Als im Februar/März 2014 plötzlich erste Soldaten in Tarnuniform, aber ohne Hoheitsabzeichen, scheinbar aus dem Nichts auf der Krim aufgetaucht sind, sprach die Bevölkerung von Grünen Männchen. Erst im April 2014, nach der Angliederung der Halbinsel an Russland, erwähnte Wladimir Putin in einem Interview, was eh alle geahnt hatten: nämlich, dass es russische Soldaten gewesen waren. Als nun im Juli 2017 plötzlich deutsche Turbinen von Siemens auf der Krim auftauchten, und zwar trotz Embargo, behauptete der russische Industrie- und Handelsminister Denis Manturow, es seien keine deutschen, sondern russische Turbinen „aus Elementen ausländischer Produktion“. Siemens gab in einer ersten Stellungnahme an, die Gasturbinen seien eigentlich für ein Projekt auf der südrussischen Halbinsel Taman hergestellt worden – und reichte Klage ein gegen den Abnehmer Technopromexport. Kritiker werfen dem deutschen Unternehmen jedoch vor, den Auftrag 2015 angenommen zu haben – zu einem Zeitpunkt, als bereits absehbar gewesen sei, dass die Turbinen für die Krim gedacht sind. Tatjana Stanowaja deckt auf Republic die rhetorischen Parallelen auf zwischen Grünen Männchen und Siemens-Turbinen. Und sie ist sich sicher: Mit der Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und westlichen Unternehmen.
An Sanktionen hat sich Russland schon gewöhnt. Auch auf Siemens’ möglichen Rückzug vom russischen Markt reagiert man gelassen. „Wir kommen auch ohne euch zurecht“, verkünden fast einstimmig Arkadi Dworkowitsch, Alexander Nowak und Igor Artemjew.
Genauso einstimmig behaupten Experten allerdings das Gegenteil: Russland ist noch nicht in der Lage Gasturbinen in entsprechender Qualität selbst herzustellen.
Interessant ist an der gesamten Situation aber etwas ganz Anderes: Wie konnten privatwirtschaftliche Interessen wichtiger werden als Staatsinteressen? Und wie wird sich das Ganze auf Russlands Beziehungen zu ausländischen Investoren auswirken?
Die Hauptrolle spielte in dieser Geschichte natürlich Sergej Tschemesow. Im August 2014 bat ihn Putin persönlich, ein Wärmekraftwerk auf der Krim zu bauen. Zu diesem Vorgang sagte der Generaldirektor der Staatsholding Rostec kein Wort.
Betrachtet man die jüngsten Aussagen des Generaldirektors, stellen die behandelten Themen irgendwelche Turbinen vollkommen in den Schatten: Die Flugabwehrraketensysteme, die Flugzeuge und Hubschrauber, die Panzer und KAMAZ-Lkws, mit denen sich Tschemesow beschäftigt – das alles wird der Regierung als ein Superprojekt präsentiert, um Russland von den Knien zu heben.
Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus
Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus. Im Zusammenhang mit der Krim hat Tschemesow Putin versprochen, ein Wärmekraftwerk zu bauen, das wird er auch tun. Über das, was dann kommt, sollen sich Medwedew und seine Regierung den Kopf zerbrechen.
Nur vier Tage nach Veröffentlichung der Stellungnahme von Rostec, man habe die Turbinen auf dem Sekundärmarkt erworben, machte sich der Minister für Industrie und Handel Denis Manturow daran, die Lage zu retten: „Wir haben unseren westlichen Kollegen versichert, dass es sich um Turbinen russischer Produktion handelt. Zugegeben, unter Verwendung von Elementen aus ausländischer Produktion. Dennoch gibt es ein russisches Zertifikat, und es sind russische Turbinen.“
Die Korrektur der Position ist offenkundig: Auf dem Sekundärmarkt gekaufte deutsche Turbinen und russische Turbinen mit Elementen aus ausländischer Produktion – ein gewisser Unterschied lässt sich nicht leugnen.
Die Regierung ist enttäuscht
Und das führt zu einer wichtigen Frage: Wie ist denn die Position der Regierung? Während Siemens seine Anklage vorbereitete, die Europäische Kommission über eine Verschärfung der Sanktionen nachdachte und Deutschland mit einer Verschlechterung der Beziehungen drohte, kommentierte die russische Regierung das Geschehen als privatwirtschaftlich und nicht von staatlicher Relevanz. Stellungnahmen von Seiten der politischen Leader gab es keine – weder von Wladimir Putin noch von Dimitri Medwedew. Genauso wenig wie eine Aussage über russische Investitionsstrategien unter den Sanktionen.
Für die russische Regierung scheint es bei der entstandenen Situation also gar keine imageschädigende oder strategische Dimension zu geben – man betrachtet das Problem als ein privates.
Wenn nicht Siemens, dann Andere?!
Wenn man allerdings die öffentliche Position von Vertretern der russischen Regierung verallgemeinert (besonders deutlich äußerte sich Igor Artemjew), dann wird Russland, erstens, jeden Augenblick eigene Turbinen produzieren, die nicht schlechter sein werden als die deutschen. Wenn es das nicht längst getan hat.
Und zweitens: Sollte es noch keine Turbinen produziert haben, werden andere Konkurrenten an die Stelle von Siemens treten. „Ihren [Siemens’] Platz werden sehr bald andere einnehmen. Aus China, dem Nahen Osten oder aus Europa – was weiß ich“, äußerte sich Artemjew. Ihm zufolge werden es vermutlich „transnationale Firmen“ sein, „die dank der Globalisierung keine Angst vor irgendwelchen Regierungen haben“.
Das Wort Globalisierung bekommt in dieser schwierigen Lage plötzlich einen positiven Beiklang von Hoffnung. Dabei hat der antiglobalistisch eingestellte Kreml westliche transnationale Firmen bislang immer für ihren Egoismus und ihre doppelten Standards verflucht.
Bleibt nur noch zu klären, ob die großen westlichen Unternehmen, die zu einer Zusammenarbeit mit Russland bereit sind, Teil des internationalen antirussischen Imperialismus sind oder unsere letzte Hoffnung.
Die Donbass-Strategie
Die russische Regierung ist offenbar sehr enttäuscht von Siemens –sie hatte ein anderes Verhalten erwartet. Sowohl Rostec als auch die Regierung und der Kreml gingen offenbar davon aus, dass sie und Siemens in einer Mannschaft spielen, als sie lauthals und einhellig behaupteten, die auf die Krim gelieferten Turbinen seien russisch. Dasselbe erwarteten sie wohl auch von den Deutschen, die in so einer Situation gezwungen gewesen wären, sich auf die Seite der russischen Regierung zu stellen, und nicht der deutschen; also ungefähr so zu handeln wie der Kreml bei seinen Stellungnahmen zur Anwesenheit russischer Truppen im Donbass: Anerkennen, dass Truppen da sind, aber leugnen, dass sie russisch sind.
Die schroffe und eindeutige Weigerung von Siemens, nach diesen Regeln zu spielen, löste in Russland eine Lawine der Empörung aus. Man warf dem Konzern Heuchelei vor (sie wollen schmutzig Geld machen, aber sauber aus der Sache hervorgehen!). Mit der jetzigen Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und den westlichen globalen Unternehmen: Nun brauchen sie für den Zugang zum russischen Markt nicht nur „Pragmatismus“ und „Sachlichkeit“ (sprich die Anerkennung der westlichen Sanktionspolitik als ineffektiv und schädlich), sondern auch die Bereitschaft „schmutzig“ zu spielen, und zwar ohne Rücksicht auf die „Weltgemeinschaft“.
Drei Tage vor der Uraufführung, am 8. Juli 2017, kündigte der Generaldirektor des berühmten Bolschoi-Theaters in Moskau an, dass die Premiere des Balletts Nurejew von Kirill Serebennikow verschoben wird. Sie soll erst im Mai 2018 stattfinden. Die offizielle Begründung lautet, dass das Stück noch nicht aufführungsreif sei. Die Entscheidung wurde nach der ersten Durchlaufprobe getroffen. Auch wenn es auch im Bolschoi-Theater keine Ausnahme ist, dass ein Ballett kurz vor der Premiere abgesetzt wird, löste diese Maßnahme eine breite Diskussion in den russischen Medien aus. Für die gab es gleich mehrere Auslöser: Die staatliche Nachrichtenagentur TASS veröffentlichte eine Meldung, die Absetzung sei auf „Anordnung von Kulturminister Wladimir Medinski“ erfolgt. Die Formulierung wurde innerhalb weniger Stunden korrigiert, Medinski habe die Absetzung befürwortet, so heißt es nun auf der Webseite von TASS. Inwieweit der Staat die Kultur kontrolliert, wurde in den Medien breit diskutiert.
Die Debatten kreisen aber auch um Rudolf Nurejew (1938–1993) und Autor und Regisseur Kirill Serebrennikow:
Der schwule Nurejew war Solotänzer im Mariinski-Theater in St. Petersburg, der 1961 mit den Gastspielen die UdSSR verließ und politisches Asyl in Frankreich beantragte. Kirill Serebrennikow leitet seit 2012 das von ihm gegründete Gogol-Zentrum in Moskau, das im Juni ins Zentrum eines Korruptionsskandal geriet.
Was waren die tatsächlichen Gründe für die Absetzung? Ist das Thema Homosexualität zu „heiß“ für russische Bühnen? Oder Regisseur Serebrennikow einfach zu provokant? Und welche Rolle spielt dabei Kulturminister Medinski? Debatten-Ausschnitte aus russischen Medien.
The New Times: Was hatte das Bolschoi erwartet?
Im unabhängigen Wochenmagazin The New Times wundert sich Katerina Gordejewa über das Bolschoi Theater:
[bilingbox]Möglicherweise liegen ja in Nurejews Biographie Antworten auf die Frage, was am Bolschoi Theater kurz vor der Premiere des Stücks über sein Leben und Werk, über Liebe und Hass geschehen ist. […] Welcher Teil seiner Biographie könnte sich 2017 in Russland und für einen russischen Zuschauer als unwichtig, unbedeutend oder gar verboten erweisen: Der Zug? Die verbannte Lehrerin? Die Flucht in den Westen? Die Homosexualität? Oder vielleicht die Krankheit?
Was hatte die Leitung des Bolschoi Theaters erwartet, als sie den Vertrag mit Serebrennikow abschloss? Dass es um einen anderen Nurejew gehen würde, dessen Leben Kirill Serebrennikow mit irgendwelchen für ihn völlig untypischen Mitteln erzählen würde? ~~~Возможно, в биографии Нуреева можно отыскать ответы на вопрос о том, что произошло в Большом театре накануне премьеры постановки о его жизни, творчестве, любви и ненависти. […] Какая часть его биографии в 2017 году в России и для российского зрителя может оказаться неважной, несущественной или даже запретной: поезд? ссыльная учительница? побег за границу? гомосексуальность? или, может быть, болезнь? На что рассчитывало руководство Большого театра, заключая контракт с Серебренниковым: что это будет какой-то другой Нуреев, чью жизнь какими-то несвойственными себе способами расскажет […] Кирилл Серебренников?[/bilingbox]
erschienen am 10.07.2017
Moskowski Komsomolez: Regisseur als Aushängeschild
Feuilleton-Redakteurin Marina Raikina listet im staatsnahen Moskowski Komsomolez vor allem inoffizielle Gründe für die Absetzung des Ballets auf – und sieht einen wesentlichen Grund im Regisseur selbst:
[bilingbox]Es gibt nur einen offiziellen Grund: die Unfertigkeit des Stücks. Inoffizielle Gründe gibt es allerdings zuhauf: von der Unzulässigkeit, Homosexualität auf der wichtigsten Bühne des Landes […] zu thematisieren, bis hin zur politischen Verfolgung von Kirill Serebrennikow. Brächte jemand anders als Serebrennikow Nurejew auf die Bühne, gäbe es wohl kaum so einen Lärm und keiner hätte seine „Rohheit“ bemerkt.
Wie dem auch sei, dieser Fall beweist (wie schon viele andere zuvor): Ein Künstler, der sich bereit erklärt, das „Aushängeschild“ für irgendwelche politischen Kräfte zu sein, muss sich darauf einstellen, dass man „Aushängeschildern“ nachjagt und sie früher oder später zerfetzt – entweder machen es die Anhänger oder die Gegner.~~~Официальная причина только одна — неготовность спектакля, зато неофициальных масса: от недопустимости темы гейства на главной сцене страны […] до политического преследования Кирилла Серебренникова. Но если бы «Нуреева» делал не Серебренников, вряд ли бы поднялся такой шум и никто бы не заметил его «сырости». Как бы там ни было, но этот случай (а до него масса других) доказывает: художник, согласившийся быть «знаменем» тех или иных политических сил, должен быть готов к тому, что со «знаменем» носятся, но рано или поздно порвут — чужие или свои.[/bilingbox]
erschienen am 16.07.2017
Telegram/Alexej Wenediktow: „Nichts Persönliches”
Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, macht in seinem Telegram-Kanal ganz andere für die Absetzung des Stückes verantwortlich:
[bilingbox]Rätsel gelöst. Bei der Generalprobe waren Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche. Aber in Zivil. Sie rannten zu Tichon. Tichon rief Medinski an. Medinski braucht für die Wiederernennung zum Minister im nächsten Jahr nämlich die Unterstützung der ROK (Michalkow allein genügt nicht mehr), und insbesondere die von Tichon vom Sretenski[-Kloster], unserem großen „Beichtvater“. Nichts Persönliches. Medinski rief [Wladimir] Urin an und machte einen auf zornig und hysterisch. Dann kam er wieder runter und bat, über einen Aufschub nachzudenken – die neue Regierung, die Wahlen. „Sie können doch keine Proteste vor dem Theater gegenüber vom Kreml gebrauchen. Und die machen sowas!!!“ Der Minister drohte. Da habt ihr’s, nichts Persönliches. Und ihr immer mit euren „Schwuchteln“. Knete und Karriere – darum geht’s. Wir sind gespannt, wie es weitergeht.~~~Разобрался. На прогоне были представители РПЦ. Но в штатском. Они добежали до Тихона. Тихон позвонил Мединскому. Мединскому для переназначения в следующем году в министры нужна поддержка (одного Михалкова уже не хватает) РПЦ и, в частности, Тихона Сретенского, “духовника” нашего всего. Ничего личного. Мединский позвонил Урину и изобразил ярость и истерику. Потом, охолонув, попросил подумать о переносе на потом – новое правительство, выборы. “Вам же не нужны пикеты возле театра напротив Кремля перед выборами. А они могут!!!” Пугал министр. Ну вот, ничего личного. А вы все “пидорасы, пидорасы…” Бабло и карьера Будем наблюдать[/bilingbox]
erschienen am 10.07.2017
Kommersant: Blockbuster des psychologischen Balletts
Im Kommersant bedauert Tatjana Kusnezowa den unermesslichen Verlust für die russische Ballettwelt und löst damit eine Debatte in den Feuilletons aus:
[bilingbox]Nurejew hätte zweifellos zum erfolgreichsten und einträglichsten Ballett des Bolschoi der postsowjetischen Epoche werden können: Bei allen Vorstellungen in Russland wäre ihm ein ausverkauftes Haus sicher, genau wie die unbedingte Aufnahme ins Gastspielrepertoire.
Nun ist angesichts der wachsenden Hysterie aber klar, dass das Moskauer Schicksal des Stücks besiegelt ist: Nurejew wird wohl kaum am 4. oder 5. Mai 2018 auf die Bühne kommen, wie es der Generaldirektor bei der Pressekonferenz versprochen hatte. Aber dieser Blockbuster des psychologischen Balletts kann mit gleichem Erfolg auf jeder großen internationalen Bühne gespielt werden (nur leider ohne die wunderbaren russischen Künstler).~~~«Нуреев», без сомнения, мог бы стать самым успешным и кассовым балетом Большого российской эпохи: аншлаг на всех российских представлениях и непременное включение в гастрольный репертуар были бы ему гарантированы. Теперь на фоне нарастающей общественной истерии уже ясно, что московская судьба спектакля не сложится: едва ли 4 и 5 мая 2018 года «Нуреев» выйдет на сцену, как пообещал гендиректор на брифинге. Но этот балетный психологический блокбастер с тем же триумфом, что и в Москве, может пройти на любой серьезной сцене мира (жаль, что без замечательных русских артистов).[/bilingbox]
erschienen am 11.07.2017
Colta: Großes nationales Melodram
Auf solche Lobeshymnen über Nurejew reagiert Bogdan Korolek auf dem unabhängigen Kulturportal Colta.ru mit großer Skepsis:
[bilingbox]
Keiner der Kommentatoren ließ auch nur den Gedanken daran zu, dass Possochows Ballett einfach eine schlechte Produktion sein könnte. Es griff die eiserne Logik: Verboten heißt innovativ, genial. Ein Ding, eine Marke, also kaufen. Schaut man sich allerdings das im Internet kursierende Video an – die nahezu vollständige Aufzeichnung, die etwa eine Stunde dauert – wird man feststellen, dass Nurejew im schlechtesten Sinne literarisch ist: Zwar liegt dem Stück kein Buch zugrunde, aber verbale Fakten dominieren den Handlungsverlauf und lassen dem rein musikalisch-plastischen Ausdruck keinen Raum.
Pathetische Aussagen über das Schicksal der Heimat, leidenschaftlich hingeworfene Worte wie „Hetze“ oder „Meisterwerk“, hysterische Werbung, die sich als Antiwerbung entpuppt – all das ist genauso ein großes nationales Melodram, wie das Projekt Nurejew selbst.~~~Никто из комментаторов отмены даже не допустил мысли, что балет Посохова мог быть попросту плохой продукцией. Сработала безотказная логика: запрещенный — значит, новаторский, гениальный. Вещь, фирма, надо брать. Если посмотреть гуляющее по сети видео — наиболее полную запись, длящуюся что-то около часа, — окажется, что «Нуреев» в худшем смысле литературен: в основу не была положена книга, но ход спектакля определяют словесные факты, не оставляя поля для чистой музыкально-пластической выразительности.
Патетические реплики о судьбах Родины, в сердцах брошенные слова «травля» и «шедевр», истерическая реклама, обернувшаяся антирекламой, — все это — большая всенародная мелодрама, какой является и сам проект «Нуреев».[/bilingbox]
Zwölf Mal haben sie sich getroffen, zwischen Juli 2015 und Februar 2017: Der russische Präsident Wladimir Putin und der US-amerikanische Kinoregisseur Oliver Stone. Nun wurden The Putin Interviews Mitte des Monats im russischen Staatsfernsehen gezeigt. Auch international war das Stone-Interview zu sehen, so im US-Fernsehen und für das deutschsprachige Publikum auch auf einzelnen Sparten des Bezahlsenders Sky.
Anschließend sorgte im russischen Web eine kurze Filmszene für Häme, in der Kreml-Pressesprecher Dimitri Peskow in unbequemer Haltung mit Mikrofon-Angel über der Schulter zu sehen war. Außerdem entfachte das Bildmaterial einiger Blogger Diskussionen: Ein Video, das Putin dem Regisseur auf dem Smartphone zeigte, dokumentiere nicht, wie behauptet, den russischen Kampf gegen Terroristen in Syrien, sondern US-Soldaten im Einsatz gegen Taliban in Afghanistan.
Putin und der Kreml haben ein ziemlich gravierendes Imageproblem. So absurd es auch klingen mag: Trotz eines nahezu unerschöpflichen Budgets und der vollen Kontrolle über alle Medien im Land fehlt es an Leuten, die Wladimir Putin loben.
Selbstverständlich gibt es eine ganze Armee von Leuten, die nichts anderes tun. Aber wenn Putin wieder einmal von einem Experten oder Moderator gelobt wird, der sein Gehalt von Putin bezieht, noch dazu auf einem Sender, der ebenfalls Putin gehört, wirkt das sogar für den leidenschaftlichsten Anhänger wenig überzeugend.
Deswegen ist der neue Film von Oliver Stone The Putin Interviews ein ungeheures Glück für hunderte von Menschen in den Büros der Agitprop-Kommandozentralen: Vier Stunden liebedienerische Propaganda, die auch noch vollkommen aufrichtig gemeint ist und das Budget gerade mal mit ein paar läppischen Millionen für die Verleihrechte belastet. Ein besseres Geschenk kann es für die Wahlkampagne gar nicht geben.
So absurd es auch klingen mag: Im Land fehlt es an Leuten, die Wladimir Putin loben
Kein Zweifel: Oliver Stones Film und nicht der alljährliche Direkte Draht mit Wladimir Putin hat den offiziell noch nicht eröffneten Wahlkampf eingeläutet. Es genügt ein Blick darauf, wie viel Aufmerksamkeit und Sendezeit diesem Film schon jetzt durch die russischen Staatsmedien zukommt. Wochenlang waren Hunderte von Mitarbeitern in Dutzenden von Redaktionen damit beschäftigt, aus buchstäblich jeder Sekunde des vierstündigen Films (vier Folgen à 60 Minuten) eine Schlagzeile zu machen.
Diese Propagandakampagne führt zu bemerkenswerten Szenen der Selbstentblößung. Die Schlagzeile „Putin erklärte, dass der Staat in Russland die Medien nicht kontrolliere“ erschien beispielsweise auf der Seite des staatlichen Medienunternehmens Rossija Sewodnja (dt. Russland heute), der ehemaligen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die durch einen Erlass Putins aufgelöst worden war.
Oliver Stones Film hat den offiziell noch nicht eröffneten Wahlkampf eingeläutet
Doch eine noch krassere Diagnose verdient der Macher von The Putin Interviews Oliver Stone. Der dreifache Oscarpreisträger und Regisseur steht politisch jenen Linken nahe, die man für gewöhnlich als „tankies“ beschimpft. Ein historischer Begriff, mit dem ursprünglich Mitglieder der britischen Kommunistischen Partei verspottet wurden, die 1956 den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn unterstützt hatten. Seitdem bezeichnet er Menschen, die autoritären Regimes anhängen, seien sie noch so blutig, solange sie nur antiwestlich oder antiimperial und so weiter sind.
Ein Tankie kann also jeder Linke sein, der die Freiheiten und Privilegien im Westen genießt, wo er auch lebt, gleichzeitig aber als leidenschaftlicher Anhänger und Verteidiger irgendeines Saddam Hussein auftritt. Ganz nach dem Prinzip: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Diese Ideologie geht meist einher mit Verschwörungstheorien, Antisemitismus (Tankies vertreten fast immer radikal antiisraelische Positionen) und einem moralischen Relativismus im Sinne von: Egal was diese Regime tun, Amerika/der Westen ist schlimmer.
Stone ist einer von ihnen. Hinter ihm liegt ein langer und konsequenter Weg zu The Putin Interviews. Kennedy wurde nicht von Lee Harvey Oswald ermordet, sondern fiel einer Verschwörung des CIA mit dem militärisch-industriellen Komplex der USA zum Opfer. Davon handelt JFK, einer der bekanntesten von Stones Filmen. Die jüdische Verschwörung in den Medien – darum ging es kürzlich bei einem Fernsehauftritt von Stone. Stones gesamte Filmkarriere der letzten zehn Jahre (Mein Freund Hugo, Ukraine on Fire) ist eine leidenschaftliche, aufrichtige und unkritische Apologie höchst zweifelhafter Regime.
Stones gesamte Filmkarriere der letzten zehn Jahre ist eine Apologie höchst zweifelhafter Regime
Deswegen ist The Putin Interviews auch keine Auftragsarbeit des Kreml, sondern ein folgerichtiger Ausdruck der politischen und künstlerischen Haltung eines Regisseurs, der zweifellos als einer der begabtesten und bekanntesten unter seinen amerikanischen Kollegen gelten kann. Und diese Haltung lässt den Hauptprotagonisten des Films, Wladimir Putin, sogar moderater und vernünftiger wirken als seinen Interviewer. Interviewer ist in der Tat zu viel gesagt. Als journalistische Gattung setzt das Interview gewisse Standards voraus, an die sich zu halten Stone erst gar nicht versucht.
Tatsache ist, dass Oliver Stone den gesamten Film über nicht mit Putin spricht, sondern mit sich selbst. Stone hält ausschweifende Monologe wie: „Sie klingen so, als sei die Wall Street ihr Freund, dabei frage ich mich, ob die Wall Street Russland nicht vernichten möchte?“ Oder: „Viele gebildete Menschen sind der Meinung, das Ziel der USA sei, die russische Wirtschaft zu zerstören.“ Oder: „Gab es in der amerikanischen Geschichte denn je eine Zeit, in der Russland den USA nicht als Feind präsentiert wurde?“
Wladimir Putin wirkt moderater und vernünftiger als sein Interviewer
Willst du Putin dazu bringen, deine antiwestlichen Kampfreden zu korrigieren, braucht es dafür wirklich ein oscarwürdiges Talent. Putin war beispielsweise gezwungen zu erklären, dass es keinerlei formale Verpflichtung gebe, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Selbst wenn Stone Putin nicht mit seinem selbst für Putin allzu radikalen Antiamerikanismus irritierte, warf er ihm bestenfalls sogenannte Softbälle zu – unverfängliche und bequeme Fragen, die den Interviewpartner keinesfalls in eine Sackgasse führen. Wenn Sie wissen möchten, was eine Softball-Frage ist, sehen Sie sich ein beliebiges Interview mit Putin im Staatsfernsehen an. Sogar die angesehensten Moderatoren der staatlichen Sender werden nicht gebraucht, um Fragen zu stellen, sondern dienen zur Dekoration für Putins Monologe.
Aber natürlich ist Stone viel talentierter als die meisten russischen Fernsehmacher. Außerdem würde niemand einem Kameramann von Vestije erlauben, Putin aus einem Winkel zu filmen, bei dem seine Glatze oder sein Bäuchlein zu sehen sind, geschweige denn seine Finger, die nervös die Armlehne kneten. Deswegen wirkt Putin hier auch viel lebendiger, als der Cyborg aus dem russischen Fernsehen. Genau dafür wurde Stone in englischsprachigen Kritiken übrigens gelobt – die Authentizität des Streifens.
Putin wirkt hier viel lebendiger als der Cyborg aus dem russischen Fernsehen
Und natürlich würden dem Ersten Kanal bei der Montage niemals solche Fauxpas unterlaufen, die passiert sind, weil Stone tatsächlich rein gar nichts über Russland weiß, nicht mal auf Wikipedia-Niveau: Als sie auf das Thema internationaler Terrorismus kommen, liefert Stone Putin abermals eine enthusiastische Vorlage, woraufhin Putin erzählt, die CIA habe tschetschenische Kämpfer finanziert. Gleichzeitig laufen im Hintergrund Bilder vom Nord-Ostund aus Beslan ab. Offenbar hat niemand Oliver Stone erklärt, dass bei mindestens einem dieser tragischen Ereignisse der russischen Geschichte am Tod der meisten Geiseln nicht die Terroristen schuld sind. Völlig unabhängig davon, wer sie finanziert.
Tatsache ist, Putin und Russland nehmen im Weltbild eines Oliver Stone und anderer anti-westlicher Linker eine untergeordnete Position ein, sie sind quasi Dekoration für ihren Hass gegen das Establishment der USA. Deswegen braucht Stone Putins Antworten auch gar nicht unbedingt, meistens ist die Antwort schon in der Frage enthalten.
Letzten Endes ist aus einem epischen vierstündigen Streifen über den widersprüchlichsten, mächtigsten, weisesten und erfahrensten Politiker, der völlig zu Unrecht vom Westen verleumdet wird – so hatte sich der Macher das gedacht – eine selbstentblößende Autobiografie zweier in die Jahre gekommener verwirrter Menschen geworden. Beide haben sich hoffnungslos in einem Netz aus längst veralteten und widersprüchlichen ideologischen Dogmen verheddert.
Oliver Stone wettert mit so viel Feuer gegen die ‚Hegemonie Amerikas‘, dass Putin sich genötigt sieht, ihn zu bremsen
Oliver Stone wettert mit so viel Feuer gegen die „Hegemonie Amerikas“ (die auf jeden Fall alles andere als frei von Sünde ist), dass Putin sich genötigt sieht, ihn zu bremsen. Putin gibt solche Interviews schon seit 18 Jahren, sein Panzer ist kugelsicher.
Alle Versuche von Reportern, seien sie noch so forsch und frech, ihn mit irgendeiner Frage zu kriegen, scheitern und enden mit Anfall von Untertänigkeit in den russischen Medien, nach dem Motto: „Da hat Putin es dem West-Journalisten aber gezeigt.“ Er vermag es, auf die direkteste Frage mit einer offenkundigen Lüge zu antworten, sodass seinem Gegner nichts anderes übrigbleibt, als mit offenem Mund dazusitzen.
Denn Putin hat nichts zu befürchten. Es gibt niemanden, der „es ihm zeigen“ könnte. Seine Chancen bei der Wahl hängen nicht davon ab, ob er die Wahrheit sagt oder lügt. Wahrscheinlich weiß er sogar intuitiv um das ulkige Brandolini-Gesetz: Das Widerlegen von Unsinn erfordert erheblich mehr Energie als die Erfindung. Als Putin dann ganz unumwunden behauptet: „In Russland mischt sich der Staat nicht in die Arbeit der Medien ein“, sieht man, dass er wohl schon selbst daran glaubt. Und das ist der mit Abstand unheimlichste Moment des gesamten Films.
„Wir sehen die USA nicht als Feind”, sagte Putin während des Direkten Drahts; zahlreiche westliche Medien berichteten darüber. Umgekehrt beschreiben russische Staatsmedien die außenpolitische Situation ihres Landes gerne als die „einer belagerten Festung“: Umgeben von Feinden trotze Russland aber erfolgreich den ständigen Versuchen des Westens, es zu vereinnahmen, so der Tenor.
Auch Wladimir Putin betont wiederholt Russlands Großmacht-Stellung, die ständig vom Ausland unterminiert werde: Diesmal auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Dieses von der russischen Regierung organisierte Jahrestreffen internationaler Politiker, Wirtschaftsführer und -experten will neben der Wirtschaft auch die Antworten auf drängende globale Fragen fördern.
In einer öffentlichkeitswirksamen Ansprache empfiehlt Putin dem Westen, Russlands „volle Souveränität“ anzuerkennen und seine „rechtmäßigen Interessen“ zu akzeptieren – nur so könne ein globales Machtgleichgewicht wiederhergestellt werden.
Dem Außenpolitik-Experten Wladimir Frolow deucht dies wie ein „Zurück in die 1970er“. Auf republic.ru kommentiert der einstige Diplomat Putins geopolitisches Weltbild und zeigt auch anhand jüngster Hacker-Attacken Parallelen zur Breshnew-Zeit auf. Diese gilt in der russischen Geschichtsschreibung als eine Zeit, in der die Sowjetunion dem Westen Paroli bieten konnte. Ansonsten wird sie aber vor allem mit dem Sastoiassoziiert – der Epoche des Stillstands.
Die außenpolitische Botschaft Wladimir Putins an den sogenannten Westen ist klar: „Da könnt ihr lange warten!“ Signifikante Veränderungen in der russischen Außenpolitik sind nicht geplant, geschweige denn eine Revision des zugrundeliegenden Konzepts: „Der Westen wirkt der Wiedergeburt Russlands als Supermacht entgegen und will so die eigene Vormachtstellung in einer unipolaren Weltordnung erhalten, und Russland reagiert entsprechend auf diese Beschneidung seiner rechtmäßigen Interessen.“
Der Konflikt mit dem Westen bleibt ein ideologischer Grundpfeiler der russischen Außenpolitik und bestimmt Moskaus Handeln auf der internationalen Bühne. Die russischen Interessen zu vertreten heißt nun fast ausschließlich, die geopolitischen und wirtschaftlichen Positionen des Westens in einem Nullsummenspiel zu untergraben.
Das Ausmaß des Konflikts und die konkreten territorialen und diplomatischen Fronten werden variieren. Beeinflusst werden sie durch die aktuelle politische Weltlage, die Maßnahmen und die Entschiedenheit des Westens, russische Bestrebungen abzublocken, sowie die innenpolitische Situation und die außenwirtschaftliche Konjunktur. Von Letzterer hängen Russlands Ressourcen für die Durchführung einer entschlossenen Außenpolitik ab.
Gemäßigte Phase der Konfrontation
Putin bekundete Moskaus Interesse an einer gemäßigten Phase der Konfrontation (nicht ihrer Beendigung), das heißt an einer „Entspannung der internationalen Lage“ im Stil der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.
Dem Westen wird angetragen, sich mit Russlands neuem geopolitischen Status abzufinden, Russlands regionale und globale Ambitionen als legitimes Interesse zu akzeptieren und seine uneingeschränkte Souveränität anzuerkennen, sprich: sich nicht in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen.
Außerdem wird dem Westen nahegelegt, auf jegliche Kritik der russischen Innenpolitik zu verzichten, die Sanktionen aufzuheben und zu einer umfassenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit zurückzukehren.
Zudem sollte man zu einer engen politischen Zusammenarbeit mit Moskau in allen wichtigen globalen Fragen übergehen, wobei Russlands Gleichstellung mit dem Westen anerkannt und Moskaus Propagandanarrativ Berücksichtung finden muss.
Helsinki 2.0 – nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt
Das alles sieht aus wie der Vorschlag eines Helsinki 2.0 – allerdings nicht mehr nur für Europa, sondern für die ganze Welt. Und mit ein paar grundlegenden Neuerungen, insbesondere im „humanitären Korb“.
Dabei geht es um die endgültige Festlegung der Einflussgrenzen (nicht nur der geografischen, sondern auch der ideologischen – man hat nunmal unterschiedliche Auffassungen von Menschen- und Persönlichkeitsrechten), um die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (die Art und Weise eines Machtwechsels darf nicht Gegenstand internationaler Beziehungen sein). Es geht um für Russland vorteilhafte Regeln für die Anwendung von Waffengewalt (die gewaltsame äußere Einmischung als „humanitäre Intervention“ oder „Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung“ ist unzulässig, legitim sind hingegen militärische Interventionen nach Aufforderung, zur „Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung“). Außerdem geht es um die Souveränität des Informationsraumes (Kontrolle über das Internet und die Medien auf dem eigenen Interessengebiet) sowie die Handelsfreiheit und staatlich kontrollierte Investitionen, unabhängig vom innen- oder außenpolitischen Tagesgeschehen.
Damit sind zwei potentiell destabilisierende außenpolitische Konzepte zur vorbehaltlosen Annahme auf dem Tisch. Sie stammen ebenfalls aus den guten alten 1970ern, sind aber in ihrer Form leicht abgewandelt: Die „rechtmäßigen Interessen“ und die „uneingeschränkte Souveränität“.
Das erste Konzept schreibt Moskaus Recht auf militärisches Eingreifen im Ausland fest – sowohl im Umkreis der eigenen Landesgrenzen als auch in anderen Regionen der Welt, wo sich eine Möglichkeit bietet, bei verhältnismäßig geringem Kostenaufwand auf den Westen Druck auszuüben. Die Grenzen der „Rechtmäßigkeit“ dieser Interessen sind absichtlich nicht klar definiert und können bei Bedarf kurzerhand uminterpretiert werden. Aber das Recht zur Neuinterpretation und zur Anpassung der gesamten Außenpolitik an diese neue Fassung hat nur eine Person.
Bei der völligen Intransparenz außenpolitischer Entscheidungsfindung wirkt die Unberechenbarkeit der russischen Außenpolitik destabilisierend auf die Weltgemeinschaft und provoziert eine Politik der Zurückhaltung.
„Rechtmäßige Interessen“ sind heute die Krim, morgen der Donbass und der Südosten der Ukraine, in einem Jahr Syrien, in zwei Jahren Libyen, in drei Jahren die Balkanstaaten und Afghanistan. Nicht auszuschließen, dass irgendwann auch Venezuela oder Nicaragua auf dieser Liste landen.
Enger Kreis von wahren Souveränen
Das Konzept der „uneingeschränkten Souveränität“ für die einen birgt die Gefahr, dass sie automatisch eine begrenzte Souveränität aller anderen bedeutet. Damit wird eine Zwei-Klassen-Struktur in den internationalen Beziehungen geschaffen, in denen dann einige Länder gleicher sind als andere.
In Wladimir Putins Weltauffassung gibt es nur wenige Staaten, die über uneingeschränkte Souveränität verfügen, sprich über die Fähigkeit, eine gänzlich unabhängige Außenpolitik zu betreiben, ohne Rücksicht auf die Meinung anderer Großmächte. Neben Russland und den USA sind das Indien, China, Brasilien und der Iran. Aber auch diese Liste ist nicht endgültig und unterliegt gelegentlicher Revision.
Die restlichen Staaten verfügen über begrenzte Souveränität. Sie können keine eigenständigen außenpolitischen Entscheidungen treffen und müssen ihr Handeln mit ihrem Lehensherren abstimmen. Zu dieser Gruppe zählt Putin alle NATO-Länder, einschließlich Deutschland und Frankreich, weil er annimmt, dass in diesem Bündnis alles von den USA entschieden wird.
Dieses vereinfachte Bild dient Moskau als eine perfekte Matrix der internationalen Beziehungen: Alle Schlüsselfragen und Regeln der Weltordnung werden in einem engen Kreis von wahren Souveränen ausgehandelt. Sie kontrollieren jeweils ihren Bereich und können die Meinung der anderen Staaten getrost außer Acht lassen.
Breshnew Doktrin wiederbelebt
Dieses Konzert der Großmächte bedeutet auch, dass Russland seinen Vasallen-Bereich hat – eine Reihe von Staaten, deren Souveränität dadurch beschränkt ist, dass sie bestimmte Aspekte der Außen-, Verteidigungs- und Handelspolitik mit Moskau abstimmen müssen. Vor allem gilt das für den Aufbau jeglicher Beziehungen zum Westen.
Offenbar wurde Breshnews Doktrin wiederbelebt: Die Souveränität der Länder des russischen Lagers wird demzufolge nicht durch das marxistische Dogma vom Aufbau des Sozialismus begrenzt. Vielmehr geht es um den Verzicht auf eigenständige Beziehungen zum Westen und auf ein demokratisches Regierungssystem. Denn die Regierungschefs müssen in erster Linie Moskau gefallen.
Verschärfter Ideologie-Kampf gegen den Westen
Es gibt außerdem noch Anzeichen, dass auch an ein weiteres außenpolitisches Konzept der 1970er Jahre angeknüpft wird: Die Politik der Entspannung geht nämlich einher mit einer Verschärfung des ideologischen Kampfes der „Völker“, gegen den Westen.
Das zeigt sich anhand von Putins wohlwollenden Aussagen über die „patriotischen Hacker, die frei sind wie Künstler“ und bereit, für das Land einzustehen. Oder dann, wenn Putin eine für den Westen schmerzliche Kontinuität suggeriert, indem er die Kritik an Russland als ein Zeichen ethnischer Russophobie darstellt.
Der Partisanenkrieg der „patriotischen Hacker“ gegen die „russophoben Politiker“ in den westlichen Ländern wird befürwortet, quasi in alter sowjetischer Tradition einer Außenpolitik, die „befehlshörige Komsomol-Freiwillige“ unterstützt. Dank moderner Technologien ist es relativ einfach und günstig, sich direkt an das westliche Publikum zu richten und dabei eine glaubhafte Abstreitbarkeit (plausible deniability) zu wahren. So entgeht man westlichen Sanktionen („auf staatlicher Ebene machen wir das nicht“) und kann unverfroren verkünden, Russland mische sich nicht in fremde Wahlen ein, während man bei Facebook zielgerichtet Werbung für den richtigen Kandidaten postet.
Die „freien Hacker“ und die Kriege der Bots in Sozialen Netzwerken – das ist die neue Dimension des ideologischen Kampfes, gegen die man sich im Westen im Rahmen der Meinungsfreiheit bislang nicht zur Wehr setzen kann. Im Gegensatz zu Russland können westliche Politiker unliebsame Seiten oder Postings nicht einfach blockieren. Und die Versuche des Westens, Gleiches mit Gleichem zu vergelten würden am Roskomnadsor scheitern.
Russland wirft dem Westen „Hysterie“ vor
Moskau behauptet, dass im Westen wegen der russischen Hacker und deren Einmischung in Wahlen geradezu „Hysterie“ und „politische Schizophrenie“ herrsche. Das sei ein Zeichen der Schwäche der westlichen Demokratien und des fehlenden Vertrauens in die eigenen Institutionen.
Diese in zentralistischer Manier verbreitete Argumentation lässt vermuten, dass man die schöne Arbeit der Cyberfreiwilligen auch weiter billigend in Kauf nehmen wird, ohne sie als Einmischung in innere Angelegenheiten anzusehen.
Das beim Forum vorgeschlagene Remake mit Upgrade der außenpolitischen Konzepte der 1970er Jahre ergänzt sich tatsächlich gut mit einem ähnlichen Upgrade in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Statt Strukturreformen, Entstaatlichung und mehr Konkurrenz wird eine allgemeine Block-Chain und Digitalwirtschaft unter strenger staatlicher Kontrolle vorgeschlagen, bei der Staatsfirmen vorschriftsgemäß „sogenannte Startups“ unterstützen. In den 1970ern nannte man das „Kampaneischina“.
Innen- und Außenpolitik sind eng verzahnt
Anatoli Tschubais, der ebenfalls am Forum teilgenommen hat, beschrieb das konzeptuelle Problem sehr treffend: „Das soziale, ökonomische und politische System im Land deckt überraschend viel ab, ist ausgeglichen und auf seine Weise sogar harmonisch. Es ist ein System, bei dem die Innenpolitik die Außenpolitik ergänzt. Was wiederum bedeutet, dass eine ernsthafte Umstrukturierung der Innenpolitik kaum möglich ist, ohne die Außenpolitik anzurühren. Vermutlich braucht es ganzheitliche Schritte, und das birgt große Risiken.“
Man könnte meinen, bei einem Zeithorizont von sieben Jahren sei man mit der Strategie „Zurück in die 1970er“ innen- und außenpolitisch auf der sicheren Seite. Bleibt nur noch, die äußere Realität daran anzupassen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschte Aufbruchstimmung in der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die jahrzehntelange Unterdrückung durch die Staatsmacht war vorbei, die Kirche konnte und wollte wieder eine Rolle spielen in der Gesellschaft, auch als kritische Instanz gegenüber dem Staat. In der Tat hat sie sich inzwischen zu einer gewichtigen Stimme in Russland entwickelt. Laut Umfragewerten genießt die Russisch-Orthodoxe Kirche mehr Vertrauen in der Gesellschaft als die Presse, die Duma oder gar die Regierung von Dimitri Medwedew.
Das von Manchen erhoffte Gegengewicht zur Staatsmacht wurde sie allerdings nicht. Maxim Trudoljubow beschreibt auf InLiberty seine enttäuschten Hoffnungen.
Ich erinnere mich noch: Als ich Ende der 1980er Jahre an der Moskauer Architektur-Universität anfing zu studieren, war sie teilweise noch in den Heiligtümern des ehemaligen Mariä-Geburts-Klosters untergebracht. Im Schwesternflügel, eingeschossig und feucht, war das Studentenwohnheim. In der Kirche des Heiligen Nikolaus, am anderen Ende des Klostergeländes, besuchte ich Vorbereitungskurse – wir zeichneten Gipsplastiken ab.
Später erinnere ich mich, wie wir Erstsemestler (die meisten waren allerdings Philologen und keine Architekten) uns zu einer damals noch gesetzlich erforderlichen Zwanziger-Schar zusammenfanden: Wir füllten beim Exekutivkomitee irgendwelche Formulare aus und eröffneten dann eine Kirche, eine der ältesten Kirchen Moskaus – die Mariä-Geburts-Kirche in eben diesem Kloster.
Hätte es damals schon Soziale Netzwerke gegeben, wären sie sicherlich voll gewesen mit Nachrichten über Wiedereröffnungen von Kirchen, Streitereien mit der Regierung, mit Debatten über die Rückgabe enteigneter Kirchengüter sowie über die Umsetzung der Beschlüsse des Landeskonzils von 1917/1918.
Heute sehe ich in meinem Newsfeed haufenweise Beiträge von Menschen, die von einer Zeitung zur nächsten oder von einem Medienlager ins andere wechseln, sich permanent gegenseitig beschimpfen, aber sich dennoch als Gemeinschaft empfinden. Damals sah ich etwas ganz Ähnliches: Es wurde lebhaft und leidenschaftlich diskutiert, allerdings in der analogen Welt und zwar im kirchlichen Umfeld.
Luken, die in die Freiheit führen
Portale in eine andere Wirklichkeit gab es damals in Form von berühmten Kirchen mitten in der Stadt: Ohne großen Aufwand konnte jeder junge Mensch unbekanntes Terrain betreten und dort Luken finden, die über seine Grenzen hinausführen – aber auch über den Schulunterricht, über Teenagerkonflikte und über die starre, gut gefestigte Sowjetrealität hinaus. Das eröffnete unvergleichliche Freiheiten.
Schon fast peinlich ist es mir heute, aber ich war damals fest davon überzeugt, dass sich die Kirche gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion „auf die Seite des Volkes stellen“ würde. Das klingt heute so seltsam, dass ich mir diesen neophytischen Irrtum selbst nur schwer erklären kann.
Ich dachte zum Beispiel, dass sich Gemeinden entwickeln und starke, unabhängige Stimmen der Kirche erklingen würden. Dass eine Kraft entstehen würde, die die politischen Machthaber durch ihre Autorität zurechtweisen könnte, sollten diese bei Privatisierungen oder Kriegen Gewissen und Anstand verlieren. Die eintreten würde für die Erniedrigten und Beleidigten und die Strafgefangenen. Mit anderen Worten: Ich dachte, dass es jemanden geben würde, der dem Staat von oben auf die Finger schaut.
Aber nein, daraus wurde nichts. Schon bald wurde mir klar, dass ich zu viel über Polen und Chile gelesen hatte, wo zumindest ein Teil der einflussreichen kirchlichen Würdenträger gemeinsam mit dem Volk einen moralischen Widerstand gegen den wahnsinnig gewordenen Staat bildete, und zwar unabhängig von der Ideologie – in dem einen Fall war der Staat radikal links, im anderen radikal rechts.
Effektiver als der Staat
Als ich in sehr jungen Jahren in die Kirche kam, wurden der Glaube und die Möglichkeit des Gedankenaustauschs mit anderen Gläubigen meine Freiheit. Heute, 25 Jahre später, fühlt sich die Wiedereröffnung einer Kirche nicht mehr an, als würde man eine Kirche wiedereröffnen – die Freude fehlt.
Ebenfalls heute, 25 Jahre später, bietet die Kirche jungen Menschen eine Möglichkeit der Befreiung, allerdings nicht über die Eröffnung von Kirchen und das Gemeindeleben, sondern über den Protest.
Nach dem aufsehenerregenden Prozess gegen die jungen Frauen von Pussy Riot, die in der Kirche wild getanzt hatten, wurde eine neue Gesetzesgrundlage geschaffen, und langsam beginnt sie zu wirken.
Der Videoblogger Ruslan Sokolowski, der sich mehr als einmal Ausfälle gegen die Kirche erlaubt hatte, wurde im letzten Jahr des Extremismus und der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs von Pokemon Go hatte sich der 22-Jährige auf Pokemonjagd in eine der Kathedralen von Jekaterinburg begeben und es in einem Video festgehalten. Ein Lokaljournalist schrieb daraufhin einen Brief an die Staatsanwaltschaft, in dem er den Organen nahelegte, sich dieses Material anzusehen. Solokowski ist seit September [2016 – dek] in Untersuchungshaft und wartet auf die Entscheidung des Gerichts.
Im November kam es in Moskau zu Schau-Festnahmen von Teilnehmern einer Mahnwache zum Schutz des Torfjanka-Parks. Sie hatten dagegen protestiert, dass dort eine orthodoxe Kirche gebaut wird. Man drohte ihnen mit Strafverfolgung wegen Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und wegen der Verletzung religiöser Gefühle. Angestoßen wurden die Ermittlungen durch Anzeigen von Mitgliedern der orthodoxen Bewegung Vierzig mal vierzig.
Gerade läuft ein Prozess gegen einen Mann aus Stawropol, der beschuldigt wird, in einem Sozialen Netzwerk die religiösen Gefühle seiner Diskussionspartner verletzt zu haben.
Erst vor kurzem wurde ein Student aus Orenburg der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt. Wie die Ortsmedien berichten, habe der junge Mann mittlerweile „vor dem Kirchenvorsteher Buße getan“ (hier wurden offenbar die Instanzen vertauscht: man muss nun vor dem Kirchenvorsteher Buße tun und nicht vor Gott), habe sich bei den Christen im Netz entschuldigt und sei beim weltlichen Gericht mit einer Geldstrafe von 5000 Rubel [etwa 80 Euro – dek] davongekommen.
Ende letzten Jahres wurde der Programmierer und Yoga-Lehrer Dimitri Ugai der gesetzeswidrigen Missionstätigkeit (nach dem Jarowaja-Gesetz) angeklagt. Man verhaftete ihn letzten Oktober mitten in einem Vortrag, im Januar kam sein Prozess vor das Friedensgericht. Die nächste Verhandlung findet in wenigen Tagen statt.
Man ist geneigt, diese Vorgänge für eine organisierte Kampagne gegen Andersdenkende zu halten. Aber es scheint komplizierter zu sein. Die Geschichte mit Pussy Riot hätte auch eine Welle von Nachahmungen auf verschiedensten Ebenen nach sich ziehen können – so etwas kommt in Russland vor – aber bisher blieb eine Strafprozess-Flut aus.
Prozesse als Folge von Denunziationen
Eine klassische, „von oben“ organisierte Kampagne führen Moskaus Politmanager in diesem Fall wohl nicht. Die obengenannten Prozesse sind allesamt aus der Initiative von Bürgern hervorgegangen oder ganz einfach gesagt: Sie sind die Folge von Denunziationen. Im Fall Sokolowski, im Fall Krasnow, im Torfjanka-Prozess genauso wie in allen anderen Fällen wurden die Anzeigen auf Initiative einzelner Personen erstattet. Im Fall des verhafteten Yogis brachte der Denunziant, der angeblich selbst einmal Opfer einer exotischen Sekte geworden war, den Beamten den Text des Jarowaja-Gesetzes mit und erklärte ihnen sogar, wie sie weiter vorgehen sollen.
In der Tat arbeitet die Zivilgesellschaft in Fällen von beleidigten Gefühlen wesentlich effektiver als der Staat, und nicht nur dort: Die Beamten haben das Jarowaja-Gesetz noch nicht einmal richtig gelesen, während die Bürger es längst eingehend studiert haben. Diese Entwicklung könnte man auch einfach als Förderung von Denunziantentum bezeichnen oder man nennt es „horizontales Enforcement“.
Der Mensch ist ein freies und ein kompliziertes Wesen. Man weiß nie, in welche Richtung es ihn plötzlich zieht. Manchmal hat man den Eindruck, dass die offiziellen Mitarbeiter der kirchlichen Sphäre gar nicht mehr tun können, als den Menschen, allen Menschen, subtil Gründe an die Hand zu geben, richtig zu handeln, das Beste im Menschen zum Vorschein zu bringen. Menschen Gründe an die Hand zu geben, einander zu denunzieren, ist das genaue Gegenteil.
Aber was soll man machen? So will es nun mal die weise Politik, und sie ist immerhin besser als die Politik, alle ins Gefängnis zu werfen. Die Aufsicht über die Bürger wurde komplett an die Sozialen Netzwerke abgetreten, und zwar nicht nur in Fragen von religiösen Gefühlen. Wozu sollte man auch tausende Leute anstellen und dafür bezahlen, dass sie die Bürger überwachen, wenn man sich vollständig auf beinahe freiwillige Mitglieder von befreundeten Organisationen verlassen kann, die von befreundeten Fonds finanziert werden.
Wozu Gelder aus der Staatskasse aufwenden?
Totalitarismus ist ein kostspieliges Regime: Alles muss der Staat selbst erledigen. Moderne autoritäre Systeme, darunter auch Russland, sind viel klüger. Wozu sollte man etwas aus der Staatskasse bezahlen, wenn man es auch über Belohnung, Preise und Trophäen regeln kann. Menschen, die eine Polizei-Funktion erfüllen, müssen nicht im Dienst der Polizei oder der Kirche stehen. Es genügt, wenn sie Abgesandte oder Steuerpächter sind, sprich Menschen, die im Namen des Staates Steuern eintreiben.
Das Geniale an diesem Trick ist, dass der Staat noch so klein und sparsam sein kann, es gibt dennoch niemanden, der von oben auf ihn schauen könnte. Denn alle sind seine Pächter – keine gleichgestellten Partner, und schon gar keine Widersacher.
Selbst der potenziell am besten geeignete Kandidat für diese Rolle, die Kirche, kann sie nicht erfüllen. Wirklich seltsam, wie ich vor 25 Jahren denken konnte, dass nicht nur die Kirche, sondern auch die Kunst und die bürgerlichen Kräfte zutage treten und den Staat durch ihr Bestehen in die Schranken weisen würden. Dass unabhängige Gemeinden vom Sockel der Tradition und der Erfahrung des katastrophalen 20. Jahrhunderts auf den Staat blicken würden.
Aber wie sich herausgestellt hat, gibt es niemanden, der so von oben auf den Staat schauen könnte. Alle brauchen und wollen, dass er ihnen etwas zuteilt oder sie an die nächste Kreuzung stellt, damit sie dort Geld eintreiben.
Da stehen sie, Aktivisten der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD), ein Grüppchen von 10, 15 Leuten, jeder von ihnen hält ein Schild in die Höhe, auf dem stehen Dinge wie „Heimat! Freiheit! Putin!“. Die NOD ist eine politische Randbewegung, ihre Mitglieder, darunter viele Rentner, halten an Putin als Leader fest, gleichzeitig aber hängen sie allerlei Verschwörungstheorien an, hauptsächlich der, dass alles Übel in Russland von den USA gesteuert sei. Politikwissenschaftler sprechen der NOD dennoch eine interessante Funktion zu: Als radikale Kraft lässt sie die Staatsmacht, gegenüber der sie sich stets loyal verhält, gemäßigt erscheinen.
Viel ist über die NOD nicht bekannt. Um mehr herauszufinden, hat sich Bumaga-Journalist Pawel Merslikin ihr angeschlossen – für einen Monat.
I. WIE ICH DER NOD BEIGETRETEN BIN
Petersburg, Uliza Lomonossowa. Hier, an der Ecke zur Uferpromenade der Fontanka, befindet sich eine Filiale der Russischen Zentralbank. Jeden Freitag von 16.30 bis 18.00 Uhr protestieren hier NOD-Aktivisten. Sie sind der festen Überzeugung, die Zentralbank arbeite für die „Feinde Russlands“.
Anfang Mai sind sie nur zu dritt: eine füllige Dame in einem unförmigen Pelz und mit einer Mütze, an der eine große Fellblume prangt, sowie zwei ältere Herren in abgetragenen Daunenjacken. Der eine ist etwa 60, der andere wesentlich älter, er hat einen langen grauen Bart.
Man sieht sie schon von weitem. Die NOD-Mitglieder verteilen Zeitungen mit einem Putin-Portrait auf dem Titelblatt. „Für Russlands Souveränität!“, rufen sie den Passanten hinterher und wedeln mit Fähnchen in den Farben des St. Georgs-Bandes. Die meisten Petersburger beachten sie kaum. Es sind vor allem Rentner, die auf die Aktivisten reagieren. Sie kommen auf das Dreiergespann zu und beginnen ein Gespräch über das Schicksal Russlands.
„Was steht ihr denn hier rum?“, fragt eine ärmlich gekleidete Frau um die 65 die Aktivisten, wobei ihr Blick schnell von einem zum anderen springt. „Für Putin stehen wir hier. Zur Unterstützung.“ „Na, wozu denn dann hier rumstehen? Sind doch sowieso alle für ihn. Meine Freunde und Bekannten, wir alle haben ihn gewählt.“
Die NOD-ler nicken wohlwollend. Man kommt auf die neuesten Nachrichten zu sprechen. Die Aktivisten berichten von NawalnysFilmNennen Sie ihn nicht Dimon. Sie sind überzeugt: Alles, was darin gesagt wird, ist Lüge.
„Nawalny hat in den USA studiert. Er ist ein amerikanischer Agent. Es versteht sich doch von selbst, wessen Interessen er vertritt. Dabei zahlen wir den Amis auch so schon genug Abgaben. Eine Milliarde pro Tag, stellen Sie sich das mal vor!“, erklären die Aktivisten. „Eine Milliarde am Tag? Und warum?“ „So sind nun mal unsere Gesetze.“
Es sind vor allem Rentner, die auf die Aktivisten reagieren
Nach beendeter Diskussion über die „Abgaben an die Amis“ und die „tote“ Jugend von heute bekommt die Rentnerin noch die offizielle NOD-Zeitung in die Hand gedrückt, in der erklärt wird, Russland sei eine Kolonie der USA, dann geht sie. Nun trete ich näher und sage, ich würde gern der Bewegung beitreten.
Man reicht mir ganz selbstverständlich ein abgewetztes Plakat, das die Zentralbank auffordert, den Basiszins auf Null herabzusetzen. Eine Minute später stehe ich damit neben der Aktivistin Tatjana; sie hält ein Plakat, auf dem versichert wird, Lukaschenko arbeite mit den „Ukro-Faschisten“ zusammen.
Es scheint, als hätten sich die NOD-ler heute nur versammelt, um mich willkommen zu heißen. Die Aktivisten wirbeln um mich herum, schütteln mir die Hand und lassen sich einer nach dem anderen mit mir fotografieren. Wenige Minuten später nennen mich die angestammten NOD-ler schon vertraulich Paschenka.
Tatjana sagt zu ihren älteren Gleichgesinnten: „Da seht ihr es, die Jugend kommt. Wir stehen also nicht umsonst hier.“
II. WIE NOD-AKTIONEN ABLAUFEN
Wladimir hat von klein auf vom Meer geträumt. Doch Seefahrer zu werden klappte nicht. Im Laufe seines Lebens hat er ein Dutzend Berufe gewechselt: vom Anschläger bis zum Einrichter für medizinische Geräte. Heute ist Wladimir über 70, seit mehreren Jahren in Rente und hat nach eigener Aussage nur zwei große Aufgaben im Leben: den Enkel zur Schule zu bringen und in den Reihen von NOD für die Souveränität Russlands zu kämpfen. An den großen Traum vom Meer erinnert nur noch die in der Jugend gestochene Anker-Tätowierung auf seinem Handrücken.
Zur NOD kam der betagte Petersburger vor etwa einem Jahr, nachdem er im Netz zufällig auf ihre Seite gestoßen war und ihr Programm regelrecht verschlungen hatte. Nun trifft man Wladimir immer donnerstags auf der Uliza Lomonossowa. Auch bei der traditionellen NOD-Sonntagsdemo ist er dabei.
Bei drei der wöchentlichen Veranstaltungen stand ich Schulter an Schulter mit Wladimir. Sie folgten alle demselben Schema:
Gegen 13.00 Uhr befestigten wir rasch ein mehrere Meter langes, abgewetztes Banner mit der Aufschrift: „Putin ist unser nationaler Leader“. Wir stellten uns dazu, griffen uns einen Stapel Propagandazeitschriften und versuchten sie zu verteilen. Wer keine Zeitungen verteilen wollte, konnte sich aus einem Haufen eines der alten, abgewetzten Plakate nehmen. So stand ich bei den Aktionen unter anderem mit Plakaten a là „USA, Finger weg von der Kiewer Rus“ oder mit einem riesigen Foto von Putin in Pelzmütze mit der Aufschrift „Wie geht’s unserem Alaska?“. Ein unangenehmes Gefühl.
Weg mit der Fünften Kolonne – so lautet eine der Forderungen auf den Plakaten
Für gewöhnlich kamen zu den Piketsdrei bis sechs Leute. An guten Tagen waren es maximal 15 bis 20. Mehr aktive Mitglieder hat die Petersburger NOD offenbar gar nicht. Fast die Hälfte davon sind Rentner mit zu viel Freizeit und Sowjet-Nostalgie. Ansonsten trifft man bei den Aktionen noch eine Handvoll sehr bescheiden gekleidete Petersburger über 40 und ein paar patriotische Studenten.
Ungeachtet ihrer Außenwirkung, sind die Aktionen der Bewegung von innen betrachtet ausgesprochen langweilig. Ihre Atmosphäre erinnert an einen Rentnerplausch auf der Datscha. Über Politik wird nicht diskutiert, meistens wird einfach geschwiegen. Wenn doch mal ein Gespräch aufkommt, geht es um Rückenschmerzen oder die guten Leistungen des Enkels in der Schule.
III. WORAN GLAUBEN NOD-LER?
Die ersten NOD-Aktivisten tauchten im Herbst 2012 auf russischen Straßen auf, kurz nach der Bolotnaja-Geschichte. Die Ideologie der Bewegung ist schnell zusammengefasst: An allem Übel in Russland sind die USA schuld.
Es ist nämlich Amerika, das Gebühren anhebt und neue Steuerabgaben einführt, die Medien kontrolliert und die Staatsduma zwingt, Gesetze zu verabschieden, die Russland schaden. Amerika bringt auch die Schüler auf die Straßen. Außerdem glaubt man bei der NOD, der Maidan und der Konflikt im Donbass seien die Folgen eines im Grunde offenen Krieges, den die USA gegen Russland führen. Der Terroranschlag in der Petersburger Metro sei nur ein Symptom dieses Krieges, so die feste Überzeugung in der Bewegung. Den Aktivisten zufolge sind amerikanische Geheimdienste an der Vorbereitung beteiligt gewesen.
Mit der Theorie über die allmächtigen Feinde aus Amerika erklärt die NOD ausnahmslos alle Probleme in Russland, ohne dabei je von der offiziellen Linie der Regierung abzuweichen. Die protestierenden Fernfahrer erklärt man für geheime ukrainische Terroristen, die demonstrierenden Studenten für Satanisten, und korrupte Beamte für amerikanische Agenten.
Die protestierenden Fernfahrer erklärt man für geheime ukrainische Terroristen, die demonstrierenden Studenten für Satanisten, und korrupte Beamte für amerikanische Agenten
Die Aktivisten sind der Auffassung, die weitreichenden Befugnisse der USA seien gesetzlich verankert: Nach dem Zerfall der Sowjetunion habe Russland eine von „westlichen Beratern“ geschriebene Verfassung angenommen und sei zu einer Kolonie der USA geworden. Seitdem regiere Amerika das Land mithilfe der allgegenwärtigen Fünften Kolonne, der Zentralbank, der Medien und Oppositioneller wie Alexej Nawalny.
Nur eine Handvoll Russen leiste Widerstand gegen die Okkupation, aber der wichtigste Kämpfer gegen die Amerikaner sei selbstverständlich Wladimir Putin, so die NOD-Mythologie. Während seiner 16 Jahre an der Macht habe er viel bewirkt. Doch Russland endgültig zu befreien, sei ihm schlichtweg physisch nicht möglich. „Die Amerikaner würden ihn gleich aus dem Weg räumen. Ja, auch die Staatsduma, in der sich die Fünfte Kolonne breitgemacht hat, würde das nicht zulassen“, erklären mir die NOD-ler anhand ihres Agit-Materials und nennen Putin einen Weltrevolutionär.
Sie sehen nur einen Ausweg aus der Situation: Ein Referendum, mit dem die Verfassung geändert und das Primat des internationalen Rechts und der Verzicht auf Ideologie gestrichen wird. Außerdem: Putin muss uneingeschränkte Macht eingeräumt werden. Indem man beispielsweise Rechtsstrafen für Beamte einführt, die sich nach dem Willen der Amerikaner Putins Befehlen widersetzen.
IV. WER DIE NOD ERFUNDEN HAT
Gegründet wurde die NOD samt ihrer wirren Ideologie von Jewgeni Fjodorow, einem Dumaabgeordneten mit dem Aussehen eines Informatiklehrers.
Wie er sagt, sei ihm immer schon klar gewesen, dass die Amerikaner Russland regieren. „Ja, die Duma verabschiedet nur Gesetze, die im Westen geschrieben wurden. Aber das hat mich nie davon abgehalten, meiner Arbeit nachzugehen. Genauso wenig wie es mich davon abgehalten hat, morgens aufzustehen und mich zu rasieren“, erzählt Fjodorow.
Der NOD-Gründer sagt, es sei ihm immer schon klar gewesen, dass die Amerikaner Russland regieren
Bekanntheit erlangte der Abgeordnete jedoch nicht durch seinen langjährigen Staatsdienst, sondern durch die Niederlagen, die er bei Debatten gegen Nawalny einstecken musste und bei denen erstmals der Slogan „Partei der Gauner und Diebe“ fiel. Außerdem noch durch die Gründung der NOD und durch einige aufsehenerregende Gesetzesvorhaben, die er initiiert hat. Darunter das Dima-Jakowlew-Gesetz, das Gesetz über ausländische Agenten, das Verbot von „Homosexuellenpropaganda“ und viele mehr. All diese Gesetze betrachtet er als Ergebnisse seiner Arbeit im „Hinterland des Feindes“ und als erste Schritte auf dem Weg zur Befreiung vom „amerikanischen Joch“.
Dabei schreibt der Abgeordnete nicht wenige Veränderungen in der russischen Realität sich und seiner Bewegung zu. So hätten, wie der NOD-Anführer berichtet, Aktivisten mehrere Verschwörungen und Revolutionen in Russland verhindert, die Fünfte Kolonne bekämpft und wären sogar an Medienskandalen beteiligt gewesen. Sie hätten beispielsweise den Führungswechsel im Medienunternehmen RBC erwirkt.
Auf dem Papier gibt es in der NOD ein „ideologisches Komitee“, eine Rechtsabteilung, Verantwortliche für humanitäre Spendensammlungen und Zusammenarbeit mit Unternehmern, eine Zeitung und sogar eine eigene, wenn auch wenig aktive Partei Nationaler Kurs. Allerdings tagen die Komitees laut Aussage der NOD-ler nur alle paar Monate. Die Bewegung werde eigentlich von gewöhnlichen Aktivisten aufrechterhalten.
V. WER IST IN DER NOD?
NOD-Gruppen sind derzeit in allen einigermaßen großen russischen Städten aktiv: Sie demonstrieren in Moskau und Nowosibirsk, halten Pikets vor der US-amerikanischen Botschaft in Petersburg ab oder tauchen zwecks Disput bei Aktionen der Opposition in Barnaul auf.
Nicht selten arten diese Streits in Handgreiflichkeiten aus. Allein im letzten Jahr berichteten die Medien von NOD-Angriffen auf Alexej Nawalny, Ljudmila Ulitzkaja, den Petersburger Fotografen David Frenkel und sogar auf Schüler. Die NOD-ler weisen die Anschuldigungen zurück und behaupten, die Angreifer seien keine NOD-ler gewesen. Zudem betonen sie, sie würden ausschließlich mit gesetzeskonformen Mitteln für Russlands Wandel kämpfen.
Insgesamt existieren in Russland mittlerweile über 200 NOD-Gruppen. Die Gesamtzahl der Aktivisten soll nach Angaben der Anführer der Bewegung bei über 160.000 liegen. Wobei Fjodorow und seine Anhänger überzeugt sind: In Wirklichkeit sind es viel mehr. So zählen sie beispielsweise Wladimir Putin zu ihren Mitstreitern – ihn nennen sie den wahren Leader der Bewegung – und den Großteil der Silowiki.
Die NOD sieht auch Wladimir Putin als ihren Mitstreiter – ihn nennen sie den wahren Leader der Bewegung – und den Großteil der Silowiki
NOD-Aktivist zu werden ist ausgesprochen einfach. Es genügt ein Online-Formular auszufüllen oder bei einer der zahlreichen Aktionen zu erscheinen. In Petersburg finden zum Beispiel vier bis fünf NOD-Pikets pro Woche statt.
Ein Neuling sollte allerdings keine aufsehenerregenden Großtaten erwarten. Die Aktivität der NOD beschränkt sich beinahe auf die täglich stattfindenden Aktionen von 3 bis 15 Personen mit Losungen wie „Heimat! Freiheit! Putin!“ oder „Unser Land, unsere Regeln!“, und hitzige Diskussionen neuester politischer Ereignisse in Sozialen Netzwerken.
Waleri, ein kleiner, kräftiger Bauarbeiter von 55 Jahren, kommt regelmäßig zu den Aktionen, ungeachtet seiner gesundheitlichen Probleme und der mehrmonatigen Krankschreibungen. Bei der NOD ist er schon über ein Jahr, davor war er in einer anderen patriotischen Organisation mit verschwörungstheoretischer Schlagseite – der Partei Großes Vaterland(PWO) von Nikolaj Starikow.
„Bei der PWO habe ich in der gesamten Zeit fast 50.000 Rubel [knapp 800 Euro – dek] ausgegeben, stell dir das mal vor!“, beschwerte er sich, während wir gemeinsam auf dem Newski mit einem Plakat zum Ruhme Putins standen. „Hier hingegen gibt es keine Monatsbeiträge, nichts.“
Die Atmosphäre bei NOD erinnere an einen Rentnerplausch auf der Datscha, meint Journalist Pawel Merslikin
Tatsächlich habe auch ich während meiner einmonatigen NOD-Mitgliedschaft gerade mal 500 Rubel [knapp 8 Euro – dek] ausgegeben: Zum 8. März haben wir für ein Weltfrauentagsgeschenk für eine der Aktivistinnen zusammengelegt.
Die Finanz-Situation wirkt sich dennoch aus. Den Großteil der Agitationsmaterialien drucken die Aktivisten auf eigene Kosten, was dazu führt, dass sie jahrelang dieselben Plakate hochhalten und veraltete Zeitungen verteilen. Im März 2017 standen wir mit Materialien aus 2016 bei den Aktionen. „Keine zentralisierte Finanzierung zu haben ist unser Prinzip. Die NOD ist eine Bewegung von unten nach oben“, erläutert Jewgeni Fjodorow. Wobei der Abgeordnete selbst womöglich durchaus über Finanzierungen verfügt.
VI. WAS DIE NOD-FÜHRUNG MIT MILLIONENSCHWEREN FÖRDERUNGEN ZU TUN HAT
Auf Anfrage von Bumaga hat die internationale Antikorruptionsorganisation Transparency International die Finanzierung der NOD analysiert.
Die Experten stellten fest, dass russische regierungsfreundliche Bewegungen, die sich den Verzicht auf eine zentralisierte Finanzierung auf die Fahnen schreiben, ihre Gelder oftmals über ein gut entwickeltes Netz von nicht-öffentlichen, gemeinnützigen Organisationen und Stiftungen beziehen. Beispiele dafür sind Transparency zufolge das Projekt „Set“ oder Ofizery Rossii [dt. Offiziere Russlands – dek]. So ein Finanzierungssystem ermöglicht es, Umfang und Verwendung der erhaltenen Mittel zu verschleiern.
Innerhalb der Organisationen, mit denen der NOD-Anführer Jewgeni Fjodorow in Verbindung steht, finden sich zudem einige, die Fördermittel vom Präsidenten erhalten. So hat zum Beispiel das Institut für Wirtschaft und Gesetzgebung, das auf Fjodorows offizieller Webseite oft Erwähnung findet, bereits drei Mal solche Förderungen erhalten.
Fjodorow selbst räumt zwar ein, dass eine Verbindung zwischen ihm und den Fördermittelempfängern bestehe, hebt jedoch hervor, dass die NOD kein Geld von ihnen erhalten würde. Außerdem verfügt die NOD über zwei Spendenkonten, legt jedoch keinerlei Abrechnungen über die Finanzströme vor. Nach eigenen Angaben erhalte die NOD allein für die Unterstützung von Noworossija monatlich zwischen 47.000 [etwa 740 Euro – dek] und 329.000 Rubel [etwa 5.200 Euro – dek].
Transparency stellt fest, dass an solch einem System de facto nichts illegal sei. Allerdings ermögliche es, Mittel nicht offenlegen zu müssen. Gleichzeitig betonen die Korruptionsgegner, dass die NOD keine hohen Geldsummen brauche, um ihre Aktivität auf dem bestehenden Level zu halten. Nach Einschätzung von Transparency reichten der Bewegung monatlich 300.000 [etwa 4700 Euro – dek] bis 400.000 [etwa 6300 Euro – dek] Rubel.
Einer der Leiter der NOD-Gruppen stimmte dieser Einschätzung im Gespräch mit uns weitestgehend zu und nannte einen Richtwert von 200.000 Rubel [etwa 300 Euro – dek] im Monat.
„Die Zentralverwaltung kann uns nur Bücher, Flyer, Plakate und Fahnen zur Verfügung stellen. Wobei wir den Großteil selbst herstellen: Beispielsweise schmeißen alle je 50 bis 100 Rubel [knapp 1 bis 2 Euro – dek] zusammen – für einfache Druckerpatronen, Papier und solche Sachen. Es gibt eine materielle Ebene, aber das ist nicht das Wichtigste. Ein Gehalt bekommt keiner“, hob er hervor.
VII. WARUM ES DER NOD NICHT GELINGT, GROSSE MENSCHENMASSEN ZU MOBILISIEREN
Der NOD gelingt es nicht, große Menschenmengen für ihre Aktionen zu mobilisieren. So war es auch am 18. März, als die Petersburger Aktivisten den Jahrestag der Krimangliederung feiern wollten. Es kamen keine 20 Personen, und es blieb bei einer Reihe von Einzelpikets auf dem Newski-Prospekt. Am darauffolgenden Tag veranstaltete die NOD eine weitere Demonstration auf der Malaja Sadowaja. Auch zu dieser Aktion kamen wieder nur dieselben 15 Leute.
Wieder nur dieselben Aktivisten – wieder sind an allem Übel die Amis schuld, „Agenten des Westens, raus aus Russland“ steht da etwa.
Für das Scheitern der Krim-Aktion hatte man allerdings sofort eine Erklärung parat: Die Amerikaner sind schuld. „Die haben Poltawtschenko gesagt, es darf keine Massenveranstaltungen geben“, erklärte mir eine der Aktivistinnen und fügte hinzu, auch innerhalb der Bewegung gäbe es Spione, die verhinderten, dass man viele Aktivisten auf die Straße brächte. Dem stimmt auch Fjodorow zu, der immer wieder betont, es brauche noch ein, zwei Jahre bis zum „endgültigen Sieg der NOD“.
Keine noch so große Oppositionsdemo vermag die NOD-ler zu entmutigen. „Da versammeln sich Nawalny-Kämpfer, Schwule, Weißbändchenträger und die Fünfte Kolonne. Natürlich können die diese Großaktionen als Sieg verbuchen. Aber sie gewinnen nur eine Schlacht, wir werden den Krieg gewinnen. Mit jeder unserer Aktionen rückt Russlands Souveränität näher. Es dauert nur noch ein Jahr. Wenn Putin 2018 wieder Präsident wird, ist Schluss mit den Amis“, erzählte mir der betagte Aktivist Waleri und machte sich nach einigen Klagen über Schmerzen in den Beinen und den Streit mit der Ehefrau gemächlich auf den Heimweg von seinem Einzelprotest.
Kriegsspiele für die ganze Familie: Im Freizeitpark Patriot bei Moskau stellen Rollenspieler die Schlacht um Berlin nach. Das russische Verteidigungsministerium hat das Event finanziert, laut Veranstalter kamen rund 10.000 Zuschauer.
Ilja Milschtein zitiert auf Snob.ruzunächst eine begeiserte Reaktion des Massenblatts Komsomolskaja Prawda auf das Event. Und setzt sich dann damit auseinander, weshalb seiner Meinung nach solche Reenactments eher helfen, zu vergessen, statt zu erinnern.
Ein Kriegsberichterstatter versorgt uns mit wertvollen Details:
Das Drehbuch, so der Augenzeuge, zeigt alle Etappen im Kampf um Berlin: die Schlacht um die Seelower Höhen samt Angriffen und Gegenangriffen, Häuserkämpfe, und die Erstürmung des Reichstages … Dann wurde über dem Feld eine Luftschlacht zwischen Jagdflugzeugen eröffnet: Lawotschkin LA-7 gegen Messerschmitt. Tiger rollten gegen unsere T-34er auf, die Infanteristen stießen im Nahkampf aufeinander … Es gab sogar einen Hitler, der dazu aufrief, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Als unsere Kämpfer die Flagge auf dem Dach des Reichstages hissten, tobten die Zuschauerränge in einem einhelligen „Hurra!“.
Nun, so war es doch wahrscheinlich im Frühling 1945, oder etwa nicht? Man erstürmte Höhen, führte Straßenkämpfe, präsentierte den Zuschauern, damit ihnen nicht langweilig wird, anschließend eine Luftschlacht, dann spielten die Kämpfer noch ein bisschen Panzer-Biathlon, während Hitler immerzu nach dem Mikro griff. Und dann, als die Fahne über dem Reichstag gehisst wurde, tobten die Zuschauer auf den Rängen.
Kurz, die in Kubinka bei Moskau versammelten Helden haben diese amüsante, letzte Schlacht bis ins letzte Detail nachgestellt – und Minister Schoigu, würdiger Nachfolger von Marschall Shukow, war nicht umsonst Ehrengast bei diesem lautstarken Jubel- und Frühlingsfest. Dafür wurde den Junarmisten und den mitziehenden erwachsenen Reenactors im Park Patriot extra ein Reichstagsgebäude errichtet, und das war alsbald eingenommen.
Fette Party zur Anerziehung patriotischer Gefühle
So etwas nennt man auch Staffelübergabe der Generationen. Weil aber nicht nur Heerführer, sondern auch Normalbürger die Heldentaten der Väter und Großväter beerben, ist es ausgesprochen wichtig, denen, die den Stab übernehmen, zu zeigen, wie sich das Ganze tatsächlich abgespielt hat. Und zwar anhand von anschaulichen Beispielen – in diesem Sinne war der Sieg über die deutschen Fritze bei Moskau in deren eigener Bastion, dem Berliner Reichstag und Umgebung, eine äußerst sinnvolle Sache. Sowohl als fette Party als auch zur Anerziehung patriotischer Gefühle – die lassen sich bekanntlich am besten unter Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei und in Anwesenheit des Verteidigungsministers einimpfen.
Man könnte sogar meinen, es gäbe heute, angesichts der gegenwärtigen Situation, keine wichtigere Aufgabe, als der Jugend beizubringen, dass der Krieg eine wahnsinnig witzige Sache sei. Ein fabelhaftes Spektakel, das unweigerlich in einen überzeugenden Sieg gipfelt. Vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten.
Krieg – das ist wahnsinnig cool. Auch wenn wir uns an den Reenactor Strelkow erinnern, der sich später aus dem Staub gemacht hat: Wie er um Slawjansk kämpfte und davon träumte, mit den Truppen bis nach Kiew vorzudringen, um da auch irgendwas zu hissen. Wäre ihm das gelungen, könnten wir in 70 Jahren Sturm auf Kiew spielen.
Ein Sieg vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten
Überhaupt, das ist echt eine Spitzenidee: ein Sturm auf Berlin im Jahr 2017. In Zeiten von heftigen außenpolitischen Auseinandersetzungen Russlands mit Europa und den USA, die allmählich vom kalten Stadium in ein recht aufgeheiztes übergehen.
Wo Feinde von gestern, wie die Amerikaner, plötzlich unseren Busenfreund zum Präsidenten wählen, dieser sich aber plötzlich als Feind entpuppt und unseren allertreuesten Freund bombardiert.
In Zeiten, wo in der Welt alles wackelig und unsicher ist wie eine fünfstöckige Chruschtschowka, sollten die Bewohner der belagerten Festung lieber öfter trainieren: Attrappen europäischer Hauptstädte errichten und sie im Sturm erobern. Das mobilisiert die Stürmer und schweißt zusammen, gleichzeitig dient es dem Feind als mahnende Erinnerung. An unsere vergangenen Siege und an jene, die quasi unausweichlich bevorstehen.
Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns
Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns. Wir hingegen, vom Oberbefehlshaber über Minister Schoigu bis hin zum unbedeutendsten Statisten aus den Massenszenen – wir alle können den realen Krieg ruhig komplett vergessen. Vergessen, wie er wirklich sein kann. Zu welchem Preis der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg errungen wurde. Unsere Großväter, die von der Front nicht zurückgekehrt sind – denn das sind sie doch bei den wenigsten.
Ja, auch den Sturm auf Berlin im Frühling 1945 sollte man ein für alle Mal aus dem Gedächtnis tilgen, um nicht daran denken zu müssen, wie viele sowjetische Soldaten dort in den letzten Tagen, Stunden und Minuten des Krieges gefallen sind.
Daran darf man sich nicht erinnern, andernfalls kämen einem inmitten dieser Riesengaudi, die wir vorgestern in Kubinka beobachten konnten, die Tränen, und die Veranstalter dieses Spiels würden zu Idioten, wenn nicht gar zu Marodeuren. Und auch Minister Schoigu erschiene uns plötzlich als Marodeur, wenn nicht gar als Idiot. Vom Journalisten jenes Klatschblatts ganz zu schweigen.
Aber wozu sollen wir uns die Laune verderben und fremde Menschen beleidigen? Besser, wir schließen uns ihnen an und fühlen uns als Sieger. Oben fliegen hübsche Flugzeuge herum, drüben rollen Panzer, während der tollwütig anmutende nationale Führer sich ganz umsonst die Seele aus dem Leib schreit, denn der ganze Spaß geht schon dem Ende zu.
Die Zuschauer applaudieren und ziehen in freudiger Erwartung neuer Spektakel davon. Noch wurde ja die Schlacht im Kursker Bogen nicht nachgestellt, Stalingrad nicht neu errichtet, die Leningrader Blockade nicht durchbrochen – und das ist nur der Zweite Weltkrieg. Man denke nur an all die anderen Kriege und Schlachten, für jede davon ließe sich ein mitreißendes Szenario erfinden, mit großem Geballer und allem Pipapo. In der belagerten Festung weiß man sich zu amüsieren, und tut es gern, indem man lustig die Zeit totschlägt. Unser Korrespondent deckt sich schonmal ein mit Dienstreiseanträgen, Metaphern und Popcorn.
In Russland ist es üblich, von einer „konservativen Mehrheit“ zu sprechen – einer Mehrheit der Gesellschaft, die das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ gutheißt, für mehr Internetkontrolle plädiert und geschlossen hinter dem selbsterklärt-konservativen Präsidenten Putin steht. All das ermitteln Soziologen nämlich in Meinungsumfragen. Was bedeutet es aber für diese Umfragen, wenn die erdrückende Mehrheit sich davor sträubt, an ihnen teilzunehmen? Man sollte sie dann zumindest hinterfragen, meint der Soziologe Grigori Judin im ersten Teil seines Interviews auf Colta.ru. Hinterfragen solle man laut Judin allerdings auch das Attribut dieser angeblichen Mehrheit – ihren Konservatismus.
Denn weshalb Konservatismus nicht immer gleich Konservatismus ist, sondern sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, das erklärt er in Teil 2 des Interviews.
Gleb Naprejenko: Du hast das soziale Bewusstsein in russischen Kleinstädten untersucht – allerdings nicht mittels Meinungsumfragen. Zu welchen Ergebnissen kommt eure Feldforschung im Hinblick auf Konservativismus – und das Verhältnis der Menschen zu Politik und Geschichte?
Grigori Judin: Die Fragestellung unserer Untersuchung war zwar eine etwas andere, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Konservativismus kann in sehr unterschiedlichen Formen auftreten. Außerdem sorgt der Begriff eher für Verwirrung als für Klarheit.
Beispielsweise erwächst von unten vor allem eine lokale, regionale Agenda – und die ist teilweise konservativ. Offenbar sind es zumeist Heimatkundler, die versuchen diese Agenda umzusetzen. Das sind Menschen, die sich mit der Geschichte ihrer Region befassen, oft Lehrer oder Bibliothekare. Sie treten als Hüter der Erinnerung auf, sehen sich sozusagen als ihre Agenten.
In der Regel sind das Menschen fortgeschrittenen Alters oder zumindest Nachfolger von ortsansässigen Heimatkundlern aus der Sowjetzeit. Und weil die Heimatgeschichte mit Beginn des Stalinismus, sprich seit den 1930ern, massiv eingeschränkt wurde, stehen die Heimatkundler der Sowjetzeit sehr skeptisch gegenüber. Zwar ließ Chruschtschow die Heimatgeschichte wieder zu, denn er hoffte damit, einen Lokalpatriotismus zu schaffen, der sich wie eine Matrjoschka in den gesamtsowjetischen Patriotismus einfügen würde. Aber natürlich wurden die Heimatkundler nie völlig loyal. Sie hatten ihr eigenes Programm und nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die Möglichkeit es umzusetzen.
Jeder von ihnen ist ein Lokalpatriot, dem die lokale Geschichte am Herzen liegt. Das ist eine lokale Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde.
Die Heimatkundler sind Lokalpatrioten, eine Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde
Zweifellos ist darin ein an der Gemeinschaft orientiertes konservatives Programm erkennbar, das mit der Wiederherstellung einer lokalen Identität einhergeht. Übrigens sieht die lokale Geschichtsschreibung, auf der diese Identität gründet, nicht selten recht merkwürdig aus: Sie ist bruchstückhaft und verzerrt. Doch dieser Konservativismus unterscheidet sich klar von jenem, mit dem wir es heute in der Staatspropaganda zu tun haben.
Sehen wir uns zum Beispiel das Geschichtsbild an, das der Staat seit Mitte der 2000er Jahre zu vermitteln versucht: Geschichte meint hier die Geschichte des Staates, kein anderes Subjekt ist denkbar.
Es ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage. Eigene, innere Konflikte hat es selbstverständlich nie gegeben – sie sind seit jeher Projektionen von außen. Die inneren Feinde sind Agenten der äußeren. Der Sieg über sie ist ein Sieg über den äußeren Feind. Alle Konflikte, Umwälzungen oder revolutionären Ereignisse, vor denen die russische Geschichte geradezu überquillt, werden geglättet oder ignoriert.
Das staatliche Geschichtsbild ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage
Wir beobachten eine seltsame Idee unverbrüchlicher Kontinuität zwischen Iwan dem Schrecklichen, den Romanows, der Sowjetmacht in all ihren Ausprägungen und Wladimir Putin am Höhepunkt dieser Geschichte. Als hätte jeder von ihnen dem nächsten auf die Schulter geklopft und gesagt: „Lass uns nicht hängen, altes Haus!“
Das ist Geschichte ohne Geschichtlichkeit. Denn Geschichtlichkeit und die historische Methode beruhen seit den Anfängen der deutschen Geschichtsphilosophie auf der Idee, dass sich Dinge verändern und dass das, woran wir uns gewöhnt haben, seinen Anfang und sein Ende hat.
Dass auf dem Gebiet des heutigen Russlands regelmäßig Konflikte darüber aufgeflammt sind, aufflammen und aufflammen werden, wie das Land überhaupt beschaffen sein sollte, wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen.
Wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen
Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander „zu versöhnen“, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten, nur eben auf leicht unterschiedliche Art und Weise. Deswegen hätten sie sich ein bisschen gestritten und für drei, vier Jahre diesen kleinen Bürgerkrieg angezettelt. Aber im Prinzip seien das alles gute Leute gewesen, die nur die Stabilisierung des Staates gewollt hätten.
Dabei wird bereitwillig ausgeklammert, dass ein bedeutender Teil derer, die an diesen Ereignissen beteiligt war, meinten, dass es überhaupt keinen Staat geben sollte. Andere meinten, dass der neue Staat nichts mit dem Russischen Kaiserreich gemein haben sollte… Das war also ein echter handfester Streit, im Zuge dessen das Subjekt der Geschichte ein völlig anderes geworden ist.
Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander ‘zu versöhnen’, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten
Diese staatliche Idee von einem sich über den Lauf der Geschichte erstreckendes Subjekt der Geschichte zeugt von einem konservativen Weltbild. Jedoch einem grundlegend anderen als dem der lokalen Konservativen.
Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Zwar steckt in jedem Konservativismus ein Element der Angst, doch im Fall der modernen russischen Elite beobachten wir geradezu blanke Panik vor einer Revolution. Und diese geht in eine Angst vor jeglicher Veränderung über. Man fürchtet jede selbstständige Bewegung von unten und jede Aktivität in der Bevölkerung. Genau daher rührt das Bedürfnis nach der Erfindung jenes Mythos, dass sich in Russland nie etwas verändert habe.
Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Im Fall der modernen russischen Elite herrscht geradezu blanke Panik vor einer Revolution
Bemerkenswert ist, dass diesen Mythos auch Leute geschluckt haben, die sich in Russland gemeinhin als liberal bezeichnen. Von ihnen hören wir nämlich exakt dasselbe, nur mit entgegengesetztem Vorzeichen: Es gebe irgendeine besondere russische Mentalität, einen besonderen russischen Archetyp, einen Weg, den Russland einst beschritten habe und nicht verlassen könne.
Wann das gewesen sein soll und warum, bleibt völlig unklar. Offenbar anno dazumal. Doch man beharrt darauf, dass gerade dieser Sonderweg uns daran hindere, Teil einer sagenumwobenen westlichen Welt zu werden.
Wie steht man in diesem lokalen Kontext zu möglichen radikalen politischen Veränderungen?
Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor potenziellen Veränderungen geschürt. Aber man muss hier zwischen Angst und Vorsicht unterscheiden.
Der konstruktive Konservativismus begegnet allem Neuen mit Vorsicht. Er muss dieses Neue zunächst daraufhin befragen, ob es dem entspricht, was wir bereits haben. Sogar, wenn Veränderungen für notwendig erachtet werden, wird geprüft, ob und wie sie sich in die bestehende Ordnung integrieren lassen.
Es überrascht also nicht, dass diese Konservativen Revolutionen besonders misstrauisch gegenüber stehen, denn über Revolutionen lassen sich keine Vorhersagen machen. Dafür passieren sie viel zu schnell.
Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt
Für den verängstigten Konservativismus hingegen ist die Übertragung von Angst typisch. Angst wird zum Schlüssel-Gefühl und ermöglicht damit eine zentralisierte absolute Macht.
Willst du deine Macht behalten? Dann jage allen um dich herum Angst ein, dass jeden Moment der Feind einfällt und alle vernichtet. Dann hast du es schon geschafft, denn du bist der Einzige, der sie beschützen kann.
Angst geht immer mit fehlendem Vertrauen und und fehlendem Schutz einher. Also mit etwas, das für den normalen, gemäßigten Konservativismus untypisch ist. Dieser wähnt sich nämlich auf festem Boden und weiß die Tradition hinter sich und die gibt ihm Halt. Im Gegensatz dazu fehlt dem verängstigten Konservativismus jeglicher Halt.
Aber, meine Herren, wenn ihr solche Angst vor einer Revolution habt, dann glaubt ihr ja wirklich, es gebe hier nichts, was euch vor einer Revolution bewahren könnte, außer dieser einen Person an der Spitze des Staates? Wir haben also einen absoluten Mangel an Verlässlichkeit. So empfinden es für gewöhnlich auch unsere Mitbürger: Wir haben keinerlei Halt, wir können uns auf niemanden außer uns selbst verlassen, wir verspüren Unsicherheit und versuchen, unsere Angst durch Privatleben und persönlichen Erfolg zu kompensieren. Wir leben in dem ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte.
Wir leben im ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte
Dabei ist die Angst vor einer Revolution auf keinen Fall etwas, dass eine Revolution verhindert. Eher im Gegenteil: Ein aufgeregter, emotional instabiler Zustand, der Menschen anheizen kann, ist typisch für eine Mobilisierung – auch für eine revolutionäre.
Das bedeutet natürlich nicht, dass morgen eine Revolution ausbricht. Doch zu behaupten, es könne keine Revolution geben, weil Meinungsumfragen belegten, dass die Menschen vor ihr Angst hätten, ist ein absoluter logischer Fehlschluss.
Jegor Skoworoda nimmt den Leser mit tief ins sibirische Nirgendwo, wo der Wald „ganz dicht“ ist, „überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken“. Er stellt unterschiedliche Gruppierungen von Altgläubigen vor und die abgelegenen Klöster, sogenannte Skiten, der Tschassowennyje. Zu ihnen führen keine Wege, „man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet“.
Skoworoda protokolliert außerdem die Geschichte von Jelisaweta, einer jungen Amerikanerin russischer Abstammung. Sie floh aus einem Kloster am Dubtsches, 40 Kilometer zu Fuß, weiter mit dem Boot – aber erst 15 Jahre nachdem ihre Verwandten sie zu einem „Besuch“ ins Kloster gebracht hatten.
Skoworodas Bericht über Jelisawetas Schicksal erfuhr einige Aufmerksamkeit, er ist einer der mit Abstand meistgelesenen Beiträge auf dem unabhängigen Portal Mediazona. Dort sind auch die O-Töne Jelisawetas zu hören. dekoder hat ihre Geschichte nun ins Deutsche übersetzt.
Die Skiten am Dubtsches bilden das geistige Zentrum der Tschassowennyje, einer Strömung innerhalb der priesterlosen Altgläubigen. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten flohen viele Tschassowennyje zunächst nach China und zogen später nach Süd- oder Nordamerika weiter. Diejenigen, die das Land nicht verlassen hatten, wichen immer weiter in die Peripherie zurück, um der Verfolgung und Kollektivierung zu entgehen.
So fanden sie sich Ende der 1930er Jahre in der tiefsten Taiga im Turuchanski Krai wieder – mitten in der rauen, sumpfigen Wildnis. Von dort, wo der Dubtsches in den Jenissei mündet, sind es noch 500 Kilometer bis nach Krasnojarsk. Stromaufwärts einsam am Dubtsches liegen die kleinen Skiten, Klöster und Höfe der Tschassowennyje. Dorthin gelangt man nur auf dem Wasserweg und nur bei hohem Wasserstand.
In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück
1951 wurden die Skiten von der Sowjetmacht entdeckt und zerschlagen. Die Häuser wurden in Brand gesteckt und ihre Bewohner gewaltsam deportiert.
„In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück. Sie knarzten und knackten. Die Starzen verspürten Unruhe in ihren Herzen. Die Ikonen würden von etwas künden, sagten sie …“, so schildert Afanassi Gerassimow die letzten Tage vor dem Einfall der Strafexpedition.
Auch er wurde festgenommen, konnte jedoch fliehen. Die Gefangenen wurden auf einem Floß transportiert. Als die Aufseher eingeschlafen waren, sprang Afanassi ins Wasser. Heute weiß man, dass außer ihm noch ein paar anderen Altgläubigen die Flucht gelungen ist.
Viktor Makarow, einer der Soldaten von damals, erinnert sich ebenfalls an den Gefangenentransport:
„Die Männer aus der Taiga haben mit unserer Hilfe Flöße gebaut, und als der Dubtsches über die Ufer trat, machten wir uns zur Abfahrt bereit. Man hatte Fladenbrot gebacken und irgendwelche anderen Speisen als Proviant vorbereitet, alles ohne Salz. Kurz vor der Abfahrt setzte noch ein Mitarbeiter der Staatssicherheit das Kloster in Brand. […] Der Wasserpegel war hoch. Auf den Flößen befanden sich etwa 130 Personen, wir trieben Tag und Nacht mit dem Strom, wie Eisschollen. Das Wetter war kalt und regnerisch. Es donnerte und blitzte unaufhörlich. Durchnässt bis auf die Knochen trieben wir mehrere Tage so dahin. Als wäre das nicht genug, lief unser Floß auch noch auf eine Wurzel auf und zerschellte. Plötzlich waren die Menschen im Fluss, und wir mussten einen nach dem anderem aus dem eiskalten Wasser ziehen. Unter großer Anstrengung gelang es uns, anzulegen, wir machten Feuer und wärmten uns ein wenig auf. Während dieser Rast baten zwei oder drei Leute, austreten zu dürfen und kamen nicht wieder. Sie liefen zurück in die Taiga.“
Von denen, die bis Krasnojarsk gebracht wurden, wurden 33 wegen „geheimen antisowjetischen Zusammenschlusses von altgläubigen Sektierern“ zu zehn bis 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Vater Simeon, der Gründer der Klöster am Dubtsches starb im Lager. Ziemlich bald nach Stalins Tod, im Jahr 1954, wurden alle verurteilten Tschassowennyje amnestiert und kehrten allmählich an den Dubtsches zurück, wo sie ihre Höfe und Klöster wieder aufbauten.
Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten
„Auch der unter den Altgläubigen hochgeschätzte Vater Antoni kehrte in die Taiga am Dubtsches zurück. Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten, er unterlag strengster Geheimhaltung. Um sich keiner Gefahr auszusetzen, pflegte Vater Antoni sehr einseitigen Kontakt mit den Weltlichen und seinen geistlichen Zöglingen und suchte sie für seelenrettende Gespräche und Abnahme der Beichte in den Ortschaften auf. Begleitet von Jungmönchen nahm er stets einen anderen Weg, um zu vermeiden, dass sich Pfade herausbilden“, schrieb der Diakon Alexander Kolnogorow nach seinem Besuch bei den Skiten Anfang der 2000er.
Anfang der 1970er verstarb Vater Antoni, und Vater Michail nahm seinen Platz ein. Er war es auch, der den Skiten bis vor kurzem vorstand. Nach dem Zerfall der Sowjetunion lebte die Beziehung zwischen den Tschassowennyje aus der Taiga und ihren Glaubensbrüdern im Ausland wieder auf. Seitdem besuchen Nachfahren der Emigranten regelmäßig die Skiten oder schließen sich sogar der Klostergemeinschaft an.
„Die Zahl der Klosterbrüder wächst beständig, und die Zahl der Schwestern hat sich sogar verdreifacht“, berichtet Kolnogorow. „Derzeit wird die gesamte Klosteranlage erneuert. Eine Kapelle wird errichtet, ein Refektorium und neue Klosterzellen entstehen. Vor allem aber werden die leicht abgelegen vier Frauenklöster ausgebaut.“
Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören
Laut Kolnogorow stammen die meisten Mitglieder der heutigen Klostergemeinschaft aus anderen altgläubigen Ortschaften. Als der Diakon Mitte der 2000er Jahre über die Skiten schrieb, lebten „in den Männer- und Frauenklöstern insgesamt über 3000 Personen“. Dabei seien es in den 1990ern gerade mal „60 bis 70 Personen im Männerkloster und circa 300 Personen in den vier Frauenklöstern“ gewesen.
Vor allem seit ein Teenager aus den USA in das Kloster gezogen ist, weil er so beeindruckt von der Strenge der Skiten-Ordnung war, festige sich der Kontakt der Tschassowennyje mit den US-amerikanischen Altgläubigen. „Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören, auch wenn ihnen das Beten auf Englisch bisher verboten ist“, heißt es in Kolnogorows Aufzeichnungen.
Aber nicht alle entscheiden sich freiwillig für ein Leben in den sibirischen Klöstern. Gut möglich, dass der Diakon Kolnogorow bei seinem Besuch Anfang der 2000er Jahre auch auf Jelisaweta traf (ihr Nachname bleibt auf ihren Wunsch hin ungenannt – Mediazona) – eine US-Amerikanerin, die von ihren altgläubigen Verwandten noch als Teenagerin unter falschem Vorwand in die Skiten am Dubtsches gebracht wurde. Erst nach 15 Jahren gelang der jungen Frau die Flucht.
Jegor Skoworoda hat ihre Geschichte aufgeschrieben:
Ich heiße Jelisaweta. Eigentlich bin ich aus Oregon in den USA. Meine Großeltern waren richtige Russen, sie haben noch da gelebt. In der Stalinzeit mussten sie nach China fliehen und versteckten sich dort in den Bergen, meine älteren Onkel kamen in China zur Welt. Irgendwann haben sie gehört, dass es in Südamerika besser sein soll, weil man da wegen der Religion nicht verfolgt wird. Also gingen sie nach Südamerika, dort wurde meine Tante geboren. Und dann haben sie gehört, dass es in den USA noch besser sein soll und sind dahin weitergezogen. Dort kamen dann meine Mutter und ihre zwei Brüder zur Welt. Sie alle waren Altgläubige.
Mit 16 ist meine Mutter von zu Hause abgehauen und mit einem Amerikaner zusammengezogen. Das war mein Vater. Mamas Brüder und Schwestern sind alles Altgläubige, aber sie wollte weg von der Religion. Unser Vater hat uns verlassen, als ich fünf war. Sie waren beide Alkoholiker, haben Drogen genommen.
Mama wollte weg von der Religion, zwischendurch war sie im Knast
Eine Weile wohnte ich bei einer Tante, später bei einem Onkel, noch später beim Großvater. Zwischendurch war Mama im Knast. Ich hatte immer mehr mit meiner Tante zu tun, und mit ihren Kindern. Sie hatte elf. Wir standen uns sehr nahe. Im Sommer war ich oft bei ihnen zu Besuch. Meine beste Freundin war auch eine Altgläubige.
Mir wollten sie das Altorthodoxe auch nahebringen und haben mir gezeigt, wie man betet. Als ich 13 war, haben sie ihre Kinder in die Klöster nach Sibirien geschickt. Zu mir sagten sie, ich könne sie dort besuchen. Ich hab damals nicht weiter drüber nachgedacht, weil ich gar nicht vorhatte, dahin zu fahren. Ich ließ mich taufen, aber nur, weil ich später mal einen Christen heiraten wollte. Die Taufe hatte noch gar nicht stattgefunden, da hat meine Tante einen Reisepass für mich machen lassen, heimlich, ohne mir ein Wort zu sagen. Sie hatte schon alles geplant – wie sie mich nach Russland schickt, in die Klöster. Nur ich wusste davon nichts.
Meine Tante hatte heimlich einen Reisepass für mich machen lassen
Ich wurde also getauft, und kurz nach der Taufe … es waren grad mal zwei Wochen vergangen, am 10. Mai 2000, da sagt die Tante zu mir: „Du fährst morgen ins Kloster.“ Ich reiß die Augen auf: „Wie bitte?! Ich kann nicht mal Russisch und du willst mich dahin schicken?!“ Die Koffer waren längst gepackt, die Tickets gekauft, also überredeten sie mich, wenigstens für zwei Wochen auf Besuch dahin zu fahren, einfach nur, um mir Russland anzusehen. Keiner hat mir gesagt, dass es keine Rückfahrtickets sind. Die haben mich angelogen und dahin geschickt. Wir kamen zum Kloster, und da blieb ich dann die nächsten 15 Jahre.
Jetzt bleibst du für immer hier
Im Turuchanski Krai mündet ein kleiner Fluss in den Jenissei – der Dubtsches. Den genauen Ort, wo wir gewohnt haben, findet man auf keiner Karte. Aber den Jenissei kennt jeder. Wo wir gewohnt haben, fließen auch noch der Tyna und der Tugultsches. Wenn man etwa 48 Stunden auf dem Dubtsches mit dem Boot fährt, kommt man in das Dorf Sandaktsches. Von Sandaktsches sind es dann noch circa 300 Kilometer bis zu uns. Dahin führen keine Straßen mehr, dahin kommt man nur noch zu Fuß.
Entlang des Dubtsches erstrecken sich immer wieder kleine Höfe, hier ein paar Hütten, da drei oder vier, dort vielleicht zehn. Aber das größte Dorf ist Sandaktsches. Dort gibt es sicher um die 200 Familien und genauso viele Häuser. Alles Altgläubige, wirklich alle.
Am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß
Wir hatten einen Flug bis Moskau. Da war ein junger Russe, Andrej Muratschew. Er war für ein halbes Jahr bei Mamas Stiefschwester (in den USA – Mediazona) zu Besuch gewesen, und als er wieder zurückflog, musste ich mit. Er konnte kein Englisch und ich kein Russisch. Es war sehr hart. Fünf Tage war ich bei seiner Familie in Tscheremschanka, dann ging es weiter nach Krasnojarsk. Erst da traf ich auf andere Amerikaner. Ich wusste gar nicht, dass wir jemanden treffen sollten. Aber es war schon alles ausgemacht. Wir flogen mit einem Hubschrauber nach Sandaktsches, fuhren dann zwei Tage mit einem Motorboot, und am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß.
Der Wald ist da ganz dicht, überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken. Kiefern gibt’s auch, aber nicht so viele. Man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet.
Dort gibt’s sieben Klöster, jedes Kloster hat seine eigene Kirche. Männer und Frauen leben getrennt, nicht in Familien. Da, wo ich gewohnt habe, waren wir 150 Frauen. Es gab noch drei andere Frauenklöster, in allen zusammen waren wir um die 700 bis 800. Manche Klöster liegen drei Kilometer auseinander, andere 15, wieder andere 30. Das weiteste Kloster war rund 60 Kilometer entfernt, würde ich sagen.
Je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt
Man hat uns nett empfangen, die sind dort … es sind gute Menschen, sie haben nur ganz andere Vorstellungen, ganz anders als der Rest der Welt. Sie meinen zum Beispiel, dass wir der Welt entgegengesetzt leben müssten. Damit wir nicht zugrunde gehen. Sie haben so einen ganz strengen Glauben. Sie denken, je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt. Sie denken, wenn du hinausgehst in die Welt, wirst du zugrunde gehen. Du musst dort leben und dort sterben.
Ich war 15 als wir dort ankamen. Wir blieben alle, es war noch ein anderes Mädchen dabei. Die Amerikaner sagten mir, sie würden in zwei Wochen fahren. Aber sie sind eher gefahren und haben uns nichts gesagt, sind einfach weggefahren. Wie sollte ich da wegkommen? Ich war ja grad mal 15.
Wenn du da weg willst … 40 Kilometer musst du laufen, dann fährst du mit dem Boot – und wie sollte ich allein Boot fahren? Ich brauchte ja jemanden, der mich fährt. Später, als ich schon eine Weile da gelebt habe … ich war schon vier Monate da – kamen die Amerikaner nochmal zu Besuch. Es waren sogar Verwandte von mir dabei. Aber die wollten mich auf keinen Fall wieder mitnehmen, da war nichts zu machen. Ich habe geweint, gebettelt, sie angefleht. Ich hatte ja kein Geld und gar nichts, aber sie wollten nicht für mich zahlen.
Ich saß dort fest. Vier Jahre später haben sie dann meinen Pass verbrannt. Jetzt bleibst du für immer hier, haben sie gesagt.
Einen Pflug hatten wir, aber ziehen mussten wir ihn selbst
Ich wurde nicht geschlagen. Sie haben mich einfach nur dazu gezwungen, genauso ein strenges Leben zu führen wie sie. Wir haben ständig gefastet – jeden Montag, Mittwoch und Freitag. Und dann noch vor Weihnachten und Ostern. Fleisch aßen wir überhaupt nicht. Zu essen gab es nur zweimal am Tag – mittags und abends, alles andere war verboten. Gekocht wurde in der Küche, da kam man hin und musste essen, was da war. Alle aus einer Schüssel. Zur Großen Fastenzeit war es noch strenger: Die erste Woche durfte man nichts Gekochtes essen – nur ein klein bisschen Möhren und Rote Bete und das auch nur einmal am Tag.
Für mich war es besonders schwer, weil ich ja kein Russisch konnte, und mit Englisch kommt man da nicht weit. Ich glaube, ungefähr nach einem Jahr konnte ich es so einigermaßen. Lernte langsam lesen und schreiben. Die ganzen Jahre habe ich weitergelernt.
Alles dort war selbstgemacht. Wir hatten noch nicht mal Vieh. So weit draußen wie wir lebten, gab es auch keine Geschäfte, alles musste selbst angebaut werden. Es war richtig harte Arbeit – kochen, sägen, Holz hacken und schleppen. Wir haben alles auf Schlitten geladen und sie selbst gezogen. Die ersten Jahre hatten wir keine Pferde, wir haben alle Felder von Hand umgegraben. Dann bekamen wir einen Pflug, aber den mussten wir auch selbst ziehen. Erst in den letzten Jahren, als wir schon ein Pferd hatten, hat dann das Pferd die Felder umgepflügt. Die Schlitten mussten wir selbst ziehen, wir mussten Brennholz heranschaffen. Und unser Boden da war sehr schlecht, wie Lehm. Deshalb haben wir am Fluss weiche Erde gesucht, sie in große Säcke geschaufelt und heimgeschleppt. Dann wurde noch Erde verbrannt und alles miteinander vermischt. Wir lebten in Blockhütten, die Kerben schlugen wir mit der Axt in die Baumstämme. In einem Haus wohnten zwischen vier und zehn Personen.
Und die Mücken! Furchtbar, wie viele es waren! Einfach nicht auszuhalten. Wir liefen den ganzen Sommer in Netzen herum, ohne konntest du gar nicht vor die Tür. Und dann auch noch diese kleinen Stechfliegen! Immer musste man langärmlige Sachen tragen, Hosen, zwei Paar Socken – alles aus ganz festem Stoff. Die kommen nämlich durch alles durch. Deswegen liefen wir immer in Netzen rum, wirklich immer.
Altgläubige kamen von überall her und zahlten, damit man für sie betete
Ich war so ein Leben nicht gewohnt. Im ersten Sommer war es sehr heiß, aber nachts gab es Minusgrade. Die Kartoffeln durften keinen Frost abkriegen, deswegen machten wir Lagerfeuer rund ums Feld, deckten alles mit Stoff ab, deckten den Kohl zu. Geschlafen haben wir kaum. Dort liegt nur drei Monate im Jahr kein Schnee, in denen muss man alles schaffen. Morgens musste man gleich weiterarbeiten. Und nachts wieder alles abdecken. In diesem Winter hatten wir fast keine Kartoffeln.
Die Leute dort [im Kloster – dek] haben viel gebetet, deswegen kamen Altgläubige von überall her und wollten, dass man für sie betet, sie zahlten dafür, brachten einfach Spenden. Man kommt aber nur rein, wenn man getauft ist. Also kommen Verwandte, die selbst Altgläubige sind, zu Besuch und bringen Geld oder Milch mit.
Im Frühling fuhren wir mit dem Boot in die Stadt, holten Mehl, Zucker, Getreide. Ich meine natürlich, nicht wir, sondern die Männer fuhren ins Dorf. Sie fuhren mit dem Boot nach Krasnojarsk. Sie blieben lange fort, mehrere Monate.
Ich war in den 15 Jahren kein einziges Mal woanders, ich durfte nicht. Und dann bin ich weggelaufen.
Bald wirst du sterben und dann kommst du in den Himmel
Nach vier Jahren hatte ich mich etwas eingelebt, mich an das alles ein bisschen gewöhnt. Sie sagten mir noch, dass … dass ich ein gutes Leben haben werde. Sie haben das jeden Tag wiederholt und geredet und geredet, man darf dies nicht, das ist nicht gut, und jenes führt ins Verderben. Mach es so, dann kommst du in den Himmel. Das haben sie mir immer und immer wieder gesagt. Irgendwie glaube ich immer noch an Gott, aber so wie sie leben, das ist grausam.
Ich war sehr traurig, niedergeschlagen, dass sie meinen Pass verbrannt hatten, aber … in dieser Zeit habe ich auch noch Asthma bekommen, und sie sagten mir die ganze Zeit, dass ich bald sterben und in den Himmel kommen würde. All diese Jahre, elf Jahre war ich krank, konnte ich nicht sterben.
Mir ging es damals immer schlechter, die letzten zwei Jahre war ich dann sehr krank. Im Frühling 2015 konnte ich mir nicht mal mehr selbst die Haare kämmen, hatte nicht genug Kraft. Ich war verzweifelt, wusste einfach nicht weiter … Sie ließen mich keine Medizin nehmen. Erst durfte ich ein bisschen, aber dann sagten sie, es wäre Gottes Wille, mein Kreuz. Du musst das ertragen.
Und dann wurde ich einfach wütend
Und dann, weißt du, dann wurde ich einfach wütend. Ich kann nicht leben, kann nicht gesund werden, und sterben kann ich auch nicht. Ich wurde wütend, überlegte, wie ich von da wegkomme. Ich fing an, heimlich was gegen das Asthma zu tun, ging nachts mit einem anderen Mädchen zum Fluss, wir bauten uns Holzwannen, dann machten wir in einem Bottich Wasser warm und legten da Fichtenzweige rein. Ich hatte gelesen, dass das gegen Asthma hilft.
Dann fing ich an zu essen, weil … also, wir hatten dort keine Kühe, keine Milch. Sechs Jahre lang hab ich nichts mit Milch gegessen, nur Brei und eingekochte Beeren. Kein Brot, kein Gebäck, nichts. Ich habe sehr abgenommen. Sie haben mich ständig ermahnt, ständig kontrolliert. Dann fing ich an, mir einfach was aus der Küche zu holen, aus dem Keller, und nahm es mit in meine Hütte. Im Sommer sammelte ich Beeren und sowas. Mit dem Essen und den Kuren ging es mir langsam besser.
Wir kommen vom Kloster, Geld haben wir nicht
Sie sagten mir, es gäbe keine Hoffnung, ich müsse sterben und Punkt. Aber als es mir etwas besser ging, fing ich an zu überlegen, wie ich von da wegkomme. Ich wollte nur ins Krankenhaus fahren, wissen, was mit mir los ist.
Wir hatten dort Klöster für Frauen und für Männer. Als alle schliefen, bin ich weggerannt, zu Fuß – da ist so ein Kloster am Dubtsches, das war näher an der Stadt. Da habe ich mich mit einer verabredet, und eine andere wollte uns ins nächste Dorf bringen.
In dem Kloster blieb ich vielleicht zwei Wochen, dann hörten wir, dass in dem Dorf, es lag 15 Kilometer entfernt, eine Frau schwer krank war und in die Stadt ins Krankenhaus wollte. Also sind wir dorthin und haben sie gebeten, uns mitzunehmen. Das sind Altgläubige, sie wussten, dass wir aus dem Kloster sind und kein Geld haben. Wir haben nichts bezahlt, und sie wollten auch nichts haben. Wir sind bis nach Sandaktsches gefahren, und von da aus mit anderen Leuten bis Jenisseisk.
In Jenisseisk haben die Amerikaner, die wir unterwegs aufgegabelt hatten, ein Taxi genommen, und wir sind einfach mitgefahren.
Sie sagten mir, ich sei allergisch gegen Kälte
Das war im August 2015. Ich hatte zwei Telefonnummern, rief von Krasnojarsk aus in Amerika an, bei meinen Verwandten, und sie schickten mir Geld. Die Tante, die mich hergeschickt hatte, war schon tot, seit fünf Jahren. Ich habe meinen leiblichen Bruder angerufen, meinen Onkel, Mamas leibliche Schwester, meine leibliche Tante, und alle schickten ein bisschen Geld. Dann bin ich zu verschiedenen Ärzten, ließ mich untersuchen.
Die Ärzte bezahlte ich sofort, alles funktionierte (ohne Pass und Papiere – Mediazona). Das ist das Gute an Russland, da ist das alles viel einfacher, hier in Amerika ist es schwieriger. Ich lag dann sogar im Krankenhaus, ohne Papiere. Sogar Inhalatoren gaben sie mir, ich habe nie groß etwas dafür bezahlt.
Ich hatte Freunde in Krasnojarsk, die haben auf ihren Namen eine Wohnung gemietet, die habe ich bezahlt. Ohne Pass konnte ich nichts mieten.
Der Fluss war schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr
Im Oktober dann … ich wollte ja eigentlich zurück ins Kloster, da man mir gesagt hatte, wenn du irgendwohin fährst, wirst du kein Glück haben, du wirst sterben. Das war alles in meinem Kopf. Außerdem hatte ich keinen Pass. Keinen Pass, kein Visum. Ich bin ja mit 15 weg, ich wusste nichts.
Ich dachte, einfach wegfahren ist unmöglich. Am wichtigsten war für mich, dass die Krankheit ein bisschen besser wird. Im Oktober habe ich dann ein Ticket gekauft für das letzte Schiff von Jenisseisk nach Worogowo, glaube ich, in irgendein Dorf da oben. In diesem Dorf gab es Altgläubige, die sollten mich bis Sandaktsches bringen, und wieder andere Altgläubige von Sandaktsches aus weiter.
Aber am 6. Oktober bin ich zum Arzt. Es hatte sich rausgestellt, dass ich allergisches Asthma habe, und ich brauchte den passenden Inhalator. Naja, später haben sie mir dann gesagt, dass ich Asthma und eine Kälteallergie habe. Ich würde Kälte nicht vertragen.
Ich saß da bei diesen Ärzten, und plötzlich bekam ich keine Luft mehr, bekam einen Anfall. Sie riefen den Notarzt, und ich kam sofort ins Krankenhaus und blieb dort eine Woche. Da war der Fluss schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr. Ich saß fest, bis der Schnee kam.
Ich kaufte mir das billigste Smartphone und meldete mich bei facebook an
Im Kloster habe ich ohne Strom gelebt, ohne Technik, ohne Telefon. Als ich 2000 weg bin, gab es noch keine Smartphones. Aber als ich in Krasnojarsk war, habe ich für 2000 Rubel [knapp 30 Euro – dek] das billigste Smartphone gekauft. Ich wusste nicht genau, wie es funktioniert, aber im Krankenhaus hatte ich nichts zu tun und brachte es mir bei und meldete mich bei facebook an. Da haben mich dann meine leiblichen Brüder gefunden. Ich hatte meine Brüder seit 15 Jahren nicht gesehen, nicht gesprochen. Meine Brüder – die sind keine Altgläubigen, sie sind nicht getauft, haben vom Glauben noch nie was gehört. Die sind einfach nur Amerikaner.
Sie wollten, dass ich nach Hause komme: Wir schicken dir Geld, wir kaufen dir ein Ticket, komm nach Hause. Ich war eine ganze Woche im Krankenhaus, und die ganze Zeit hörte ich von den Ärzten: „Du darfst nicht in Russland leben, es ist hier zu kalt für dich. Du hast sowieso keine russischen Papiere, du kannst hier nicht leben, fahr zurück nach Amerika.“ Das kriegte ich jeden Tag mehrmals zu hören. Ich überlegte hin und her und beschloss, nach Amerika zurückzugehen. Weil die Ärzte zu mir gesagt haben: „So lange du hier in Sibirien bist, so lange wirst du krank bleiben.“ Da wo ich gelebt habe, im Turuchanski Krai, wurde es manchmal bis zu -60° C kalt.
Da, wo ich gelebt habe, wurde es bis zu -60° C kalt
Meine Brüder haben mir geholfen, mir Telefonnummern gegeben. Meine Freunde in Krasnojarsk haben mir auch geholfen, wir sind zur Polizei und haben erzählt, dass ich meinen Pass verloren hätte. Die haben mir (eine Bescheinigung – Mediazona) ausgestellt, dass mein Pass weg ist. Dann bin ich zumMigrationsamtUFMS, und die haben mir gesagt, dass ich nur in Moskau oder in Wladiwostok einen Pass bekomme, weil es da amerikanische Botschaften gibt. Aber ich war in Krasnojarsk.
Bei diesem Amt hat man mir gesagt, ich müsse dort erst eine Strafe zahlen, danach würden sie mich irgendwo einsperren, kein richtiges Gefängnis, aber man sitzt da einen Monat, und dann würden sie mich rauslassen. Ich sagte: „Nein.“ Ich war schon 15 Jahre eingesperrt gewesen.
Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau suche Mitfahrer
Also suchte ich nach anderen Möglichkeiten, meine Freunde halfen mir dabei. Erst dachten wir, vielleicht mit dem Zug, aber das ging auch nicht, dafür braucht man einen Pass. Irgendwann suchten wir einfach im Internet, und kaum hatten wir angefangen, stießen wir auf eine Anzeige: „Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau, allein, suche Mitfahrer, nehme fünftausend Rubel [knapp 70 Euro – dek].“ Das war perfekt für mich. Aber das war schon morgen, ich war nicht vorbereitet, hatte für den nächsten Monat schon die Wohnung gemietet. Naja, ich rief da erst mal an, unterhielt mich ein bisschen mit ihm, er klang nett.
Als ich meinen Freunden davon erzählte, sagten sie: „Du spinnst doch, du kennst ihn gar nicht, wie kannst du da mitfahren?“ Ich sagte, ich habe keine Wahl, ich will nicht irgendwo festsitzen, will keine Strafe zahlen, ich fahre einfach. Das war meine einzige Möglichkeit.
Moskau – Seattle
Ich beeilte mich, packte alles zusammen, und wir fuhren los. Ich habe immer noch Kontakt zu diesem Menschen. Ich hatte auch Angst, weil ich in Moskau niemanden kannte, mein Geld war fast alle, reichte nur noch für ein Ticket. Er hatte einen Freund, der in Moskau in einem Wohnheim lebte, und zu dem brachte er mich, sein Name war Anatoli. Ein sehr guter Mensch. Da blieb ich einen Monat, weil ich auf die Tickets wartete. Ich kam im Dezember dort an, Neujahr und Weihnachten standen vor der Tür, deswegen waren die Tickets furchtbar teuer, bis zu 100.000 oder 150.000 Rubel [1300 bis knapp 2000 Euro – dek]. Ich wartete bis zum 15. Januar und kaufte dann für 25.000 [330 Euro – dek] ein Ticket nach Seattle.
In der Botschaft haben sie mir innerhalb von drei Stunden einen Pass ausgestellt, ich hatte ja diesen Schein von der Polizei, dass ich ihn verloren hatte, dadurch ging das alles sofort, ich musste 150 Dollar bezahlen, glaube ich. Und dann, ach, dann bin ich durch ganz Moskau zu diesem Amt für Migration, weil die einen sagten, dass ich ein Visum brauche, die anderen sagten, ich brauche keins … Das ist es, was ich nicht mag an Russland: Sie lieben es, dich irgendwohin zu schicken, geh hierhin, geh dorthin. Niemand will einem helfen, sie schicken dich bloß ständig irgendwohin.
Ich fuhr quer durch Moskau, und niemand wollte mir helfen. Dann wurde ich zum Chef geschickt, ich musste ganze zwei Stunden auf ihn warten, und dann sagte der: „Geh zur Polizei, sag, ich bin Amerikanerin, habe 15 Jahre hier gelebt und kein Visum, alles ist abgelaufen, bitte lassen sie mich raus.“ Ich ging zur Polizei, aber da hat man mich ausgelacht und gesagt: Kauf dir ein Ticket und fahr. Also bin ich geflogen.
Nach meiner Rückkehr habe ich meine alten Freunde wiedergetroffen, aber andere Altgläubige nicht. Ich habe noch Verwandte, die Altgläubige sind, aber die finden nicht gut, dass ich zurückgekommen bin.
Irgendwie ist alles glücklich ausgegangen für mich, obwohl sie mir im Kloster immer gesagt haben, dass ich kein Glück haben werde, kein Leben – aber es ist alles gut ausgegangen. Ich habe nicht damit gerechnet, ich kannte niemanden, hatte kein Geld, und trotzdem ging alles irgendwie gut, alles hat geklappt.
38 Prozent aller Russen, so ermittelte das renommierte Lewada-Zentrum, befürworteten das Handeln derer, die Nawalnys Protestaufruf vom 26. März gefolgt waren.
Vedomostihat bekannte Sozialwissenschaftler dazu befragt: eine Zahl und ihre unterschiedlichen Interpretationen.
38 Prozent der Russen befürworten das Handeln der Menschen, die am 26. März zu Massenprotesten gegen Korruption in der Regierung auf die Straße gegangen sind, so die jüngste Umfrage des Lewada-Zentrums.
Ebenfalls 38 Prozent denken, dass die wachsende Unzufriedenheit mit der Situation im Land die Bürger dazu gebracht hat zu protestieren. 36 Prozent erklären die Demonstrationen damit, dass die Menschen ihrer Empörung über Korruption Ausdruck geben wollten. Nur 24 Prozent glauben, die Demonstranten seien bezahlt worden.
Mehr als 60 Prozent der Befragten geben an, über die russlandweiten Proteste vom 26. März „gut Bescheid zu wissen“ oder zumindest „davon gehört“ zu haben. Die Umfrage belegt außerdem einen radikalen Einbruch der Zustimmungswerte des PremiersDimitri Medwedew, der hauptsächlichen Zielscheibe der Proteste: Innerhalb eines Monats sind seine Zustimmungswerte um zehn Prozentpunkte gesunken, die Regierung verlor sechs Prozentpunkte.
Das Interesse an den Demonstrationen sei wesentlich geringer als 2011/2012, obwohl die Motive der Teilnehmer in etwa dieselben seien, so der stellvertretende Leiter des Lewada-Zentrums Alexej Grashdankin. Damals hätte es außerdem mehr als doppelt so viele Befürworter gegeben, als Menschen, die sie ablehnten. Heute hielten sich Befürwortung und Ablehnung in etwa die Waage, sagt er und fügt hinzu: „In den Jahren 2014 und 2015 hingegen war die Ablehnung im Zweifel doppelt so hoch wie die Befürwortung.“
Die Mobilisierung der Gesellschaft werde wieder abnehmen, aber das Vertrauen in die Regierung sei sowieso höher als 2013, so der Soziologe. „Ein Abwärtstrend bei den Zustimmungswerten der Regierung und der Machtorgane besteht seit 2015. Aktueller Auslöser für den Stimmungsumschwung ist das Video des Fonds für Korruptionsbekämpfung über Medwedew gewesen. Das Verhältnis zu Putin ist unverändert, aber Medwedews Zustimmungswerte sind just wegen des Videos um zehn Prozentpunkte gefallen.“
Grashdankin berichtet, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad Höchstwerte erreicht habe. Gleiches gilt für die potenzielle Bereitschaft, bei der Präsidentschaftswahl für ihn zu stimmen: Kannten ihn im April 2011 nur sechs Prozent der Befragten und waren nur zwei Prozent bereit, ihn zu unterstützen, so kennen ihn jetzt 55 Prozent. Davon können sich rund zehn Prozent vorstellen, für ihn zu stimmen, zwei Prozent sind sich dessen sicher.
„Momentan können wir von einem Gleichgewicht zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Proteste sprechen. Wenn die Regierung keine Gegenmaßnahmen ergreift, könnte die Zahl der Befürworter (der Protestaktionen – Vedomosti) wieder steigen. Um die Protestwelle zu brechen, hat man seinerzeit die (TV-Dokumentationsreihe – Vedomosti) Anatomie des Protestes und Gerichtsprozesse auf Sendung gebracht; bisher ist die Propaganda-Artillerie noch nicht in Stellung gebracht, aber nichts würde dem entgegenstehen, es wieder zu tun“, so Grashdankin.
Keine offizielle Stellungnahme der Regierung
Die Regierung hat bislang auf offizielle Stellungnahmen zu den gesunkenen Zustimmungswerten des Premiers verzichtet. „Die Zustimmungswerte der Regierung und des Premiers fallen immer niedriger aus als die des Präsidenten, denn die Regierung fällt die unliebsamen wirtschaftlichen Entscheidungen. Deswegen sieht man schwankende Umfragewerte im Weißen Haus gelassen“, erklärte ein Mitarbeiter des Regierungsapparats gegenüber Vedomosti.
Die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter vom 26. März bedürfe einer Überprüfung, man könne noch nicht eindeutig sagen, ob sich eine neue Protestwelle entwickle, meint der Politologe Konstantin Kostin. „Betrachtet man die Dynamik von 2011/2012, stellt man fest: Je weniger Proteste es gab, desto mehr Menschen fanden es in Ordnung, dass jemand auf die Straße geht, um seine Rechte einzufordern. Noch nicht einmal der Maidan hat daran etwas geändert, nur während der Krim-Mobilisierung sank die Bereitschaft, an Protestaktionen teilzunehmen.“
Aus den Ergebnissen des Lewada-Zentrums Schlüsse über die Präsidentschaftswahl zu ziehen, das sei erst recht schwierig, erklärt Kostin und fährt fort: „Bei den jetzigen Aktionen ist der Kern der Protestbewegung auf die Straße gegangen, dazu kamen Menschen, die Lösungen für bestimmte lokale Probleme forderten, außerdem gab es noch eine situative Reaktion der Jugend.“ Kostin bezweifelt, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad 55 Prozent erreicht hat.
Der Politologe Alexander Kynew findet die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter überwältigend, mahnt jedoch zur Skepsis: In den Medien, aus denen der Großteil der Bevölkerung seine Informationen bezieht, sei die Darstellung der Proteste ausschließlich negativ.
Der Protest werde vielen zugutekommen, nimmt der Politologe Abbas Galljamow an: „Vor allem ist er gut für die Systemopposition, denn im Gegensatz zu Nawalny wird sie auf den Stimmzetteln stehen. Sie muss jetzt nur noch ihre Protest-Rhetorik hochfahren und kann den Zustimmungsraten beim Wachsen zusehen.“
Aber auch Nawalny habe Grund zum Optimismus: Wenn so viele Menschen in Erwägung ziehen, für ihn zu stimmen, dann bedeute es auch, dass die Zahl derer, die seinem Aufruf, auf die Straße zu gehen, folgen würden, in die Millionen gehen könnte, so Galljamow. „Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht – indem beispielsweise der Premier am Tag der Proteste schreibt, er sei schön Skifahren gewesen, oder die Regierung die Rechtswidrigkeit der Proteste vom 26. März in den Vordergrund stellt, während sie selbst demonstrativ gegen das Gesetz verstößt, wenn sie Veranstaltungen organisiert – dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern.“
Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht, dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern
Für Putin seien eine apolitische Einstellung und ein zügiger Verlauf der Präsidentschaftskampagne von Vorteil, davon ist Galljamow überzeugt: „Eine Politisierung schadet der Regierung. Jetzt, wo der Protest wieder in Mode kommt, gilt für die Regierenden: Je weniger Politik, desto besser.“ Bei den Regionalwahlen im September werde sich die Agenda des Protests nur verstärken, lautet seine Einschätzung.
Bis zur [Präsidentschafts-] Wahl sei es noch lange hin. Dass die Proteste so lange anhalten, sei natürlich möglich, aber unwahrscheinlich, meint der Politologe Michail Winogradow: „Die 38 Prozent beweisen, dass das Thema Korruption sowohl bei den Regimekritikern als auch bei den Regierungsanhängern Anklang findet. Das eröffnet der Opposition die Möglichkeit, um die Sympathie der Regierungsanhänger zu kämpfen. Offen bleibt nur die Frage, ob die Protestierenden es schaffen, das öffentliche Interesse aufrechtzuerhalten, und die Spaltung in der Gesellschaft.“
Wenn sie das schaffen, würde es zu einer höheren Wahlbeteiligung und einer geringeren Machtdemonstration der bestehenden Regierung führen, fährt er fort. Wir würden dann wahrscheinlich dieselbe Taktik wie 2011 beobachten: Man stimmt für jede x-beliebige, nur nicht für die Regierungspartei.
Davon könnten Politiker wie Jewgeni Roisman in Jekaterinburg profitieren. „Aber die Leute beachten nicht, was in anderen Regionen geschieht. Auch wenn ich die Wahlen in der Oblast Swerdlowsk allzu gern als ein Beispiel für Offenheit heranziehen würde, heißt das noch lange nicht, dass die Moskauer oder die Petersburger sich dafür überhaupt interessieren.“