genannt. Zu der Zeit wurden in allen Apotheken im Land tonnenweise codeinhaltige Präparate vertrieben und jeder – vom Apothekerlehrling bis zum Gesundheitsminister – wusste ganz genau, wem und wozu sie verkauft wurden.
Damals lief alles völlig aus dem Ruder, denn Desomorphin ist eine Gemeinschaftsdroge, sie wird in den letzten Löchern konsumiert. Hinzu kommt noch, dass die Droge mit eigenen Spritzen aus einer gemeinsamen Schüssel aufgezogen wird. Im Vergleich mit Heroin war das so, als würde man Öl ins Feuer gießen – ich hatte mit diesen Menschen zu tun, die Zahl der Infizierten unter ihnen war erheblich höher.
Unser Drogenzentrum kann bis zu 300 Leute aufnehmen, davon waren etwa 50 HIV-positiv. Ich weiß also, wovon ich spreche. Wir haben in 15 Jahren etwa 9.000 Drogenabhängige behandelt und haben jeden, den wir aufgenommen haben, zur Blutabnahme ins HIV-Zentrum gebracht.
Codeinhaltige Präparate werden seit 2012 offiziell nur noch auf Rezept verkauft. Hat sich die Situation dadurch gebessert?
Man muss bedenken, dass HIV mit der Zeit vom Drogenmilieu in besser sozialisierte Schichten vorgedrungen ist. Es gibt plötzlich eine Menge Leute, die überhaupt nichts dafür können, dass sie sich angesteckt haben. Die Menschen stecken sich im normalen Leben an – bei Bluttransfusionen, und natürlich durch Geschlechtsverkehr. Doch am meisten schmerzt, dass bei uns seit Mitte der 1990er Jahre Kinder mit HIV zur Welt kommen. (In Jekaterinburg wurde bei 342 Kindern HIV diagnostiziert, bei weiteren 400 besteht der Verdacht. – Slon)
Laut den Ihnen vorliegenden Informationen: Handelt es sich um eine Epidemie oder nicht?
Ich kenne keinen Fall, wo eine HIV-Epidemie auf regionaler Ebene festgestellt wird. Es geht ja hier nicht um eine Grippe, um eine Krankheit, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird, und auch nicht um eine, die sich durch regionale Maßnahmen bekämpfen ließe, verstehen Sie? Welche epidemologischen Maßnahmen könnten denn erfolgen? Das ist mir völlig unklar. Die Region kann natürlich eine gewisse Summe für den Einkauf von Präparaten beisteuern, lokale Programme und andere Dinge vorschlagen, aber das ganze Maßnahmenpaket muss mit Moskau abgestimmt werden. Das heißt grob gesagt: Die Region muss beim Gesundheitsministerium, beim Verbraucherschutz, beim Föderationsrat und bei der Regierung irgendwelche Subventionen für irgendwelche Zusatzausgaben erwirken. Das alles ist eine sehr schwierige Angelegenheit.
Aber die Zahlen in Jekaterinburg sind tatsächlich so: zwei Prozent – und das sind nur die offiziell dokumentierten zwei Prozent.
Wie unterscheiden sich die Zahlen für ganz Russland?
Momentan sind in Russland über eine Million Menschen mit HIV-Infektion erfasst: Am 1. Juni waren es 1.057.000, zum Ende des Jahres werden es 1.120.000 Menschen sein. Und das sind die Zahlen über die gesamte Zeitspanne seit Ausbruch der Epidemie, die nicht jetzt gerade in Jekaterinburg ausgebrochen ist, sondern 1987 in der Sowjetunion.
Eine Epidemie beginnt, sobald in einem Land der erste Fall einer Infektionskrankheit auftaucht, die sich ausbreitet. Nach dem ersten Fall folgten immer mehr, es sind nie weniger geworden, sondern immer mehr. Die Epidemie war seit Beginn bekannt. Auch vor 30 Jahren in der Sowjetunion war sie bekannt. Heute sprechen wir jedoch von einer „generalisierten Epidemie“. Das tut man, wenn die Epidemie den Charakter einer Naturkatastrophe annimmt und ein Ausmaß erreicht, das sich durch nichts und niemanden kontrollieren oder vorhersagen lässt. Wenn also die Zahl ein Prozent übersteigt.
Hinzu kommt, dass das nicht die gesamte Bevölkerung betrifft, sondern den sexuell aktiven Teil. Die Epidemie grassiert also nicht unter Rentnern über 65. Das heißt zwar nicht, dass es unter ihnen keine Virusträger gibt, aber sie sind nicht der „Motor im Handelsverkehr“. Kinder auch nicht. Das sind Menschen im Alter zwischen 18 und 50. Und von dieser Bevölkerungsgruppe sind 5 Prozent infiziert. Bei Männern im Alter zwischen 20 und 39 Jahren sind es sogar 10 Prozent. Das sind die realen Zahlen.
„Das sind Zahlen seit Ausbruch der Epidemie, die nicht jetzt in Jekaterinburg ausgebrochen ist, sondern 1987 in der Sowjetunion.”
Welche Regionen stehen außerdem noch oben auf der Liste?
Das ganze Uralgebiet, die ganze Wolgaregion, ganz Westsibirien. Aber das Problem ist ja nicht, dass in irgendeiner Stadt, beispielsweise in der Oblast Swerdlowsk, ausnahmslos alle HIV haben. In dieser und vielen anderen Regionen ist das Problem, dass ausnahmslos alle kein Geld und keine höhere Bildung haben. Aber sie haben HIV. Fahren Sie mal zum Beispiel nach Sewerouralsk und versuchen Sie dort, Menschen auf HIV zu testen. Oder versuchen Sie mal in Nishni Tagil, einen Aidstest durchzuführen.
Es geht nicht darum, dass die Menschen die Krankheit nicht dokumentieren lassen wollen, sondern darum, dass sie überhaupt keine Vorstellung davon haben, wie sie mit ihr umgehen sollen. Das Problem heißt nicht „HIV in Russland“, es heißt: Drogenkonsum wegen der depressionsfördernden Situation in den Regionen mit stümperhafter Lokalpolitik.
Das bedeutet, solange es bei uns Drogenkonsum gibt – und den wird es geben –, werdet ihr mit keiner Mühe dieser Welt das HIV-Problem lösen. Solange ihr keine Methadon-Therapie in eurem Land erlaubt. Solange ihr nicht aufhört, Drogenkonsum zu kriminalisieren und jeden kleinen Junkie nach Paragraph 228 zu verurteilen, anstatt ihn anständig zu therapieren, ihm ein paar Tropfen Methadon, ein paar Tabletten und einen Job zu geben. Doch in unserem Land sperrt man ihn stattdessen für acht Jahre weg. Das ist der Grund, warum wir nächstes Jahr zwei Millionen Infizierte haben werden. Andere Lösungen gibt es nicht – das ist eine wissenschaftlich belegte Tatsache.
In der ganzen Welt wird sie anerkannt, nur bei uns herrscht eine andere Politik: Unser Chef-Suchtmediziner sagt, die Heilung von Drogensucht sei eine Frage der Willenskraft des Abhängigen. Und morgen behauptet dann der Chef-Onkologe, das Problem unserer Krebstherapie bestünde in der fehlenden Willenskraft der Krebskranken. Deswegen ist es völlig unmöglich, HIV zu besiegen. Hier ist es unmöglich.
Ende Oktober hat Premierminister Dimitri Medwedew die offizielle Regierungsstrategie im Kampf gegen die Verbreitung von HIV bis ins Jahr 2020 und darüber hinaus bestätigt.
Ja, und sie ist grausig. Diese Strategie lautet folgendermaßen: „Wir werden weiterhin haargenau das tun, was wir all die Jahre getan haben, sprich gar nichts.“ Wir werden den Drogenkonsum nicht bekämpfen. Wir werden Drogenabhängige weiterhin einsperren. Wir werden keine Tabletten ausgeben, weil wir kein Geld haben. Aber dafür werden wir irgendeine gemeinnützige Organisation unterstützen, die sich für irgendwelche traditionellen Familienwerte, geistig-moralische Klammern usw. einsetzt. Dann gibt es noch die Webseite des Gesundheitsministeriums o-spide.ru [über-aids.ru – dek], die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat.
Es gibt viele gemeinnützige Organisationen, die tatsächlich versuchen etwas zu verändern, mit gefährdeten Gruppen zu arbeiten, über das Problem zu sprechen. Ehrlich gesagt, ohne unsere Bemühungen hätte man überhaupt nicht angefangen, darüber zu reden. Noch vor zwei Jahren hat niemand darüber geredet. Glauben Sie etwa, die Dynamik war damals eine andere? Dass die Zahlen sehr viel anders waren? Das waren sie nicht. Die Situation in Jekaterinburg war vor einem Jahr genau die gleiche wie vor zwei Jahren. Sie war einfach immer gleich, das muss man sich vor Augen führen. Sicherlich wird etwas getan, aber vor allem der Staat müsste etwas tun. Die Gesellschaft, oder genauer gesagt die NGOs, sollten den Staat unterstützen, und er sollte diese Hilfe dankbar annehmen. Aber der Staat hat kein Recht, wissenschaftlich fundierte Methoden im Kampf gegen das Problem abzulehnen. Ein Staat, der verkündet: „Wir werden den Virus und Drogenkonsum mit Ikonen und Kreuzprozessionen bekämpfen“, hat kein Recht darauf zu existieren. Und ganz sicher wird er HIV nicht besiegen.
„Wir glauben Gauß!“ – so und ähnlich lauteten Aufschriften auf Schildern, die während der Massenproteste nach der Dumawahl 2011 zu sehen waren. In abgewandelter Form taucht das Stichwort nun nach dieser Dumawahl wieder auf, nicht auf der Straße, aber in der Berichterstattung unabhängiger russischer Medien – und in den Sozialen Netzwerken.
Gemeint ist die Gaußsche Glockenkurve, die in der Statistik eine Normalverteilung anzeigt. Der Physiker Sergej Schpilkin machte diese Kurve unter Kritikern der Dumawahl besonders populär. Bereits 2011 und jetzt wieder nutzte er sie zur Analyse der Wahlbeteiligung und der abgegebenen Stimmen. In den erstellten Histogrammen fällt auf, dass die MachtparteiEiniges Russland in Wahlbezirken, in denen die Wahlbeteiligung auf 100 Prozent zugeht, auffällig viele Stimmen auf sich vereinigen konnte. Schpilkins Analyse wirft Fragen auf. Weisen seine berechneten Kurven auf Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe hin? Wie kommt regional eine unterschiedliche Wahlbeteiligung mit teils hohen Stimmenzuwächsen für Einiges Russland zustande? Für den Physiker selbst deutet das auf Manipulationen hin, Kritiker sehen einen klaren Beweis für Fälschungen.
Die Ergebnisse der Dumawahl vom 18. September wurden unterdessen von der Zentralen Wahlkommission(ZIK) offiziell für gültig erklärt. ZIK-Vorsitzende Ella Pamfilowa sagte, das Komitee gehe aber noch ausstehenden Hinweisen zu möglichen Verstößen bei der Wahl nach. Die unabhängigen Wahlbeobachter der Bewegung Golos haben zahlreiche Verstöße – sowohl aus dem Wahlkampf als auch vom Tag der Stimmabgabe – registriert und fassen sie für die Regionen in Berichten zusammen.
Was hat der Physiker Schpilkin, der derweil vielfach zitiert wird, genau ausgerechnet? Wie ist er vorgegangen? Im Interview mit der Novaya Gazeta erklärt Schpilkin seine Methode und wie seinen Berechnungen zufolge ein bereinigtes Wahlergebnis aussehen müsste.
Anna Baidakowa: Inwiefern deuten Schwankungen in der Wahlbeteiligung auf mögliche Fälschungen hin?
Sergej Schpilkin: Die russische Gesellschaft ist äußerst homogen: Sie hält sich in einem einheitlichen, vom Fernsehen geschaffenen Informationsraum auf und zeigt nur geringfügige Unterschiede, was Herkunft und Bildung angeht. Es gibt kaum eine Aufteilung in Gesellschaftsschichten, die sich politisch unterschiedlich verhalten würden.
Eine Ausnahme bildet die sogenannte Moskauer Bildungsschicht – das ist ein recht überschaubarer Bevölkerungsanteil, der in Moskau, St. Petersburg und ein paar anderen Städten existiert und dort unterschiedlich groß ist. Ansonsten unterscheiden sich nicht einmal die ärmsten Stadtbezirke stark genug von den mittelreichen, als dass sich der Unterschied im Wahlverhalten niederschlagen würde – Ghettos gibt es hier nicht.
Man kann nur einige wenige Wahlbezirke ausmachen, wo die Menschen ganz anders wählen. Zum Beispiel im Hauptgebäude der MGU oder im Wohnkomplex Grand Park an der Metro Poleshajewskaja, wo Prochorow [bei der Präsidentschaftswahl – dek] 2012 die meisten Stimmen bekam. Aus diesen Gründen schwankt auch die Wahlbeteiligung nur geringfügig. Sogar zwischen städtischen und ländlichen Gebieten einer Region gibt es kaum Unterschiede.
Was passiert nun, wenn wir die Wahlen fälschen, das Ergebnis zugunsten eines bestimmten Kandidaten verschieben wollen? Ich könnte einfach seine Stimmenzahl erhöhen – zum Beispiel hole ich Menschen ran und sage ihnen, sie sollen ihn wählen. Allerdings lässt sich nur schwer überprüfen, was sie dann tatsächlich tun. Ich kann auch einfach von der Wahlkommission verlangen, die Zahlen zu fälschen: Einem Kandidaten die Stimmen wegnehmen und sie einem anderen zurechnen, doch das geschieht selten.
Das allereinfachste ist, einen Stapel Stimmzettel in die Urne zu werfen, so steigt auch die Wahlbeteiligung: Je mehr Stimmzettel eingeworfen werden, desto höher wird sie. In diesen Wahlbezirk sehen wir dann eine hohe Stimmenzahl für einen Kandidaten und nur ein paar Stimmen für die Opposition. Ohne solch ein Auffüllen von Wahlzetteln ist das Stimmverhältnis in allen Wahlbezirken mehr oder weniger ähnlich, wenn wir aber zusätzliche Stimmzettel einwerfen, steigen die Zahlen von einer Partei. Im gegebenen Fall von Einiges Russland.
Wie sah es denn mit der Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen aus?
Ich schlüssele alle Wahlbezirke nach Wahlbeteiligung auf, sehe mir an, wie viele Stimmen pro Intervall [pro Prozentpunkt Wahlbeteiligung – dek] für jeden Kandidaten abgegeben wurden und erstelle dann Histogramme.
Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)
Nimmt man alle Wahlbezirke zusammen, wurden insgesamt die meisten Stimmen in denjenigen abgegeben, in denen die Wahlbeteiligung bei durchschnittlich 36 Prozent lag, sprich, immer so zwischen 25 und 40 Prozent. Wahrscheinlich war in diesen Wahlbezirken alles in Ordnung. Und alles, was über diese Grenzen hinausschießt, sieht exakt so aus, als hätte jemand einfach Stimmen für Einiges Russland hinzugefügt. Denn wenn Menschen abstimmen, ergeben sich eigentlich zufällige Zahlen, die Verteilungskurve verläuft fließend.
Verschiebe ich nun die Zahlen in einzelnen Wahlbezirken, bekomme ich statt einer fließenden Verteilung eine sägezahnförmige Figur – 2011 wurde das Phänomen als Tschurow-Bart bezeichnet. Verdächtig sind vor allem Bezirke mit einer Wahlbeteiligung von 50, 60 oder 75 Prozent. Solch schöne Zahlen ergeben sich so gut wie nie zufällig.
Wenn die Wahlbeteiligung in einem Wahlbezirk bei 95 Prozent liegt, ist das höchstwahrscheinlich eine Fälschung. So etwas kommt in Großstädten nicht vor. Die Fälschungen finden auf dem Weg von der Stimmabgabe bis zum Eintrag in das GAS-Wahlen-System statt.
In welchen Regionen gab es denn die meisten Auffälligkeiten bei der Wahlbeteiligung?
In Tatarstan, Baschkortostan, in den Republiken des Nordkaukasus, mit Ausnahme von Adygeja, in der von allen geliebten Oblast Saratow, in Belgorod und Brjansk. Dort gab es die meisten Bezirke mit einer auffällig hohen Wahlbeteiligung und hohen Ergebnissen für Einiges Russland.
Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)
Im Nordwesten und nördlich von Moskau passiert das in der Regel selten. In Sibirien stehen die Dinge nur in Jakutien, Kemerowo und Tjumen schlecht, teilweise auch in Omsk. Besonders auffällig war diesmal die Oblast Woronesh: Dort gab es eine riesige Anzahl von Wahlbezirken mit einer Beteiligung von 80 bis 100 Prozent.
Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind
Auf der Krim und in Sewastopol wurde meines Erachtens fair ausgezählt. Dort war die Wahlbeteiligung hoch, doch die Verteilung folgt durchaus einem städtischen Muster und ähnelt sehr der von Moskau.
Können Sprünge in den Zahlen nicht auch natürlich sein? Es sind einfach mehr Leute gekommen, um zu wählen?
Dann würde sich die gesamte Grafik verschieben – so wie im Fall von der Oblast Kirow oder der Oblast Kursk – aber nicht einzelne Teile. Sie würde einfach insgesamt höher liegen.
Ähnelt die Situation der von 2011?
Auf der Website der Zentralen Wahlkommission gibt es Daten zu allen Wahlen seit 1999. Und je weiter wir zurückgehen, desto mehr ähnelt die Stimmverteilung einer glockenförmigen Kurve, die man auch die Gauß-Kurve nennt – also einer Normalverteilung.
Von Anfang 1999 bis 2005 wich die Wahlbeteiligung in allen Moskauer Bezirken nie um mehr als 5 Prozent vom Durchschnittswert der Stadt ab.
2008 musste die Moskauer Regierung wohl unbedingt ihre Loyalität mit Dimitri Medwedew demonstrieren – da klaffte die Wahlbeteiligung weit auseinander, sogar in benachbarten Bezirken. Das wiederholte sich 2009 bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament, als es in dem Bezirk, wo Mitrochin selbst gewählt hat, keine einzige Stimme für Jabloko gab. Dann folgte der Skandal bei den Dumawahlen 2011: Als Einiges Russland beispielsweise im Moskauer Bezirk Ramenki in ein und demselben Wohnkomplex in der einen Hälfte 28 Prozent bekam und in der anderen 58 Prozent. Es kam zum Skandal, zu Protesten und so weiter und so fort, also hat man 2012 die Fälschungsmaschine in Moskau drastisch gedrosselt. Die Wahlbeteiligung lag wieder bei Normalwerten. Normalwerte gab es auch bei der Bürgermeisterwahl 2013.
Für die Stadt Moskau hat Schpilkin in diesem Jahr keine extremen Unregelmäßigkeiten festgestellt. / Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)
Ich habe im Vorfeld vermutet, dass diese Wahlen entweder dem Szenario von 2003 (den fairsten Wahlen, zu denen uns Daten vorliegen) oder dem Szenario der Wahlen von 2011 (den unfairsten) folgen würden.
Von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wurde die schlechteste gewählt. Beziehungsweise wurde sie gar nicht gewählt – die Maschine ist längst in Gang und läuft von selbst. Um sie zu stoppen, müsste man ihr lange auf die Finger hauen.
Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind. Und im Gegensatz zu 2011 fehlen diesmal auf der Gewinnerliste neue Gesichter – seinerzeit war Gerechtes Russland auf der Bildfläche erschienen.
Besonders niedrig war die Wahlbeteiligung in Moskau und in Sankt Petersburg (35,2 und 32,7 Prozent). Wie wichtig ist das?
Vor zehn Jahren lag die Wahlbeteiligung in Moskau bei 56 Prozent. Das heißt, dass die Stimme eines Moskauers diesmal doppelt so viel zählte und sogar eine kleine Zahl von Anhängern der Demokraten hätte ihren Kandidaten in die Duma bringen können. Momentan beträgt der Anteil von Staatsangestellten und Rentnern zehn Prozent – was ausreicht, um einen beliebigen Kandidaten ins Amt zu bringen. Bei so einer Wahlbeteiligung entscheiden sie alles. Bekanntlich fehlten Nawalny für die zweite Runde 35.000 Stimmen. Wären mehr Menschen gekommen, hätte es eine zweite Runde gegeben. Es könnte also sein, dass die Großstädte gewisse Chancen ungenutzt gelassen haben.
Wie würden Ihren Berechnungen zufolge die tatsächlichen Wahlergebnisse aussehen?
Für Einiges Russland wurden 28 Millionen Stimmen abgegeben, davon wurden nach meinen Berechnungen 12 Millionen künstlich aufgestockt. Das bedeutet, dass 45 Prozent der Stimmen für Einiges Russland gefälscht sind, was einem Anteil von etwa 11 Prozent aller Wahlberechtigten entspricht. Das bedeutet, dass wir statt der offiziellen Wahlbeteiligung von 47,8 Prozent eine Beteiligung von 36,5 Prozent haben. Statt der 54 Prozent für Einiges Russland ergeben sich 40 Prozent. Aus politischer Sicht ist das ein ziemlich wichtiges Ergebnis: 15 Prozent aller Wahlberechtigten haben demnach die Partei unterstützt. Mit diesen realen 15 Prozent (und – wenn man mit den aufgestockten Stimmen rechnet – mit den offiziell ausgewiesenen 27 Prozent) werden sie nun irgendwie leben müssen.
Sergej Petrow ist Russlands größter Autoimporteur und war zuletzt neun Jahre lang Abgeordneter der Staatsduma. Nun will er nicht noch einmal zur Wahl antreten. Als Politiker wollte er etwas verändern, politischen Wettbewerb anregen – hat jedoch das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Mittlerweile sieht er das Parlament als Institution im Niedergang begriffen.
Noch sitzt der Milliardär für die Partei Gerechtes Russland in der Duma, die jetzt am Sonntag neu gewählt wird. Aus Teilen dieser Fraktion gab es in der Vergangenheit zeitweise aufmüpfige Töne – auch wenn das selten größere Wirkung hatte. Petrow selbst stimmte gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz und das Jarowaja-Paket, bei der Angliederung der Krim enthielt er sich als einer von ganz wenigen Abgeordneten der Stimme. Petrow ist der Meinung, dass die Bürger gute Politik viel stärker einfordern müssten. Erst eine starke Krise, eine Erschütterung, wenn nicht gar ein Zusammenbruch des Systems könne einer liberalen oppositionellen Kraft dabei wirksame Unterstützung bringen.
Im Interview mit dem liberalen Wirtschaftsblatt Vedomosti gibt der Geschäftsmann eine vielbeachtete Innenansicht aus dem russischen Parlament.
Vedomosti: Sie haben früher oft in Interviews gesagt, dass Sie auf die große Krise im Land warten und nicht an die Möglichkeit einer schrittweisen Entwicklung glauben. Wann wird das Ihrer Meinung nach passieren?
Sergej Petrow: Manchmal weiß man zwar, was passieren wird, kann aber nicht voraussagen, wann.
Genau das ist jetzt der Fall. Ich weiß, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der höchstwahrscheinlich keinen evolutionären Ausweg mehr bietet, der Point of no Return liegt hinter uns, und das System wird voraussichtlich mit einem Riesenkrach in sich zusammenstürzen, wie alle festgefahrenen Strukturen.
Sie glauben also nach wie vor, dass sich in Russland eine Ineffizienz anhäuft, die letztlich zum Zusammenbruch führt?
Missverhältnisse werden stärker, der Niedergang der Institutionen schreitet voran. Unter normal funktionierenden Institutionen verstehe ich zum Beispiel eine Polizei, die vor allem dem Gesetz folgt, und nicht den Anweisungen des Innenministers. Bei uns verstehen viele Leute unter Begriffen wie Konkurrenz und Institutionen das, womit sie aufgewachsen sind, also etwas ziemlich Exotisches.
Glauben Sie, dass Reformen unmöglich sind?
Wenn Sie historische Parallelen finden, wo ein System reformiert werden konnte, das ein solches Niveau des Niedergangs erreicht hat, ändere ich gern meine Meinung. Ich bin zwar kein Historiker, aber ich glaube nicht, dass es solche Beispiele gibt. Obwohl uns klar ist, dass es uns ohne Reformen langfristig schlechter geht, nehmen wir lieber die Katastrophe morgen in Kauf als den sanften Ausstieg heute. Hätten wir in der UdSSR in den 1970er Jahren mit Reformen begonnen, wäre sie 1991 vielleicht nicht zusammengebrochen.
Duma-Diagnose
Können Sie eine Diagnose zur Situation im Parlament stellen? Warum ist ein Gesetz wie das Jarowaja-Paket möglich, wo doch für jeden denkenden Menschen offensichtlich ist, welchen Schaden es anrichtet?
Jede Struktur verkommt allmählich, wenn sie keine wirkliche Verantwortung trägt – wenn der Glaube vorherrscht, die endgültige Verabschiedung eines Gesetzes hänge nicht von einem selbst ab, wenn man als Abgeordneter nicht den eigenen Namen unter das Jarowaja-Paket setzen muss und es auch nachher nicht gleich wieder selbst revidieren muss.
Wenn die Dinge so stehen, schämt sich niemand für seine Unprofessionalität. Und schreibt dann solche Gesetzesentwürfe: „Ich möchte, dass alle in Frieden leben und gut zueinander sind.“ Wie das zu geschehen hat, ist Sache der Regierung. Im Gesetzestext folgen nur Verweise auf Rechtsnormen.
Ein solches Niveau der Gesetzgebung wäre in einem normalen Parlament unmöglich – unserem erlaubt es, gut 500 Gesetze pro Jahr zu beschließen, ohne für ihre Qualität Verantwortung zu übernehmen. Klar ist es leichter, auf technische, aber für Wirtschaft und Bevölkerung notwendige Gesetze zu verzichten und lieber solche zu verabschieden, hinter denen die Fraktionen stehen.
Die Kollegen in den Ausschüssen sehen sich dann an, wie gut das Gesetz durchgeht und wer es eingebracht hat. Der Präsident? Dann bloß nicht diskutieren. Die Regierung? Da kann man schon mal was sagen. Hör mal, heißt es dann, das ist doch dein Vorschlag, du profitierst sicher davon, komm, gib uns auch was ab. Bei uns gibt es kein Anti-Lobbyismus-Gesetz. Die Kollegen können nicht glauben, dass ein Gesetz zum Wohl eines ganzen Wirtschaftszweigs beschlossen werden soll, weil sie in einem Umfeld aufgewachsen sind, wo das nie jemand so gemacht hat. Du sagst ihnen: Die Amerikaner haben uns in den 1940er Jahren mit dem Lend-Lease-Act geholfen, und dann auch in den 1990ern, und sie sagen darauf: Was war das denn bitte für eine Hilfe, ihre alten Vorräte haben sie uns angedreht. Eine solche Wahrnehmung ist natürlich ein Riesenproblem in der Kommunikation.
Wenn die Abgeordneten in schönster Eintracht dem Jarowaja-Gesetz zustimmen oder dem Gesetz zur Adoption russischer Waisenkinder durch Ausländer? Folgen sie damit ihren eigenen Interessen, oder wird Druck auf sie ausgeübt, gibt es da Abhängigkeiten?
Die Debatten im Parlament sind eine Methode, Konflikte in einer reifen Gesellschaft zu lösen, und wir haben uns dafür als zu schwach erwiesen. Bevor man in Rechte und Linke einteilt, muss man zuerst einmal eine ausreichende Menge an Menschen mit einer eigenen Meinung haben.
Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll
Sogar unter den Anhängern von Jedinaja Rossija haben einige gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt, ohne auf den Fraktionszwang zu achten. Tatsache ist, dass solche Alleingänge zu keiner besonderen Entrüstung im Kreml führen, sie ärgern vielmehr die Kollegen [die Mehrheit, die dafür stimmt]: „Wollen die uns als Halunken hinstellen?“
Als erstes müssen unsere Abgeordneten lernen, unabhängig zu sein. Das wird nur funktionieren, wenn die politischen Kräfte ausgewogen sind und die Unabhängigen sich auf jemanden stützen können. Bisher ist jeder einzeln unterwegs und denkt, jede Minderheit mit anderer Meinung sei die Opposition.
Sie waren einer von sieben, die gegen das Adoptionsverbot durch Ausländer gestimmt haben. Wie haben Ihre Kollegen reagiert?
Die Kollegen haben geflüstert: „Was machst du denn da? Die werden dich und uns auffressen.“ Das ist diese Geschichte mit der doppelten Moral: Als Kind bringt dir deine Mutter bei, die Wahrheit zu sagen, aber spätestens in der zweiten Klasse weißt du, dass du in der Schule etwas anderes sagen musst als zu Hause in der Küche.
Wovor haben die Abgeordneten Angst – ihren Sitz zu verlieren, ihre Privilegien?
In den neun Jahren, die ich im Parlament verbracht habe, habe ich gesehen, wie sich binnen kürzester Zeit sogar Leute, die ihre Meinung äußern konnten, daran gewöhnten, dass es einfacher ist, das zu tun, worum man gebeten wird. Ihr genetisches Gedächtnis sagte ihnen, dass man sich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnt, wenn jemand Entscheidungen trifft und, wie Gaidar schreibt1, zu uneingeschränkter Gewalt bereit ist. Das ist eben jenes historische Gedächtnis: dass ganze Dörfer niedergebrannt wurden, weil ihr euch aufgelehnt habt – und niemand konnte euch schützen. Politische Gegengewichte wurden in Russland nicht geduldet, dafür gibt es Tausende Beispiele.
Meinen Sie, dass bei den Abgeordneten sogar im Falle absolut ehrlicher Parlamentswahlen mit der Zeit ein moralischer Niedergang einsetzt – aufgrund der durch die Vorgeschichte bedingten Mentalität?
Die Mentalität kann sich ändern. In Russland ist eine soziale Schicht entstanden – Umfragen zufolge ungefähr 14 Prozent der Bevölkerung – die ein westliches, differenzierteres Verständnis des Parlamentarismus fordert, eines, in dem Minderheiten geschützt werden. Derzeit gilt ja bei uns das einfachste Muster: Wir sind die Mehrheit, wir entscheiden. Ihr seid gegen die Mehrheit? Dann seid ihr gegen die Heimat!
Die Abgeordneten sehen für sich keinerlei Vorteil darin, unabhängig zu sein. Nicht mit Unabhängigkeit machen sie sich bei den Wählern beliebt, sondern damit, dass sie zum Beispiel für ihren Wahlkreis ein Stück mehr Territorium ergattern, aus einem anderen Wahlkreis – das ist eine Leistung. Der Sinn des Satzes „Widerspruch ist die höchste Form des Patriotismus“ ist für die Gesellschaft vorläufig nicht greifbar.
ABSCHIED VOM PARLAMENT
Wann haben Sie beschlossen, die Duma zu verlassen?
Bereits im Herbst 2015. Für einen Unternehmer bringt der Abgeordnetenstatus sehr viele Einschränkungen mit sich: Man darf keine Konten im Ausland haben, keinen ausländischen Pass, man darf nicht Mitglied eines Verwaltungsrats sein. Man darf dies nicht, man darf jenes nicht. Das ist alles sehr belastend für eine Geschäftsleitung, für ein Unternehmen. Gleichzeitig konnte ich das, was ich in der Duma wollte, nicht erreichen: den politischen Wettbewerb anzuregen, wenigstens die Unabhängigkeit der Gerichte zu garantieren, für den Aufbau von Institutionen zu sorgen. Es gibt sehr viel Gegenwind.
Gibt es denn etwas, das Sie erreicht haben?
Ich sehe es so, dass sich die Situation kontinuierlich verschlechtert hat und ein einzelner Abgeordneter nicht viel ausrichten konnte. Das Einzige, was ich tun konnte, war: den anderen ein Beispiel für Unabhängigkeit sein. Aber die sagten: „Er hat irgendwelche Beziehungen zur Präsidialadministration, deswegen kann er sich das erlauben.“ Die Mehrheit nimmt die Botschaft, die sie aussenden, also sowieso nicht wahr, aber vielleicht folgt ja in der Zukunft jemand ihrem Beispiel.
Aber das muss man alles vor dem Hintergrund der Ausgangssituation betrachten. Seit dem Beginn meiner Tätigkeit in der Duma ist alles viel schlechter geworden, wir haben nichts erreicht. Aber seit 1991 haben wir viel erreicht: Wir leben nicht mehr im Sozialismus und höchstwahrscheinlich führt kein Weg mehr zurück in die Planwirtschaft. Mittlerweile sind 14 Prozent der Bevölkerung oppositionell eingestellt – das sind nicht mehr die paar hundert Dissidenten, die wir in den 1970er Jahren hatten, die Hälfte davon in der Klappse und die andere Hälfte im Gefängnis. Dieser Zuwachs ist ein großartiges Ergebnis. Also von wo aus wollen wir die Situation betrachten?
Sie hatten doch einen Plan, mit dem Sie in der Duma begonnen haben. Konnten Sie den umsetzen?
Ich wollte, dass eine Fraktion entsteht, egal welche, die eine Konkurrenz zur Mehrheit bildet. Politische Konkurrenz ist das Wichtigste, denn dann muss im Parlament verhandelt werden. Meinetwegen auch mit den Kommunisten. Es ist schwer, ein Gleichgewicht zu erreichen, solange die Gesellschaft nicht sukzessive in eine neue Entwicklungsphase eintritt. Wir haben nach 1991 zu viel erreicht, sind über das eigentliche Niveau unserer politischen Bildung hinausgeschossen. Und nun rutschen wir Stück für Stück wieder ab und auf die nächste Krise zu. Die, wie ich hoffe, der Opposition als konkurrierender politischer Kraft eine Unterstützung von 30 bis 35 Prozent verschaffen wird.
WAS DIE WÄHLER TUN KÖNNEN
Michail Prochorow bekam bei den Präsidentschaftswahlen sieben Prozent. In absoluten Zahlen sind das sehr viele Menschen. Warum hat ihm das nicht geholfen? Ihn nicht geschützt?
Sieben Prozent sind viel zu wenig für ein Kräftegleichgewicht. Selbst 49 Prozent würden nicht reichen, wenn die Opposition nicht weiß, wie sie die Energie der Proteste in Taten überführen soll, die eine Veränderung der politischen Landschaft bewirken. Es gibt in Russland keine Spaltung zwischen Konservativen und Labourpartei, oder Menschen, die höhere Steuern oder Sozialleistungen wollen. Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und überhaupt nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll. Sie hindert doch nur daran, die Amerikaner bei irgendetwas zu übertrumpfen oder jemandem ein Stück Land zu entreißen. Stellt unnötige Fragen. Die Idee des Fair Play ist uns Russen völlig fremd.
Hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner
Es ist sehr schlecht, dass man uns in den letzten zehn Jahren des politischen Lernzyklus beraubt hat, bei dem die Wähler zwar Fehler machen, einen Populisten oder Kommunisten wählen, dabei aber trotzdem vor allem eine ehrliche Stimmauszählung fordern. Bei dem sich die Opposition zusammentut und sagt: Bevor wir darüber reden, wer hier was möchte, nehmt erstmal die Filter aus dem System, die unfairen medialen Möglichkeiten und überhaupt die Möglichkeit, einfach so irgendetwas „abzuschaffen“. Wie [Alexander] Korshakow seinerzeit vorschlug: Lasst uns die Wahlen abschaffen! Woraufhin es hieß: Aber das Verfassungsgericht wird das anfechten. Und er wiederum sagte: Dann schaffen wir das Verfassungsgericht ab …
Was sollen die von Ihnen genannten 14 Prozent Protestwähler tun, um ihre Position kundzutun?
Ich würde ihnen natürlich raten, wählen zu gehen, wenn sie eine Entwicklung wollen. Wir alle sind berufstätige Menschen und wollen kein Chaos auf den Straßen, davon hat keiner etwas.
Ich würde zu allen genehmigten Demonstrationen gehen, denn das war das Einzige, worauf die Regierung reagiert hat. Ich würde ihnen raten, selbst als Beobachter zu den Wahlen zu gehen, anstatt zu Hause zu sitzen und davon auszugehen, dass ein anderer alles für sie überprüft. Sie sollten sich vor Augen halten, dass jeder bis zum nächsten Wahlgang ein Dutzend Freunde und Bekannte rekrutieren kann.
Glauben Sie denn, dass die Wirtschaftskrise den Liberalen mehr Anhänger bringen wird? Menschen, die plötzlich ohne Arbeit oder mit einem verringerten Lohn dastehen, stellen mehr Fragen. Solange alles gut ist, sind alle der Meinung, dass wir den Präsidenten und das Establishment grundlos [mit unserer Kritik – Anm. d. Red. Vedomosti] belästigen. Unter den Wählern gibt es natürlich auch die 30 Prozent, die nichts dagegen hätten, gleich morgen Kiew einzunehmen. Aber 45 Prozent sind ein Sumpf, der brodeln würde, sobald die Probleme größer werden. Dann würden sie höchstwahrscheinlich hinhören, was die Liberalen zu sagen haben. Wenn wir bis dahin allerdings keine Partei oder faire Auszählungen haben und als Konkurrenz Kriminelle und Nationalisten losgelassen werden, sind die gesellschaftlichen Spannungen nicht zu lösen.
Die Duma spielt ganz offensichtlich keine eigenständige politische Rolle, sondern setzt die Entscheidungen von Administration und Regierung technisch um. Gleichzeitig sehen wir, wie hinter den Kulissen Menschen aus Putins Umfeld zunehmend an Bedeutung gewinnen. Wie kommt das?
Weil davon so wenig an die Öffentlichkeit dringt, tendieren wir dazu, deren Rolle manchmal überzubewerten … Aber hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner.
Zudem wirkt sich die außenpolitische Situation auf die Lage im Inneren aus, genauso wie tausend andere Dinge. Glauben Sie mir, den Einfluss einer einzigen Gruppe gibt es nicht. Es findet vielmehr eine Art Maklergeschäft statt, bei dem die führenden Kräfte schauen und entscheiden – dem Stärksten muss man helfen und Entscheidungen zugunsten einer einflussreichen Gruppe treffen. Manchmal bringen irgendwelche Gruppen auch Initiativen ein, ohne das Zentrum in Kenntnis gesetzt zu haben – einfach, um die Reaktionen zu sehen: Der eine bekommt eins auf den Deckel, der andere steht plötzlich in der Gunst. Und sie bekommen die Mehrheit, weil die Gesellschaft keine anderen Forderungen stellt. Das Szenario, dass in einer dieser Gruppen unser Lee Kuan Yew heranwächst, ist sogar in der Fantasy-Welt zu gewagt.
PROGNOSE
Was denken Sie über die Losung „Faire Wahlen“ und Ella Pamfilowa in der Zentralen Wahlkommission? Ist das alles nur zum Schein oder steckt dahinter tatsächlich der Wunsch, fair zu spielen?
Das ist Stühlerücken auf der Titanic. Aber immerhin besser als Wahlbetrug.
Glauben Sie, dass die Präsidialadministration bereit ist, ein saubereres Verfahren zuzulassen?
Es sind ja nicht die Leute aus der Präsidialadministration, die die Wahlen fälschen. Das macht irgendeine Person vor Ort. Die regionalen Regierungen kennen sich damit aus.
Was haben sie dann zu befürchten? Sogar wenn man saubere Wahlen zuließe, bestünde doch keine Gefahr für sie, weil das politische Feld geschützt ist.
Im Augenblick schon. Aber wenn man saubere Wahlen zulässt, dann kann schnell eine Gefahr entstehen. Diese Leute lösen immerzu taktische Aufgaben und sind lausige Strategen. Sie arbeiten daran, das Land möglichst lange in einem durch sie lenkbaren Zustand zu halten, weil sie davon ausgehen, dass niemand besser regiert als sie. Ich kann sie verstehen, sie folgen ihrer eigenen Logik, aber mir passt diese Logik nicht. Deswegen muss man einfach schauen, wie viele Anhänger sie haben, wie viele wir, und das Verhältnis langsam zu unseren Gunsten verändern. Unsere 14 Prozent sind in der Regel selbstgenügsame Leute, die Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln. Ihr Einfluss wird sich jetzt vergrößern, weil die Wirtschaft langsam zum Erliegen kommt.
Das heißt also, Sie halten die Selbstorganisation für eine Aufgabe der Wählerschaft und nicht der Politiker?
Diese Aufgabe wird niemals von Politikern übernommen. Mir sagt folgende Aussage am ehesten zu: Je weniger Bedeutung wir der Rolle einzelner Persönlichkeiten in der Geschichte beimessen, desto näher kommen wir der Wahrheit. Politiker orientieren sich an den Forderungen der Wähler.
Wer wird also in die Duma kommen? Menschen, die in noch größeren Abhängigkeiten stehen? Kann es noch schlimmer werden?
Das kann es immer. Solange eine Gesellschaft ihre Minderheit und deren Standpunkt nicht schützt, wird sich das Parlament mit großer Wahrscheinlichkeit verschlechtern. Es braucht eine starke ökonomische oder irgendeine andere Erschütterung. Etwas muss passieren, damit die Menschen beginnen sich zu fragen: Wir verlassen uns doch immer auf die Regierung, warum ziehen wir dann immer den Kürzeren?
1.Jegor Gaidar in Der Untergang eines Imperiums, 2006: „Die Überzeugung der Staatsmacht und der Gesellschaft davon, dass der Staat fähig ist, in uneingeschränktem Ausmaß Gewalt anzuwenden, um die Äußerung von Unzufriedenheit zu unterbinden, war absolut.“ – Anm. Vedomosti
Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.
32 Minuten dauerte die Autofahrt, auf der die Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten Tatjana Moskalkowa, die Fragen des Novaya Gazeta-Korrespondenten Pavel Kanygin beantwortete. Oder eben auch nicht beantwortete: „Schwule und politische Gefangene – sind das etwa die brennendsten Fragen?“, sagt die russische Menschenrechtsbeauftragte und einstige Generalmajorin der Polizei im Interview zu Kanygin. Hier, wie auch an anderen Stellen, offenbart sich ein grundlegend unterschiedliches Verständnis dessen, was eigentlich mit „Menschenrechten“ gemeint ist.
Das Interview, das die Novaya Gazeta in der vergangenen Woche veröffentlichte, schlug aber auch aus anderen Gründen hohe Wellen: Nicht nur, dass Moskalkowa während des Gesprächs unvermittelt vom „Sie“ zum „Du“ wechselt, die Namen renommierter Menschenrechtsorganisationen offensichtlich nicht auf dem Schirm hat, schließlich den Fahrer bittet anzuhalten und kurz darauf das Interview abbricht. Sondern sie wandte sich, wie Kanygin berichtet, eine Stunde später nochmal an ihn mit der Bitte, das Interview nicht zu veröffentlichen, da sie darin „einen schlechten Eindruck“ mache. Die Novaya Gazeta, die das gesamte Gespräch schließlich abdruckte, berichtet außerdem von „nicht-öffentlichem“ Druck, der auf die Redaktion ausgeübt worden sei. Und veröffentlichte das Gespräch – mit dem Hinweis, Staatsbeamte seien verpflichtet, über ihre Tätigkeit zu informieren. Zuvor war der Menschenrechtsbeauftragten drei Tage Zeit gegeben worden, das verschriftlichte Interview zu autorisieren. Eine Möglichkeit, von der sie aber keinen Gebrauch gemacht hatte.
Pavel Kanygin: Die Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragte ist ein ganz neues Arbeitsfeld für Sie. Wie fühlen Sie sich in der Position?
Tatjana Moskalkowa: Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet: Es ist schwierig. Denn es ist ein neues Leben, ein anderer Blickwinkel auf die Geschehnisse, die ich in meiner bisherigen Laufbahn eben anders wahrgenommen habe.
Dabei gehören Sie doch zu den Silowiki.
Ich habe zehn Jahre in der Abteilung für Begnadigung des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR gearbeitet. Neun Jahre in der Duma. Das alles waren sehr wichtige soziale Erfahrungen für mich, denen nun ein besonderer Wert zukommt, wenn es darum geht, meinen Platz und meine Rolle im System zum Schutz der Menschenrechte zu verstehen und den Menschen nützlich zu sein. Und effektiv Menschen zu schützen, die in eine schwierige Lebenslage geraten sind. Menschen, die sich der Willkür, dem Bösen und der Unmöglichkeit widersetzen, im Kampf mit einem stärkeren Gegner ihr Recht zu verteidigen. Dank meiner Erfahrung und Kommunikationsfähigkeit ist mir diese Chance zuteil geworden.
In Russland hat es sich ergeben, dass die Idee vom Schutz der Menschenrechte im Antagonismus steht zur Regierung und zum System. Folgen daraus keine moralischen Widersprüche für Sie?
Man verwechselt den Menschenrechtsrat oft mit einer Organisation für Menschenrechte. Der Menschenrechtsrat ist ein Staatsorgan. Es ist ein Organ, das sich quasi zwischen der Gesellschaft und dem Staat befindet.
Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler
Es spricht mit den Regierungsorganen in einer für sie verständlichen Sprache und schafft entsprechende Umstände, damit diese Organe nicht nur hören, sondern auch zuhören.
Sie sehen sich also nicht als eine Menschenrechtlerin der Gesellschaft?
Doch, genau das tue ich. Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler.
Wie würden Sie die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in Russland beschreiben?
Ich denke, es gibt derzeit viele Verstöße im Land, die sowohl System- als auch Einzelcharakter tragen. Diese Verstöße lassen sich im sozialen Bereich wie auch im Bereich des Strafrechts und des allgemeinen Rechts beobachten … Aber der Fortschritt in unserem Bereich, im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Wenn wir unsere Zeit mit früheren historischen Abschnitten vergleichen, sehen wir einen Fortschritt!
Meinen Sie wirklich, dass man die Gesetze, die die Regierung in den vergangenen Jahren verabschiedet hat, als Fortschritt bezeichnen kann?
Propaganda von Homosexualität? So ein Gesetz gibt es bei uns nicht. Sie meinen vielleicht das Gesetz zum Verbot von Kinderpornografie.
Das Gesetz haben Sie auch unterstützt. Aber mir geht es um das Ganze.
Lassen Sie uns ganz konkret sprechen. Wenn es Ihnen um Minderheiten geht, dann können Sie selbst sehen, dass die sexuellen Minderheiten seit 2012 und bis heute in keiner Weise in ihren Rechten beschnitten wurden.
Sagen Sie mir doch, wo genau man LGBT einschränkt, dann können wir weiterreden
Sie haben nicht aufgehört zu existieren. Man hindert sie nicht daran zu tun, was sie tun. Sagen Sie mir doch, wo genau man sie einschränkt, dann können wir weiterreden.
Im Ausdruck ihrer Lebensform, im Familienrecht, in ihrem Recht, sich als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu bezeichnen.
Das alles gibt es nicht. Nennen Sie mir Beispiele für Beschränkungen ihrer Rechte. Vielleicht haben Sie ja recht und ich übersehe irgendwelche Vorgänge, die mit der Umsetzung der Gesetze verbunden sind.
Gut. Was ist zum Beispiel damit, dass LGBT ihre gemeinnützigen Organisationen nicht anmelden dürfen? Sich nicht versammeln und keine Veranstaltungen durchführen dürfen? Keine Kinder adoptieren dürfen?
Adoptieren dürfen sie nicht, nein. Was den Rest betrifft, so weiß ich, dass in Sankt Petersburg gerade erst eine Demonstration stattgefunden hat. Und man dafür gesorgt hat, dass sie nicht mit dem Tag der Fallschirmjäger zusammenstoßen. Damit die Interessen der unterschiedlichen sozialen Gruppen nicht aufeinanderprallen. Auch die LGBT existieren und führen Demonstrationen durch. Niemand engt sie ein.
Anders gefragt: Sie sind bereit sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten einzusetzen? Können sie mit Ihrer Hilfe und Unterstützung rechnen?
Im Fall von Verstößen gegen ihre Rechte, werde ich natürlich alle Mittel ergreifen, um diese Verstöße zu beheben. Kennen Sie denn Fälle, in denen jemand aufgrund von LGBT-Zugehörigkeit in seinem Recht auf Bildung eingeschränkt worden wäre? Einen Arbeitsplatz nicht bekommen hätte? Oder an einer Universität nicht angenommen worden wäre?
Solche Fälle gibt es ist massenweise, Tatjana Nikolajewna.
Ich habe in meiner ganzen Amtszeit als Menschenrechtsbeauftragte noch kein einziges solches Gesuch bekommen. Und das ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit.
Ehe wir das Thema LGBT abschließen, würde ich gern noch eine Sache spezifizieren. Als in der Duma über das „Antischwulen-Gesetz“ diskutiert wurde, weiß ich, dass unter anderem Sie sich dafür eingesetzt haben, den Paragraphen zur Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern wieder ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Hat sich Ihre Position seitdem geändert?
Nein! Ich habe niemals … Das ist völliger Unsinn! Sie können sich die Mitschriften der Duma besorgen und sich selbst davon überzeugen.
Sie haben in einem Interview darüber gesprochen.
Nein, ich habe mich nie öffentlich für eine Wiedereinführung der Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern eingesetzt. Denn meinen Überzeugungen nach bin ich Demokratin und schätze alle Errungenschaften der 1990er Jahre, die wir erkämpft haben: die Aufhebung des Eisernen Vorhangs, die Menschenrechte, die Abschaffung des Einparteiensystems, ein freies Parlament und auch den Verzicht auf die Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern.
Aber ein Mensch kann trotzdem seine eigene Meinung haben. Dem einen gefällt Rot, dem anderen Schwarz. Ich gehöre nicht zu denen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen ausweiten wollen, aber auch nicht zu denen, die sie unterbinden wollen. Das ist ein sensibler Bereich, allerdings bin ich eine Anhängerin von traditionellen Beziehungsformen.
Gut. Lassen wir dieses sensible Thema. In diesem Jahr wurden unter Ihrem Vorsitz staatliche Förderungen an unterschiedliche NGOs vergeben. Die Menschenrechts-NGOs wurden jedoch weitestgehend ignoriert. Gesellschaftliches Verdikt, Für Menschenrechte oder Memorialbekamen keine Förderung. Bei der Moskauer Helsinki-Gruppe gab es Schwierigkeiten. Aber dafür haben die NachtwölfeGeld bekommen. Wie erklären Sie das?
[Pause] Die Arbeit der Vergabestelle ist folgendermaßen aufgebaut: Alle Anträge auf Förderung werden Experten vorgelegt. Es gibt Kriterien, anhand derer die Experten Punkte vergeben. Wenn ein Projekt nicht den Förderkriterien entspricht, erhält die Organisation eine niedrige Punktzahl.
Auch die Förderkommission ist an das Urteil der Experten gebunden. Wenn eine Organisation eine niedrige Punktzahl erhalten hat, dann hat die Kommission kein Recht, ihr eine Förderung zu geben. Wenn eine Organisation schon mal eine Förderung bekommen hat, muss sie erst einmal einen Bericht über die Verwendung vorlegen. Sobald ein Bericht vorliegt, kann sie sich wieder bewerben …
Könnten Sie trotzdem etwas zur Situation der konkreten NGOs sagen, die ich genannt habe?
Pawel, ich kann Ihnen nachher zu jeder einzelnen Organisation etwas sagen. Heißt sie genau so – Helsinki-Gruppe? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?
Sie heißt Moskauer Helsinki-Gruppe.
Das ist der genaue Name? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?
Man sagt, es hätte Probleme gegeben.
Da ist doch Alexejewa dabei? Letztendlich haben wir ihr doch eine Förderung gegeben, eine recht große sogar. Das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen. Wer also noch? Für Menschenrechte von Ponomarjow. Ich werde nachfragen. Vielleicht hat er keinen Bericht über die letzte Förderung eingereicht. Und er hat sogar Geld für andere Organisationen bekommen, wo er ebenfalls als Organisator eingetragen ist.
Oder wollen Sie etwa behaupten, dass Ponomarjow keine Förderungen bekommt? Oder Alexejewa nicht? Ich kann Ihnen zeigen, wieviel sie vom Staat bekommen! Das ist nicht wenig!
Von einer Organisation wurde der Antrag abgelehnt, weil sie nämlich im vergangenen Jahr 22 Millionen aus dem Ausland bekommen hat. Dieser eine Fond, der mit „M“ anfängt …
Memorial?
Wahrscheinlich, ja. Der Staat berücksichtigt doch alles und rechnet alles mit ein. Diese Organisation hat bereits genug, womit sie arbeiten kann. Und was die Nachtwölfe betrifft, schauen wir uns deren Projekt doch erst einmal genauer an.
Ach was. Sehen wir uns doch deren Antrag an. Sogar Sie, die Novaya Gazeta, könnten sich mit einem Projekt bewerben, obwohl sie eine Zeitung sind und wir Ihnen nicht einfach so Geld zuteilen dürften. Aber wenn Sie beispielsweise ein Projekt zur Resozialisierung von Strafgefangenen vorschlagen und das parallel unter Ihrem Label betreiben würden – warum sollte man sich das nicht anschauen? [Die Moskauer Helsinki-Gruppe bekam vom Staat 4,2 Millionen Rubel Unterstützung. Die Nachtwölfe erhielten die Präsidenten-Förderung von einer anderen Vergabestelle, die allerdings keine Menschenrechts-Mittel vergibt – Anm. d. Novaya Gazeta]
Eine Frage zum sogenannten Jarowaja-Paket. Neulich haben Sie es folgendermaßen kommentiert: Es beunruhige Sie, dass die Altersgrenze der Strafmündigkeit bei den Extremismus-Paragraphen auf 14 Jahre herabgesenkt wurde. Was ist mit den anderen Regelungen? Beunruhigen sie Sie nicht?
Die anderen Regelungen dieses Gesetzes sind ratifiziert, in Kraft getreten und zeigen ihre Wirkung. Und seitdem ist bei mir noch keine einzige Beschwerde eingegangen. Sicher, einige sprechen sich dagegen aus, aber das Gesetz wurde bereits verabschiedet. Und Gesetz ist Gesetz.
Aber kritisieren darf man es?
Das darf man. Auch ich habe mich dazu geäußert. Der Menschenrechtsrat wird die Situation beobachten, um Informationen zu sammeln und zu verstehen, wie diese Regelungen wirken und ob die Bedenken berechtigt sind, die von Menschenrechtsorganisationen und anderen Gegnern dieses Gesetzes vorgebracht werden. Vielleicht müssen dann tatsächlich dringende Veränderung in das Gesetz eingebracht werden.
Was sagt Ihnen denn Ihre Intuition?
Das ist keine Kategorie, derer ich mich in diesem Fall bedienen würde.
Sie haben sich für Ildar Dadin eingesetzt, haben eine Revision seines Urteils gefordert. Viele haben Ihre Initiative sehr positiv aufgenommen …
Was meine Initiative betrifft, ist das allerdings nicht ganz zutreffend. Bei mir ist ein Gesuch seines Anwalts eingegangen. Und solange das Gericht noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, verfügt die Menschenrechtsbeauftragte über die Möglichkeit, ein Gesuch an das Gericht zu richten, was ich auch getan habe. Das Oberste Gericht wird den Fall weiter prüfen. Andere Mittel hat die Menschenrechtsbeauftragte derzeit nicht.
Sind Sie mit der Position der Menschenrechtler einverstanden, Ildar Dadin sei ein politischer Gefangener?
Ich habe meine Position diesbezüglich mehr als einmal deutlich gemacht: Ich unterstütze den Gebrauch des Begriffs „politischer Gefangener“ nicht. Ich finde nicht, dass dieser Begriff dem russischen Rechtssystem angemessen ist.
Der Begriff ‚politischer Gefangener‘ ist dem russischen Rechtssystem nicht angemessen. Ich unterstütze den Gebrauch dieses Begriffs nicht
Den Begriff gibt es also nicht, aber die Menschen schon?
Was soll das heißen? Wen würden Sie in Russland denn einen politischen Gefangenen nennen?
Ich habe Ihnen doch gesagt, dass viele Menschen Ildar Dadin für einen politischen Gefangenen halten. Man hält auch den unglückseligen Mochnatkin …
Für welche Verbrechen sitzen sie denn ein? Für Verbrechen, die im Strafgesetzbuch festgeschrieben sind.
Aber die Gesetze sind in den vergangenen Jahren enorm verschärft worden. Beispielsweise das Demonstrationsgesetz.
Das Demonstrationsgesetz hat sich verändert. Aber man muss sich in jedem einzelnen Fall die Beweislage ansehen und welche Verstöße begangen wurden. Was [im Fall von Dadin] überhaupt vorlag – ein Angriff auf die öffentliche Ordnung, auf die Rechte anderer Menschen oder auf die Grundprinzipien des Staates. Es wurde allerdings von der ganzen Gesellschaft als eine gesellschaftlich gefährliche Tat eingestuft.
Dimitri Medwedew hat gern immer wieder betont, dass es in Russland notwendig sei, von der Bestrafung durch Freiheitsentzug Abstand zu nehmen, solange ein Mensch nicht das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum anderer gefährdet hat. Was bei Dadin zutrifft. Unterstützen Sie diese Herangehensweise?
Wenn du zwei administrative Rechtsverstöße begangen hast, ist das nach unserer Rechtsprechung ein administratives Präjudiz, das zu einer strafrechtlichen Angelegenheit wird. Wie es auch im Fall von Dadin geschehen ist.
Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen
(Wendet sich an den Fahrer.) Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen.
Kann ich noch ein paar Fragen stellen?
Pascha, das sind doch sicherlich schon genug von diesen Fragen, um das Bild zu zeichnen, das ihr zeichnen wollt.
Warum sagen Sie das? Ich habe noch viele Fragen, zu denen ich gern ihre Meinung hören würde …
Die haben sie schon gehört. Sie sehen die Dinge einseitig. Weil es Sie gar nicht interessiert, wie beispielsweise die Rechte von Menschen verteidigt werden, denen gekündigt wurde, und vieles mehr. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …
Sie sehen die Dinge einseitig. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …
Politischen Gefangenen?
Politischen Gefangenen, genau. Golubyjeist übrigens ein schönes Wort. Alles andere interessiert Sie gar nicht, der riesige Bereich von Problemen … Was ist zum Beispiel mit den Wehrdienstleistenden, die vier Jahre lang keine Gehaltsanpassung bekommen? Oder mit alleinerziehenden Müttern oder den Müttern mit vielen Kindern, die in Moskau keine Wohnung bekommen und auf den Wartelisten nicht vorrücken?
Mich interessiert alles, Tatjana Nikolajewna. Auch der Gefangenenaustausch mit der Ukraine und viele andere Themen …
Ein Austausch stand nie zur Debatte. Es war die Rede von Übergabe, und noch nicht einmal von Übergabe, sondern von Transfer, von der Überführung verurteilter ukrainischer Bürger in die Ukraine. Und das wird noch verhandelt.
Arbeiten Sie mit der Menschenrechtsbeauftragten der DNR Daria Morossowa zusammen?
Das hat sich bisher nicht ergeben. Ich arbeite mit Lutkowskaja zusammen.
Könnten Sie darauf genauer eingehen? Das ist interessant.
Aber du fragst ja nicht. Du fragst nur was über LGBT und über die politischen Gefangenen. Sind das etwa die brennenden Fragen? Sie greifen sich einen Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft heraus, und zwar einen sehr kleinen.
Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent!
Nehmen wir doch den Bericht für 2015 von Ella Pamfilowa. Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent! Und die restlichen – da wollen Menschen eine Wohnung, ein Dach überm Kopf, ein anständiges Gehalt, einen anständigen Urlaub, ein anständiges Gesundheitssystem. Wenn Personen mit nicht-traditioneller sexueller Orientierung unbedingt auf die Straße gehen möchten, verbietet es ihnen doch niemand …
Naja, sei’s drum. Warum regen Sie diese Fragen so auf? Lassen Sie uns über Barrierefreiheit sprechen. Darüber, dass für Rollstuhlfahrer in keiner einzigen Stadt unseres Landes ein normales Leben möglich ist. Oder über die Waisen, die dank des Dima-Jakowlew-Gesetzes in Kinderheimen dahinvegetieren. Bekommen Sie deswegen Beschwerden? Sind das Probleme mit Einzel- oder vielleicht doch mit Systemcharakter?
Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Wissen Sie, dass der Staat damals nichts über das Schicksal von über 600 Kindern herausfinden konnte, die adoptiert und ins Ausland gebracht wurden? Was ist mit diesen Kindern? Sind sie noch am Leben? Deswegen bereue ich überhaupt nichts, ich freue mich sogar darüber, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben.
Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Ich bereue überhaupt nichts
Und was die Behinderten betrifft, schauen sie doch mal in die Oblast Wladimir, wie viele Rampen und Behinderteneingänge da gebaut wurden. Gerade jetzt vor den Wahlen gibt es ein ganzes Programm für sie. Nicht nur hier, sondern russlandweit. Natürlich rückt diese Frage immer mehr in den Vordergrund. Es wurden extra dafür Gelder bereitgestellt und Förderungen geschaffen. Ja, das ist noch zu wenig. Man wünscht sich immer, dass es mehr solcher Hilfen gäbe, und dafür werde ich kämpfen. Und auch für die Behinderten, die in geschlossenen Heimen leben. Und für viele andere.
Wenn das so ist, sind wir bereit, Sie zu unterstützen.
Das würde ich so nicht sagen – nach den Fragen, die Sie stellen. Du hast es noch nicht einmal geschafft, mir Beispiele zu nennen, wo diese LGBTs in ihren Rechten beschnitten werden … In der Gesellschaft finden solche Fragen zurzeit keine breite Unterstützung.
Sie gilt als eine der bedeutendsten Intellektuellen des Landes: Irina Prochorowa. Die Herausgeberin der angesehenen geisteswissenschaftlichen Zeitschrift Nowoje literaturnoje Obosrenije (dt. „Neue literarische Rundschau“) ist eine gewichtige Stimme in der russischen Öffentlichkeit. Stärkeren politischen Einfluss gewann Prochorowa, als sie 2014 kurzzeitig die Leitung der Partei ihres Bruders übernahm – der Milliardär Michail Prochorow hatte mit der liberalen Bürgerplattform eine Zeit lang politische Ambitionen signalisiert. Prochorowas Austritt nur wenige Monate nach der Angliederung der Krim erscheint dabei symptomatisch für den Zustand der russischen Gesellschaft.
So spricht Prochorowa in diesem Interview mit dem Webmagazin Meduza darüber, warum die Angliederung der Krim einen Keil zwischen die Menschen getrieben habe, weshalb politisches Engagement derzeit fast unmöglich sei – und wie ein Donald Trump in Populisten à la Shirinowski einen russischen Vorläufer hatte.
Das Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung von Meduza in deutscher Übersetzung veröffentlichen, führte Ilja Scheguljow mit Irina Prochorowa in London.
Ilja Scheguljow: Man hat den Eindruck, dass die Spaltung der Gesellschaft in letzter Zeit, also seit der Krim, vollkommen unüberwindlich geworden ist. Empfinden Sie das auch so? Was genau ist da kaputtgegangen?
Irina Prochorowa: Versuche, die Gesellschaft in zwei feindliche Lager zu spalten, hat es auch vor der Krim schon mehr als einmal gegeben – die Diskreditierung der 1990er, der Angriff auf den demokratischen Wandel, die Verbreitung einer Nostalgie nach dem Sowjet-Imperium, die Militarisierung des allgemeinen Bewusstseins. Die Krim war die letzte Herausforderung. Und diese konnte die Gesellschaft nicht mehr meistern. Obwohl sie der krampfhaften Mobilisierung bemerkenswert lange standgehalten hat.
Was gerade passiert, ist eine Rückkehr zur totalitären Tradition einer staatlichen Lenkung. Die Polarisierung der Gesellschaft ist ein Element davon – die endlose Suche nach inneren Feinden.
Wenn ihr gegen das Regime protestiert, verratet ihr euer Vaterland. Dieses Modell besteht nach wie vor
Ich möchte Ihnen ins Gedächtnis rufen, dass in der Sowjetunion die ganze Identitätskonstruktion auf der Loyalität oder der Illoyalität zur Regierung beruhte. Es war ein Modell, bei dem der Staat den Platz der Heimat für sich beanspruchte: Wenn ihr gegen das Regime protestiert, verratet ihr euer Vaterland. Dieses Modell besteht nach wie vor.
Hinzu kommt, dass die Spaltung die Gesellschaft in zwei ungleiche Teile teilt. Spüren Sie, dass Sie sich in der Minderheit befinden?
Da sehen Sie mal, wie leicht wir uns auf das sowjetische Spiel der Bolschewiki-Menschewiki eingelassen haben. Es gibt keine absolute Mehrheit oder Minderheit, und es hat sie auch nie gegeben: Ein Mensch kann sich in der einen sozialen Frage in der Mehrheit befinden und in einer anderen wiederum in der Minderheit.
Die Tatsache, dass man die Gegner der Krim-Annexion in der offiziellen Presse als Ausgestoßene darstellt, bedeutet noch gar nichts. Zum einen wissen wir aufgrund der fehlenden Pressefreiheit weder wie hoch der tatsächliche Prozentanteil der kritisch eingestellten Menschen ist noch mit welcher Dynamik sich die öffentliche Meinung in Anbetracht der Krise und der Gegensanktionen verändert.
Und zum anderen: Sogar wenn die offiziellen Zahlen stimmen und die Zahl der Gegner der Krim-Kampagne tatsächlich bei 15 Prozent liegt, dann ist das immer noch jeder siebte Bürger. Nicht übel für Ausgestoßene!
‚Die Fünfte Kolonne hat sich versammelt‘ – solche Worte darf man nicht nur nicht aussprechen, man darf sie nicht einmal denken
Diese Logik darf nicht aufgehen, andernfalls treiben wir uns selbst ins Ghetto. Ich empöre mich zum Beispiel jedes Mal darüber, wenn jemand von meinen Freunden oder Kollegen bei einem Treffen spottet: „Die Fünfte Kolonne hat sich versammelt.“ Solche Worte darf man nicht nur nicht aussprechen, man darf sie nicht einmal denken!
Noch nicht einmal im Scherz?
Verzeihen Sie, aber ein Scherz ist ein Mittel zur Verfestigung eines Wertesystems. Wenn Sie beginnen, auf diese Art zu scherzen, heißt es, dass Sie diese Logik anerkennen.
Wir sind alles andere als ein Randphänomen. Wir sind die Avantgarde der Gesellschaft. Tatsächlich ist es die Regierung, die sich auf marginale, radikale Gruppen stützt – pseudo-orthodoxe Aktivisten, Pseudo-Kosaken und so weiter. Ihnen erlaubt sie, zu wüten und erklärt sie zur „Stimme des Volkes“.
Nichtsdestotrotz ist sogar die Bürgerplattforman der Krim-Frage zerbrochen. Und Sie selbst sind wegen der offiziellen Haltung der Partei aus ihr ausgetreten.
Die Haltung zur Krim war der Eckpfeiler für die politische Selbstdefinition aller Parteien. Weil in der Bürgerplattform die Meinungen dazu auseinandergingen, haben Michail [Michail Prochorow: Bruder von Irina Prochorowa und Gründer der Partei – Anm. d. Red. Meduza] und ich ein internes Referendum vorgeschlagen. Bei der Auszählung hat sich herausgestellt, dass der Großteil der Parteimitglieder die Angliederung der Krim unterstützt.
Die Haltung zur Krim war der Eckpfeiler für die politische Selbstdefinition aller Parteien
Ich fand, mir blieb keine andere Möglichkeit, als die Partei zu verlassen, denn meiner Ansicht nach widerspricht das im Kern ihren ursprünglichen Grundlinien.
Was da passiert ist, ist sehr traurig. Aber es zeugt auch davon, dass unser Parteiaufbau noch sehr fragil ist. Leider ist das politische Feld derzeit überhaupt so eingeengt, dass mir jegliche Partei-Experimente beinahe unmöglich erscheinen. Dennoch war es eine sehr wertvolle Erfahrung.
Aber Sie haben doch ernsthaft Politik betrieben. Hatte das überhaupt einen Sinn? Es gibt doch auch die Lesart, dass die Proteste von 2011 und 2012 zu einer Verschlechterung der Situation und zu zunehmenden Repressionen geführt hätten.
Wissen Sie, das ist genau die Situation, wenn jemand versucht, einem anderen den schwarzen Peter zuzuschieben. Ich bin der Meinung, dass all dieses Gerede von wegen „Man hätte das mit den Kundgebungen lieber lassen sollen“ im Kern falsch ist. Schließlich haben wir unsere Bürgerrechte verteidigt – die Möglichkeit, unsere Meinung mit friedlichen Demonstrationen kundzutun. So steht es in der Verfassung. Wir haben also keinerlei Schuld auf uns geladen, geschweige denn ein Verbrechen begangen.
Wir haben lange genug stillgehalten, und die Situation hat sich dennoch kontinuierlich verschlechtert
Es wäre naiv zu denken, dass, wenn wir nur stillsitzen und den Schwanz einziehen würden, alles ganz wunderbar wäre … Außerdem haben wir lange genug stillgehalten, und die Situation hat sich dennoch kontinuierlich verschlechtert.
Finden Sie, dass es im Augenblick überhaupt sinnvoll ist, sich in Russland politisch zu betätigen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, dass ein vollwertiges politisches Leben derzeit objektiv betrachtet nicht möglich ist. Aber ich habe aufrichtigen Respekt vor den Menschen, die bereit sind, auf diesem Feld aktiv weiterzuarbeiten.
Das Problem der demokratischen Parteien in Russland besteht meiner Meinung nach nicht nur darin, dass sie einer Hetze durch das politische Establishment ausgesetzt sind, sondern auch in der Krise der politischen Sprache und der politischen Vorstellungskraft an sich. Die Protestbewegung, die 2011/12 an Fahrt aufnahm, scheiterte doch vor allem daran, dass sie keine strategische Agenda parat hatte. Abgesehen von der Losung „Für faire Wahlen“ hatte man der Bevölkerung, die sich nach Veränderungen sehnte, im Grunde nichts anzubieten.
Die Erfahrung der Protestbewegung hat geholfen zu verstehen, dass das sozial-politische Erbe, das uns die sowjetische Nachkriegsgesellschaft hinterlassen hat, in vielerlei Hinsicht verbraucht und entwertet ist, und nur teilweise verinnerlicht wurde.
Abgesehen von der Losung ‚Für faire Wahlen‘ hatte man der Bevölkerung nichts anzubieten
Die poststalinistischen Jahrzehnte waren eine ausgesprochen wichtige Zeit für die innere Demokratisierung der Gesellschaft. Durch intensive intellektuelle Arbeit konnte eine ganze Reihe sehr wichtiger Prinzipien formuliert werden: die Notwendigkeit eines menschenwürdigeren Lebensumfeldes, das Streben nach Bürgerrechten und -freiheiten.
Meistens drückte sich das neue Wertesystem jedoch nicht in politischen Forderungen aus, sondern in der Alltagssprache: Man wollte ein Recht auf freien Zugang zur internationalen Pop-Kultur, träumte vom höheren Lebensstandard („wie im Westen“), forderte die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen und Zusatzverdienste zu haben und so weiter.
Das waren aber keine „bourgeoisen Überbleibsel“, und auch kein „Niedergang der Kultur“ oder ein „Kniefall vor dem Westen“, wie die offizielle sowjetische Presse diese Entwicklung der allgemeinen Einstellung darstellte. Es war die Transformation einer Gesellschaft, die größere Mobilität und bessere Lebensqualität wollte.
Im Prinzip hat sich dieser Lebensstil, mit der bekannten Einschränkung, auch durchgesetzt. Natürlich nur, wenn unsere Regierung es nicht fertig bringt, dass wieder ein eiserner Vorhang entsteht.
Welche Lehre aus der Erfahrung der Vergangenheit haben wir am wenigsten in unser Denken integriert?
Am allerwenigsten wurde das Erbe der sowjetischen Bürgerrechtler verstanden und angenommen. Sie hatten die Achtung des Gesetzes als den wichtigsten gesellschaftlichen Wert und als persönliche Tugend proklamiert. Wie die Ereignisse der vergangenen Jahre beweisen, sind sich die wenigsten Menschen dessen bewusst, wie wichtig es ist, persönliche und berufliche Freiheiten zu verteidigen. Und das hat traurige Konsequenzen. Wir sehen keine Proteste gegen die Verabschiedung von verfassungswidrigen Gesetzen. Aber nicht, weil unsere Gesellschaft Tyrannei so gern mag, sondern weil sie das Prinzip der Herrschaft des Gesetzes nicht als eine nationale Idee begreift.
Die Bedeutung von Begriffen wie Liberalismus, Toleranz oder Feminismus war der Gesellschaft nicht klar. Deswegen war es auch so leicht, das alles zu diskreditieren
In Sowjetrussland war ein offenes politisches Leben unmöglich, weil alle sozialen Fragen woanders verhandelt wurden, hauptsächlich in der Kultur. Das kulturelle Kapital, das die Nachkriegsgesellschaft angesammelt hatte, spielte eine immense Rolle bei der rhetorischen Legitimation der Perestroika. Doch es war überwiegend eine künstlerische und keine politische Metaphorik im eigentlichen Sinn.
Zaghafte Versuche einer neuen politischen Sprache tauchten in der Publizistik während der Perestroika auf – erinnern Sie sich noch beispielsweise an „das kommando-administrative System“? Doch dann ist die Sowjetunion auch schon zusammengebrochen, und die westeuropäische Rhetorik musste unverzüglich importiert werden.
Ich fürchte, genau das war die Achillesferse der demokratischen Bewegung. Denn die Bedeutung von Begriffen wie Liberalismus, Toleranz oder Feminismus war der Gesellschaft nicht sehr klar. Sie verfügte über keine lange Tradition der Aneignung solcher Begriffe. Mir scheint, dass es deswegen auch so leicht war, das alles zu diskreditieren.
Und doch scheint die Sprache, in der die Regierung jetzt mit den Menschen kommuniziert, zu funktionieren.
Leider ist es immer einfacher, Menschen zu manipulieren, denn für gewöhnlich appelliert man dabei nur an die niedersten Gefühle. Beispielsweise wenn man Menschen durch nationale oder konfessionelle Zugehörigkeit aufwiegelt. Das sind altbewährte Verfahren von unlauteren Politikern aller Völker und Zeiten.
Aber sie sind effektiv.
Der Effekt hält nicht lange an, für gewöhnlich zieht er traurige Konsequenzen nach sich. Es ist immer schwerer, an das Gute im Menschen zu appellieren, aber die Erfahrung lehrt uns, dass auch das möglich ist.
Die Regierung jongliert mit Fetzen der offiziellen Sowjetrhetorik, die dem Großteil der Bevölkerung gut zugänglich und vertraut ist, und zwar nicht nur der älteren Generation. Denn auch nach 25 Jahren postsowjetischen Lebens sind die sowjetischen Propagandafilme nicht von den Fernsehbildschirmen verschwunden. Es werden immerzu visuelle Muster aus der Sowjetzeit reproduziert.
Wir brauchen dringend eine neue Sprache zur Beschreibung der sozialen Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Denn ohne Sprache gibt es keine Politik, verstehen Sie?
Außerdem hat man in vielen Regionen noch Mitte der 2000er Jahre Studenten nach sowjetischen Lehrbüchern unterrichtet, weil es in den Bibliotheken keine neuen gab.
Da die demokratische Rhetorik der 1990er kompromittiert wurde, brauchen wir dringend eine neue Sprache zur Beschreibung der sozialen Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Denn ohne Sprache gibt es keine Politik, verstehen Sie?
Man kann die Luft zwar mit Ausrufen über Demokratie erschüttern, aber der Begriff hat keine Bedeutung. Bei uns nennt sich die Partei von Shirinowski „liberal-demokratisch“. Übrigens können wir gerade eine große Zahl von Politikern im Ausland beobachten, die Shirinowskis Beispiel folgen.
Was denken Sie eigentlich darüber? Wie lassen sich die populistischen Tendenzen in Europa und Amerika erklären?
Ich denke, Russland erfüllt im gegebenen Fall seine traditionelle Rolle als Trendsetter bei sozialen Erschütterungen. Es schien uns lange so, als sei Shirinowski eine ausschließlich russische Anomalie, dabei ist er offenbar der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils.
Es schien uns lange so, als sei Shirinowski eine ausschließlich russische Anomalie, dabei ist er offenbar der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils
Die Krise der repräsentativen Demokratie tritt in Russland, als einem Land mit einer radikalen Kultur, deutlich zutage. Sie ereignet sich aber im Grunde genommen in der ganzen Welt. Es ist dieselbe Entwertung der gewohnten Begriffe, dasselbe intellektuelle Vakuum, das sich schamlose Gauner zunutze machen.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie man 1990 auf die Auftritte von Shirinowski reagiert hat: Er sagte fürchterliche Dinge, beleidigte und erniedrigte seine Gegner, schlug Frauen, und viele lachten und applaudierten diesem Volksspektakel, dieser Possenreißerei der übelsten Sorte.
Nun beobachten wir Phänomene wie Trump oder Boris Johnson. Ich fürchte, in naher Zukunft wird es immer mehr solche Beispiele geben.
Und was passiert dann?
Es ist eine sehr gefährliche Situation. Sie erinnert stark an die 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wir sehen, wie die Faszination an Gewalt und totalitären Ideen wiedererwacht. Um dem etwas entgegenzusetzen, muss man das System der demokratischen Werte fundamental überdenken und wenn nötig ein Upgrade vornehmen.
Man muss eine neue Metaphorik erarbeiten, die für alle Gesellschaftsschichten zugänglich und attraktiv ist. Das ist für die Behauptung einer demokratischen Lebensform unerlässlich. In dieser Hinsicht sitzen sowohl die USA als auch Europa und Russland in einem Boot. Wir alle stehen vor diesem globalen Problem.
In den 1930er Jahren konnte kein intellektuelles Gegengift für den Totalitarismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen gefunden werden. Allein die kriegerische Niederlage des Faschismus hat die westeuropäische Gesellschaft zeitweilig von den Ideen der Gewalt als Mittel der Staatsführung weggeführt. Doch eingedenk der historischen Erfahrung müssen wir ein Gegengift finden. Ich denke, uns allen stehen einige Jahre harter Arbeit bevor.
Glauben Sie, dass diese Arbeit in Russland Erfolg haben kann?
Warum nicht? Brauchen unsere Leute etwa keine Empathie, kein Mitleid und keinen Respekt – jene Dinge, an denen es uns tatsächlich so schmerzlich mangelt, auch in den Kreisen, in denen wir beide uns bewegen?
Die russische Gesellschaft ist von oben bis unten brutal und ungeduldig. Die Verachtung gegenüber Menschen, wenn sie etwas nicht wissen oder nicht verstehen, sitzt bei uns tief. Wir haben weder den Wunsch noch die Geduld noch die Sanftmut, Menschen so anzuerkennen, wie sie sind, in all ihrer Unvollkommenheit. Wir träumen genau wie unsere Regierung von einem utopisch-perfekten, „richtigen“ Volk.
Darin liegt übrigens ein Grund für den unendlichen Kreislauf der Gewalt. Ein Mensch mit dem Wunsch, eine schöne, lichte Zukunft zu errichten, kommt an die Macht, aber das dumme Volk begreift sein Glück nicht – na wenn das so ist, legt die Daumenschrauben an!
Ein Mensch mit dem Wunsch, eine schöne, lichte Zukunft zu errichten, kommt an die Macht, aber das dumme Volk begreift sein Glück nicht – na wenn das so ist, legt die Daumenschrauben an
Der liberale Philosoph Isaiah Berlin gab seinerzeit eine fabelhafte Bestimmung des Menschen: „Die Menschheit ist ein krummes Holz.“ Der Wunsch, sie im Handumdrehen zu behobeln und gerade zu biegen, führt unweigerlich zu Gewalt und zur Katastrophe.
Wenn wir über die Quintessenz der demokratischen Weltsicht nachdenken, sehen wir, dass sie auf einer unausgesprochenen Anerkennung der menschlichen Unvollkommenheit beruht und auf der Suche nach Wegen, die Folgen dieser Unvollkommenheit zu minimieren. Daraus erwächst die Vorrangstellung der Bildung und Aufklärung sowie das ungewöhnlich ausgeprägte Mäzenentum und Ehrenamt, weil sie jeder Form von Willkür und Gewalt, staatlicher wie privater, einen Riegel vorschieben.
Neulich sind Sie in London im Klub Offenes Russlandaufgetreten. Man sagt, die Eintrittskarten seien innerhalb einer halben Stunde ausverkauft gewesen. Es gibt dort ein riesiges Publikum von Menschen, die aus Russland emigriert sind. Es sieht also so aus, als würden die Intellektuellen derzeit das Land verlassen …
… was sehr traurig ist, und zudem einen furchtbaren Verlust für das Land bedeutet. Es herrschen unvorteilhafte Bedingungen für Künstler und Intellektuelle, die es gewohnt sind, in einem freien Land zu leben. Es ist bedauernswert, dass unsere Staatsmänner die Tragweite dieses Problems nicht begreifen.
Das nicht totzukriegende Erbe der autoritären Führung ist nicht zu übersehen – der naive Glaube, man könne mit einem Parteibeschluss oder einem Anruf aus dem Kreml alles, was man will, heranzüchten. Ganz gleich, ob eine neue Bildungsschicht oder eine gigantische Rübe. Aber leider gibt es das nur im Märchen. In der Realität entstehen nach diesem Prinzip nur Frankensteins und Disteln.
Stalins These von der Austauschbarkeit eines jeden Menschen hat das Land zu einem enormen Rückschritt in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens geführt. Und wir haben daraus nichts gelernt und begehen denselben Fehler wieder.