Die Beweislage im Fall Skripal ist nach derzeitigem Stand der Veröffentlichungen sehr dünn. Dennoch entschlossen sich rund 25 Länder, über 140 russische Diplomaten auszuweisen. Für viele unabhängige Beobachter in Russland ist der Fall klar: Es sei dem Westen nicht so sehr um Skripal gegangen, sondern vielmehr darum, einen Schulterschluss zu demonstrieren. Dieser sei notwendig gewesen, weil der Westen nicht anders auf die ständigen Herausforderungen seitens Russlands zu reagieren wusste. Angliederung der Krim, Krieg im Osten der Ukraine, Abschuss der MH17, Krieg in Syrien, Einmischung in Wahlen und so weiter – dies seien die eigentlichen Ursachen; der Fall Skripal sei nur der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, so die Beobachter.
Auch der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew kann nachvollziehen, warum der Westen trotz dürftiger Beweislage solch drastische Maßnahmen ergreift. Auf Snob meint der kritische Intellektuelle, dass der russischen Außenpolitik eine der wichtigsten Eigenschaften abhanden kommt – ihre Rationalität.
Die kürzliche Ausweisung von 139 russischen Diplomaten aus 24 Ländern ist außergewöhnlich. Besonders wenn man bedenkt, dass es keine Reaktion auf Provokationen dieser Staaten war, sondern ein Zeichen der Solidarität mit Großbritannien, das Russland des Attentats auf den ehemaligen Spion Sergej Skripal beschuldigt.
Derzeit ist es Mode, die aktuellen Ereignisse als einen neuen Kalten Krieg zu bezeichnen – und ich sage schon lange, dass das für die veränderte Form der russischen Beziehungen zum Westen durchaus angemessen ist. Allerdings gehen die Ereignisse mittlerweile womöglich darüber hinaus (oder genauer gesagt, in eine etwas andere Richtung).
Die Ereignisse von 2014 und 2015 in der Ukraine haben den Westen sehr beunruhigt; Putins Auftritte von 2007 und 2008 in München und in Bukarest, der fünftägige Georgienkrieg sowie Moskaus Versuche, seinen Einfluss auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu festigen und freundschaftliche Beziehungen mit einigen Staatschefs Mitteleuropas auszubauen – das alles passte, zusammen mit dem aggressiven Vorgehen Russlands, sehr gut zu dem früheren Bild.
Verständlich wirkten auch die unterschiedlichen [russischen – dek] Reaktionen: Distanziertheit, Unterstützung der Verbündeten, Konkurrenz und Rivalität an der globalen Peripherie. Über Putin hieß es gemeinhin, er verstehe nur die Regeln eines Nullsummenspiels: Wenn einer Verluste macht, macht der andere Gewinne.
Was hat der Kreml denn erreicht?
Schon seit Mitte der 2010er Jahre hat sich die Situation, wie mir scheint, allmählich verändert, auch wenn es nicht sofort zu bemerken war. Russlands Einmischung in die amerikanischen Wahlen, das Geschäker mit Europas radikalen Rechten, die offenkundige Unterstützung von Kriegsverbrechern wie Assad und der staatliche Terror gegen Regimegegner und Menschen, die Putin selbst oder sein Umfeld als Verräter betrachten – all das deutet nicht nur darauf hin, dass der Kreml keinerlei Regeln mehr anerkennt. Weit wichtiger ist, dass Moskau bei bestimmten Schritten seinen eigenen Nutzen überhaupt nicht mehr im Sinn hat.
Denn was hat der Kreml damit erreicht, dass er in der Geschichte der amerikanischen Wahlen 2016 eine schmutzige Spur hinterlassen hat? In Bezug auf Russland überhaupt nichts: Wer auch immer die Wahlen ohne die russische Einmischung gewonnen hätte – die Beziehungen zwischen beiden Länder wären wohl kaum schlechter, als sie es heute sind. Die einzigen Folgen sind eine übermäßige Anspannung im amerikanischen politischen System und die Verschärfung interner Kämpfe des Establishments in Washington. Und was erreicht der Kreml in Europa, wenn er antieuropäische Kräfte unterstützt und finanziert? Offenbar wiederum eine Destabilisierung.
Der Großteil Europas wird antirussischer werden
Bezeichnend ist, dass allein das Aufkommen der Rechten, sollte es dazu kommen, Russland nichts bringen wird. Die EU wird nicht auseinanderbrechen, nur weniger effektiv werden. Und die proeuropäischen Kräfte werden einfacher argumentieren können, dass sich die Länder des Alten Europa verbünden sollten – wenn nicht für etwas, dann doch gegen jemanden. Und sogar wenn die proputinschen Kräfte hier und da lokale Siege erringen sollten, ändert es nichts an der Gesamtsituation. Der Großteil Europas wird immer antirussischer werden.
Was hat Putin erreicht, indem er in Großbritannien allem Anschein nach mittlerweile etwa ein Dutzend seiner persönlichen Feinde ermorden ließ, die längst aller Möglichkeiten beraubt waren, Russland zu schaden? Man sollte doch meinen, es hätte niemand etwas davon, wenn Russland zum internationalen Outlaw wird.
Der Westen versteht Russland überhaupt nicht mehr – was nicht überraschend ist
Die Reaktion des Westens in Form von einer Ausweisung russischer Diplomaten zeugt von einer neuen Wirklichkeit, die vor allem darin besteht, dass der Westen Russland überhaupt nicht mehr versteht. Was nicht überraschend ist, denn es ist heute tatsächlich völlig unklar, was Putin will. Zum Diktator im eigenen Land werden, das nicht einmal mehr den Anschein einer Demokratie wahrt? Daran hindert ihn der Westen nicht, er versucht es nicht einmal besonders nachdrücklich. Die Sowjetunion wiedererrichten? Nur zu – fraglich ist nur, ob die zentralasiatischen Khans und Bais das wollen, bislang sehen Moskaus Versuche der Integration nicht sehr vielversprechend aus. (Die Ukraine ist ein Sonderfall, hier wäre es allerdings zielführender gewesen, mit dem ukrainischen Volk zu verhandeln anstatt mit Brüssel oder Washington.) In Russland gestohlenes Geld in Europa und anderen Offshores waschen? Ich habe bislang nichts davon gehört, dass russisches Kapital eingefroren oder Eigentum beschlagnahmt worden wäre. Weil der Westen Russland nicht versteht, geht er dazu über, Signale zu senden und anzudeuten, Putin möge doch zur Vernunft kommen: Er soll nicht einmal weniger antiwestlich werden, nur rationaler; vom Himmel auf die Erde zurückkehren, und nach Möglichkeit Chaos innerhalb der eigenen Grenzen anzetteln.
Russland ist deutlich verwundbarer
Der Kreml gibt vor, diese Signale nicht zu verstehen und handelt lieber nach dem Prinzip der „symmetrischen Reaktionen“. Doch was zu Zeiten des Kalten Krieges normal war, ist es heute nicht mehr. In den 1970ern hatten die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei keine Villen in Südfrankreich und auch keine Firmenkonten in Luxemburg oder Delaware. Russische Betriebe waren nicht Teil von Unternehmen, die im Westen Kredite laufen hatten. Die heimische Industrie konnte die Bevölkerung mit dem Nötigsten versorgen und das, was fehlte, ließ sich über osteuropäische Satellitenstaaten beziehen. Heute ist alles anders. Russland ist deutlich verwundbarer, nicht mal so sehr durch amerikanische Atomraketen als vielmehr durch europäische Wirtschaftssanktionen.
Symmetrische Reaktionen waren brauchbar, als beide Seiten durch Interessen gelenkt waren. Handelt jedoch eine Seite aus einer banalen Kränkung heraus, werden sie kontraproduktiv. Moskau nimmt an, man würde es „hochnehmen“. Aber in Wirklichkeit bedeutet das Signal etwas anderes: Man hat mit dem Kreml nichts zu besprechen, allein die Vorstellung erscheint den meisten unangenehm. Wozu sollte man in dieser Situation in den Ländern der Gegner Botschaften haben, die stärker besetzt sind als die Auslandsvertretungen in den Ländern der treuesten Freunde?
Die Sanktionen sind quasi für immer
Will man auf Grundlage der letzten Schritte des Kreml Analogien finden, so erinnern sie weniger an die Handlungen von Chruschtschow oder Breshnew, als vielmehr an die Experimente aus der Stalinzeit: Als sowjetische Geheimdienste im Ausland [sogenannte – dek] Feinde der Revolution ausschalteten und der Kreml – trotz der nationalsozialistischen Gefahr – von den deutschen Kommunisten verlangte, nicht mit den Sozialdemokraten zu paktieren. Damals schien es, die maximale Destabilisierung der demokratischen Länder könne zu deren Kollaps und damit zur weltweiten Herrschaft des Proletariats führen.
Die Geschichte hat uns eines Besseren belehrt. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik hat niemandem so sehr geschadet wie der Sowjetunion. Sollte die europäische Integration scheitern, wird Russland auch diesmal wohl kaum davon profitieren. Vor kurzem noch freuten wir uns über den Brexit, erinnert ihr euch? Gingen davon aus, dass ein selbstständiges Großbritannien die EU-Bürokratie schwächen würde. Allerdings sieht es bisher eher danach aus, als würde die „größere Selbstständigkeit“ des Vereinigten Königreichs seine Entschiedenheit im Vorgehen gegen Moskau verstärken, und Europa (und nicht nur Europa) scheint durchaus geneigt, den „Abtrünnigen“ zu unterstützen.
Ich kann also nur meine frühere Annahme wiederholen: Die Sanktionen gegen Russland sind quasi für immer. Denn anstatt die Ereignisse rational zu betrachten, das Für und Wider abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen, die auf Deeskalation zielt, fährt Russland fort zu provozieren, zu lügen und sich herauszuwinden. Dem Westen fällt es schwer, mit militärischen Mitteln darauf zu reagieren, und das möchte auch niemand, deswegen werden die Zeichen der Ächtung immer weiter zunehmen. Darauf sollte sich Russland einstellen – oder anfangen sich zu verändern. Aber damit ist offensichtlich nicht zu rechnen.
Schon zu Zeiten der Sowjetunion arbeiteten Frauen oft in typischen Männerberufen. Aber als Fahrerinnen trifft man sie selten. Pelageja, Mutter von fünf Kindern, hat in ihrem Berufsleben alle Transport-Sparten kennengelernt. Als Rentnerin nun fährt sie Taxi und hat auf ihrer Fahrt mit Jewgenia Wolunkowa viel zu erzählen. Eine Reportage auf Takie Dela.
Spät am Abend: Pelageja arbeitete noch in ihrem alten Lada, um was dazuzuverdienen. Sie beförderte Kunden. Ein Mann winkte den Wagen heran, stieg ein und nannte eine Adresse. Nach ein paar Kilometern, die Straße war leer, hielt er Pelageja eine Pistole an die Schläfe: „Raus aus dem Wagen!“
Pelageja stieg nicht aus. Sie drehte sich zu dem Mann um und sagte: „Wem bitte sehr, möchtest du hier Angst machen? Mir? Einer Mutter von fünf Kindern? Ich hätte mich letztens fast vor den Zug geschmissen wegen diesem verfluchten Leben. Ich habe keine Angst, schieß doch. Nur um die Kinder tut es mir leid, im Heim wird sicher nichts aus ihnen. Außer mir haben sie niemanden.“
Der Gedanke, sich vor den Zug zu werfen, war Pelageja früh am Morgen gekommen. Die Kinder schliefen noch. Schon bald würden sie aufwachen und etwas zu essen verlangen. Es war aber nichts zu essen im Haus.
Viele Jahre schon hatte Pelageja sich abgestrampelt, jeden Job angenommen. Und sie, diese fünf, waren wie die Heuschrecken. Sie kauft zehn Brote – und nach zwei Tagen ist alles weg. Sie weicht Brot in Wasser ein, streut Zucker drauf, sie essen es, und ab in den Hof. Zwei Stunden später stehen sie wieder da: „Mama, wir haben Hunger!“ Nicht auszuhalten.
Sie gab ihnen keinen Abschiedskuss, um sie nicht zu wecken. Drehte sich um und ging davon. Sie kam zur Bahnstation und stellte sich an die Gleise. Lange stand sie so da, endlich hörte sie in der Ferne das Pfeifen. Der Zug kam näher, Pelageja war bereit. Plötzlich sieht sie in einer Wolke über den Gleisen ihre Kinder. Alle fünf. Sie drücken sich aneinander, schauen erschrocken. Als wäre sie aufgewacht, trat sie von den Gleisen zurück, und brach in Tränen aus und sah, wie der Zug sich entfernte.
„Ist das nicht gelogen mit den fünf Kindern?“ Die Pistole drückte immer noch gegen die Schläfe. „Was soll ich denn lügen? Hier sind sie.“ Sie holte ein Foto hervor. Der Mann betrachtete es. „Sieh mal an. Bist ja ne Heldenmutter. Na gut, los. Gib Gas.“ Sie fuhren zur Stawropolskaja. Der Mann stieg aus. „Warte hier!“
Kurze Zeit später kam er zurück. Pelageja stand noch da.
„Warum biste denn nicht weggefahren? Bist wohl ne ganz Furchtlose?“ „Ich bin doch neugierig, wie die Sache ausgeht.“ „Oh Mann! Du bist mir vielleicht ein Weib! Hier nimm. Kannst fahren. Und schönen Gruß an die Bälger.“
Er warf Süßigkeiten und Sekt auf den Sitz. Zog Geld aus der Jackentasche, gab es ihr und verschwand in der Dunkelheit.
Pelageja sitzt seit 45 Jahren am Steuer
Die Atamanin
Pelageja Alexandrowna ist vor 15 Jahren in Rente gegangen, hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Putzfrau, Wachfrau, Verkäuferin. Und in den letzten paar Jahren: Taxifahrerin. Als sie zum Taxiunternehmen Lider in Samara kam, um sich zu bewerben, sah man sie verwundert an: „Wo wollen Sie denn hin, Großmütterchen?“ Aber Pelageja hat 45 Jahre Fahrerfahrung. Hat Lkws und Straßenbahnen gefahren. Und als sie zum ersten Mal am Steuer eines Pkw saß, war sie gerade mal zehn. Damals hatte der Großvater sie und ihre Großmutter mit dem Auto ins Nachbardorf mitgenommen. Dort hat er sich dann die Kante gegeben und konnte nicht mal mehr geradeaus gucken. Die Großmutter war völlig aufgelöst: Wie heimkommen? Also setzte der Großvater die Enkelin hinters Steuer. Ein paarmal gab er ihr eins auf den Hinterkopf – mal hatte sie den Motor abgewürgt, mal den falschen Knopf gedrückt. Letztlich hat Pelageja aber alle heil nach Hause gebracht.
Vor kurzem ist Pelageja von Lider zu Uber gewechselt. Sie hat gelernt, mit der neuen Technik umzugehen. Es ist Januar – der erste Monat in diesem Wagen. Vieles versteht sie noch nicht, aber es macht schon Spaß, weil sich damit etwas verdienen lässt.
„Hallo, Jewgenia, ich bin vor Ihrem Haus, kommen Sie bitte runter!“
Oft kommt Pelageja erst nach Mitternacht nach Hause
Pelageja fährt einen blauen Lada, den ihr Sohn auf Kredit gekauft hat. 16.000 Rubel [ca. 225 Euro] muss sie monatlich für das Auto zahlen. Der Rest geht an andere Banken, um weitere Kredite zu tilgen. Ein bisschen was muss sie noch zum Leben zurückbehalten. Sie bekommt 7000 Rubel [ca. 100 Euro] Rente. Drei Tilgungsraten werden direkt von der Bank eingezogen: 2017 hat Pelageja ein Bußgeld wegen verspäteter Kreditzahlung bekommen.
Die Oma kutschiert ihre Passagiere von früh bis spät, manchmal sogar die ganze Nacht hindurch, wenn die Kraft reicht. Bisher liegt ihr Rekord bei 100 Fahrten die Woche. Pelageja findet, das ist zu wenig, da ist noch mehr drin.
Pelageja ist auf Sachalin geboren – ihre Mutter hat dort geheiratet, hat den Mann aber dann verlassen und ist nach Samara gegangen. Damals war Pelageja sieben.
Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen
Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen. Klein beigegeben hat sie nur bei der Mutter. Die versuchte immerzu, ihr Liebesleben auf die Reihe zu kriegen, traf sich mit verschiedenen Männern, aber es wurde nie etwas Ernsthaftes daraus. Sie lebten in einer Baracke, in bitterer Armut. Die Mutter litt darunter und ließ es gelegentlich an Pelageja aus. Pelageja wird wohl nie vergessen, wie die Mutter ihr einmal den Kopf aufgeschlagen hat.
„Ich war in Hausschuhen rausgegangen, um Holz zu sägen. Sie hat es gesehen, sich einen Metalleimer auf der Veranda gegriffen und ihn nach mir geworfen. Das hat vielleicht geblutet! Aber ich bin der Mutter nicht böse. Ich kann sie verstehen, sie wollte ein gutes, glückliches Frauenleben. Und durch mich waren ihr die Hände gebunden. Damals mit acht habe ich mir geschworen, dass ich niemals trinken und meine Kinder niemals schlagen würde. Nur einmal konnte ich mich nicht beherrschen und hab meinem Sohn eine Ohrfeige gegeben. Aber ich habe mich sofort entschuldigt und gesagt, ich würde ihm nie wieder weh tun. Egal, was passiert, er soll zu mir kommen und es mir erzählen. Zusammen finden wir eine Lösung.“
Pelagea mit dem jüngsten Spross der Großfamilie – ein seltenes Spielstündchen
Pelageja hat drei Söhne und zwei Töchter. Alle sind schon groß, außer den beiden jüngsten Söhnen, Wanja und Ljonja, sind alle schon aus dem Haus. Verheiratet war Pelageja drei Mal. Der erste Mann hat getrunken. Hat sich letzten Endes totgesoffen. Der zweite war arbeitsam, ist aber auch gestorben: ist bei der Arbeit in einen Brunnen gefallen. Den dritten hat sie verlassen: Die ganze Schwangerschaft hindurch hat er sie schlecht behandelt, sie hat es ertragen. Aber als er sie nach der Entbindung nicht von der Klinik abgeholt hat, hat sie drauf gespuckt und ihn zum Teufel geschickt. Sie entschied, besser, sich allein abstrampeln, statt immer nur ertragen. Damit war es für Pelageja vorbei mit den Männern. Nur einmal traf sie noch einen netten, ging mit ihm aus. Aber als er ihr seine Liebe gestehen wollte, unterbrach ihn Pelageja: „Ich sag dir jetzt etwas, dann verschwindest du gleich: Ich habe fünf Kinder.“ Er ist nicht sofort verschwunden, hat sie noch nach Hause gebracht und sich danach nie wieder blicken lassen. Für Männer blieb sowieso keine Zeit, Pelageja hatte fünf Mäuler zu stopfen.
„Mama hat immer gesagt: ‚Wozu zum Teufel kriegst du all die Kinder?!‘ Aber ich wollte, dass nach mir jemand bleibt … Um sie durchzukriegen, habe ich alles Mögliche getan. Habe in einer Fabrik als Putzfrau und als Wächterin gearbeitet. In einer Brauerei hab ich Kwas ausgeschenkt. Hab als Anstreicherin gearbeitet. Mit meinem kleinen Saporoshez hab ich was dazuverdient, Sachen ausgeliefert. Ein Auto bringt am meisten Geld. Du fährst einen Tag und hast zumindest das Nötigste zusammen.“
Die Kutscherin
Die Ausbildung zur Fahrerin machte Pelageja, als sie noch keine zwanzig war. Beim Spazieren mit einer Freundin sahen sie einen Aushang: Fahrausbildung in den Kategorien B und C. Sie besuchten den Kurs und schlossen mit Bestnoten ab. Schon bald saß Pelageja hinterm Steuer eines GAZ-51.
„Was hab ich nicht alles transportiert! Wie ich die Mehlsäcke entladen habe, das vergesse ich nie! Hatte sie von der Mehlfabrik geholt, fahre zum Lieferort, und da ist kein Träger. Was soll ich machen, der Wagen muss ja entladen werden. Ich öffne also den Laderaum … Was rast du denn so, du meine Güüüüüte! Links ist die Tram, ich muss doch hier durch!“, Pelageja ist abgelenkt durch ein Westauto, das sie geschnitten hat. „Also, stell dir das vor, fünfzig Mehlsäcke! Und ich war damals zwanzig. Als ich den letzten ausgeladen hatte, konnte ich nicht mehr fahren, so hab ich gezittert … Du brauchst gar nicht so zu schauen, so bin ich halt. Wenn etwas sein muss, tu ich es einfach, ich kämpfe für meine Ziele.“
Pelageja arbeitet ohne Pause von montags bis sonntags. Am Wochenende schläft sie aus und beginnt erst um neun Uhr
Als Pelageja keine Lust mehr auf den Lkw hatte, machte sie eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin und hat ein paar Jahre Fahrgäste befördert. Als sie eines Tages schon auf dem Weg zum Depot war, kam eine Hochzeitsgesellschaft rein, etwa zwanzig Leute. Ins Depot wollten die aber nicht, sondern etwas weiter. Sie baten Pelageja sie hinzubringen, sie ging das Risiko ein. 25 Rubel hat sie für die Fahrt bekommen, damals war das viel Geld.
Die Hausbesetzerin
In den 1990ern ist Pelagejas Haus abgebrannt. Sie war mit den älteren Kindern in der Stadt, die drei kleinen waren zu Hause geblieben. Sie kam gerade noch rechtzeitig zurück, um die Kinder zu retten. Das Haus war zwar nicht vollständig ausgebrannt, aber leben konnte man darin nicht mehr. Die acht Monate alte Tochter unter den Arm geklemmt, marschierte Pelageja zur Verwaltung und bat um eine Wohnung. Aber Wohnungen gab es keine. Gehen Sie dorthin zurück, wo es gebrannt hat, hieß es. Für eine Zeit kam Pelageja bei Bekannten unter und machte sich ans Klinkenputzen bei den Beamten. Sie kam bis zur Regionalverwaltung.
„Als man mich überall abgewimmelt hatte, machte ich mich auf die Suche nach dem Gouverneur. Damals war das Titow [Konstantin Titow war von 1991 bis 2007 Gouverneur von Samara]. Im Erdgeschoss standen Wachmänner, aber irgendwie bin ich an denen vorbeigekommen. Ich habe die Türen eigenhändig geöffnet. Hinter der ersten lag da ein roter Läufer. Ich gehe rein, gehe weiter und sehe plötzlich ein Türschild: Titow, Oberhaupt der Region. Genau da will ich hin!
Ich stürme rein, die Sekretärin ruft noch: ‚Wo wollen Sie hin? Er ist in einer Besprechung. Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?‘ Wie ich es geschafft hab, sie zur Seite zu schieben, weiß ich selbst nicht, sie war ganz schön wuchtig, aber ich war sauer. An wen ich mich mit meinen Problemen auch wende, keinen interessiert’s die Bohne … Ich gehe also rein zu Titow, das Zimmer ist voller Menschen. Ich sage: ‚Entschuldigen Sie bitte, Herrschaften, ich habe einen Notfall. Wenn Sie mir nicht helfen, wer dann?‘ Zufällig sitzt da auch der Chef unserer städtischen Straßenbahngesellschaft. Der hat mich wiedererkannt. Das ist meine Angestellte, sagt der. Also riefen sie mir einen Wagen und brachten mich und die Kinder in ein Wohnheim. Es war Winter, fast minus 30 Grad. Ich komme rein, die Wachfrau hat zwei Heizwärmer zu ihren Füßen und trotzdem wallt Dampf aus ihrem Mund. Und meine Olga ist zehn Monate alt, wie soll ich in dieser Bruchbude leben? Die Wachfrau ist sogar noch in unser Zimmer mitgegangen, um die Bettwäsche abzuziehen. Die ist neu, hieß es, Sie müssen Ihre eigene mitbringen. Wie soll ich denn meine eigene mitbringen, wenn sie verbrannt ist? Ich habe die Betten zusammengeschoben, die Kinder von allen Seiten umarmt und so saßen wir die ganze Nacht da, haben uns gegenseitig warmgehalten.“
In den 1990er Jahren brannte Pelagejas Haus ab, sie kam mit ihren Kindern eine zeitlang bei Bekannten unter
Nach der durchfrorenen Nacht war Pelageja klar, dass ihr niemand helfen würde. Sie beschloss, selbst eine Wohnung zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie auf dem Bau gearbeitet. Sie wusste, mit welchen Schlüsseln man reinkommt. Sie schnappte sich einen großen Schlüsselbund mit vielen gleichen und ging in einen Neubau, wo die Leute gerade erst anfingen einzuziehen. „Ich ging von Tür zu Tür, neben der vierten begann mein Herz zu pochen: bum-bum-bum. Das ist unsere Wohnung! Hab den richtigen Schlüssel rausgesucht und bin rein. Sie gehörte der Stadtverwaltung und stand noch leer. Dort sind die Kinder und ich eingezogen. Ich habe gleich einen Brief an die Verwaltung geschrieben, dass ich auf eigene Befugnis die Wohnung mit der Adresse soundso bezogen habe. Da drin gab es gar nichts, nur die nackten Mauern. Anfangs benutzen wir einen Eimer als Toilette und gingen in die öffentliche Sauna zum Duschen. Als die Verwaltung erfuhr, dass ich dort eingezogen bin, kamen sie, um uns rauszuwerfen. Ich hab mich geprügelt. Ich weiß noch genau, wie eines Tages zwei Männer und zwei Frauen dastanden, und sich plötzlich meine Kindern greifen wollten. Sie waren damals auch noch krank, ich hatte sie mit Gänseschmalz eingeschmiert. Ich sag zu ihnen: ‚Kinder, wollt ihr auf die Straße?‘ Und sie: ‚Nein, Mama!‘ ‚Dann wehrt euch!‘ Also winden sie sich, glitschig wie sie sind, ständig aus den Griffen der ungebetenen Gäste … Irgendwann sind die dann gegangen. Und ich blieb noch drei Jahre in dem Haus, erst dann habe ich endlich eine Dreizimmerwohnung bekommen.“
Die Ernährerin
Pelageja fährt sicher und ruhig. Bremst nicht abrupt, überholt selten, lässt alle Fußgänger durch. Wird sie von vorbeifahrenden Autos angehupt, kontert sie stets mit demselben: „Arschloch!“
„Wie fahre ich? Gut?“ „Sehr gut!“
„Ich gebe mir Mühe, dass die Kunden sich wohlfühlen. Ich unterhalte mich gern, mache auch mal einen Scherz. Manche fragen mich beim Einsteigen: ‚Kommen wir überhaupt noch lebend an, Großmütterchen?‘ ‚Mal sehen‘, sage ich dann. Bisher hat sich keiner beschwert. Ich habe drei Regeln: aufmerksam sein, Abstand halten und die Geschwindigkeitsbegrenzung beachten. Das war’s, mehr braucht man nicht … Arschloch!“, ruft Pelageja einem hupenden Auto hinterher.
Pelageja erzählt. „Ich mag es, während der Fahrt mit meinen Fahrgästen zu plaudern und die Bäume am Straßenrand zu bewundern“
„Ist es anstrengend, den ganzen Tag am Steuer zu sitzen?“
„Ach was, hier erhole ich mich! Wenn ich im Haus arbeite, tun mir Arme und Beine weh. Böden wischen, Badewanne schrubben – dann bin ich kaputt. Ich lege mich hin und komm kaum wieder hoch. Aber ich rappel mich wieder auf. Die Kinder fragen: ‚Mama, wo willst du hin? Du bist doch kaputt!‘ Und ich: ‚Ich fahr mich erholen.‘ Ich mag Autofahren sehr.“
„Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub?“
„Urlaub hatte ich 1992.“
„Sind Sie irgendwo hingefahren?“
„Wo soll ich schon hinfahren, Schätzchen? Ich war zu Hause bei den Kindern. Und habe nebenbei gearbeitet. Ich bin Mama und Ernährerin, Erholung ist für mich nicht vorgesehen.“
Pelageja kauft fast nur Dinge, die heruntergesetzt sind. Sonderangebote oder im Ausverkauf. Für sich selbst kauft sie so gut wie nichts. Letztes Jahr hat sie sich ein Nachthemd gegönnt. Und dieses Jahr billige Sportschuhe, damit sie es hinterm Steuer bequemer hat. Aber jetzt ist es kalt, die Füße frieren. Sie überlegt, ob sie sich warme Stiefel kaufen soll, kann sich aber nicht dazu durchringen: Was wenn es dann nicht mehr reicht, um die Schulden abzubezahlen?
Schulden hat Pelageja viele. Die ersten Kredite hat sie aufgenommen, um das Haus zu kaufen. Sie hatte ihre Dreizimmerwohnung verkauft, weil sie ein Stück eigenes Land haben wollte, sie dachte, so wäre es einfacher, die Familie zu ernähren.
Pelageja tut es leid, dass die Kinder sich selbst überlassen waren, während sie arbeiten musste. Die älteren haben nach den jüngeren gesehen. Dafür wussten sie aber von klein auf, was es heißt, Geld zu verdienen. Als der Nachbarsjunge eine Spielkonsole bekam, wollten sie auch eine. Sie sagte: „Wenn ihr was wollt, verdient es euch.“ Sie hat ein Treppenhaus übernommen, und die Kinder haben die Böden gewischt. Als sie die nötige Summe zusammen hatten, kauften sie eine Spielkonsole. Genauso ist auch der Kassettenrekorder ins Haus gekommen.
Ihr Auto ist für Pelageja von größtem Wert. Ein Auto zu besitzen, bedeutet Geld zu verdienen
Als sie das Haus gekauft haben, konnten die Kinder kaum glauben, dass sie nun eigene Kartoffeln und Fleisch haben werden. Pelageja hatte auch Ferkel gekauft. „Mama gehört das jetzt alles uns? Wirklich?“ Das Geld, das vom Wohnungsverkauf übrig war, investierte sie in einen alten Wagen, einen Schuppen, die Ferkel und die Einrichtung des Hauses.
Für die Wasser- und Heizungsleitungen hat es nicht mehr gereicht, sie musste wieder zur Bank. Erst ein Kredit, dann der nächste, und noch einer. Für dies und das. Aber sie kam irgendwie über die Runden. Bis 2016 zahlte Pelageja immer pünktlich, doch dann wurde es immer schwieriger, mit dem Taxifahren Geld zu verdienen: zu wenig Aufträge, es reichte gerade mal für den Sprit. Sie ging zur Bank: „Macht mit mir was ihr wollt, ich hab kein Geld, um zu zahlen.“ Sie beschlagnahmten das Auto und ihre Rente. Dann hörte Pelageja von Uber.
„Ich bin kein Drückeberger. Solange ich die Kraft dazu habe, arbeite ich. Ich mag Uber, das sind gute Jungs. Und Prämien sammeln sich auch an. Hauptsache ich kann die kleinen Kredite abbezahlen, dann bleiben nur noch die drei großen …“
„Wissen die Kinder von Ihren Problemen?“
„Wozu denn? Sie haben genug eigene. Der Sohn, der bei mir wohnt, hat drei Kredite. Meine Tochter kümmert sich ums Kind, ihr Mann sorgt allein für den Lebensunterhalt. Lena zahlt die Uni-Ausbildung ihres Sohnes, arbeitet von früh bis spät. Dima hat zwei Kinder … Wanja und Lena helfen ihm, die Kommunalka zu bezahlen, letztens haben sie mir bei der Gasrechnung geholfen. Mein Sohn macht was zu essen, wenn ich heimkomme, unterstützt mich. Jeder hilft, wo er kann.“
„Haben sie Jobs?“
„Ja … Aber hör mal, solange Arme und Beine funktionieren, warum soll ich herumsitzen? Wir kommen schon über die Runden.“
Unsere Fahrt endet im von Pelageja heißgeliebten Imbiss Blinari. Sofort zerrt sie mich von der Theke mit den Grillhähnchen weg, hin zu der anderen, mit dem „vernünftigen“ Essen: „Da ist es viel zu teuer, schau da gar nicht hin.“ Sie bestellt Reiskascha und Kissel. Ich überrede sie noch zu Kartoffelpuffern. Bis zum Flughafen sind wir auf Rechnung gefahren – zurück einfach so. Ich halte ihr 500 Rubel hin: „Für meine Heimfahrt.“ Pelageja zieht eine Brieftasche hervor, entweder unter der Achsel oder aus dem BH. Legt den Geldschein hinein und versteckt sie wieder.
Ich steige vor meinem Haus aus. Sie steckt den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster und ruft:
„Versprich, dass du dich immer liebhast und nie zulässt, dass dir einer was zuleide tut.“ „Versprochen!“ „Ganz sicher?“ „Ich verspreche es!“
Draußen sind es minus 15 Grad. Wenn du in Sachalin aufgewachsen bist, wirst du niemals frieren, sagt Pelageja
Am nächsten Morgen klingelt um 11 Uhr das Telefon, Pelageja ist dran:
„Guten Morgen, Shenja-Schätzchen. Ich bin jetzt erst auf dem Heimweg.“
„Waren Sie etwa die ganze Nacht unterwegs?“
„Ja.“
„Wie viele Fahrten waren es denn?“
„Um die zwanzig. Jetzt fahre ich zu meinem Sohn ins Krankenhaus, bringe ihm Toilettenpapier und was zu trinken vorbei. Dann schlafe ich ein bisschen und weiter geht’s.“
„Sie müssen sich schonen, man braucht doch auch Erholung.“
„Alles gut, Kindchen, mach dir keine Sorgen. Diese Woche habe ich etwa 12.000 Rubel [170 Euro] verdient, ich brauche aber 20.000 [280 Euro] … Dafür ist die Freude umso größer, wenn ich das Geld kriege und einen Teil vom Kredit tilgen kann! Also gut, mein Sonnenschein, hab einen schönen Tag. Ich muss weiter!“
Text: Jewgenia Wolunkowa Fotos: Kristina Syrtschikowa Übersetzung: Maria Rajer erschienen am 03.04.2018
Im Dezember 2016 wandte sich der russische Botschafter in Argentinien an die Polizei: Er hatte in einem Regal in der Botschaftsschule zwölf verdächtige Koffer gefunden. In diesen befanden sich 389 Kilogramm Kokain. Russische und argentinische Behörden hätten gemeinsam an dem Fall gearbeitet, berichtet das Außenministerium, die Droge gegen Mehl ausgetauscht und die Koffer mit GPS-Sendern versehen.
Anfang März kamen diese in Russland an, mitgeflogen in einer Regierungsmaschine – was russische Behörden zunächst bestritten, argentinische Stellen jedoch eindeutig identifizierten. Es gab mehrere Festnahmen, in Berlin wurde der vermeintliche Drahtzieher des Schmuggels festgenommen. Diplomaten seien nicht involviert, versichert die Sprecherin des Außenministeriums.
Allerdings zweifeln viele diese offizielle Version an, Medien-Recherchen deuten zumindest Schwachstellen in der offiziellen Version an.
Kirill Martynow beleuchtet in der Novaya Gazeta eine Reihe weiterer Dementi und sieht darin System.
Der Kokain-Skandal zieht immer weitere Kreise. Die argentinische Strafverfolgungsbehörde untersucht den Fall der Drogenlieferung über die russische Botschaft und hat nun Teile des Aktenmaterials veröffentlicht.
Auf den Fotos ist unter anderem das Kennzeichen jenes Flugzeugs erkennbar, das fast 400 Kilogramm Kokain in 12 Koffern nach Moskau befördern sollte. Laut Angaben von RBC gehört das Kennzeichen (96023) zu einer Iljuschin-96-Maschine der Sonderflugeinheit Rossija, die für den Transport von Regierungsbeamten zuständig ist. Nach Veröffentlichung dieser Meldung wurde die Webseite russianplanes.net gesperrt, ein non-profit Projekt, das Informationen über russische Luftfahrzeuge auf Grundlage öffentlicher Quellen publiziert.
Am 20. Dezember 2016 starb der Leiter der Lateinamerika-Abteilung des russischen Außenministeriums Pjotr Polschikow unter ungeklärten Umständen. Insgesamt starben in den letzten anderthalb Jahren neun hochrangige Beamte des Außenministeriums. Es ist bekannt, dass der Sekretär des SicherheitsratesNikolaj Patruschew im Dezember 2017, als sich der zweite Teil der Kokain-Affäre ereignete, auf Staatsbesuch in Argentinien war. Die argentinische Presse versichert außerdem, Patruschew sei mit derselben Maschine geflogen wie die Koffer.
Die offizielle russische Position ist: alles dementieren
Die offizielle russische Position ist: alles dementieren. Erst gab Maria Sacharowa die Stellungnahme ab, dass nur die rechtzeitige Einmischung russischer Diplomaten es ermöglicht habe, die Route des Drogenhandels aufzudecken, involviert in diesen sei aber nur „technisches Personal“ der Botschaft. Später folgte ein Dementi der Präsidialverwaltung, der die Sonderflugeinheit Rossija unterstellt ist. Die Sprecherin der Behörde Jelena Krylowa sagte, dass die Iljuschin-96 mit der Kennnummer 96023 am Kokaintransport beteiligt gewesen sei, entspräche nicht der Wahrheit. Die Nummer sei nämlich „mithilfe moderner technischer Verfahren“ manipuliert worden. Es ist also nicht klar, wer das Kokain transportiert hat – aber wir sicher nicht.
Bemerkenswert ist, dass unsere offiziellen Vertreter zunächst immer fragen: Was habt ihr für Beweise? Und nachdem ihnen die Fakten geliefert wurden, schalten sie einen Gang rauf: Das beweist noch nichts. Irgendwo im Hintergrund befragt derweil das Ermittlungskomitee einen „ukrainischen Augenzeugen“ über den Absturz der malaysischen Boeing, Ergebnis: Alles nicht so eindeutig.
Post truth: russischer Sonderweg
Während die ganze Welt noch über post truth diskutiert und die Schwierigkeit, in Zeiten moderner Medientechnologien die Wahrheit von Lügen zu unterscheiden, hat Russland offensichtlich auch hier einen Sonderweg eingeschlagen: Wir haben die post untruth erfunden, auch bekannt als „ewige Leugnerei“. Da lässt sich jedes Ereignis ganz klar als erfunden bezeichnen, wenn man das unbedingt will und wenn die Obrigkeit nachdrücklich darum bittet.
Rationale Argumente und offensichtliche Fakten sind gegen die russische post untruth machtlos. Darauf basiert offenbar auch unsere ganze geopolitische Größe. Der Westen hinkt da klar hinterher: Dort glaubt man immer noch, man müsse offizielle Ermittlungen einleiten, wenn ein Beamter auf frischer Tat ertappt wird.
Sehen wir uns nur mal die neuesten Beispiele an: Vizepremier Rogosin brüstet sich im Netz zunächst mit seinem „Neffen Roman“, anschließend löscht er seine Tweets und verkündet, es habe nie einen Neffen gegeben, die Journalisten hätten alles erfunden.
Das klassische „Wir waren’s nicht“
Dem „liberal-demokratischen“ Duma-Abgeordneten Leonid Sluzki wird öffentlich sexuelle Belästigung von Journalistinnen vorgeworfen, Sluzki erwidert: „Niemals. Nicht in dieser Angelegenheit.“ Und damit ist die Sache erledigt – wir sind hier nicht in Amerika. Unsere Sportler hätten nie gedopt, erklärt man uns, und wenn, dann nur aus Versehen, ohne irgendein zielgerichtetes Zutun russischer Beamter. Und was besonders unheimlich und tragisch ist: Es heißt, wir seien schon zweimal aus Syrien abgezogen, und plötzlich stirbt in diesem Februar dort eine unbekannte Zahl russischer Staatsbürger. Was sagen die Beamten? Das klassische „Die sind da nicht gewesen“, sprich: „Wir waren’s nicht“. Vor diesem Hintergrund wirkt Deripaska geradezu europäisch, wenn er, statt alles komplett abzustreiten gegen die Verletzung seiner Privatsphäre klagt.
Die Blütezeit der russischen Kultur der post untruth begann 2014, als unsere Soldaten zunächst nicht auf der Krim gewesen sein sollen, und dann genau dafür mit Medaillen ausgezeichnet wurden.
Seitdem ist unsere Fähigkeit zu lügen sogar etwas, worauf man stolz sein kann. Nach dem Motto: Wenn deren Spione auch lügen, kann es unseren Agenten doch keiner verbieten. Die im vergangenen Jahr von der russischen Gesellschaft tief verinnerlichte Wahrheit lautet: „Im Westen lügen sie auch, und deren Medien sind voller Propaganda“, machen wir also einen Wettstreit draus. Schaut nur, wie gewieft wir sind: Wir lügen sogar besser als die Amerikaner.
Schaut nur, wie gewieft wir sind: Wir lügen sogar besser als die Amerikaner
Zu einem Konflikt kommt es dann, wenn die bekannten Vorurteile, denen die westliche Zivilgesellschaft anhängt, und unser russisches „ewiges Leugnen“ sich widersprechen. Bezeichnend ist die Untersuchung des ehemaligen FBI-Chefs und jetzigen Sonderermittlers Robert Mueller über die mutmaßliche US-Wahleinmischung russischer Staatsbürger. Im Westen funktionieren die Institutionen wie ein Immunsystem: Wenn etwas vorgefallen ist, dann ist etwas vorgefallen, also müssen alle Umstände aufgeklärt werden, unabhängig davon, welche ehrenwerte Herrschaften da Widerstand leisten. Bei uns dagegen kann man die Krankheit an sich leugnen.
Kurzum: Es ist sehr schwer für zwei derart unterschiedliche Wertesysteme – das heimische und das importierte – auf einem Planeten zu koexistieren. Auf lange Sicht wird sich wohl eins von ihnen durchsetzen. Aber welches?
In Unterhosen, sonst gerade mal mit Pilotenmütze, einer Krawatte oder Hosenträgern bekleidet – so lassen die Pilotenschüler aus Uljanowsk die Hüften kreisen, zu den Klängen von Satisfaction des italienisches DJs Benny Benassis. Das Video stellten die Kadetten im Netzwerk Vkontakte ein. Was sie sicher nicht ahnten: Ihre Parodie auf das Musikvideo Satisfaction ging viral.
Ähnliches hatten britische Soldaten bereits 2013 gemacht. Doch in Russland löste das Video einen Sturm der Entrüstung aus, Politiker, Medienschaffende, alle mischten sich ein: Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt in Uljanowsk, drohte zunächst gar, die beteiligten Kadetten (deren Gesichter man im Video nur schwer erkennt) von der Schule zu schmeißen. Von einer „Schande“ sprachen manche, andere stuften die Aktion als „pervers“ ein.
Doch mit der Empörung kam auch eine Welle der Solidarität: Das Katastrophenschutzministerium, die russischen Biathletinnen, Rentnerinnen aus St. Petersburg … es ist eine lange Liste von Namen, die sich am virtuellen Flashmob beteiligten und ebenfalls Satisfaction-Parodien ins Netz stellten, die mitunter ebenfalls viral gingen.
Warum ein harmloses Vergnügen von Jugendlichen dem Staat Angst macht, das analysiert Andrej Archangelski auf The Insider.
Pilotenschüler aus Uljanowsk lassen zu Satisfaction die Hüften kreisen – das Video ging viral
Die vorliegende Geschichte hat mich als Autor rund eine halbe Stunde Recherche im Netz gekostet – für einen Journalisten ein ganz gewöhnlicher Aufwand. Doch diesen Aufwand muss, wie es aussieht, mittlerweile jeder Mensch leisten. Das Internet ist eine Parallelwelt, außerdem ist es eine Welt der Postmoderne – und um die Zitate, Parodien und Parodien der Parodien dieser neuen Welt zu verstehen, muss man ihre Sprache lernen.
Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, dass die folgenden Personen sich die Mühe gemacht haben zu recherchieren: 1) Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt. Er verglich die Studenten mit „Pussy Riot, die in der Kathedrale ihren Spott getrieben hatten“ und versicherte, dass „diese jungen Männer keinen Platz in der zivilen Luftfahrt finden werden“, erst recht diejenigen nicht, die „Fünfen haben und im Rückstand sind“. 2) Andrej Beljakow, der stellvertretende Vorsitzende der Rosawiazija [Föderale Agentur für Lufttransport – dek], der die Prüfung des Instituts eingeleitet hat. Seine Behörde sprach im Zusammenhang mit dem Ereignis von „empörenden Filmaufnahmen“, einem „hässlichen Vorfall“, „frivolen Tänzen“ und einer „Beleidigung aller Mitarbeiter der zivilen Luftfahrt“. 3) Sergej Morosow, Gouverneur der Region Uljanowsk. Er stufte das Ganze als „äußerst pervers“ ein und sandte eine weitere Kommission in die Hochschule; er hatte befunden, das Video beleidige nicht nur die Region, sondern auch die Veteranen.
Das Fernsehen spricht von „schwulem Feuerchen“
Es ist nicht mal sicher, dass jene diesen Rechercheaufwand betrieben haben, die den Tanz zu einem Ereignis von nationaler Bedeutung aufbauschten – die Mitarbeiter des staatlichen Senders Rossija 24, wo das Video als „schwules Feuerchen“ bezeichnet und wo behauptet wurde, die „Jungsparty in Lack und Leder“ habe mit der Exmatrikulation aller geendet, die mit Vorliebe andere Körperteile in die Kamera strecken als ihre winkende Hand. Was die Exmatrikulation betrifft, war der Sender zum Glück etwas voreilig.
Der Satz „Das Video sorgte bei den Nutzern der Sozialen Netzwerke für Empörung“ ist ein Paradebeispiel für Propaganda. Diese Floskel wird später sicher mal im Unterricht beim Thema „Geschichte der russischen Propaganda“ durchgenommen. Wenn die Propaganda Präsident Poroschenko oder die Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, der USA oder anderer Feinde Russlands verspotten will und keinen triftigen Grund dazu hat, hält die „Meinung der Nutzer Sozialer Medien“ als Informationsquelle her. Es ist ein Versuch im Namen einer nicht existenten sozialen Gruppe zu sprechen, die nicht einmal gemeinsame Merkmale aufweist. Dieser „Empörung der Nutzer Sozialer Netzwerke“ liegt eine Sowjetformel zugrunde, die so alt ist wie die Welt: „Empörung des arbeitenden Volkes“. Unter Bezugnahme darauf war beispielsweise 1937 möglich.
Doch mir geht es nicht um die banale Tatsache, dass es überhaupt keine einheitliche „Meinung der Netzwerke“ geben kann. Sondern darum, dass jedes unschuldige virtuelle Ereignis in Russland erschreckende reale Konsequenzen nach sich zieht und Anlass für alle erdenklichen Kontrollen, Kommissionen und Exmatrikulationen bietet – und das noch im besten Fall.
Eine Kluft zwischen den Generationen
Am meisten verblüfft natürlich die gesellschaftliche Kluft zwischen zwei Generationen, die, wie man meinen könnte, gar nicht so weit auseinanderliegen: den 17-jährigen Studenten und den 30-,40-, und 50-jährigen Leitungspersonen. Da prallen zwei Welten aufeinander, die in unterschiedlichen Dimensionen existieren und einander absolut nicht verstehen.
Auf der einen Seite ist da die Satisfaction-Welt, eine Welt sich kreuzender Parodien und Zitate mit all ihren ästhetischen Kontexten und Subtexten; auf der anderen die Welt der Kommissionen, Behörden und verletzten Gefühle. Das ist ein echter Konflikt zwischen Moderne und Archaismus, ein Konflikt der Kulturen – zwischen der Welt der Freiheit und des Drills.
Am virtuellen Flashmob beteiligten sich auch die russischen Biathletinnen
Wenn staatliche Kommissionen extra losfahren, um einen Tanz junger Männer zu untersuchen (!), dann sieht das Ganze selbst wie eine noch bösere Parodie des Musikvideos Satisfaction aus.
Was hat ein staatlicher Sender – und somit auch der Staat – mit dieser Geschichte am Hut?
Regierungsfreundliche Sender benutzen solche Dinge gern für Verallgemeinerungen wie: „Wir haben die Jugend nicht im Griff“ sowie für obligatorische Aufrufe, „zu bewährten sowjetischen Erziehungsmethoden zurückzukehren“, denn „damals hätte es so etwas nicht gegeben“. Letzten Endes liegt der Schluss nahe, dass all diese Skandale aus dem Nichts wohl nötig sind, um Emotionen anzuheizen mit dem Ziel, die Gesellschaft durch „abschreckende Beispiele“ zu einen und so eine neue Verhaltensnorm für alle zu etablieren.
Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens schaffen lässt
Das Verblüffende daran: Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens bezüglich Verhaltensnormen schaffen lässt, nicht einmal bei echt skandalträchtigen Fällen. Also müssen sie vom Gas gehen und etwas Versöhnliches sagen. Jeder dieser Versuche endet in der Sackgasse, zugegebenermaßen dann, wenn das Publikum – so loyal es auch sein mag – seine Meinung einigermaßen frei äußern kann. Denn es kann keine „einheitliche Anstandsnorm“ in einem Land geben, dass formal immer noch ein demokratischer Staat ist. Es wird auch keine gesamtgesellschaftliche Verurteilung nach sowjetischem Vorbild geben, denn die Sowjetzeit ist nun mal vorbei, das Land ist kein einheitlicher Körper mehr, der sich synchron zum Staat bewegt und atmet.
Im Grunde genommen sind all diese Versuche, den Tanz zu verurteilen, ein unbewusstes Aufbegehren gegen das Selbst, gegen Individualität. Versuche, den Menschen zu verbieten, sie selbst zu sein und das zu haben, was man Persönlichkeit nennt. Im weitesten Sinne betrifft das jede kollektive oder individuelle Feier – sei es der Sieg, der Schulabschluss oder einfach der Spaß an der Freude. Im Jahr 2016 waren zwei Gruppen solchen Angriffen ausgesetzt: Die Absolventen der Akademie des Föderalen Sicherheitsdienstes, die einen Autokorso in Geländewagen veranstalteten, und die Fußballspieler der russischen Nationalmannschaft, die ungeachtet ihrer Niederlage Sekt tranken und draußen in der Natur Spaß hatten. Auch an diesen beiden Fällen war nichts Kriminelles, und auch hier gab es keine Argumente außer der „Ehre der Uniform“.
„Ehre der Uniform“: Menschen als Staatseigentum
Hinter all den Versuchen, einen universellen Anlass zur Empörung zu finden, steht nur eines: eine archaische, nicht einmal sowjetische, sondern imperiale Vorstellung von allen Menschen, die wie auch immer, Hauptsache irgendwie, mit dem Staat in Verbindung stehen, als Soldaten, Hörige, Knechte, Leibeigene. Als Menschen ohne Persönlichkeitsrechte und somit ohne Recht auf Ausdruck ihrer Individualität. Dann wird davon ausgegangen, dass jeder, der eine Uniform anlegt, a priori Staatseigentum ist. Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv und authentisch volkstümlich.
Die Tatsache, dass sogar angehende Piloten und Offiziere ein Privatleben, Hobbies und allgemein Spaß haben, jenseits ihrer Staatspflicht, geht den Bewachern im Fernsehen, die sich selbst als Staatsdiener begreifen, schwer gegen den Strich. Dabei sind die angehenden Piloten einfach nur jung. Sie haben dieselben Interessen wie ihre Altersgenossen weltweit, wie der Flashmob zu ihrer Unterstützung beweist. Darin liegt kein Widerspruch mehr: Auch wenn du im öffentlichen Dienst arbeitest, hast du ein Recht auf Privatleben, dieses Recht ist durch die Verfassung verbürgt.
Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv
Genau das ruft bei den Hütern der staatlichen Moral unkontrollierbaren Zorn hervor. So handelt es sich also jedes Mal um einen Angriff gegen die Individualität und im weitesten Sinne gegen die Persönlichkeit. Der Staat möchte nicht, dass Menschen zu Persönlichkeiten werden, er reagiert energisch auf jeden solchen Versuch, doch er findet keine hinreichenden Argumente für ein Verbot. Diese Inkongruenz zwischen den erklärten fundamentalen Werten und dem praktischen Leben ist Russlands Hauptproblem.
Auch Petersburger Rentnerinnen parodieren Satisfaction
Auch im 27. Jahr des Bestehens eines formal demokratischen Staates sind die demokratischen Lebensnormen nicht in eine zugängliche, allen verständliche Sprache übersetzt. Ein Rädchen der totalitären Gesellschaft hat nur ein Recht auf Leben, wenn es jederzeit bereit ist, fürs Vaterland zu sterben. In einer Demokratie ist es erlaubt, für sein eigenes, individuelles Glück zu leben – das scheint sehr einfach. Solange ein Mensch sein individuelles Glück sucht, ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, hat niemand das Recht ihn daran zu hindern. Im Grunde ist das auch die normale nationale Idee: für sein eigenes Glück zu leben. Würde dieses Konzept als legitim anerkannt und laut ausgesprochen, würde es auch zum nationalen Konsens und zum perfekten Mittel, um derartige Konflikte zu lösen.
Menschen freuen sich? Haben Spaß? Feiern? Ohne jemandem zu schaden? Das ist ihr gutes Recht. Doch diese simple Idee gilt heutzutage wahrscheinlich auch schon als Beleidigung von Heiligtümern. Der wichtigste offizielle Maßstab für moralisches Verhalten ist nach wie vor die Kriegserfahrung. Aber das Leben in Friedenszeiten sollte sich nicht auf Kriegserfahrung stützen, und sei dieser Krieg noch so gerecht. In Friedenszeiten sollte man nach Gesetzen des Friedens leben, nicht nach denen des Krieges oder Arbeitslagers. Eben dieser Widerspruch führt zu einer Spaltung der Gesellschaft, wo der eine Teil zu Satisfaction tanzt und der andere zu den Worten: Kommission, Behörde, Kontrolle.
Die islamisch geprägte Teilrepublik Tschetschenien gilt auch in der Literatur oft als Russlands „Anderer“. So anders strukturiert als der Rest Russlands, meint dagegen der Soziologe Denis Sokolow, sei sie aber nicht. Nur geschehe hier „alles unverhüllt“: „Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um“, sagt er im Interview mit Rosbalt.
Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Internationalkritisieren die Menschenrechtslage in Tschetschenien schon seit langem. Im Jahresbericht von 2017 etwa ist von öffentlichem Druck auf Behörden und Justiz genauso die Rede wie von Schikanen, denen Menschenrechtsverteidiger immer wieder ausgesetzt sind. Amnesty nennt auch den Fall des kritischen, unabhängigen Journalisten Shalaudi Gerijew, der wegen des Besitzes von 167 Gramm Marihuana zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Im Prozess hatte er angegeben, dass sein „Geständnis“ nach Folter erzwungen worden war.
Der Fall ist nicht der einzige seiner Art: Erst am 9. Januar 2018 wurde der bekannte Menschenrechtler Ojub Titijew, Leiter des Memorial-Büros in Grosny, festgenommen wegen angeblichen Besitzes von 180 Gramm Marihuana, das man während einer Autokontrolle bei ihm gefunden haben will. Prominente Vertreter internationaler Menschenrechtsorganisationen haben sich für Titijew ausgesprochen und sind von seiner Unschuld überzeugt.
Das Portal Meduza nimmt ein weiteres Phänomen in den Fokus: Immer wieder tauchen in tschetschenischen Medien Videos auf, in denen sich Menschen entschuldigen – meist beim Staatschef Ramsan Kadyrow persönlich. Freiwillig? Meduza über eine erniedrigende Praxis und eine Gesellschaft, in der viele den Ehrverlust mehr fürchteten als den Tod.
Am 18. Dezember 2015 strahlte der tschetschenische staatliche Fernsehsender Grosny folgenden Bericht aus: Das Oberhaupt der Republik Ramsan Kadyrow trifft die tschetschenische Bürgerin Aischat Inajewa. Inajewa sitzt ganz am Rand einer Couch, starrt auf den Boden und hat offenbar große Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Die Frau ist so niedergeschlagen, dass Kadyrow sie nicht zum Reden bringen kann und sich an ihren Mann wendet: „Magomet, bei Allah, bring deine Frau dazu, mir Fragen zu stellen!“ Inajewa sagt so gut wie nichts, sie entschuldigt und rechtfertigt sich nur.
Kurz vor dem Treffen war auf WhatsApp (die App gehört zu den wichtigsten inoffiziellen Medien in Tschetschenien) eine Audiobotschaft von Aischat Inajewa aufgetaucht, die an einem Rehabilitationszentrum arbeitet. Darin beschwert sie sich über die Nebenkosten-Vorauszahlungen, die von Mietern verlangt werden. Inajewa verweist auf die Armut der einfachen Tschetschenen, kritisiert Kadyrow für seine „Angeberei“ und dafür, dass er mit kostspieligen Geschenken um sich werfe.
Beim Treffen mit dem Oberhaupt der Republik nimmt Inajewa ihre Worte zurück und beteuert, sie sei „vermutlich nicht ganz bei Verstand“ gewesen. Zuvor wurde Inajewa schon bei einer Bürgerversammlung in ihrem Heimatbezirk, dem Nadteretschenski Rajon, öffentlich verurteilt.
Zwei Tage nach dem Beitrag über Aischat Inajewa tauchte im Internet ein Entschuldigungsvideo des Bloggers Adam Dikajew auf. In dem Video läuft er ohne Hosen auf einem Laufband, erklärt, er sei ein Nichts, und singt das LiedMein bester Freund – das ist Präsident Putin. Eine Woche zuvor hatte der Blogger Kadyrow dafür kritisiert, dass er am Jahrestag des Tschetschenienkrieges auf Instagram ein Video gepostet hat, das ihn beim Training auf dem Laufband zeigt, während im Hintergrund das besagte Lied läuft.
Neues Genre
Die Entschuldigungen von Aischat Inajewa und Adam Dikajew von 2015 waren wohl die ersten einem breiten Publikum bekannten Beispiele dieses Genres, das in Wirklichkeit bereits einige Jahre zuvor entstanden ist. Es gibt keinen strengen Kanon, allerdings ein paar gemeinsame Merkmale: Der Mensch im Bild wirkt erniedrigt – und es sieht nicht so aus, als könnte er seine Teilnahme am Videodreh verweigern.
Igor Kaljapin, Leiter der NGO Komitee zur Verhinderung von Folter, hat viele Jahre in Tschetschenien gearbeitet. Er zweifelt nicht daran, dass die Menschen in den Entschuldigungsvideos schlichtweg keine Wahl hatten. „Ich denke, dass er [Adam Dikajew] mit massiven Mitteln zu dieser ‚Entschuldigung‘ genötigt wurde, denn in der Tschetschenischen Republik wirkt das extrem erniedrigend – ohne Hose auf dem Laufband.“
Kaljapin zufolge verschwinden die Menschen oft für einige Tage, bevor sie sich entschuldigen. So war es auch im Fall der Journalisten Riswan Ibragimow und Abubakar Didijew. Sie verschwanden in der Nacht zum 1. April 2016 und tauchten einige Tage später wieder auf bei einem TV-Treffen von Ramsan Kadyrow mit tschetschenischen Historikern und Schriftstellern. In der Sendung des Staatssenders Grosny stehen Ibragimow und Didijew mit verängstigten Gesichtern im Hintergrund und hören zu, wie die anderen Teilnehmer ihre Bücher kritisieren. Am Ende entschuldigen sie sich nicht einfach nur in die Kamera, sondern sprechen einem Priester die Worte eines Bußgebets nach. Ein paar Monate später werden die Bücher von Ibragimow und Didijew von einem Gericht für extremistisch befunden. Vor Gericht sagte Ibragimow aus, er habe nach der Verhaftung vier Tage in der regionalen Abteilung für innere Angelegenheiten des Oktjabrski Rajon von Grosny verbracht, wo er mit Stromschlägen gefoltert worden sei.
Jeder Unzufriedene gilt als maskierter Feind
Seitdem gab es in den Medien ein paar Dutzend solcher öffentlichen Entschuldigungen. Der Großteil von ihnen richtete sich an Ramsan Kadyrow persönlich oder an die tschetschenische Regierung. Laut Tatjana Lokschina und vielen anderen Experten war es Kadyrow, der diese Standards setzte, die nun auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus Anwendung finden.
Anhand der Beiträge des Staatssenders Grosny aus dem letzten Jahr zeigt sich, dass es gar nicht notwendig ist, direkte Kritik an der Regierung zu üben, um zum Protagonisten einer erniedrigenden TV-Reportage zu werden. Es genügt, sich zu beschweren oder öffentlich um Hilfe zu bitten oder in irgendeiner Form anzudeuten, dass die Regierung der Republik nicht effektiv arbeite.
„Die Menschen in Tschetschenien sollen glücklich sein und ihren Herrscher loben, wie man Kadyrow in den letzten Jahren üblicherweise nennt“, erklärt Kaljapin. „Jeder Mensch, der mit irgendwas unzufrieden ist, ist ein maskierter Feind. Er muss enttarnt und zu einer Entschuldigung gezwungen werden.“
Laut Kaljapin, werden solche „Feinde“, die es wagen, offizielle Beschwerdebriefe gegen Silowiki und Beamte bei der Staatsanwaltschaft oder dem Ermittlungskomitee einzureichen, mit besonderer Härte verfolgt.
Als Beispiel führt er den Fall von Ramasan Dshelaldinow aus dem Dorf Kechni an. Dieser hatte eine Videobotschaft an Putin aufgenommen, in der er sich über Korruption beschwert. Danach wurde sein Haus in Brand gesetzt, er selbst wurde mit einem Verweis auf das Schicksal der ermordeten Brüder Jamadajew und Boris Nemzows zur Ausreise aus Tschetschenien gezwungen.
Weibliche Angehörige dieses Tschetschenen mit der Videobotschaft an Putin berichten, sie seien nachts aus dem Haus gezerrt worden, man habe ihnen gedroht, sie in eine Schlucht zu werfen und habe direkt über ihren Köpfen Schüsse abgefeuert.
Diejenigen, die sich in Sozialen Netzwerken über ihr Alltagsleben beschweren, werden nicht ganz so hart verfolgt, sie werden zu Protagonisten in erniedrigenden Reportagen auf Grosny. Meduza hat etwa zwei Dutzend solcher TV-Berichte analysiert. Sie alle folgen einem ähnlichen Schema und sollen immer dieselbe simple Botschaft vermitteln: sich im Internet zu beschweren ist schlecht und eine Schande.
Der Aufbau einer typischen Reportage dieses Genres sieht in etwa so aus:
1. Der Macher der Reportage berichtet, dass in Sozialen Netzwerken oder über WhatsApp ein Video/eine Beschwerde verbreitet wird – es folgt ein Screenshot oder ein Ausschnitt aus dem Video.
2. Auf Anweisung des Oberhaupts der Republik wird eine besondere Kommission gebildet, um die Sache zu klären – für gewöhnlich mit hochrangigen Personen: Ministern, Kreisvorsitzenden und so weiter. In seltenen Fällen sogar Kadyrow selbst.
3. Es stellt sich heraus, dass der Verfasser der Beschwerde oder der Macher des Skandal-Videos selbst an allem Schuld ist. Seine Motive können folgendermaßen ausfallen:
– Er wollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er falsche Gerüchte und Tratsch verbreitet.
– Er wollte sich auf fremde Kosten bereichern und seine Wohnsituation verbessern.
4. Angehörige des Protagonisten und andere Interviewpartner erklären, es sei alles in Ordnung und seine Anschuldigungen seien frei erfunden.
5. Die Kommissionsmitglieder entrüsten sich darüber, dass Menschen Falschmeldungen verbreiteten, während in der Republik so viel für die allgemeine Sicherheit/das Gesundheitswesen/die Unterstützung der Armen/das Wohlbefinden junger Mütter getan werde. Sie beklagen, dass derlei falsche Anschuldigungen die Regierungsorgane davon abbrächten, jenen zu helfen, die es wirklich brauchen.
6. Der Protagonist der Reportage erkennt an, dass er im Unrecht war, er entschuldigt sich oder steht einfach nur beschämt da.
7. Der Macher der Reportage beendet den Beitrag mit der Moral: Man darf keine Gerüchte und Tratsch verbreiten und sich nicht auf fremde Kosten bereichern.
Keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Ehrverlust
Die tschetschenische Gesellschaft basiere auf dem Prinzip der Ehre, nicht nur der eigenen, sondern auch der Familienehre, erklärt die Projektdirektorin der NGO International Crisis GroupJekaterina Sokirjanskaja. „Wenn du beleidigt wurdest und deine Familie nicht angemessen reagieren konnte, leiden alle Verwandten darunter – deine Schwestern werden nicht heiraten, deine Brüder werden es schwer haben, einen Job zu finden, die ganze Familie wird einen Statusverlust erleiden“, erklärt die Expertin.
Genau dieser Umstand macht ihr zufolge die Praxis der öffentlichen Entschuldigung zu einer so effektiven Methode der Kontrolle über die Gesellschaft – sogar effektiver als Todesdrohungen, denn die Tschetschenen haben keine Angst vor dem Tod. Eine andere sehr effektive Methode ist, auf die Verwandten Druck auszuüben. Denn jeder Mensch kommt besser zurecht mit der Bedrohung der eigenen Sicherheit als der seiner Angehörigen.
Sokirjanskaja vermutet (wie auch die Leiterin des Moskauer Büros von Human Rights Watch Tatjana Lokschina), man könne die Ursprünge des Genres tschetschenischer Zwangs-Entschuldigungen in einer ähnlichen in dieser Region weit verbreiteten Praxis suchen: wenn Verwandte von Kämpfern dazu gezwungen werden, sich von ihren Familienmitgliedern loszusagen und sie somit aus dem gesellschaftlichen Leben zu streichen.
Über die Grenzen Tschetscheniens hinaus
Anfang 2016 verbreitete sich das Format der öffentlichen Entschuldigung auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Konstantin Sentschenko, ein Abgeordneter des Stadtrats von Krasnojarsk, reagierte auf beleidigende Aussagen des tschetschenischen Regierungsoberhaupts gegen die russische Opposition damit, dass er ihn auf Facebook „eine Schande für Russland“ nannte, die „alles, was nur ging, diskreditiert“ habe.
Einige Tage später veröffentlichte Kadyrow ein Video auf Instagram, worin der Abgeordnete für seine Worte um Vergebung bittet: Er habe sich „nach persönlichen Gesprächen mit Vertretern des tschetschenischen Volkes“ dazu entschlossen. Als Verhandlungsführer fungierte damals Buwaissar Saitijew, dreifacher Olympiasieger im Freistilringen und Ehrenbürger der Stadt Krasnojarsk.
Vor laufender Kamera verprügelt
Später versicherte Sentschenko, er habe nicht mit einer Veröffentlichung des Videos gerechnet, und die Entschuldigung habe er im Rahmen eines privaten Gesprächs erbracht. Der Abgeordnete sagte, er sei nicht direkt bedroht worden, es habe aber Anspielungen auf mögliche Unannehmlichkeiten gegeben.
Seit Anfang 2016 tauchten vermehrt Videos auf, in denen sich die Menschen nicht bei Ramsan Kadyrow, sondern bei Ramasan Abdulatipow, dem damaligen Oberhaupt der Republik Dagestan, entschuldigen müssen. In einem schlagen Unbekannte vor laufender Kamera auf einen Menschen ein und fordern eine Entschuldigung.
Entschuldigungen werden aber nicht nur vor den Oberhäuptern der Republiken fällig. Mittlerweile kann jeder jeden zur Entschuldigung zwingen, wie der Fall von Oleg Tereschenko zeigt. Der Student der RANCHiGS wurde von seinen Kommilitonen dazu gezwungen, sich für Kommentare bei VKontakte zu entschuldigen, die sie als beleidigend empfunden hatten. Gibt man bei Sozialen Netzwerken „zur Entschuldigung gezwungen“ ins Suchfeld ein, stößt man auf zahlreiche ähnliche Videos.
Verwandte als „Mittäter“
Die tschetschenische Regierung hat mehr als einmal erklärt, dass für terroristische Straftaten die Angehörigen der Verdächtigen zur Rechenschaft gezogen werden: Mehr als einmal wurden die Häuser von Familien niedergebrannt und die Menschen gezwungen, die Republik zu verlassen. Laut Jekaterina Sokirjanskaja zählt die Regierung diese Verwandten als „Mittäter“, obwohl man bestens weiß, dass die Verwandten in den meisten Fällen überhaupt keine Ahnung haben, dass ihre Kinder in den Einfluss von Terrororganisationen geraten sind.
Die Menschenrechtlerin Tatjana Lokschina ist überzeugt, dass gerade die tschetschenische Praxis der öffentlichen Entschuldigung die Standards für alle anderen gesetzt habe. Laut Lokschina nimmt die Zahl der öffentlichen Entschuldigungen zu, weil die föderale Regierung in Moskau nichts gegen die tschetschenischen Fälle unternimmt, selbst wenn Bewohner anderer Regionen betroffen sind.
Seine politischen Prognosen seien fast so genau wie Wetterberichte, lobte sich einst Waleri Solowei, einer der bekanntesten Politologen Russlands. In der Tat treffen seine Vorhersagen so oft zu, dass der MGIMO-Professor sogar den Spitznamen „politischer Nostradamus“ hat.
In der Wissenschaft versucht Solowei, demokratische und liberale Positionen mit völkisch-nationalistischen Standpunkten zu vereinen. Über Schwächen und Widersprüche, die jedem Erstsemestler auffallen dürften, geht der Professor mit leichter Hand hinweg. Seine Stärke ist nun mal die politische Prognose – deren hohe Trefferquote vor allem Soloweis Draht zum Kreml zu verdanken sei, so die Einschätzung einiger Beobachter.
Zum Beginn des Wahljahres resümiert der MGIMO-Professor für die Petersburger Online-Zeitung Fontanka das turbulente 2017 und schaut in seine Glaskugel. Braut sich da etwas zusammen?
Irina Tumakowa: Waleri Dimitrijewitsch, vor einem Jahr haben Sie vorhergesagt, 2017 würde eine politische Krise ausbrechen, die drei Jahre anhält. Das Jahr ist um. Welche Anzeichen dieser Krise haben Sie beobachtet?
Waleri Solowei: Vor einem Jahr habe ich gesagt, es würde Bewegung in die Politik kommen, und das ist tatsächlich passiert. Im Herbst war man noch etwas verschlafen, das lag vor allem daran, dass die Opposition nicht in der Lage war, der Gesellschaft ein proaktives Programm vorzulegen und sich politisch zu konsolidieren. Dennoch ist eine deutlich zunehmende Proteststimmung bemerkbar, vor allem auf lokaler Ebene. Sogar laut offizieller Statistik ist die Zahl der Proteste im Vergleich zum Vorjahr um zwei Drittel gestiegen. Sowohl die Regierung als auch regierungsfreundliche Experten sagen, sie würden nach den Präsidentschaftswahlen mit einem neuerlichen drastischen Anstieg rechnen.
Das ist der erste Punkt, der zweite geht damit einher: Die Wirtschaftskrise in Russland ist nicht vorbei, allen offiziellen Erklärungen zum Trotz. Im November konnten wir regelrecht einen monströsen Einbruch in der industriellen Produktion beobachten, wie es ihn die gesamte Krise hindurch nicht gab.
Die Wirtschaftskrise ist nicht vorbei
Das Einkommen der Bevölkerung sinkt schon das vierte Jahr in Folge. Das hatten wir nicht einmal in den 1990er Jahren, mit denen man die derzeitige Stabilität so gern vergleicht. Es gibt auch keinerlei Grund anzunehmen, dass sich die Situation verbessern würde. Bei einem vertraulichen Treffen mit Vertretern der Wirtschaft hat Putin das tatsächlich genauso gesagt: Erwartet nicht, dass sich etwas verbessert, dafür gibt es keinen Grund.
Bei seiner offiziellen Pressekonferenz hat er doch etwas ganz anderes gesagt. Warum sagt er so etwas bei einem vertraulichen Treffen zu den Wirtschaftsvertretern?
Wahrscheinlich, weil es nicht besonders förderlich wäre, so etwas zum Auftakt einer Wahlkampagne öffentlich zu verkünden.
Die Nachfrage nach Veränderung ist größer als die Nachfrage nach Stabilität
Das dritte Anzeichen einer politischen Krise ist die gesellschaftliche Forderung nach Veränderung. Zum ersten Mal seit 25 oder 26 Jahren ist die Nachfrage nach Veränderung größer als die Nachfrage nach Stabilität. Und zwar in allen soziodemografischen Gruppen. Einschließlich der Jugend und der älteren Generation, darunter auch Menschen im Rentenalter. Zum letzten Mal gab es so etwas 1990/91.
Offen gestanden sehe ich derzeit nicht die Stimmung von 1990.
Ja, in dieser Nachfrage überwiegt der Wunsch nach sozioökonomischen Veränderungen. Politische Veränderungen stehen für eine Minderheit an erster Stelle. Aber hier geht es nicht um die spezifische Größe dieser Minderheit, sondern darum, dass sie ein offensives Programm vorlegen und die Gesellschaft dafür gewinnen könnte. So oder so, es gibt den Wunsch nach Veränderung. Und der war in den letzten 25 Jahren noch nie so ausgeprägt wie jetzt.
Wenn die Soziologen das sehen, warum sieht die Regierung es nicht?
Die Regierung sieht das glasklar. Sie hofft darauf, dass sich die Situation verbessert, sucht einen Weg dahin. Allerdings ohne politische Veränderungen. Das ist die grundsätzliche Einschränkung. Eine weitere besteht in Folgendem: Für Veränderungen müsste man mit dem Westen verhandeln und unsere Regierung will unter gar keinen Umständen Kompromisse eingehen. Aus Sicht des Kreml ist offenbar jeder Kompromiss ein Zeichen von Schwäche.
Aus Sicht des Kreml ist jeder Kompromiss ein Zeichen von Schwäche
Außerdem hofft man, dass sich die Situation von selbst verbessert. Und das Wichtigste ist: Im Kreml interpretiert man den Westen so, als sei es sein Ziel, Präsident Putin zu stürzen, sich in unsere Wahlen einzumischen und Unzufriedenheit zu schüren, die dann zu einer Revolution in Russland führt.
Eine andere Ihrer Prognosen aus dem letzten Jahr war, dass der neue stellvertretende Leiter der PräsidialadministrationSergej Kirijenko ein gutes Verhältnis zu den Kulturschaffenden aufbauen würde. Und rausgekommen ist „der Fall Serebrennikow“.
Das hängt aber nicht von Kirijenko ab. Es gibt „das Prinzip der zwei Schlüssel“. Der eine Schlüssel liegt in der Hand des politischen Blocks, der andere in der der Silowiki. Kirijenko hat wohl kaum etwas damit zu tun, was mit Serebrennikow passiert ist. Dem politischen Block gefällt es nicht, was in diesem Bereich passiert. Eine Politik der Einschüchterung der Kulturschaffenden halten sie für kontraproduktiv.
Und wozu soll es für den Block der Silowiki gut sein, die Kulturschaffenden einzuschüchtern?
Damit stellen Sie eine Frage, die für russische Intellektuelle typisch ist: „Wozu?“ Die richtige Frage lautet hier aber: „Warum?“ Weil sie nicht anders können. Es gibt eine Liste erklärter Ziele. Man nimmt an, dass die Neutralisierung gewisser Objekte zur Stabilität beiträgt, dass man ihnen eine Lehre erteilen muss. Zu diesen Zielen zählen auch Serebrennikow und die Europäische Universität in St. Petersburg.
Die Europäische Universität fällt auch in dieses Raster?
Ja, sie stehen auf ein und derselben Liste. Wie andere auch.
Was ist mit dem Fall Uljukajew? Muss man hier „Warum“ fragen? Oder geht ein „Wozu“?
Hier sind beide Fragen angemessen. Denn neben dem Instinkt, der die Vertreter dieser speziellen Gilde antreibt, gab es natürlich auch ein Ziel: Dimitri Medwedew und seinen Unterstützern einen herben Schlag zu versetzen. Und in dem Augenblick, als Uljukajew verhaftet wurde, war zweifellos die gesamte Regierungsspitze in Angst und Schrecken. Alle warteten darauf, nicht bloß gefeuert, sondern verhaftet zu werden.
Als Uljukajew verhaftet wurde, war zweifellos die gesamte Regierungsspitze in Angst und Schrecken
Sagt die Tatsache, dass jemand Medwedew einen Schlag versetzen wollte, etwas über dessen Chancen aus, den Posten des Premiers auch 2018 zu behalten?
Nein, überhaupt nicht. Denn die Entscheidung darüber, wer den Posten des Premiers bekommt, liegt beim Präsidenten, und der Präsident hat keinerlei Interesse daran, die Silowiki noch weiter zu stärken. Ihm ist klar, dass man ihnen nicht die Kontrolle über die Wirtschaft anvertrauen darf.
Wie konnte er dann die Sache mit Uljukajew zulassen?
Aus meiner Sicht war das kein besonders produktiver Schritt. Es wäre vernünftiger gewesen, die Eliten kurz vor der Wahl nicht einzuschüchtern. Doch soweit ich weiß, gibt es ernsthafte Bedenken hinsichtlich ihrer Loyalität. Aber so wie ich mir das vorstelle, entbehren die jeder Grundlage, denn die Eliten halten dem Thron die Treue. Aber man hat sich dazu entschieden, ihnen eine Lektion zu erteilen, zu zeigen, dass man niemanden schont, nicht einmal die eigenen Leute: Fürchtet euch alle!
Das politische Erwachen, von dem sie anfangs sprachen – wohin ist es gegen Ende des Jahres verschwunden? Was ist damit passiert?
Im Großen und Ganzen ist es nicht gelungen, das Potenzial zu nutzen. Hätte jemand eine Idee für eine gute politische Kampagne gehabt, hätte man dieses Potenzial ausweiten und massenwirksam werden lassen können. Das war eine strategische Frage. Aber es ist nicht passiert. Eine solche Idee hätte von Nawalny kommen können. Nicht durchs Land gondeln und Korruptionsbeweise sammeln, sondern eine Protestkampagne starten. Aber er hat das nicht gemacht.
Selbstverständlich spricht sie einen gewissen Teil von Nawalnys Anhängern an. Das ist eines der Motive, warum sie aufgestellt wurde.
Sie denken also, dass sie „aufgestellt wurde“ und sich nicht selbst aufgestellt hat?
Das ist doch kein Geheimnis. Ja, man hat ihr vorgeschlagen, es zu tun. Es ihr empfohlen. Und sie hat diese Empfehlung sehr positiv aufgenommen. Wenn auch nicht sofort, sie hat darüber nachgedacht. Übrigens waren nicht alle in der Präsidialadministration davon begeistert. Es gab einige Leute, die dagegen waren, sie kandidieren zu lassen. Sobtschaks Hauptaufgabe besteht darin, die Wahlen aufregend zu machen. Denn die Wahlen sind so vorhersehbar langweilig, dass die geringe Wahlbeteiligung nun zu einem ernsthaften Problem zu werden droht.
Sobtschaks Hauptaufgabe besteht darin, die Wahlen aufregend zu machen
Der zweite Grund ist: Sie soll die Protestkampagne übernehmen. Und sehen Sie nur: Sie ist in diesem Wahlkampf die Figur mit der größten Medienpräsenz, sie hat einen Blankoscheck für die staatlichen Sender bekommen. Damit sie Nawalny aus der Medienlandschaft verdrängt. Obendrein kann man jetzt auch noch den westlichen Medien zeigen: Seht her, wie super und liberal es bei uns zugeht, es gibt vielleicht keinen Nawalny, dafür aber eine Kandidatin, die sogar über die Krim sagt, dass sie nach internationalem Recht zur Ukraine gehöre.
Nawalny war allerdings auch vorher nicht in der „Medienlandschaft“ der staatlichen Sender vertreten, dafür spricht dort jetzt Sobtschak über Dinge, die die Zuschauer ansonsten nie zu hören bekommen. Außerdem hat sie Nawalny ins Programm „aufgenommen“ – sie spricht offen über ihn. Haben die Initiatoren ihrer Kandidatur bedacht, dass sie so weit gehen könnte?
Natürlich haben sie das. Wobei es Markierungen gibt, die sie nicht übertreten wird. Das ist ihr sehr bewusst, auch das ist alles genau ausgehandelt worden. Und vergessen Sie nicht: Sie ist die Kandidatin „gegen alle“. Ein Kandidat mit einem negativen Programm ist nicht sonderlich gefährlich.
Wodurch wird sich Putin ab März 2018 vom jetzigen Putin unterscheiden?
Ich glaube nicht daran, dass ein Mensch 18 Jahre lang einen Typ verkörpern und sich dann plötzlich ändern kann. Sicher, die Apostelgeschichte beschreibt, wie der sture Saulus zu Paulus wurde. Aber so eine Metamorphose ist derart selten, dass sie es sogar in die Bibel geschafft hat.
Dafür passieren Metamorphosen in die andere Richtung relativ häufig. Das beunruhigt mich viel mehr.
Ich glaube nicht, dass uns plötzlich grenzenlose Freiheit geschenkt wird, aber ich glaube auch nicht anGewalt, Verfolgung und Strafen. Ich denke, die Regierung wird zwischen diesen beiden Polen pendeln. Und so ein Gependel ist für die Regierungsstabilität das allerschlimmste. Es tritt meist ein, wenn die Regierbarkeit abnimmt. Und die Regierbarkeit in Russland nimmt gerade ab, das wissen alle, und einige sagen es sogar laut.
Ich glaube nicht, dass uns plötzlich grenzenlose Freiheit geschenkt wird, aber ich glaube auch nicht an Gewalt, Verfolgung und Strafen
Das Land lässt sich auf allen Ebenen schlechter regieren. Es liegt eine signifikante Regierungskrise vor. Sie wurde hervorgerufen durch einen naturgemäßen Verfall, der wiederum eine Folge des Abbaus von Ressourcen und der Krise des vorherigen Regierungsmodells ist.
Früher garantierten die Machthaber Loyalität und konnten im Gegenzug Korruption betreiben. Es war genug Geld da, um alle Schandtaten zu verdecken. Sowohl um Olympia auszurichten und um die Sozialleistungen zu erhöhen und um das Militär neu aufzurüsten. Heute ist kein Geld da. Man braucht es dringend, aber kann es nirgends hernehmen. Deswegen werden die fiskalpolitischen Maßnahmen zunehmen und der Steuerdruck auf die Bevölkerung wachsen.
Und das vor dem Hintergrund der Proteste und der Forderung nach Erneuerung? Ist es nicht gefährlich, das zu tun?
Was sollen sie sonst tun? Die Regierung braucht Geld. Wie früher Kredite beim Westen aufzunehmen ist nicht mehr möglich. Deswegen wird es eine nahezu Stalinsche Modernisierung geben, allerdings in einer vegetarischen Variante. Man setzt auf die eigenen Kräfte.
Es wird eine nahezu Stalinsche Modernisierung geben, allerdings in einer vegetarischen Variante
Die Preise für Benzin, Tabak und Alkohol werden steigen – alles wie immer. Aus Sicht der Regierung verfügt die Bevölkerung über kolossale Geldressourcen: Fast zwei Billionen Rubel [30 Milliarden Euro – dek] liegen unter Kopfkissen. Denn über zwei Drittel der Bevölkerung glauben nicht daran, dass die Krise überstanden ist und bleiben weiterhin auf Sparkurs. Sie geben ihre Groschen nicht aus. Und zumindest einen Teil davon will die Regierung einziehen.
Und wenn die Menschen ihr Geld behalten wollen?
Wird man sie zwingen. Sehen Sie nur, wie schnell die Verarmung in Moskau und Petersburg voranschreitet, von der Provinz ganz zu schweigen. Die Menschen bekommen nur mit Mühe das Geld für Lebensmittel zusammen, zu der Qualität der Lebensmittel will ich lieber gar nichts sagen.
Und wie soll es weitergehen?
Tja, da steht nur ein großes Fragezeichen. Hier wirkt ein Axiom aus der politischen Soziologie: Die Dynamik der Massen ist nicht vorhersehbar. Die Regierung hofft darauf, dass sie es aussitzen kann, das ist ihre klassische Strategie.
Und wenn wir ganz weit nach vorn blicken: Wozu werden diese Tendenzen nach 2024 führen, wenn Putin geht?
Wenn Putin verschwindet, verschwindet auch das „System Putin“. Das heißt ja nicht umsonst so. Es steht und fällt mit Putin. Wenn er verschwindet, wird eine Demontage des Systems einsetzen. Demontage ist noch gelinde ausgedrückt, es wird wohl eher ein Zerfall. Aber bitte keine Übertreibungen, eine Katastrophe wird es auch nicht, Russland bleibt. Aber es wird unweigerlich tiefschürfende Veränderungen geben.
Der Anschlag auf Tatjana Felgengauer vor rund einem Monat war ein Schock für die unabhängige russische Medienlandschaft. Ein Mann war in das Redaktionsgebäude eingedrungen und hatte die Moderatorin schwer verletzt. In einem nach der Tat veröffentlichten Video machte der Attentäter wirre Aussagen, er sprach auch von einer „telepathischen Verbindung“ zu Felgengauer.
Tatjana Felgengauer ist Moderatorin und stellvertretende Chefredakteurin von Echo Moskwy. Mehrheitsaktionär des Sender ist die staatsnaheGazprom-Media Holding, zu der etwa auch der TV-Sender NTW gehört. Dennoch gilt Echo als kremlkritisch. Nicht zuletzt deswegen gab es zahlreiche Stimmen, die nach dem Anschlag die öffentliche Hetze gegen kritische Journalisten für das Attentat mit verantwortlich machten: Etwa durch den Fernsehmoderator Wladimir Solowjow, der in einer Radiosendung gefordert hatte, kritischen Journalisten „das Maul zu stopfen”.
Einen Monat nach dem Attentat spricht The New Times mit Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy, über das Attentat, die Sicherheit von Journalisten in Russland, Selbstzensur und politische Umbrüche.
Alexej Wenediktow: Lassen Sie uns das Ganze aus dem keck-publizistischen in den dröge-juristischen Diskurs übertragen. Ich habe den Ermittlern meine Überlegungen bezüglich Anstiftung mitgeteilt. Anstiftung fällt unter Paragraph 33 Strafgesetzbuch, sprich, es ist eine Straftat. Nun ist es an den Ermittlern zu ermitteln – oder auch nicht, das hängt wohl davon ab, wie überzeugend ich war. Wir haben denen alle nötigen Unterlagen zur Verfügung gestellt, die aus unserer Sicht belegen, dass es sich um Anstiftung handelt.
Es gibt einige sehr ernsthafte Fragen, zum Beispiel: Woher kannte dieser Mistkerl [Boris Griz, der Attentäter Tatjana Felgengauers – Anm. d. Red.] die genaue Uhrzeit, wann Tatjana das nahe beim Wachschutz liegende Büro verließ und wann sie dorthin ging [in das Büro, wo das Attentat stattfand – Anm. d. Red.]? Weder Zeit noch Ort waren typisch für Tatjana. Dennoch ist dieser Mensch genau drei Minuten nach Ende meines Meetings hier hochgekommen. Diese Frage ist nicht geklärt und die Ermittler gehen dem nach.
Unser Beruf geht in diesem Land mit einem ernsthaften Risiko einher
Die Sache ist also nicht so einfach – es war nicht einfach irgendein Verrückter, der irgendwo hinkommt und jemanden in den Hals sticht, nein. Wir verlassen uns darauf, dass der Ermittler für äußerst wichtige Angelegenheiten diesen Fall auch wie eine äußerst wichtige Angelegenheit behandelt – wenn ihn schon Bastrykin [Leiter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation – Anm. d. Red.] höchstpersönlich damit beauftragt. Deswegen bleibt uns nur zu beobachten und abzuwarten. Ich möchte nochmals betonen, dass wir in jeder Hinsicht mit den Ermittlern kooperieren und dies auch weiterhin tun werden. Wir werden sehen, was letzten Endes in den Prozess Eingang findet.
Vielleicht sollten die Journalisten geschlossen etwas unternehmen?
Wir können nichts unternehmen, weil unser Beruf in diesem Land mit einem ernsthaften Risiko einhergeht. In den letzten 15 Jahren ist der Beruf des Journalisten in der Statistik der zivilen Berufsgruppen, was die Zahl der Toten und Verletzten betrifft, auf Rang zwei gerückt – gleich hinter den Bergarbeitern. Hinzukommt, dass Attentate auf Journalisten kaum aufgeklärt werden.
Was passiert denn gerade? Ist es so etwas wie eine Systemkrise der Medien, die sich auch auf Russland auswirkt? Oder ist das eine spezifisch russische Situation?
Selbstverständlich betrifft das nicht nur Russland. Dennoch ist, wie wir sehen, das Berufsrisiko in unserem Land wesentlich höher. Obwohl der Vorfall von Charlie Hebdozeigt, dass unser Beruf in keinem Land geschützt ist. Denn ein Journalist rührt unweigerlich an Interessen von Machtstrukturen, wenn er Informationen oder investigative Recherchen veröffentlicht. Ganz egal, um welche Machtstrukturen es sich dabei handelt – ob Politik, Wirtschaft, Ballett oder Sport. Sind seine Informationen wahr, ist es umso gefährlicher. Denn hier gibt es nur eine Lösung: „Ihnen die verdammten Mäuler stopfen“, wie gewisse Personen beim staatlichen Radiosender gern sagen. Nun ja, jetzt hat sich einer gefunden – mit ’nem Messer in den Hals. Ganz einfach.
Vielleicht sollten sich die Journalisten irgendwie selbst schützen?
Das ist unmöglich. Wie hätte man Charlie Hebdoschützen können?
Was ist zurzeit stärker, die Zensur oder der ökonomische Druck auf die Medien?
Wissen Sie, ich denke, am stärksten ist die Selbstzensur. Denn die Bedrohung des eigenen Lebens, der Gesundheit, der Familie, die Angst, den Job zu verlieren – das alles zwingt Journalisten zur Selbstzensur.
Vor allem nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs und der Sache mit der Krim ist bei uns die Luft geradezu vergiftet mit Hasstiraden. Es ist eine Atmosphäre, nicht des Krieges, denn einen Krieg gibt es scheinbar nicht, sondern einer Hysterie, die alle vergiftet – nicht nur diejenigen, die brüllen, sondern auch diejenigen, die sich dieses Gebrüll anhören.
Ich denke, seriöse Journalisten sollten als Inhibitoren fungieren, sprich, diese Vergiftung eindämmen, indem sie die Situation analysieren, vernünftige Fragen stellen und die Situation von verschiedenen Standpunkten aus beleuchten. Das passiert kaum.
Die Luft ist bei uns vergiftet mit Hasstiraden
Wenn die Journalisten von Echo Moskwy früher einfach nur den schlichten Auftrag hatten zu informieren, aufzuklären und zu unterhalten, wie alle anderen Medien auch, so ist unser Auftrag nun, die Toxizität zu senken, die Vergiftung zu verzögern, denn auch auf uns wirkt dieses Gift. Wir existieren ja nicht im luftleeren Raum, laufen nicht mit Sauerstoffmasken durch die Gegend.
Und natürlich ist es meine Aufgabe als Chefredakteur, die Journalisten an ihre berufliche Pflicht zu erinnern. Ich bin mir sicher, dass der Vorfall mit Tatjana viele Journalisten erschreckt hat, in unserer Redaktion und in anderen. Das ist eben jener Preis, den nicht jeder zu zahlen bereit ist – dafür, dass man das sagt, wozu man das Recht hat, wozu dir dein Beruf das Recht gibt und die Meinungsfreiheit.
Deswegen denke ich, ist die Selbstzensur das größte Problem – zumindest für unseren Radiosender. Wir haben keine Zensur, keine ökonomischen Einschränkungen seitens unserer Aktionäre. Vor 17 Jahren hatte ich ein Gespräch mit unserem Aktionär, ich meine damals mit Gazprom. Wir haben damals ein Modell ausgearbeitet, demzufolge wir auch alles Negative über Gazprom senden, allerdings unter der Bedingung, dass wir uns zeitnah um Kommentare bemühen. Das ist die einzige Einschränkung, die aber inzwischen nicht mehr besonders relevant ist. Deswegen ist für mich die Selbstzensur das Wichtigste, wogegen ich hier kämpfe. Die gibt es, und gegen die kämpfe ich.
Mich würde interessieren, wie das aussieht.
Nun, ich kriege mit, wenn gewisse Nachrichten ausgelassen oder bestimmte Personen nicht eingeladen werden. In solchen Fällen bestelle ich den betreffenden Mitarbeiter zu mir und frage ostentativ: Erklären Sie mir, warum Sie diese Nachricht für unwichtig halten, obwohl sie mir ziemlich wichtig erscheint. Was ist das für ein Argument „Vielleicht sollten wir lieber nicht …“? Das passiert selten, aber es kommt vor. Und die, die damit nicht zurechtkommen, würden Echo verlassen müssen. Das sage ich ihnen ganz direkt. Aber bislang kommen alle damit zurecht. Jeder für sich. Das Wichtigste ist, mit sich selbst zurechtzukommen, seine Ängste zu überwinden, die eigenen Horrorszenarien loszuwerden. Angst darf hier kein Ratgeber sein.
Angst darf kein Ratgeber sein
Wie stehen Sie zu der Änderung des Mediengesetzes, den ausländischen Agenten? Wird es in Russland am Ende der Präsidentschaftswahlen überhaupt noch freie Medien geben?
Streng genommen tangiert die Gesetzesänderung mit den ausländischen Agenten die russischen Medien überhaupt nicht, kein bisschen.
Es ist aber so formuliert, dass es auf jeden angewendet werden kann.
Nein, eigentlich nicht. Das Problem liegt woanders. Ich denke, das Agentengesetz ist eine Nebelkerze, um von einer ganz anderen Änderung abzulenken, über die bei derselben Abstimmung entschieden wurde. Eine Änderung, die der staatlichen Medienaufsichtsbehörde erlaubt, jede – wie es dort heißt – Organisation, die Informationen verbreitet, außergerichtlich zu schließen. Ich betone: außergerichtlich. Grob gesagt, kann es die Webseite vom Roten Kreuz sein oder die Site der bulgarischen Botschaft oder auch jeder Messenger … Das ist es, was gerade unter den Empörungsrufen zum Agentengesetz durchgewunken wurde.
Passiert das alles nur, weil die Wahlen anstehen?
Die Wahlen gehen vorbei, und wir alle wissen doch, wie sie in etwa ablaufen werden – unabhängig davon, wer zugelassen wird und wer nicht. Sehen Sie mal, die dritte – die formal dritte – Amtszeit von Präsident Putin war offenkundig reaktionär. Was kommt bei der vierten? Wie geht es weiter? In welche Richtung wird er sich bewegen? Doch wohl kaum in die liberale, vermutlich nicht einmal in die konservative. Vom Reaktionären gibt es nur zwei Wege: entweder zurück zum Konservativismus oder geradewegs in den Obskurantismus. So sieht’s nämlich aus.
Für wie wahrscheinlich halten Sie militärische Umstürze in Russland?
Von Umstürzen erfahren wir immer, wenn Menschen auf die Senatskaja Ploschtschad gehen oder wenn einer eine Tabakdose gegen die Schläfe kriegt oder wenn meinetwegen der 93-jährige Mugabe plötzlich erfährt, dass alle seine Mitstreiter gegen ihn sind. Aber man hat keinen Gradmesser, um die Wahrscheinlichkeit zu messen.
Was mich betrifft, so bin ich der Meinung, dass Wladimir Putin im Augenblick trotz allem ein Garant für den Erhalt von Macht und Reichtum seiner Truppe ist, mehr noch: der ganzen Jelzin-Truppe. Deswegen sehe ich die Wahrscheinlichkeit für Umstürze als eher gering an. Aber vielleicht bin ich blind.
Moskau, Sommer 2013. Eine Autoexplosion hier, ein Mord da: Über ein Netz von kaltblütigen Geheimagenten will die CIA die Lage in Russland destabilisieren, doch der FSB ist ihnen auf der Spur. „Konfrontation der Geheimdienste, Intrigen und echte Liebe“ – als „TV-Event des Jahres“ kündigt der staatliche Erste Kanal in Russland seine neue Serie Die Schläfer an, dessen Handlung „auf wahren Begebenheiten“ basiere.
Die vom Kulturministerium geförderte, aufwändig produzierte Thriller-Serie sorgt insbesondere in unabhängigen Medien für heiße Diskussionen. Sogar die jüngste Messerattacke auf Tatjana Felgengauer, die stellvertretende Chefredakteurin von Echo Moskwy, wird in Verbindung gebracht mit der Folge, in der eine Journalistin durch einen Messerstich in die Kehle ermordet wird.
Zusätzliche Brisanz gewinnt die Serie durch eine Stellungnahme des Regisseurs auf Vkontakte: Juri Bykow, der sich mit Filmen wieMajor auch im liberalen Lager einen Namen gemacht hat, erklärt darin seinen Rückzug aus dem Filmgeschäft, und wirft sich selbst vor, mit der Serie „die gesamte progressive Generation verraten“ zu haben.
Natalja Issakowa hat die acht Folgen der Schläfer angeschaut und erklärt in einer kritischen Rezension auf Colta.ru, warum sie die Serie gefährlich findet – noch gefährlicher als Propaganda-Nachrichten.
https://www.youtube.com/watch?v=mC6CBqRoDwA
„Wie man Russland in acht Folgen zerstört und keiner merkt, dass es total irre ist.“ So in etwa stelle ich mir die Kernidee der Schläfer als Pitch bei einem Filmmeeting vor. Die TV-Serie Die Schläfer, ausgestrahlt im Ersten Kanal, hätte durchaus das Potenzial zu einer fabelhaften schwarzen Komödie im Stil von Borat gehabt, in der die wesentlichen Mythen und Ängste des kollektiven Unterbewussten ausgeschlachtet werden. Aber nein: Das Ganze ist völlig ernst gemeint. Wie viele Kritiker bereits festgestellt haben, unterscheiden sich Die Schläfer ideologisch kaum von Informationssendungen des staatlichen Fernsehens. Sehen wir uns an, warum die TV-Serie Die Schläfer dennoch gefährlicher ist als die Nachrichten. Aber zunächst ein paar Worte zur Handlung.
Der CIA-Agent mampft Hamburger
Die Amerikaner träumen davon, Russland zu zerstören. Ein dämonischer CIA-Agent (Alexander Rapoport) fühlt sich in Russland wie der Boss. Er mampft Hamburger, und zwischen den Morden spielt er Tennis oder Schach (offenbar eine Anspielung auf das Buch The Grand Chessboard des Politologen Zbigniew Brzeziński, in dem, so heißt es oft, der Plan der USA, Russland zu vernichten, beschrieben ist). Nach seiner Pfeife tanzt sogar der amerikanische Botschafter (ein stämmiger Blondschopf, dem ehemaligen US-Botschafter in Russland Michael McFaul recht ähnlich).
Der CIA-Mann hat überall in Russland seine Agenten, die seinerzeit von einem produktiven MGIMO-Dozenten angeworben wurden. Im nötigen Augenblick bekommen sie die Nachricht: „Wach auf“, und beginnen der Heimat Schaden zuzufügen. In den meisten Fällen tun sie das noch nicht einmal aus Angst oder Geldgier, sondern weil sie irgendwann einmal ihr Wort gegeben haben, zu intrigieren und alles ins Wanken zu bringen.
Um Russland zu zerstören, muss die Abmachung zwischen Russland und China über den Bau der Pipeline Sila Sibiriplatzen. (Wie Russland bis heute überleben konnte, wenn doch alles an dieser Pipeline hängt, bleibt ein Rätsel.) Dafür müssen die Chinesen aus dem Konzept gebracht werden, dann werden sie sich von dem unruhigen Partner schon lossagen. (Aus irgendeinem Grund haben die Macher der Serie die Vorstellung, Chinesen seien prüde und schreckhaft. Wie eine viktorianische Jungfrau brechen sie bei jeder kleinen Anspielung einen Skandal vom Zaun.)
Korruption? Bei uns klaut die Regierung nicht
Streng geheime Unterlagen über ein schreckliches Geheimnis werden dem Blogger Asmolow zugespielt, der sich mit Korruptionsbekämpfung beschäftigt (Gruß an Nawalny). Diese Unterlagen sollen Informationen über illegale Absprachen bei der Auftragsvergabe zum Bau der Pipeline enthalten, hinter dem Schattensystem des Geldtransfers steht der FSB. Aber das ist natürlich nicht wahr – denn bei uns klaut die Regierung nicht, und schon gar nicht der Teil der Regierung mit Schulterklappen.
Nach einer sensationellen Pressekonferenz von Asmolow über ein Anwesen und, sorry, eine Pipeline mit Entchen (c) jagen die Amerikaner das Auto des Bloggers in die Luft. Das ganze Jean-Jacques (in der Serie ist es das Café Herzen) trauert. Und eine Trollfabrik, natürlich vom State Department finanziert, trichtert dem Volk ein, der FSB würde Oppositionelle umbringen. Die schreckhaften Chinesen versuchen abermals abzuspringen. Aber ein alter sowjetischer General mit erhaben ergrautem Haar beruhigt sie – erschöpft, aber voller Nachdruck.
Grausamer CIA, tapferer FSB
Ein einfacher Skandal genügt den CIA-Leuten jedoch nicht. Sie wollen Tausende Unzufriedene auf die Straße bringen und eine Revolution anheizen – Hauptsache die Chinesen machen sich in die Hose und unterzeichnen den Vertrag mit Russland nicht. Doch der Plan geht nicht auf. Ein Nachwuchsblogger filmt den Anschlag auf Asmolow und verkauft das Video an oppositionelle Journalisten. Um Spuren zu verwischen, arbeitet eine russische Verräterin gewissenhaft eine Liste ab und bringt ohne mit der Wimper zu zucken alle um – auf Befehl des CIA, versteht sich.
In einer heiklen Situation alle umbringen: Das ist das Lieblingsverfahren der Amerikaner. Um an die geheimen Dokumente über den Bau der Sila Sibiri zu kommen, setzen sie sogar den ihnen gegenüber handzahmen IS auf die russische Botschaft in Libyen an – damit beginnt die Serie. Mehr als 20 Mitarbeiter der russischen Mission sterben, es bricht ein richtiger Krieg aus – und all das nur, damit Uncle Sam einen Aktenkoffer mit ein paar Unterlagen bekommt. So grausame Menschen sind das nämlich.
Ganz anders dagegen unsere tapferen Agenten des FSB. Manchmal würden sie dem Feind sogar gern symmetrisch antworten, aber sie können einfach nicht. Sie sind doch Offiziere. Menschen mit schneeweißer Weste. Sie schimpfen nie Matund lassen ihre Leute nicht im Stich.
Der Verräter trägt schicke Anzüge
Du schaust einem von ihnen ins Gesicht, beispielsweise Andrej Rodionow (Igor Petrenko), und weißt: Er könnte keiner Fliege was zuleide tun. Sein ganzes Leben liebt er eine einzige Frau, die seine Gefühle nicht erwidert, und dient seiner Heimat. Zugegeben, den einen oder anderen Verräter gibt es auch bei den Organen, aber die erkennt man sofort an ihren modischen Haarschnitten aus dem Barbershop, den schicken Anzügen und den unangenehmen Stimmen.
Worin besteht also die Gefahr dieser Serie? Als wüssten wir nicht schon aus den Nachrichten, dass Russland von Feinden umringt ist und Oppositionelle sich selbst umbringen, nur um dem Staat eins auszuwischen. Doch in den Nachrichten werden die Emotionen nicht so angeheizt. Eine Serie dagegen bietet die Möglichkeit, ideologische Maximen unterm Deckmantel von Küssen ins Herz des Zuschauers zu meißeln.
Die schädlichen, liberalen Ideen vertritt selbstverständlich der Bösewicht. Über seine Argumente braucht der Zuschauer gar nicht groß nachzudenken – was soll man schon von einem Menschen erwarten, der ein Agent des State Department ist und, schlimmer noch, seine Frau mit der Frau des Darstellers Fjodor Bondartschuk betrügt. Wenn allerdings der gute FSBler mit dem sanften Bariton seiner Geliebten die Weltverschwörung gegen Russland erklärt, weiß jeder: Nur er und seine Kameraden können das Land vor der Katastrophe bewahren.
Alles wäre gut, wären da nicht diese Yankees
Der Zuschauer bekommt mit den Schläfern ein aufrichtiges Melodram zu sehen, in dem die verwirrte Heldin (Natalia Rogoschkina) hin und hergerissen ist zwischen dem guten FSBler, gespielt von Igor Petrenko, und ihrem schlechten Ehemann, Dimitri Uljanow, der sich ihr zufolge zu den global russians zählt. Die Ideologie wirkt dabei wie ein leichtes, einlullendes Schneegestöber im Hintergrund, das sich sanft im Unterbewusstsein absetzt und den Zuschauer überzeugt: Russland ist ein großartiges Land, und bei uns wäre alles gut, wären da nicht diese Yankees [im Original pindossy – dek].
Der Regisseur der Serie Juri Bykow beharrte in der Late-Night-Show Wetscherni Urgant darauf, er habe eine Serie über die Liebe gedreht. In jeder Folge gibt es einen programmatischen Monolog, der wirkt, als sei er den Glaubenskriegen aus den Sozialen Netzwerken entnommen. Mit einem wesentlichen Unterschied: Die Liberalen werden in der Serie immer von Verrätern und Bösewichten vertreten. Alles Übel hängen die Macher der Serie den Bloggern und Journalisten an.
Das war tatsächlich nur eine Frage der Zeit – die Verfilmung von Nachrichten, all dieser Geschichten über gekreuzigte Jungen und vertilgte Dompfaffen. Die Krim (seit September im Verleih) und nun Die Schläfer sind künstlerische Umsetzungen von Propaganda.
Russland ist umzingelt von Feinden, aber der FSB wird Russland retten
Für Die Schläfer musste erstmal der Boden bereitet werden: auf neuem Wege zur alten Doktrin: „Russland ist umzingelt von Feinden, aber der FSB wird Russland retten.“ Das gute alte sowjetische Muster musste man wiederbeleben, das nie ganz vergessen war. Das Bild des FSBlers hat sich allmählich gewandelt: vom ehrlichen Mitarbeiter, den es in diesen Strukturen nur selten gibt und der mit den blutigen Henkern aus der Serie Es war einmal in Rostow (2015) hadert, bis zum intelligenten Typen mit den stählernen Muskeln aus Geheimnisvolle Leidenschaften (2016), ohne dessen Hilfe die sowjetischen Dichter ihr Liebesleben nicht auf die Reihe kriegen und weder ein Spiegelei braten noch Verse schreiben können.
Eine Neubewertung der jüngsten Vergangenheit ist noch im Gange, bislang ist nicht alles eindeutig geklärt. Es kann noch nicht in Fernsehserien verwertet werden. So gibt es beispielsweise noch keine feste Meinung darüber, wie Gorbatschow zu beurteilen ist. Aber das eine oder andere hat sich mittlerweile herauskristallisiert und wurde auf Hochglanz poliert. Längst ist klar, dass die Sowjetunion unser verlorenes Paradies ist.
Die Sowjetunion, das verlorene Paradies
Ein Problem bei der Verfilmung von Nachrichten ist allerdings, dass der Dreh einer Serie sehr zeitaufwändig ist. Während der Entstehung der Schläfer hat sich einiges verändert. Ein Typ wie der Filmemacher mit dem Basecap, eine Mischung aus Vitali Manski und Kirill Serebrennikow, über dessen dramatische Textkraft der Tschekist Rodion sich in der Serie köstlich amüsiert, steht heute unter Arrest. Und unsere tapferen Kämpfer in Syrien lässt das Vaterland mittlerweile in Gefangenschaft umkommen.
Der Regisseur Bykow, dem mit Der Idiot oder Major noch gelungen war, etwas Wichtiges zu sagen, äußerte sich kurz vor der Premiere auf Facebook in etwa so: Sogar wenn das Land im Unrecht ist, würde er es im Krieg immer unterstützen, weil es sein Land ist. Danach gab er seinen Austritt von Facebook bekannt – man müsse darüber nachdenken, auf wessen Seite man steht. Ich glaube, nach so einer Serie gibt es nicht mehr viel nachzudenken.
Für ein bisschen Optimismus sorgen nur die Zahlen: Die Quoten der Schläfer lagen etwa bei 13 Prozent (beim vorangegangenen Schnüffler zur selben Sendezeit im Ersten waren es um die 19 Prozent). Vielleicht entscheidet sich der Sender bei einem Blick auf diese Zahlen dafür, von Nachrichtenverfilmungen abzusehen und sich Experimenten im reinen Entertainment-Sektor zu widmen? Immerhin gibt es zwischen Propaganda und Unterhaltung nicht umsonst einen gewaltigen Unterschied: Hier schinden wir unser Hirn, dort legen wir Heilkräuterchen auf.
Wohnhäuser, Datschen, Gräber, alles wird in Russland eingezäunt, gerne auch blickdicht. Wladimir Rubinski recherchierte für Kommersant über den russischen Wunsch nach Abgrenzung, der, ausgerechnet, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs seinen Lauf nahm.
Der flächendeckende Zaunbau in Russland kam mit dem Privateigentum. „Als nach der Perestroika massenhaft Datschen in der Moskauer Vorstadt gebaut wurden, wurden sie sogleich hoch umzäunt“, erinnert sich der Kulturwissenschaftler und Historiker für Architektur Wladimir Paperny. „Nicht selten tauchten die Zäune sogar noch vor dem Ziegelsteinpalast auf.“
In der Sowjetunion habe der Staat das Monopol gehabt, Absperrungen und Grenzen zu errichten. Doch Anfang der 1990er sei dieses Monopol zerschlagen worden. „Weil es plötzlich Privateigentum gab, ging die Idee der Abgrenzung von der zentralisierten staatlichen auf kleinere Institutionen und Privatleute über“, so Paperny. „Die Zentralmacht, die die Zäune baut, zerfällt in kleinere Machteinheiten, die nun ihrerseits Zäune bauen.“
Schutz vor ungebetenen Gästen
Zu dem Thema äußert sich auch Pjotr Saposhnikow, Generaldirektor der Firma Stroisabor, einem der Marktführer der Branche in Moskau und Umgebung. „Die Leute fingen damals – das war Anfang der 1990er – damit an, Privathäuser zu bauen“, erinnert sich Saposhnikow. „Zu der Zeit gab es viele kriminelle Machenschaften, die Menschen wollten sich vor ungebetenen Gästen schützen. Seitdem hat es nicht mehr aufgehört. Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen. Die Leute haben Angst, etwas zu zeigen.“
Vom Wunsch nach Abgrenzung zeugen auch die Zugangssysteme in Mehrfamilienhäusern. „Um in seine Wohnung zu gelangen, muss man im Schnitt fünf armierte Türen passieren: drei im Treppenhaus, die vierte im Vorraum auf dem eigenen Stockwerk und die fünfte – die eigentliche Wohnungstür. Dabei haben wir keine besonders hohe Kriminalitätsrate, wir sind nicht in Johannesburg oder Kolumbien“, bemerkt Sergej Medwedew, Politologe und Historiker der Moskauer Higher School of Economics.
Das große Bedürfnis nach Absperrung lässt sich laut Wladimir Paperny damit erklären, dass über 70 Prozent der Moskauer in Kommunalkas gelebt hätten; die eigene Wohnung stelle daher einen Umbruch in den sozialen Beziehungen dar.
Ein anderer symbolträchtiger Raum für Zäune ist der Friedhof. „Zäune sind das Hauptmerkmal russischer Friedhöfe. Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen. Die Zäune sind wichtiger als die Kreuze“, sagt Sergej Medwedew.
Auf dem Friedhof sind die Zäune wichtiger als die Kreuze
Im 20. Jahrhundert habe in der Sowjetunion in kürzester Zeit eine Massenumsiedlung vom Land in die Stadt stattgefunden: Anfang des Jahrhunderts hätten 15 Prozent in Städten gelebt, Ende des Jahrhunderts seien es bereits 70 Prozent gewesen. So stelle der Friedhof einen Ort dar, wo der Mensch endlich bekommt, was ihm sein Leben lang fehlte: Privatsphäre und eigene Grenzen.
Einen Zaun-Bauboom gab es dann Anfang der 2000er Jahre. Bis 2014 wuchs der Markt in der Region Moskau laut Pjotr Saposhnikow exponentiell. Großzügig aufgerundet, wurden pro Jahr allein in der Region Moskau von zehn bis fünfzehn großen Privatunternehmen etwa 3000 Kilometer verschiedenster Zäune errichtet. Würden alle Unternehmen, nicht nur die großen, zehn Jahre lang so produzieren, könnte man den Äquator verzäunen, wie es im Fachjargon heißt. Und wir sprechen hier nur von Privatunternehmen, nur von der Region Moskau, und fast nur von Datscha-Grundstücken.
„Wie viele Zäune es in ganz Russland gibt, weiß keiner, aber man kann anhand von Datschengrundstücken über ihre Länge spekulieren“, erklärt Andrej Treiwisch vomInstitut für Geografie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Nach Einschätzung der russischen Gärtnervereinigung gibt es in Russland etwa 16 Millionen Datschengrundstücke. Beziehe man noch die altsowjetischen Datschen und die „Fertigbau-Vorstadtpaläste“ mit ein, komme man auf etwa 20 Millionen.
Selbst wenn man von den Angaben des Rosstat ausgehe, der 79.000 private Gärtner-, Gemüseanbau- und Datschenvereinigungen verzeichnet, erreichten die Zäune eine Länge von 790.000 Kilometer (sie könnten die Erde fast 20-mal umrunden).
Der Zaun symbolisiert die Macht des Eigentümers
Auf der Moskauer Rubljowka, der hermetischen Wohnwelt für Geschäftsleute und Staatsbeamte, sind die Zäune blickdicht und sechs bis acht Meter hoch. Ähnlich hohe Sichtschutzzäune gibt es sonst nur um Klöster und Gefängnisse herum. „Der Zaun ist ein Segregationsmerkmal im städtischen Raum. Er symbolisiert die Macht des Eigentümers“, bemerkt Alexej Krascheninnikow.
Für einen amerikanischen Farmer sei ein Zaun in erster Linie eine Markierung, um Streitereien über die Grenzen seines Eigentums zu vermeiden. So etwas sei nur bei entwickelten Institutionen von Recht und Eigentum möglich, und schließe die Hoffnung auf ein faires Gericht mit ein.
In Russland liegen die Dinge anders. „In einer Gesellschaft, wo jeder Mensch in der Angst lebte, der Staat oder ein anderer Mensch könne jeden Moment in seinen Bereich eindringen, ist der Zaun ein Symbol des Strebens nach Ruhe und privatem Raum“, schreibt Maxim Trudoljubow in seinem Buch Ljudi sa Saborom (dt. Menschen hinterm Zaun: Privatraum, Macht und Eigentum in Russland). Ihm zufolge gibt es mindestens drei Gründe für die Beständigkeit von Zäunen in Russland: „Erstens waren und sind sie Denkmäler für den nie vollends verwirklichten Traum von Privatheit. Zweitens dienen sie als Pseudolösung für die Probleme mit dem Eigentum – unzulängliche Legitimität und geringer Schutz. Drittens sind Zäune ein konkreter Ausdruck von gegenseitigem Misstrauen der Menschen. Zäune erfüllen überall auf der Welt denselben Zweck, aber bei uns hat sich die Notwendigkeit von Zäunen länger gehalten und ist offenbar stärker ausgeprägt als in anderen Gesellschaften.“
„Zu Sowjetzeiten hat in der Stadt eine andere Kultur dominiert, die mit dem kommunalen Leben und Treiben zusammenhing“, erklärt Alexej Krascheninnikow. Das sei vergleichbar gewesen mit der europäischen Tradition vom Leben in einer local community. Nähmen informelle städtische Gemeinschaften eine zentrale Rolle ein, begünstige dies kooperatives Verhalten unter den Menschen. Allerdings habe es in der Sowjetunion einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied gegeben: „In der westlichen Tradition waren die Bewohner auch Eigentümer. Sie waren in den Regierungsorganen vertreten und hatten ein Stimmrecht. Sie waren Bürger.“ Die Basis des Ganzen sei Selbstorganisation gewesen – in der Sowjetunion sei diese dagegen dagegen unterdrückt und de facto erstickt worden.
Der Zaun verdeckt die unansehnliche Wirklichkeit
Der russische Zaun hat noch eine weitere Funktion: Er verdeckt die unansehnliche Wirklichkeit.
2011 hat die Regierung von Uljanowsk im Zuge der Vorbereitungen auf den Besuch des damaligen Präsidenten Dimitri Medwedew einen Gartenverein mit einem zwei Meter hohen Sichtschutzzaun abgeschirmt. Allerdings vergaß man, eine Tür einzubauen. Den Eigentümern schlug man vor, sich zu gedulden, bis der Präsident wieder abgereist sei. Im selben Jahr empfing man Medwedew auch in Lytkarino mit einem Zaun. Dort hatte man ein dreistöckiges Haus, das einer Baracke ähnelte, auf diese Weise „dekoriert“. Auf solche Zäune sind auch Wladimir Putin und Sergej Sobjanin bei ihren Reisen gestoßen.
Ein aktuelleres Beispiel: Die Regierung von Samara beabsichtigt zur Fußballweltmeisterschaft dekorative Zäune von zwei bis zweieinhalb Meter Höhe entlang der Gästeroute zu errichten. Ausländer, die zur WM kommen, werden also mit allen Ehren empfangen – wie die führenden Politiker des Landes.
„Den meisten ist es recht so“, erklärt Sergej Medwedew. „Viele sehen die Dinge, wollen aber nichts anrühren, weil sich diese soziale Ordnung etabliert hat. Diese Ordnung infrage zu stellen, hieße das gesamte politische System infrage zu stellen.“
Der Historiker betont, dass jede Kultur, insbesondere aber die sowjetische und auch die russische, auf eine Begrenzung der Bewegung im Raum ausgerichtet sei. Die Entscheidung, was und wie zu begrenzen sei, werde im Endeffekt von einzelnen Personen getroffen, denen dieses Recht von der Regierung übertragen wurde. „Gerade verwirklichen sich alte, langfristige Modelle der russischen Geschichte, die leicht eingefroren waren“, erklärt Sergej Medwedew. „Das alles rührt von einem Halbkriegsstaat her, der auf sein Überleben bedacht ist. Gerade werden archaische Schichten der russischen Psyche wiederbelebt, und mit diesem russischen Archaismus drängt auch die Sache mit den Zäunen an die Oberfläche.“
Sozialdemokratisch, liberal und konservativ oder schlicht links und rechts – das sind vertraute Zuschreibungen für politische Akteure in (west)europäischen Staaten. Auf das aktuelle politische System in Russland lassen sie sich nicht einfach übertragen, schon gar nicht eins zu eins. Wie aber werden Parteien oder politische Persönlichkeiten stattdessen verortet, insbesondere die außerparlamentarische Opposition? In ihrer Kritik an Präsident Putin erscheint gerade sie auf den ersten Blick wie ein zusammenhängender Block. Was vielen nicht klar ist: Oft genug sind die verschiedenen Gruppen untereinander jedoch völlig zerstritten.
Woran genau scheiden sich die politischen Geister in Russland? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Politologe Wladimir Pastuchow auf republic. Dabei geht er von einer umstrittenen Diskussion aus, die kürzlich der bekannteste russische Oppositionspolitiker öffentlichkeitswirksam geführt hat: Alexej Nawalny. Weil der sich ausgerechnet den Ex-Separatistenführer Igor Strelkow an den Youtube-TV-Tisch holte, musste er massive Kritik einstecken. Aus den großen Streitfragen, die dabei aufkommen, strickt Pastuchow eine handliche Typologie russischer Sichtweisen auf die Politik.
Die Diskussion zwischen Nawalny und Strelkow ist ein außergewöhnliches Ereignis, was auch immer darüber geschrieben wurde. Mit Blick auf die vergangenen Jahre war es das eindrucksvollste öffentliche Aufeinanderprallen aller bedeutenden russischen Ideenwelten aus der neueren Geschichte des Landes – bislang hatten sich die Seiten lieber auf Ideenkarate ohne Körperkontakt verlegt.
Es sei jedoch angemerkt, dass ideologisch gesehen, nicht zwei, sondern drei Seiten an der Diskussion beteiligt waren: Im Studio war auch der Geist der russischen liberalen Opposition anwesend. Und damit ist nicht mal vordergründig der Moderator Michail Sygar gemeint, der mit am Tisch saß, sondern vielmehr der allgemeine mediale und politische Kontext, in den die Diskussion von Beginn an versunken war.
Die zentrale Frage nach der Staatsmacht
Die einzige zentrale, in Russland sowohl politisch als auch ökonomisch relevante, Frage war die nach der Staatsmacht. Darauf gaben die Teilnehmer eine ausführliche, wenn auch unbefriedigende Antwort. Zwar wird Nawalny oft vorgeworfen, ihm fehle ein Programm. Doch in Wirklichkeit hat er alles gesagt, was man über seine Ansichten als russischer Politiker wissen muss: Er hat sein Verhältnis zur Staatsmacht deutlich zum Ausdruck gebracht.
Eine politische Ideologie gibt es in Russland nicht und es kann auch keine geben, weil Russland nach wie vor eine vorpolitische Gesellschaft ist. Sie ist noch nicht an den Punkt gelangt, wo sich die Staatsgewalt vom Eigentum löst und ein „politisches Feld“ erschafft. Deswegen ist es völlig sinnlos, russische Politiker danach zu befragen, ob sie rechts oder links stehen. Die Matrix von rechts und links ist auf Russland überhaupt nicht anwendbar. Denn sie leitet sich aus dem Verhältnis zum Privateigentum ab, das es in Russland nach wie vor nicht gibt.
Die Grundlage des russischen Lebens bildete über viele Jahrhunderte das Herrschereigentum, das Erbe des [gnose-5269]Wotschina-Systems[/gnose]. Es stellt den Ursprung von Recht und Reichtum in Russland dar. In der gesamten russischen Politik dreht sich alles genau darum. Erklärt ein Politiker seine Haltung zur staatlichen Macht, hat er die Frage nach seinem Programm umfassend beantwortet – mehr brauchen wir nicht zu wissen, weder über ihn noch über das Programm.
Drei Sichtweisen zum Thema Staatsmacht: patriotisch, liberal, progressiv
Bei der Diskussion waren mehr oder weniger offenkundig alle drei traditionellen russischen Sichtweisen zu diesem heiklen Thema vertreten:
Die patriotische Haltung (auch die slawophile genannt), war repräsentiert durch Strelkow: Die Staatsgewalt ist a priori das Gute („Denn es ist keine staatliche Macht außer von Gott, und die bestehenden sind von Gott verordnet.“). Sie ist die unmittelbare und irrationale Verkörperung des gemeinschaftlichen Geistes und bedarf keiner weiteren Legitimation. Sie braucht weder Schutz noch Beschränkung durch äußere Kräfte, sondern muss immer und ausschließlich in ihrem eigenen Interesse handeln, das per se mit den Interessen der russischen Gesellschaft übereinstimmt. Wodurch die Demokratie in Russland nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich ist, denn sie könnte die natürliche Einheit zwischen Volk und Staatsmacht zerstören und zu einem Instrument in den Händen von Plutokraten sowie inneren und äußeren Feinden Russlands werden.
Die liberale Haltung (auch die westliche genannt), war repräsentiert durch das liberale Publikum, an das sich sowohl Nawalny als auch Strelkow wandte: Die Staatsgewalt ist a priori das Böse. Sie steht im Widerstreit mit der Gesellschaft. Ihre Interessen sind den Interessen der Gesellschaft entgegengesetzt, deswegen muss sie permanent kontrolliert und beschränkt werden. Sie muss dazu angehalten werden, im Interesse der Gesellschaft zu handeln, also entgegen ihren eigenen, egoistischen, „blutrünstigen“ Interessen. Aus dieser Perspektive ist die Entwicklung von demokratischen Institutionen überlebensnotwendig für Russland. Denn nur durch Demokratie lässt sich die Bestie im Zaum halten.
Die progressive Haltung (auch die revolutionär-demokratische genannt), repräsentiert durch Nawalny: Die Staatsgewalt ist an sich neutral. Alles hängt davon ab, in wessen Händen sie liegt. Liegt die Macht in „schlechten“ Händen, ist sie „reaktionär“ und muss bekämpft werden. Liegt sie in „guten“ Händen, ist sie „progressiv“ und verdient Unterstützung. Die Interessen einer reaktionären Staatsmacht widersprechen den Interessen der Gesellschaft, die Interessen einer guten Staatsmacht entsprechen denen der Gesellschaft. Deswegen ist die Demokratie in Russland in dem Ausmaß nützlich, in dem sie der Staatsmacht hilft, in guten Händen zu bleiben. Tut sie dies nicht, kann und sollte sie beschränkt werden (Zweckmäßigkeit vor formeller Rechtmäßigkeit).
Der vertikal organisierte Staat erscheint alternativlos
Sowohl aus historisch als auch aus streng inhaltlichen Gründen bilden die progressiven, revolutionär-demokratischen Ideen eine ganz eigene Symbiose aus Westlertum und Slawophilie. Die Progressiven erkennen die rationale Notwendigkeit an, die Staatsgewalt der Gesellschaft unterzuordnen, ihre Vorstellung von Staatsgewalt bleibt jedoch irrational.
In äußerst verkürzter Form lassen sich die drei herrschenden ideologischen Trends in Russland folgendermaßen zusammenfassen: Man muss der Staatsmacht dienen (Patrioten), man muss die Staatsgewalt bekämpfen (Liberale) und man muss die Staatsgewalt nutzen (Progressive). Auch wenn die Distanz zwischen diesen drei Positionen auf den ersten Blick enorm erscheint, liegen sie in Wirklichkeit gar nicht so weit auseinander. Denn sie gehen von derselben Grundlage aus: Die russischen Patrioten, die russischen Liberalen und die russischen Revolutionär-Demokraten (die Progressiven) erkennen allesamt die objektive Alternativlosigkeit, ja sogar Notwendigkeit eines streng zentralisierten, von oben nach unten organisierten, vertikal integrierten Staates für Russland an.
Der Leviathan als „guter Onkel“, die Gesellschaft als infantiler Teenager
Aus verschiedenen, sich nicht selten gegenseitig ausschließenden Gründen beten restlos alle – Patrioten, Liberale und revolutionäre Demokraten – den russischen Leviathan an. Ihre Einschätzungen, was den russischen Staat betrifft, gehen zwar auseinander, doch betrachten sie ihn alle als einen „sozialen Demiurgen“ und den einzig möglichen Ursprung aller Politik. Die Staatsmacht erscheint ihnen als eine Kraft, die sich von der Gesellschaft losgelöst hat und ein Eigenleben führt. So ein Blick auf die Staatsmacht geht meist mit dem Blick auf die Gesellschaft als einem infantilen Teenager einher.
Für die Patrioten mangelt es der russischen Gesellschaft zu sehr an Standhaftigkeit gegenüber dem schlechten Einfluss des Westens, als dass man ihr vertrauen könnte. Für die Liberalen hingegen ist die russische Gesellschaft zu archaisch und reaktionär, als dass man das Schicksal in ihre Hände legen könnte. Für die revolutionären Demokraten ist die Gesellschaft traditionsgemäß kein Subjekt, sondern Objekt der Geschichte. Insgesamt sind sich alle einig: Von der russischen Gesellschaft ist außer Wirren nichts zu erwarten. Die einen vertreten offen, die anderen unterschwellig die Annahme, sie brauche bis heute einen „guten Onkel“.
Liberale hoffen insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht
Formal stehen die Liberalen im Kampf gegen den Leviathan in der ersten Reihe. Sie der Liebe zu ihm zu bezichtigen, ist also ziemlich schwierig. Doch es gibt einen Lackmustest, der etwas erkennen lässt, worüber man unter Liberalen nicht laut spricht, zumindest nicht öffentlich. Der Indikator ist das Zustimmungs-Level für liberale Ideen in der russischen Gesellschaft – diese Zustimmung überstieg bisher noch nie die derzeitigen „14 Prozent“, die schon zum Mem geworden sind.
Die bittere Wahrheit für die Liberalen ist: Auf dem sogenannten demokratischen Weg können sie nicht an die Macht kommen. Bei wirklich demokratischen Wahlen in Russland wird ein Strelkow immer bessere Chancen haben als jeder liberale Kandidat. Wenn die Liberalen also von Demokratie und der freien Wahl des russischen Volkes sprechen, hoffen sie insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht und ihre Fähigkeit, ein Programm umzusetzen, das dem Großteil dieses Volkes fremd ist. Das ist kein Vorwurf, lediglich die Feststellung unangenehmer Fakten, die einen gewichtigen historischen und kulturellen Hintergrund haben.
Progressive haben eine Chance, an die Macht zu kommen
Gemessen an der liberalen Utopie erscheinen die bolschewistischen Ansprüche der Progressiven um Nawalny ehrlicher, oder zumindest praktikabler. Die erklärten Ziele der Liberalen sind genauso unerreichbar wie die der Progressiven, aber die Progressiven haben zumindest eine Chance, an die Macht zu kommen. Darüber, was sie dann mit dieser Macht tun wollen, sprechen sie vorsorglich nur in äußerst allgemeinen Formulierungen. Das ist zumindest ehrlich.
Es gibt verschiedene Arten von Autokratien – orthodoxe, kommunistische, antikommunistische, korrupte und sogar antikorrupte. Bei der Diskussion lieferte keine der Parteien eine Antwort auf die Frage, welche institutionellen (konstitutionellen) Reformen durchgeführt werden müssten, um Russland aus dieser festgefahrenen Spur zu reißen und die Möglichkeit einer weiteren „oligarchischen“ Regierung zu verhindern. Die Ironie des Schicksals liegt darin, dass es Chodorkowski ist, der versucht, eine Antwort zu liefern und so als Beispiel dafür dient, dass Revolutionen in der Regel von Verrätern ihrer Klasse gemacht werden.
Allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt seit Katharina der Großen unangetastet
Die Idee besteht darin, sich grundsätzlich vom streng zentralisierten Modell einer vertikal integrierten Staatsgewalt zu verabschieden sowie eine Reihe von formalen Beschränkungen einzuführen, die eine weitere Reproduktion dieses Modells in Russland unmöglich machen.
Es geht also um eine tiefgreifende politische Reform für Russland, die jene allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt zerstören soll, die praktisch seit den Zeiten von Katharina der Großen unangetastet geblieben ist. Diese Reform müsste mindestens drei Hauptkomponenten einschließen:
Ein unbedingter Machtwechsel. Mit Blick auf die historische Erfahrung und Russlands „übles politisches Erbe“ gilt es Maßnahmen zu ergreifen, damit niemand, und zwar unter keinen Umständen, langfristig oder gar auf unbegrenzte Zeit, Schlüsselpositionen in der Regierung bekleiden kann, einschließlich des Postens des Staatsoberhaupts. Dazu muss es in der russischen Verfassung und in den Verfassungsgesetzen eindeutige Formulierungen geben.
Eine tiefgreifende Dezentralisierung von Macht. Das ist der wichtigste und inhaltlich weitreichendste Punkt der politischen Reform. Er beinhaltet zwei Kernpunkte: den Übergang zu einer tatsächlichen Föderalisierung und den Ausbau der Selbstverwaltung, auch in den Metropolen.
Dabei wird vorausgesetzt, dass eine echte Föderalisierung kein mechanischer Prozess ist, bei dem „so viel Souveränität, wie ihr tragen könnt“ an die bereits bestehenden, halbfiktiven territorialen Gebilde übergeben wird. Es geht um eine tiefgreifende Umstrukturierung des gesamten Beziehungssystems zwischen der Staatsführung in Moskau und den Regionen, die auch die Bildung neuer Föderationssubjekte vorsieht.
Und schließlich einen Übergang zur parlamentarischen (oder auch parlamentarisch-präsidialen) Republik. Der Erhalt der bestehenden Regierungsform ist nicht zweckdienlich, sowohl wegen ihrer tiefen Verwurzelung in einer autokratischen Tradition als auch wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der angestrebten Organisationsstruktur der Beziehungen zwischen Moskau und den Regionen. Diese Struktur erfordert eine andere politische Repräsentationsform. In der neuen Konfiguration der Staatsmacht steht die Regierung in der Verantwortung vor dem Parlament, sie muss das zentrale Element beim Aufbau der Staatsmacht bilden.
Situation in Russland erinnert stark an ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren
Einerseits erinnert die Situation in Russland stark an die ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren und könnte durchaus genauso traurig enden. Andererseits gibt es einen wesentlichen Unterschied zum Anfang des 20. Jahrhunderts: Heute haben die Widersprüche zwischen den Liberalen und den revolutionären Demokraten keinen antagonistischen Charakter (auch wenn die Leidenschaften hochkochen). Und das bedeutet, dass ein Kompromiss und eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist.
Nawalny, der von allen Seiten der Kritik ausgesetzt ist – von rechts und links, von oben und unten – hat in Wirklichkeit noch nichts getan, das die Möglichkeit einer politischen Zusammenarbeit mit den Liberalen ausschließen würde. Das vom Kreml aufgedrängte und von einem Teil der liberalen Intellektuellen aus Konjunkturgründen aufgegriffene Klischee von Nawalny als einem „Faschisten“ entbehrt jeglicher politischer und ideologischer Grundlage.
Nawalny ist ein typischer Vertreter der russischen revolutionär-demokratischen Tradition. Er ist natürlich kein Bolschewist im herkömmlichen Sinne, aber ein enger Verwandter der Bolschewisten. Die Wurzeln seiner politischen Philosophie (und die gibt es, glauben Sie mir) gehen auf die Narodniki zurück. Das ist, wie die russische und die Weltgeschichte gezeigt haben, politisch zwar auch „kein Zucker“, hat aber nichts mit Faschismus zu tun.
Russische Politik ist wie ein Videospiel mit vielen Levels
Zudem wissen wir aus der historischen Erfahrung, dass die Weigerung der Liberalen, mit den revolutionären Demokraten zusammenzuarbeiten, den Faschisten den Weg zur Macht bereitet hat. Genau das geschah nämlich im Deutschland der 1930er Jahre, wo der Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Thälmann objektiv betrachtet Hitler in die Hände spielte.
Die aktuelle russische Politik erinnert an ein Videospiel: Es gibt viele Levels, aber das nächste Level erreicht man nur, wenn man die Aufgaben des vorherigen erfüllt hat. Für die Opposition gibt es nichts gefährlicheres als den Versuch, ein oder sogar zwei Level zu überspringen, indem sie beginnt, die Probleme der nächsten Stufe zu lösen, bevor die aktuellen gelöst sind.
Um das erste Level abzuschließen, müssen die liberalen und die revolutions-demokratischen Kräfte einen konstitutionellen Konsens bilden. Das ist die Conditio sine qua non für einen Sieg der Opposition und das Hauptmerkmal ihrer politischen Reife.
Im Gegensatz zu dem, was Lenin forderte, muss sich die heutige Opposition zunächst vereinen und später voneinander abgrenzen.