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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Einen großen Roman werde ich nicht mehr schreiben“

    „Einen großen Roman werde ich nicht mehr schreiben“

    Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen. Sie erhielt zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen für ihre Werke, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Als sie 2014 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wurde, charakterisierte der Literaturkritiker Karl-Markus Gauß in seiner Laudatio ihr Werk mit den Worten: „Im Geflecht der Familien und im Netz der Freundschaften zeigt Ljudmila Ulitzkaja, wie die große Geschichte aus lauter kleinen Geschichten gemacht wird.“

    Wie wichtig dieses Geflecht auch für die Privatperson Ljudmila Ulitzkaja ist, wird im Interview deutlich, das Katerina Gordejewa mit ihr führte. Sie sprachen über Persönliches, über starke Frauen, #metoo und darüber, warum der westliche Feminismus in Russland nicht verstanden wurde. Dabei zeigt sich, dass Ulitzkaja selbst geprägt ist von diesem Blickwinkel und ihr westliche feministische Positionen wenig vertraut sind. 
    So ist das Interview mit der 75-jährigen Ulitzkaja in der russisch-orthodoxen Pravmir eines, woran sich (nicht nur) westliche Leser durchaus reiben können.

    Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen / Foto © Jewgenija Dawydowa unter CC BY-SA 3.0
    Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen / Foto © Jewgenija Dawydowa unter CC BY-SA 3.0

    Katerina Gordejewa: Derzeit sehen wir täglich in den Nachrichten, dass sich Frauen zusammentun und Berge versetzen. Ein aktuelles Beispiel ist der Marsch der Mütter. 
    Bei diesem Marsch scheint mir besonders wichtig, dass sich die Frauen nicht wegen gemeinsamer politischer Ansichten zusammengeschlossen haben, sondern einfach, weil sie Frauen sind, Mütter. Die kann nichts aufhalten. 
    Das ist für Russland  eine völlig neue Kraft.

    Ljudmila Ulitzkaja: Oh, ja. Wie heißt es doch bei Pasternak: „Was könnte sich messen mit weiblicher Kraft? Sie ist unfassbar mutig!“ 
    Denkst du, diese weibliche Kraft ist in Russland schon erwacht? 

    Zumindest erwacht sie gerade. 

    Es lief in den letzten 100 Jahren darauf hinaus: Seit 1904 vergingen in Russland keine drei Jahre, ohne dass Männer getötet wurden. Seit dem Russisch-Japanischen Krieg gab es immer nur: Krieg und Repressionen, Repressionen und Krieg.

    Wegen diesem ständigen Schwund der besten, stärksten und klügsten Männer, die in Konflikten und Kriegen umkamen, hat es sich in den letzten 100 Jahren so ergeben, dass die Frauen in Russland einfach qualitativ hochwertiger sind, und außerdem sind sie auch in der Überzahl. Während die Männer in Kriegen und Lagern umkamen, mussten die Frauen sowohl die typischen weiblichen Aufgaben übernehmen als auch die Familie versorgen und beschützen, was für gewöhnlich die Aufgabe der Männer gewesen war. 

    Deswegen stießen westliche feministische Losungen bei uns erwartungsgemäß auf Unverständnis: Sie passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen. Die westlichen Feministinnen wollten, dass Frauen wie auch Männer arbeiten, dass sie am politischen, sozialen und beruflichen Leben teilnehmen. Während unsere Frauen, abgearbeitet von der Doppelbelastung, von jener Situation nur träumen konnten, gegen die man im Westen aufbegehrte. Wenn du von früh bis spät schuftest wie ein Gaul, sind die berühmten drei Ks – Kinder, Küche, Kirche – ein Traum: Zu Hause sitzen, Suppe kochen, mit den Kindern Hausaufgaben machen und zur Kirche gehen.

    Westliche feministische Losungen passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen

    Zum ersten Mal beobachtete ich dieses nahezu komische Unverständnis in den 1980ern, als amerikanische Feministinnen in die Sowjetunion kamen und davon sprachen, was sie beschäftigt, und unsere Frauen sie überhaupt nicht verstanden. Diese Feministinnen verlangten, Abtreibungen zu legalisieren (bei ihnen waren sie verboten) und forderten, dass eine Frau selbst frei entscheiden kann, wann sie ein Kind bekommt. Die russischen Frauen saßen nur da und nickten: „Ja, ganz genau, Abtreibungen sind furchtbar, es gibt überhaupt keine Betäubung, sie reißen es dir einfach so aus dem Leib.“ Man redete völlig aneinander vorbei. 

    Aber auch bei den Problemen gab es fast keine Überschneidungen: Die einen litten unter den einen Sachen, die anderen unter ganz anderen. Ich bin im Grunde überhaupt keine Anhängerin von feministischen Ideen, auch wenn ich vor ein paar Jahren den Simone de Beauvoir Prize bekommen habe.

    Der Anfang des 21. Jahrhunderts wird in die Geschichte eingehen als eine Zeit, in der nicht mehr nur einzelne, besonders fortschrittliche Frauen für ihre Rechte und Freiheiten eintreten. Frauen auf der ganzen Welt tun sich zusammen und protestieren gegen Dinge, die zuvor als selbstverständlich oder sogar als Errungenschaften der sexuellen Revolution galten. 

    Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm. Angefangen bei der Weinstein-Affäre, die gewissermaßen zum Auslöser für die ganze Kampagne wurde. 
    Weißt du, jemand, der mal beim Theater oder Film hinter den Kulissen war, weiß genau, dass die Regisseure und Produzenten sich die Weiber vom Leib halten müssen: Junge (oder nicht mehr junge) Schauspielerinnen sind so besessen davon, eine Rolle zu bekommen, dass sie vor nichts zurückschrecken und zu allem bereit sind. 

    Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm

    Ich kann dir wirklich nicht sagen, wer in der Überzahl ist: die männlichen Bösewichte, die die weibliche Schwäche und den Wunsch, Karriere zu machen, ausnutzen, oder die Frauen, die sich selbst, ihren Freundinnen oder ihren Konkurrentinnen die Kehle durchschneiden würden, nur um eine gute Rolle zu bekommen. 
    Ich habe ein bisschen am Theater gearbeitet und kenne die Zustände, deswegen finde ich diese ganze Geschichte lächerlich.  

    Aber die Aufmerksamkeit nimmt nicht ab.

    Mir scheint diese Kampagne vor allem gegen eine der mächtigsten Industrien des 20. Jahrhunderts gerichtet zu sein, die sicherlich vorhatte, auch im 21. Jahrhundert noch ordentlich mitzumischen: die Schönheitsindustrie. 
    Alles ist darauf ausgerichtet, dass die Frau mit jedem Jahr schöner und sexier wird. Die Mode ist vollständig auf dieses sexy Image ausgerichtet, das übrigens aus den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt. Weißt du eigentlich, was das Symbol dieser Bewegung war? 

    Was denn?

    Der Minirock.

    Hatten Sie auch einen? 

    Na, was denkst du denn? Klar. Sogar einen aus Leder, eigenhändig aus der Ledercouch kreiert: Ich riss den Lederbezug herunter und nähte mir einen Minirock daraus, den ersten in unserer Gegend. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass diese nackten Beine, die der Minirock zeigt, bis heute im Clinch mit jenen Beinen liegen, die von Vertretern eines anderen kulturellen Codes unter langen Kleidern oder weiten Hosen versteckt werden.

    Ich hatte einen Ledermini, geschneidert aus einer Ledercouch

    Ich denke, hier lohnt sich ein Blick darauf, wie sich diese ganze Gender-Geschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Wobei weltweit immer noch zwei Strategien dominieren.

    Welche sind das? 

    Die erste: Der kleine Finger, der aus schwarzen Kleidern hervorblickt. Er muss nur kurz aufblitzen – und schon ist der Mann der Besitzerin hoffnungslos verfallen und entscheidet sich für sie. 
    Die zweite Strategie kommt aus der Schönheitsindustrie: Die Frau soll immer noch attraktiver, sexuell aufreizender sein – denken wir nur daran, wie viel Geld, Kraft und Zeit Frauen in Kosmetik, Kleidung und Unterwäsche investieren. Als ich letztens einen BH für 1500 Euro gesehen habe, ist mir die Kinnlade runtergefallen. Bei dieser Strategie suggeriert die Frau, die sich durch Make-up und fehlende Kleidung maximal ausgestellt hat: Beachtet mich, und dann entscheide ich selbst, welchen von euch ich nehme.

    Da gibt es die albernsten Sachen, aber auch ein aktuelles, kulturanthropologisches Problem: Wie soll man heutzutage seine Kinder erziehen? Beispielsweise die Mädchen. Wonach sollen sie sich richten? Soll man ihnen rosa Kleidchen oder Jogginganzüge kaufen? Lackpumps oder Sportschuhe?

    Meine Enkelin Marianna hat von meiner Tochter immer nur mädchenhafte Kleidung bekommen, aber jetzt wo sie etwas älter ist und sich ihre Kleidung selbst aussucht, trägt sie nur geschlechtsneutrale Sachen: Jeans und Sportschuhe. Und auch wir tragen doch mittlerweile alle dieselben Kapuzenjacken, die sich höchstens dadurch unterscheiden, ob die Knöpfe rechts oder links sind. Ich bin da keine Ausnahme. 

    Sind Sie direkt vom Leder-Minirock auf Unisex-Garderobe umgestiegen?

    In meiner Jugend habe ich mir viel aus Kleidung gemacht, ich muss zugeben, ich war immer sehr extravagant angezogen. Meine Mutter geriet außer sich, wenn ich meinen Lederrock trug, dazu ein amerikanisches Militärhemd in Camouflage, das ich aus dem Second Hand-Laden hatte und mit einem Gürtel festzurrte, und 15 Zentimeter High Heels. Ich fand, ich sah sehr cool damit aus. Irgendwann hat das nachgelassen. Heute bin ich bei meiner Kleiderwahl viel gelassener, auch wenn nichts, was ich trage, zufällig ist. Aber natürlich gibt es Dinge, die ich nie anziehen würde.

    Was zum Beispiel?

    Ein Abendkleid. 

    Mein Mann sagte mal: ‚Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.‘

    Nicht einmal, wenn Sie den Nobelpreis bekämen?

    Nicht einmal dann. Mein Mann sagte mal: „Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.“ Dieser Satz hat mich ein für alle Mal von der Idee befreit, ich müsste etwas anziehen, das mir nicht gefällt, statt etwas Bequemes, worin ich mich wohlfühle. Das kleine Schwarze? Nie im Leben!

    Und abgesehen vom Kleid, haben Sie mal über den Nobelpreis nachgedacht?

    Diese Frage hat sich für mich erledigt.

    Warum?

    Weil da ein ganz bestimmter Mechanismus am Laufen ist: Dieses Jahr bekommt ihn ein Amerikaner, nächstes Jahr ein Chinese, danach wäre ein Schwarzer nicht schlecht, und danach die Frauen nicht vergessen, und dann geben wir ihn am besten mal einem Querschnittsgelähmten. 
    Die Idee der politkorrekten Gleichberechtigung, die einem bei der ganzen Geschichte entgegenschlägt, hat meine bescheidenen Chancen völlig zunichte gemacht: Eine russischsprachige Frau hat den Nobelpreis schon bekommen – Swetlana Alexijewitsch. Und ich habe ihr von ganzem Herzen dazu gratuliert.    

    Damit waren Sie aber eine der wenigen, die ihr von Herzen gratuliert haben.

    Klar! Ihr Preis hat mich von der ganzen Anspannung und Nervosität befreit. Es sickern ja immer Informationen durch, ich wusste, dass mein Name dort auf irgendwelchen Listen auftauchte. Endlich konnte ich aufatmen.

    Als Alexijewitsch den Preis bekam, sind die Schriftsteller in Russland aus allen Wolken gefallen und kurz darauf brach die Empörung los: „Wie kann das sein? Nabokov hat ihn nicht bekommen, und sie schon!“ Aber die Sache ist die: In den Statuten der Nobelpreis-Stiftung heißt es, der Preis soll „denen zugeteilt werden, die […] einen für die Menschheit großen Beitrag geleistet haben“. Bei dem Preis geht es also um humanistische Ideale und streng genommen nicht um Literatur. Im Gegensatz zu etwa dem britischen Man Booker Prize – da geht es um Literatur. Die Booker-Nominierungen folgen ausschließlich literarischen Kriterien. Obwohl es auch da Nuancen gibt: Es ist viel wichtiger auf die Short List zu gelangen, als den Preis zu bekommen.

    Warum?

    Weil die Short List dort, wie bei vielen Preisen, eine ziemlich unabhängige Angelegenheit ist: Experten, die nichts miteinander zu tun haben, sprechen Empfehlungen aus. Aber sobald es um den ersten Preis geht, beginnen die Intrigen. Das ist in England nicht anders als bei uns. Dass ich dreimal auf der Short List des russischen Booker war, zählt für mich viel mehr, als dass ich ihn einmal bekommen habe.

    Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten durchsehe, wundere ich mich, wie Sie es schaffen, überall gleichzeitig zu sein. Wozu machen Sie das?

    Wirklich? Ich habe eher den Eindruck, ständig hinterherzuhinken. Aber letzten Endes läuft alles eigentlich darauf hinaus, dass jeder von uns eine Aufgabe im Leben hat. Manchmal verlieren wir aus dem Blick, worin sie besteht. Meistens reagieren wir aber einfach, bevor wir überhaupt verstanden haben, worin unsere Herausforderung besteht. Ich für meinen Teil weiß ganz genau, dass ich meine großen Bücher schon geschrieben habe.

    Heißt das etwa, das war’s?

    Einen großen Roman werde ich nicht mehr stemmen. Ich habe ihn mir schon ausgedacht, er hängt irgendwo in der Luft, aber schreiben wird ihn jemand anders.

    Warum? Sind Sie müde? Haben Sie keine Lust mehr?

    Ich habe Angst, Katja. Ich bin 75, mir bleibt objektiv betrachtet wenig Zeit. Da liegt nicht mehr die Hälfte meines Lebens vor mir, und auch kein Drittel, sondern nur noch ein kleines Stück. Deswegen setze ich mir lieber kleine Ziele, und die erreiche ich auch.

    Was zum Beispiel?

    Ich habe ein paar Erzählungen geschrieben, darüber bin ich sehr froh, denn ich dachte, das wäre vorbei, aber plötzlich kam es wieder. Das macht mich sehr glücklich. Meine Arbeit interessiert mich immer noch, und ich mache sie gern. Aber ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst, du denkst sogar im Schlaf daran. Und wenn du dich mit jemandem über ganz andere Dinge unterhältst, denkst du trotzdem daran. Er verschlingt dich voll und ganz. Anders kann ich nicht arbeiten.

    Ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst

    Andere können es. Boris Akunin zum Beispiel, letztens gab er bei einem Interview auf die Frage, wie er arbeite, die geniale Antwort: Morgens zwei Stunden. Das glaube ich ihm natürlich nicht: es ist unmöglich, in zwei Stunden so viel zu produzieren. 

    Sie nutzen ihre Lebenszeit aber letztendlich nicht für diese Arbeit, sondern um zu Dmitrijews Gerichtsverhandlung nach Petrosawodsk zu fahren oder mit einem Plakat für Senzow auf der Straße zu stehen. 

    Die Mahnwache dauerte ganze 15 Minuten. Und ich musste es tun. Denn so stark das Gefühl der Ohnmacht auch ist, nichts zu machen, ist noch schlimmer. Deswegen musste ich mich einmischen. Das war nichts Besonderes: ich brauche 10 Minuten zur Station Puschkinskaja, ich bin hin und habe dort 15 bis 20 Minuten gestanden, und es hat überhaupt nichts bewirkt. Es ist sogar bemerkenswert, wie wenig die Passanten uns beachtet haben: ein Grüppchen alter Irrer.

    Es waren nur „Ihre Leute“ da. Wie kommt das? Ist Ihre Generation stärker? Auch im moralischen Sinne?

    Ach nein, Unsinn.

    Aber es gibt doch Unterschiede?

    Ja, natürlich. Der wesentliche ist wohl, dass man in unserer Generation ohne einander gar nicht überleben konnte. So war das Leben damals. Wenn du zum Arzt gehen wolltest, musstest du eine Freundin bitten, auf das Kind aufzupassen. Wenn du ein Ticket nach Leningrad brauchtest, musstest du die Cousine einer Bekannten anrufen, damit sie es dir kauft. 

    Früher war man stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art

    Der Alltag war ungemein hart: Ich ging immer in den Keller einer Fleischerei, wo ich den Metzger kannte, und kaufte gleich sechs Stück Fleisch – für Nadja, Natascha, Tanja, Diana, Ira – weil ich ja nicht jeden Tag dort hinging und weil es verflucht selten überhaupt etwas zu kaufen gab. Diese sechs Stück schleppte ich heim, und dann ging es ans Teilen. Es ging viel sozialer zu als heute. Und man war stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art.

    Ist das gut oder schlecht?

    Weder noch, es ist einfach ein Merkmal. Heute ist es anders. Bei euch ist es eine individuelle Entscheidung, mit wem ihr zu tun habt. Der Alltag zwingt euch zu nichts: Man kann einen Babysitter rufen, sich das Fleisch nach Hause liefern lassen, einen Handwerker kommen lassen, um den Kühlschrank zu reparieren oder sonst noch was. Aber ich will meine gewohnte Welt der sozialen Bindungen nicht verlassen. Sie schafft nämlich eine enorme Lebensqualität: Ich fühle mich sicher hinter einer Chinesischen Mauer von Freunden.

    Aber wir haben doch das gesamte 21. Jahrhundert dafür gekämpft, dass man ohne Vetternwirtschaft Tickets bekommen, Lebensmittel kaufen oder sich medizinisch behandeln lassen kann? 

    Das ist keine Vetternwirtschaft, meine Liebe. Das läuft alles über Empathie. Daran ist überhaupt nichts falsch. Wenn ein Mensch keinen Krankenwagen rufen kann, wenn niemand kommt, um ihm zu helfen, ihn zu retten oder zu behandeln – das ist falsch. Aber wenn ich meine Bekannten Petja, Jura oder Natascha anrufe und sage: „Natascha, es geht mir beschissen. Was denkst du, schaff ich das oder soll ich einen Arzt rufen?“ – dann ist das ein großes Glück.

    Warum?

    Ganz einfach, weil du dankbar bist und diese Dankbarkeit auch von anderen spürst, wenn du etwas für sie tust. Es ist ungemein wichtig, sich auf positive Weise in die Gesellschaft eingebunden zu fühlen. 

    Dann müssen Ihnen all die Ideen des „verschönerten“ modernen Moskaus, wo alles effizient ist und automatisch läuft, sehr zuwider sein?

    Das stimmt, sie gefallen mir nicht. Ich denke, all diese Verschönerungen sind in Wirklichkeit nur geschmacklose Deko. 

    Wirklich alle?

    Ja, mein Auge protestiert, wobei ich mir dann selbst sage: „Halt! Beruhig dich, die Stadt braucht das: diesen Raum zum Spazieren, diese glatten glänzenden Bürgersteige, alles sieht viel ordentlicher aus als vor fünfzig Jahren.“ 

    Eine große Rolle spielt dabei sicher das, was man in der Biologie Prägung nennt: Die ersten Bilder, die ersten Gerüche, die ersten Wahrnehmungen, Anordnungen – all die Dinge, die für immer in uns bleiben und unser Leben lang bestimmen, was uns gefällt und was nicht. 

    Eine Stadt lebt und altert mit ihrer Geschichte. Eine alte, alternde Stadt ist organisch. Das heutige Moskau beachtet sein Erbe überhaupt nicht. Auf meinem ganzen Weg hierher zu unserem Treffen habe ich nichts gesehen, was gleichgeblieben wäre, außer dem Feinkostladen Jelissejew, ich glaube dort haben sie sogar noch dieselben Lampen. Der Rest verjüngt und erneuert sich ständig, hat Angst auch nur eine Sekunde stillzustehen. Jagt der schwindenden Jugend hinterher. 

    Gibt es an diesem Moskau auch etwas, das Ihnen gefällt? 

    Ja, hier und da gibt es hübsche Springbrunnen. Und es gibt mehr Licht. Aber wenn ich auf den Dritten Ring komme, habe ich den Eindruck im Nirgendwo zu sein. Ich verstehe nicht, was es für eine Stadt ist, wo sie sich befindet, auf welchem Kontinent, an welchem Punkt der Erde – so durchschnittlich ist dieser Ort. 
    Moskaus Stadtbild war tatsächlich immer sehr bescheiden, aber nun hat es sich nicht auf natürliche Weise verändert, sondern nach den Ideen von Architekten und Städtebauern. Das gefällt mir nicht, aber ich gebe zu: Es ist bequemer geworden. Ich habe mein Auto verkauft und fahre nur noch Metro, denn nur damit kann ich meine Fahrzeiten in dieser Stadt noch richtig kalkulieren.

    […]

    Für gewöhnlich ärgern sich Menschen in Ihrem Alter über Veränderungen.

    Nein, ich finde das oft cool. Ich ärgere mich nur über mich selbst, wenn ich nicht hinterherkomme, ich versuche immer dranzubleiben: Ich arbeite mit Computern, seit es sie gibt. Aber mein Enkel ist natürlich schneller.

    Denken Sie oft an den Moment, als Sie erfahren haben, dass Sie Krebs haben und fortan mit der Krankheit leben oder sogar an ihr sterben müssen?

    Nein. Das war zu erwarten, ich komme aus einer Familie mit Krebs und habe mich hin und wieder untersuchen lassen, weil ich wusste, dass es irgendwann so kommen würde. Ich habe mich nur geärgert, als sich herausstellte, dass die Ärztin, zu der ich gegangen war, meinen Krebs übersehen hatte: 
    Als ich mit der Therapie anfing, war der Krebs schon im Stadium III. Nach der OP sagte man mir: „Mensch, so einen großen Tumor haben wir noch nie gesehen“ oder „lange nicht gesehen“, ich weiß es nicht mehr genau.

    Hatten Sie Angst?

    Nein, überhaupt nicht. Ich war besorgt. Mein Leben ist geprägt von einem Gefühl der Dankbarkeit. Und das hat sich nur verstärkt, nachdem das an mir vorübergegangen ist, meine Krankheit hätte ja auch anders ausgehen können.

    Wie hat die Krankheit Sie verändert? Viele Menschen finden während einer schweren Krankheit Zuflucht im Glauben.

    Bei mir war es genau andersherum. Natürlich bin ich dem Schicksal und den höheren Mächten dankbar, dass ich dieses Geschenk – noch ein paar Jahre nach dem Krebs – bekommen habe. Aber in diesen Jahren bin ich vollkommen in Daniel Stein, also Oswald Rufeisen, aufgegangen. Die Bekanntschaft und der Austausch mit ihm haben mich und mein Verhältnis zum Glauben in eine tiefe Krise gestürzt.

    Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr

    In welcher Hinsicht?

    Er hat mir gesagt: Wir wissen nicht einmal wirklich, was Elektrizität ist, woher sollen wir wissen, wie Gott beschaffen ist? Mit diesem Satz hat er mich aus der furchtbaren Sklaverei befreit etwas zu tun, was ich selbst nicht vollständig verstehe. Ich entfernte mich allmählich von der Kirche und näherte mich Daniels Idee an, die im Wesentlichen eine apostolische Idee ist: die Tat. Ich versuche durch Taten zu leben … Dafür brauche ich keine Kirche. 

    Haben Sie denn keine Angst? Man sagt ja: In einem abstürzenden Flugzeug gibt es keine Atheisten.

    Ich bin keine Atheistin, Katja. Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr. 
    Aber je näher der Tod rückt, desto weniger interessiere ich mich für Religion.

    Wofür interessieren Sie sich dann?

    Für das Heute, für diese Minute. Mittlerweile lebe ich viel mehr im Hier und Jetzt als noch vor einigen Jahren. Mein Leben hat an Effektivität gewonnen. Mir ist es mittlerweile sehr wichtig, das, was ich gerade tue, gut zu machen. Damit meine ich nicht die literarische Arbeit. Wahrscheinlich bin ich heute ein viel glücklicherer Mensch, als ich es je in meinem Leben gewesen bin. Und ich bin mir bewusst, dass sich das jeden Moment ändern kann.

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  • Dmitry Markov: Лето – Sommer

    Dmitry Markov: Лето – Sommer

    Dmitry Markov, geboren 1982 in der Oblast Moskau, nahm in der russischen Fotoszene einen besonderen Platz ein. Als Dokumentarfotograf war er kein Beobachter von außen, vielmehr nahm er am Geschehen seiner Bilder und am Leben seiner Protagonisten aktiv und leidenschaftlich teil.

    Mitte der 2000er Jahre wechselte Markov aus der Journalistik in den Bereich Sozialarbeit. Sein fotografisches Thema waren Menschen in der russischen Provinz und das grausame Leben, dessen Abbildungen auf Russisch oft als tschernucha (dt. in etwa Schwarzmalerei) bezeichnet werden. Für Markov waren es aber in erster Linie Menschen, die als Menschen respektiert werden müssen.

    Bekannt wurde Markov vornehmlich durch das Internet. Als visuelle Notizen für Sozialarbeit öffnete er ein Instagram-Account, dem 2024 über 880.000 Menschen folgen. Für seine Fotos wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem als erster russischer Fotograf mit dem Getty Images Instagram Grant (2015).

    Am 16. Februar 2024 ist Markov im Alter von 41 Jahren gestorben. dekoder veröffentlicht einige Aufnahmen aus seiner umfangreichen Serie vom Sommer 2018 und lässt den Fotografen in einem Interview mit The Village selber zu Wort kommen.

    (aktualisiert am 23. Februar 2024)

    „Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht“ - Fotos © Dmitry Markov
    „Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht“ – Fotos © Dmitry Markov

    The Village: Warum fotografieren Sie mit dem iPhone und nicht mit einer guten Kamera?
    Dmitry Markov: Alle wollen da immer einen Grund für finden. Warum soll ich denn bitteschön nicht mit meinem Telefon fotografieren? Es ist bequem für mich, mit dem iPhone mache ich meistens die Aufnahmen, die ich später bei Instagram hochlade. Am beliebtesten sind die Fotos, die mir persönlich ziemlich banal erscheinen. Es gibt eine Reihe recht abgedroschener Motive, die man endlos reproduzieren kann und sie bewegen die Menschen trotzdem, wenn sie sich mit Fotografie nicht besonders auskennen. Aber ich finde es langweilig, weil ich dieses Motiv schon tausendmal gesehen habe. Das, was mich interessiert, findet manchmal überhaupt keine Resonanz. Die Jungs, die Saltos von Garagen machen, sind so ein typisches, abgenutztes Motiv, das es schon tausendfach gibt. Da finde ich zum Beispiel ein Foto, das den Blick eines Jungen vor einem Häuserblock einfängt, viel interessanter.

    Bei Ihren Protagonisten handelt es sich oft um Arme, Minderjährige, Betrunkene. Denken Sie, dass ein Fotograf das Recht hat, fremdes Leben dem Blick der Öffentlichkeit preiszugeben? Ist es ethisch vertretbar, Straßenfotografie im Netz hochzuladen? 
    Einmal war ich in Pskow in einem Sammeltaxi unterwegs, ein Fahrgast war auf Drogen und völlig fertig. Als er abgeführt wurde, habe ich reflexartig ein Bild gemacht, dieses Foto habe ich selbstverständlich nirgendwo veröffentlicht. Der Mann war nicht gerade in einem ansehnlichen Zustand und man konnte sein Gesicht erkennen. Wenn ich einfach nur Menschen auf der Straße fotografiere, gehe ich von meinen eigenen Moralvorstellungen aus: Bilder, die mir unangemessen erscheinen, veröffentliche ich nicht. Wenn ich ein Foto von einem Betrunkenen hochlade, bin ich nicht weniger betrunken als er und wir sind Freunde. Ich weiß ja: Das ist mein Kumpel Wassja und später wird er das Bild, wo man ihn mit der Schnauze auf die Haube eines Polizeiwagens drückt, als sein Profilbild übernehmen. Petja dagegen mag solche Bilder nicht, wir sind einfach Freunde, verbringen Zeit zusammen, aber Aufnahmen von einem betrunkenen Petja kommen nicht ins Netz.

    Sergej Maximischin nannte Russland einmal das am wenigsten fotografierte Land der Welt. Sehen Sie das auch so?
    Ja, genauso ist es. Klar, ich war auch in Nord- und Südamerika, aber da habe ich nichts fotografiert. Wozu soll ich schon in New York fotografieren? Da gibt es genug Leute, die das übernehmen können. Aber wenn ich durch Russland fahre, scheint mir jede weitere Aufnahme wie ein Puzzleteil für mein großes Gemälde.

    Sie sind es sicher gewohnt, dass Ihre Bilder hart kritisiert werden. Mit Ihren Augen betrachtet erscheint Pskow als eine äußerst trostlose Stadt.
    Ich denke, die Menschen sollten ihre eigenen Augen benutzen, finden Sie nicht? Die Dinge auf ihre Weise ansehen. Ich fotografiere das, was mich interessiert. Es heißt nicht umsonst, Schönheit liege im Auge des Betrachters. Wenn ein Mensch nur das Objekt meines Fotos sieht, beispielsweise einen Invaliden oder einen betrunkenen Soldaten, und nichts als negative Assoziationen hat – was soll ich dem schon sagen? Das Einzige, was mich stört, ist, wenn meine Follower meine Protagonisten durch den Dreck ziehen. Diese Fallschirmjäger sind, egal wie sie gerade aussehen, nach wie vor die Verteidiger unseres Vaterlandes.

    Und haben das Recht, sich manchmal gehen zu lassen?
    Genau. Auch ich bin alles andere als perfekt in dieser Hinsicht. Und der Mensch, der diese beleidigenden Kommentare schreibt, war sicher auch schon mal in so einer Situation. Und auch Obdachlose sind Bürger unseres Landes wie alle anderen. Wenn jemand schreibt: „Mit diesen Fotos entstellen Sie das Bild Russlands“, frage ich mich: Welches verf*** Bild? Ich habe mir diese Menschen nicht ausgedacht, sie nicht verkleidet oder irgendwo ausgegraben. Sie interessieren mich, so wie Giljarowski die Leute in den Obdachlosenheimen der Chitrowka interessiert haben. Wenn das jemandem unangenehm ist, was ich gar nicht ausschließe, zwingt ihn ja niemand, sich meine Bilder anzusehen, sich zu quälen und diesen Kaktus trotzdem zu fressen. Außerdem gibt es wesentlich mehr Menschen, die mit dem, wie ich die Dinge sehe, etwas anfangen können.

    Früher haben Sie als Journalist bei Argumenty i Fakty gearbeitet. Wie sind Sie zur Fotografie und karitativen Arbeit gekommen?
    Ich wurde mal in ein Kinderheim eingeladen, um ein paar Fotos zu machen. Ich fuhr einmal hin, dann noch ein paar Mal, und bin dabei geblieben. Das war 2005, der Freiwilligendienst in Russland war erst im Entstehen. 2007 kam ich in ein Heim in der Oblast Pskow, dort suchte man Freiwillige für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern. Ich meldete mich für die Gruppe der Ältesten. Kleine Kinder zu fotografieren ist ziemlich einfach, sie sind viel offener, aber mit Jugendlichen ist es schwierig, ich habe die Herausforderung gesucht. Einen Monat habe ich in dem Heim gearbeitet und bin dann noch lange dort geblieben.

    Diese Arbeit wird nicht besonders gut bezahlt. Hatte das keinen Einfluss auf Ihre Entscheidung?   
    Nein. Damals hatte mich das Leben dort so gepackt. Da war etwas, das ich im Journalismus lange vermisst hatte: Ich konnte mich eingehend mit einem Thema beschäftigen. Zunächst war ich freiwilliger Helfer in einem Kinderheim, danach habe ich mit den Jugendlichen, die aus dem Kinderheim herauskamen, gearbeitet. Als eine Einrichtung für diese Jugendlichen eröffnet wurde, habe ich dort als Erziehungshelfer gearbeitet. Ich fing an, viele soziale Fragen besser zu verstehen als der Durchschnittsbürger.

    Es heißt oft, die Sozialfotografie sei eine Art Spekulation, man fotografiere Motive, bei denen man davon ausgeht, dass sie den Leuten ans Herz gehen.
    Das sehe ich auch so. Mein Lehrer Alexander Lapin hat meine Fotografien aus dem ersten Jahr überhaupt nicht ernst genommen. Erst als ich aufs Dorf zog und mich mit dem Leben der Waisen und benachteiligten, in Obhut genommenen Kinder wirklich vertraut gemacht hatte, nahm er mir ab, dass ich das Thema nicht einfach ausbeute, sondern es mich wirklich beschäftigt. Wahrscheinlich ist es nicht sehr nett, das zu sagen, aber ich habe ein moralisches Recht, diese Kinder und Jugendlichen zu fotografieren, mit denen ich mehrere Jahre zusammengelebt habe. Es gibt viele andere und einfachere Möglichkeiten, sich einen Namen zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass es auf Instagram solche Wellen schlagen würde. Während meiner Arbeit im Internat und beim Fonds fotografierte ich mit einer einfachen Kamera, aber irgendwann kam ich in eine Sackgasse. Entweder war das Thema erschöpft oder meine Ideen. Ein Jahr lang habe ich die Kamera nicht angerührt. Instagram hatte ich mir nur zum Spaß zugelegt, einfach um an der Fotografie dranzubleiben. 


    Fotos: Dmitry Markow
    Bildauswahl: Olga Osipova / Bird in Flight
    Interview: Aljona Kork / The Village (27. Oktober 2017, gekürzt)
    Übersetzung: Maria Rajer
    Veröffentlicht am 09.10.2018

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  • Was ist Krieg?

    Was ist Krieg?

    Ein schönes Format in Russlands Medienlandschaft sind „Vorlesungen“: Ein Journalist oder Wissenschaftler erzählt über ein bestimmtes Thema. Ausführlich. Zunächst live, ein Auszug wird dann danach veröffentlicht. Auf Inliberty hat der bekannte Journalist und Kulturkritiker Juri Saprykin nun eine ganze Vorlesungsreihe bestritten zu den großen Themen des Lebens, und zwar aus russisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive: Liebe, Krieg und Freiheit – und andere russische Fragen.

    In einer der ersten Vorlesungen beschäftigt er sich mit Krieg: Wie kann Krieg einen Wert darstellen? Und was soll das besondere russische Verständnis von Krieg sein? 

    In der Liste der „wichtigsten russischen Fragen“ wirft das Wort Krieg die meisten – entschuldigen Sie die Tautologie – Fragen auf. Wie kann Krieg bitteschön einen Wert darstellen? Wir sind doch friedliche Menschen. Und inwiefern soll sich das russische Verständnis von Krieg von anderen unterscheiden? 

    Es stimmt zwar, dass die Ursprünge der russischen Literatur in Kriegsepen liegen (wie übrigens jeder Literatur). Die ältesten uns überlieferten weltlichen Werke sind das Igorlied, das Epos von der Schlacht am Don oder die Sage von der großen Schlacht gegen Mamai. Sie bestehen nahezu komplett aus Beschreibungen von Kriegshandlungen. Sie sind die Grundpfeiler unserer Kultur, ob wir wollen oder nicht. Aber damit sind wir keineswegs allein.   

    Seit den vergangenen Jahrzehnten gibt es neben diesen Grundpfeilern, die schon fast in den Tiefen der Geschichte versunken und unsichtbar sind, eine weitere tragende Säule: den Großen Vaterländischen Krieg. Die Rolle, die er für die aktuelle Staatsideologie, die nationale Identität, die Erinnerungskultur oder das kollektive Bewusstsein spielt – nennen Sie es, wie Sie wollen – ist einzigartig. 

    Wenn wir heute das Wort „Krieg“ sagen, sagen wir das ganz allgemein, aber fast augenblicklich wird es zu einem konkreten Krieg, mit Großbuchstaben: „Krieg“ ist immer der „Große Vaterländische Krieg“, der Zweite Weltkrieg, das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts, an dem das zeitgenössische Russland ansetzt und worin es nicht nur seine Bestimmung und Legitimation sieht, sondern auch das grundlegende Existenzmodell. 

    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Großen Vaterländischen Krieg / Foto © Skaramanga_1972/lievejournal
    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Großen Vaterländischen Krieg / Foto © Skaramanga_1972/lievejournal

    Dieser Krieg gibt eine Matrix vor, in deren Sprache sich alles Alltägliche leicht übersetzen lässt – ob lokale bewaffnete Konflikte oder internationale politische Ereignisse, bis hin zu den absurdesten Fällen, wenn das Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft zur Fortsetzung der Schlacht bei Stalingrad wird oder das Spiel gegen Kroatien zum Kampf gegen die Ustascha, stets wie aus der Maschinenpistole aufgeladen mit der Beschwörungsformel „Wir können das wiederholen“. 

    Der Krieg des 19. Jahrhunderts

    Aber dieses Verständnis von Krieg ist nicht das einzig mögliche. Es war einmal anders, wie auch Krieg selbst anders war. Bei dem oft zitierten Satz „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist der klassische Krieg vom Typ des 19. Jahrhunderts gemeint. Dabei wird ein Streit weitergeführt, den Diplomaten nicht lösen konnten, es wird neues Gleichgewicht hergestellt und es werden, im Falle von Kolonialisierung, Einflusssphären erweitert und gleichzeitig zivilisatorische Missionen ihrer Vertreter erfüllt. So ein Krieg ist ein Spezialfall mit eigenen Regeln und Gesetzen.

    Die Sichtweise auf den Krieg liegt im Auge des Betrachters. Nehmen wir zum Beispiel den Kaukasuskrieg. In der Regel sind solche Texte aus der Perspektive eines adeligen Offiziers geschrieben, der den Krieg als romantisches Abenteuer erlebt. Für ihn ist der Krieg die Möglichkeit, seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen und zu Ruhm und Ehre zu kommen. Im Blick des Offiziers stehen in erster Linie edle Gefühle, starke Leidenschaften, große Taten oder exotische Bräuche und Sitten anderer Völker, auf die er stößt. Das ist eine erstaunliche und verblüffende Welt, die den Menschen die Chance bietet, sich von ihrer besten Seite zu zeigen.

    Dabei entgeht dem Blick des adligen Offiziers natürlich nicht, dass er nicht der einzige ist in diesem Krieg, dass es auch Menschen gibt, für die er weder eine Reise noch ein Abenteuer darstellt. Das sind die vielzähligen Maxim Maximytschs, die Hauptakteure dieses Krieges. Die sind nicht so begeistert und nicht so romantisch gestimmt. Für die ist es vor allem hartverdientes Brot, wie die Arbeit in der Landwirtschaft. 

    Kaukasuskrieg: Treffen auf die absolute Andersheit

    In diesem Krieg gibt es weitere Akteure: die Bergvölker, mit denen man kämpfen muss und die es zu zivilisieren gilt. Sie haben kein Recht auf eine eigene Stimme, wie wahrscheinlich in jeder Art von Kolonialliteratur. Ihre Sitten, Bräuche und Gewohnheiten können beschrieben, ihr Mut bewundert und ihr Äußeres bestaunt werden, aber bis auf Hadschi Murat wird keinem Kaukasier bis Ende des 19. Jahrhunderts das Wort gegeben. 

    Der Vaterländische Krieg erscheint als nationale Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus / „Die Schlacht bei Borodino“, Louis Lejeune, 1822
    Der Vaterländische Krieg erscheint als nationale Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus / „Die Schlacht bei Borodino“, Louis Lejeune, 1822

    Es ist klar, dass es in jedem Kriegsbericht Leerstellen geben muss, Gruppen, die schweigen, und Schichten, die in diesem historischen Drama im Hintergrund bleiben, während nur den Siegern die Autorität zugesprochen wird, über den Krieg zu sprechen. In der Literatur wird der Kaukasuskrieg zu einem „Treffen auf die absolute Andersheit“, auf einen Menschen, der nach grundlegend anderen, nicht nachvollziehbaren und zuweilen faszinierenden, zuweilen erschreckenden Regeln lebt.      

    Der erste große Prosatext zum Vaterländischen Krieg von 1812 wird erst 1830 veröffentlicht. Es ist Michail Sagoskins Werk Roslawlew oder die Russen im Jahre 1812. Darin zeigt sich das Verständnis vom Krieg als einer Angelegenheit des Volkes mit oberster Priorität, die uns gewöhnlich und natürlich scheint. Im Namen des Krieges vereinen sich alle Stände und vergessen alle Unterschiede, vorübergehend wird die komplexe russische Gesellschaftsstruktur einfach und homogen. Alle verschmelzen zu einer stählernen Faust im Schlag gegen den Feind. Mit diesem neu aufkommenden Verständnis von Krieg als nationaler Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus um das heilige Zarenreich, rutscht Russland in den Krimkrieg, der sich als bittere Enttäuschung entpuppt.    

    Lew Tolstoi: Krieg als universelle Erfahrung

    Neben einigen politischen Folgen führt die Erfahrung dieser Niederlage zu einer völlig neuen Auffassung von Krieg, die Lew Tolstoi aus den Batterien von Sewastopol mitbringt. Sein Blick ist nicht mehr der romantische Blick eines Offiziers, der nach Abenteuern sucht, es ist der Blick eines Kriegsteilnehmers, eines Menschen als solchem. 

    Tolstoi berichtet über den Krieg aus der Sicht eines Teilnehmers und macht deutlich, dass diese Erfahrung universell ist. Es gibt keine Offiziere oder einfache Soldaten, Feldherren oder gewöhnliche Menschen, die unbemerkt im Hintergrund vorbeiziehen. Es gibt nur den Menschen, und jeder Mensch, auf den ein Geschütz zufliegt, hat in diesem Moment mehr oder weniger dieselben Empfindungen. Und das sind Empfindungen, die kein Mensch durchmachen sollte. Krieg widerspricht der menschlichen Natur völlig , es ist etwas Unerträgliches, das es nicht geben darf. 

    Wie so oft, nimmt Tolstoi auch hier eine radikal neue Position ein, die vorherrschende Auffassungen vehement ablehnt, da diese versuchen, den Krieg in edle weiße Gewänder zu hüllen und ihn zu rechtfertigen mit der Verteidigung nationaler Interessen, Anlass seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen oder der Möglichkeit Russlands Territorium zu vergrößern. 

    Laut Tolstoi redet man sich damit den Krieg schön, während in Wirklichkeit der einzelne Mensch mit aufgeschlitztem Bauch auf dem Schlachtfeld liegt und ihm weniger als eine Sekunde zu leben bleibt. Und das ist das einzige, was zählt.

    Jede Rechtfertigung oder Rationalisierung des Krieges ist Betrug, eine Illusion, die entlarvt werden muss. In Wirklichkeit sind die Gründe für einen Krieg eher profaner, pragmatischer Art. Für Fürst Schtscherbazki in Anna Karenina ist der Krieg – während er sieht, wie sich die Bevölkerung in einen patriotischen Taumel hineinsteigert – nichts weiter als eine fixe Idee des Adels. Sein äußerst treffender Satz ließe sich als Kommentar so manchem Sofaexperten entgegnen: „Sie meinen, ein Krieg sei notwendig? Wunderbar. Wer den Krieg predigt, kommt in eine besondere, vorgeschobene Legion, und dann – auf zum Sturm, zur Attacke, allen voran!“ Meistens verteidigen diejenigen die Kriege, die letzten Endes für ihre Worte nicht geradestehen müssen. Wenn es deine tägliche, schwere Arbeit ist, wirst du wohl kaum viele Worte darüber verlieren, außer ganz schlichte, vulgäre.

    Das Schlachtfeld als Chaos

    Tolstois Darstellung steht im Widerspruch zu der damals etablierten Tradition, den Krieg als Ausdruck von Größe und Bedeutung historischer Persönlichkeiten zu sehen. So ist Woina i Mir (dt. „Krieg und Frieden“​) eine groß angelegte Polemik gegen jene, die meinen, dass Kriege von Napoleon, Alexander oder Kutusow gewonnen werden, dass Kriege den Befehlen bedeutender Autoritäten gehorchen. Das Schlachtfeld ist ein Chaos, das von fast mystischen, unergründlichen Kraftlinien bestimmt wird, vom Trieb ganzer Nationen. 

    Es ist durchaus interessant, dass es um den Zeitpunkt der Veröffentlichung von Woina i Mir einen Skandal gab, der sehr an die Skandale der letzten Jahre erinnert: Tolstoi wird buchstäblich beschuldigt, die Kriegsveteranen zu verunglimpfen. Pjotr Wjasemski schreibt, Tolstois Roman sei eine Schmähschrift auf den Krieg, er habe dieses heroische Ereignis dargestellt, als würden da Menschen im Dreck herumwuseln und selbst nicht verstehen, was sie tun und wohin es geht. Eine zentrale Frage, die Tolstoi beschäftigt, lautet: Was bringt Menschen dazu, sich zusammenzurotten und in dieselbe Richtung zu marschieren, mehr noch, etwas zu tun, das der menschlichen Natur absolut widerstrebt?  
    Trotz seiner seitenlangen geschichtsphilosophischen Überlegungen, muss Tolstoi vor dieser unsichtbaren überwältigenden Kraft in gewisser Hinsicht kapitulieren. Er spürt ihre Wirkung, kann sie aber nicht genau greifen. Natürlich ist die ordnende bürokratische Maschinerie der Moderne eine treibende Kraft für das organisierte Heer, und das Unpersönliche und Maschinenhafte ist an sich schon erschreckend. Und trotzdem bleibt das Gefühl, dass hinter diesem bürokratischen Apparat etwas Größeres steht, irgendwelche unergründlichen Schicksalskräfte. Etwas Unbestimmtes, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durchsetzt. Und Tolstois Vergleiche vom zerstörten Ameisenhaufen oder Bienenstock weichen komplett den Metaphern vom Wetterleuchten, lodernden Himmel und anderen metaphysischen Verklärungen. 

    Denn die Ereignisse des 20. Jahrhunderts in ihrem vollen Ausmaß haben tatsächlich nichts mit Bienenstöcken gemeinsam. Sie sind unfassbar, katastrophal und monströs. „Karger Himmel der Tode in Scharen“, wird später Ossip Mandelstam schreiben. 

    Um die Jahrhundertwende fängt es an, wird immer deutlicher, dass der Krieg nicht mehr Anlass ist, Ruhm zu erlangen, und auch keine Aufgabe der Nation. Er ist ein weltumspannendes Grauen, das der menschlichen Natur zuwiderläuft und gleichzeitig die Menschen einer fatalen Zwangsläufigkeit unterwirft.  

    Karger Himmel der Tode in Scharen

    Wahrnehmbar wurde dieser „karge Himmel der Tode in Scharen“ erstmals am Vorabend des Ersten Weltkriegs – jenes Krieges, der von späteren tragischen Ereignissen aus dem Gedächtnis gedrängt wurde, der aber eine weitere, eine wichtige Erkenntnis mit sich brachte. Nämlich, wie gefährlich der, wie Lenin es nannte, „Übergang des imperialistischen in den Bürgerkrieg“ ist, dieser auflodernde Patriotismus und die Vereinigung aller Volkskräfte gegen einen Feind.

    Jeder kann zum Feind werden. Nicht nur Ungläubige oder Imperialisten, diabolische Deutsche oder Japaner, auch dein Nachbar oder dein Bruder. 
    Dieser Krieg schwelt gewissermaßen ständig in uns, denn durch Russland ziehen sich unzählige Sprenglinien. Zwischen den bildungsfernen Schichten und der Elite, zwischen Arm und Reich, zwischen Bauern und Großgrundbesitzern, zwischen Stadt und Land, zwischen dem Chanson und dem iPhone, zwischen Liberalen und Patrioten. Jeder dieser Konflikte lässt sich im Handumdrehen bis zu dem Punkt hochschaukeln, wo plötzlich eine wahrhaft dunkle Macht, die vernichtet werden muss, gleich neben einem ist. 

    Das Gerede darüber, dass sich verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammenschließen müssen für ein übergeordnetes Ziel, der Patriotismus, der Nationalstolz und der gemeinsamen Sieg – all das sind Beschwörungsformeln, die die Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen bewahren sollen. Und vor dem Krieg jeder gegen jeden. 

    Russischer Existenzialismus, ohne papierene Klugscheißerei

    Aber noch ein paar Worte zum Großen Vaterländischen Krieg. Selbstverständlich erschöpft sich sein Stellenwert im kulturellen Gedächtnis nicht darin, dass sich das ganze Volk vereint und den Feind besiegt habe. Es gab da etwas Größeres, das den vorherigen Kriegen nicht eigen gewesen war oder sich zumindest nicht in diesem Ausmaß in die Kultur eingeschrieben hat. Für alle, die den Krieg überlebt haben – und das wissen wir nur zu gut – war dieser Krieg das wichtigste Ereignis ihres Lebens. Für alle, die an der Front waren, für alle, die im Hinterland waren, überhaupt für jeden. Etwas Wichtigeres konnte es danach nicht mehr geben. Es war der Augenblick der Wahrheit, der den Menschen das Maximum an Kraft abverlangt und sie mit der absoluten Ausnahmesituation konfrontiert hatte. Ständig an der Grenze zwischen Leben und Tod trafen sie dringlichste moralische Entscheidungen. Auf welcher Seite stehst du? Wie verhältst du dich? Wofür entscheidest du dich? Bist du bereit, Risiken zu tragen? Zu sterben? Und wenn ja, wofür? Das war russischer Existenzialismus ohne papierene Klugscheißerei, es war der Augenblick, in dem Millionen Menschen solche Fragen für sich selbst beantworten mussten, ohne irgendwelche Autoritäten, Religionen oder Ideologien. Fragen über Leben und Tod.  

    Zuweilen vermittelte der Krieg manchen Menschen an manchen Orten den Eindruck von unwahrscheinlicher Freiheit und Glück. In Wassili Grossmans Roman Shishn i Sudba (dt. „Leben und Schicksal“) gibt es eine Beschreibung vom Grekow-Haus, dem das Pawlow-Haus in Stalingrad als reales Vorbild diente, jenes umstellte Haus, das Soldaten monatelang mit dem Leben verteidigten. 

    Wenn du dich plötzlich an so einem Ort wiederfindest, in ständiger Lebensgefahr, aber immer wieder überlebst, entsteht ein unglaublich starkes Gefühl von Brüderlichkeit, Gemeinschaft und einem Sinn des Lebens, sprich von etwas, das man durchaus als Glück interpretieren könnte. 
    All diese Dinge, die während des Großen Vaterländischen Krieges mit einer nie gekannten Intensität erlebt wurden – sie sind der Grund für die starke Erinnerung an ihn. Es versteht sich von selbst, dass uns diese Erinnerung nicht einfach durch die aktuelle Politik aufgezwungen wird, sie sitzt tief in uns. Ist seit 1945 immer präsent. 

    In den Kellern saßen die Kinder und wollten unter die Panzer

    Bei Wyssozki heißt es in der Ballada o Detstwe (dt. „Ballade über die Kindheit“): „In den Kellern und Souterrains saßen die Kinder und wollten unter die Panzer.“ Dieses Gefühl, man sei zu spät geboren und hätte das wichtigste Ereignis im Leben verpasst, war der ersten Nachkriegsgeneration besonders eigen. Aber auch heute flammt es hier und da auf. 

    Ich möchte an dieser Stelle nicht über Sachar Prilepin sprechen. Es versteht sich von selbst, dass die ganze Geschichte mit dem Donbass für Prilepin wie für viele andere nicht nur mit dem Wunsch herumzuballern einhergeht, sondern auch mit der obengenannten Sehnsucht nach dem wichtigsten Krieg im Leben, nach dem Großen Vaterländischen, wo das absolute Gute auf das absolute Böse trifft. Hier wird für viele plötzlich alles nochmal durchgespielt, und zwar buchstäblich, mit denselben Begrifflichkeiten: Man führt Krieg gegen die Faschisten, gegen die Henker. Die Sehnsucht nach Wahrheit und Sinn, die der Große Vaterländische mit sich brachte, ist so stark, dass man bereit ist, jeden Krieg zum Großen Vaterländischen zu erklären.

    Es gibt noch etwas Wichtiges, das nicht als Nachklang der Kriege entstanden ist, sondern als eine Art therapeutisches Mittel im Umgang damit: die Lieder von Viktor Zoi

    Wir denken, wir lieben Zoi, weil er so großartige Lieder schrieb – schön, melodiös, energiegeladen und ein bisschen rätselhaft. Aber ich weiß noch sehr gut, welche Zeilen den Jugendlichen am stärksten im Gedächtnis blieben, als das alles 1988/1989 aufkam. Für die meisten waren es zweifellos die Bilder des Krieges: „Wünsch mir Glück im Gefecht“, „ich will niemandem den Fuß auf die Brust setzen“, „wie die Krieger wankend ihre Schwerter am Gras abwischten“, „was sind tausend Worte wert, wenn es auf die Armeskraft ankommt“. 

    Ich bin mir vollkommen sicher, dass  diese Worte genau in jenem Moment gesagt werden mussten: „zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg“. Was bedeutet das? Es sind nicht die Worte eines Militaristen oder Propagandisten, der den Krieg überhöht oder behauptet, wir könnten den ganzen Planeten in radioaktive Asche verwandeln. Es sind Worte, die etwas vollkommen Unrussisches durchweht, vielmehr ist es eine östliche Auffassung vom Krieg als Teil eines großen, kosmischen Zyklus. Ich will niemandem den Fuß auf die Brust setzen, aber es ist vom Schicksal vorherbestimmt, es ist Ausdruck eines Naturgesetzes, eines natürlichen Zyklus, der sich immerzu zwischen Himmel und Erde vollzieht. „Nach einer Stunde ist es bloß noch Erde, nach zwei wachsen auf ihr Blumen und Gras, nach drei ist sie wieder lebendig.“

    Zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg

    Man achtet da nicht unbedingt drauf, aber es ist bemerkenswert, wie in der ersten Strophe des Liedes Swesda po imeni Solnze (dt. „Ein Stern namens Sonne“) der Blick wandert. Anfangs ist er auf den Boden geheftet, weißer Schnee, graues Eis auf der aufgeplatzten Erde; dann schnellt er hinauf und zeigt uns die Stadt im Verkehrsknoten; plötzlich steigt er noch höher, Wolken ziehen über die Stadt und spiegeln das Licht des Himmels; bis er in der fünften Zeile im fernen Kosmos verschwindet, zum Planeten namens Sonne. In diesen Zeilen sehen wir den gesamten kosmischen Zyklus, in dem ein zweitausend Jahre andauernder Krieg als natürliches und unabdingbares Element erscheint. 

     

    Viktor Zoi, „Swesda po imeni Solnze“ im Film „Igla“ von Raschid Nugmanow, 1988

    Warum mussten diese Worte gesagt werden? Oder warum hatten sie zu jener Zeit so eine starke Wirkung? Weil sie, wie mir scheint, für die Menschen, die sie mit 15 oder 16 zum ersten Mal hörten, eine unwahrscheinliche Hilfe waren, die 1990er Jahre zu überstehen. Denn sie hatten sich plötzlich im Epizentrum gleich mehrerer Kriege wiedergefunden: Im Krieg, der auf den Straßen der russischen Städte tobte und der sich auf unterschiedlichste Weise äußerte – vom Putsch bis zur Straßenschießerei

    Zudem hatten sie den ersten Tschetschenienkrieg miterlebt, bei dem es keine ritterlichen Hoffnungen mehr gab, kein Gefühl der großen, gemeinsamen Sache. Nur die absolute Sinnlosigkeit, Absurdität und den Schrecken des Zusammenpralls mit einem äußerst brutalen Gegner, der gleichermaßen der Eigene, der Fremde, der Andere und sonst noch wer war. 

    Diese aus dem Mund eines fünfundzwanzigjährigen Petersburger Jungen unerwartete Weisheit in Bezug auf Krieg – nicht einfach als patriotische Aufwallung, sondern als eine harte, aber absolut notwendige menschliche Angelegenheit, hat den Menschen in den 1990ern sehr geholfen. Und dieses Verständnis hat bis heute nicht an Aktualität verloren.

    Die 1990er wurden durch Afghanistan so, wie sie waren

    In Zusammenhang mit den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien hat auch der Film Brat (dt. „Bruder“) von Alexej Balabanow eine besondere Bedeutung. Er zeigt den Krieg als eine Erfahrung, die im Menschen eine feste, kristalline Struktur erzeugt, welche er dann auch in Friedenszeiten um sich herum aufbaut. 

    Das alles ist sehr nah an dem posttraumatischen amerikanischen Film nach dem Vietnamkrieg, in dem Veteranen von der Front zurückkehren, aber den Krieg nicht aus dem Kopf bekommen. 

    Der Film „Brat“ zeigt den Krieg als traumatische Erfahrung, die Veteranen nicht aus dem Kopf bekommen / Filmstill aus dem Film „Brat“/CTB Film Company
    Der Film „Brat“ zeigt den Krieg als traumatische Erfahrung, die Veteranen nicht aus dem Kopf bekommen / Filmstill aus dem Film „Brat“/CTB Film Company

    In Balabanows Film schwingt sogar mit, dass die 1990er durch den Afghanistankrieg so wurden, wie sie waren, denn die charismatischsten, leidenschaftlichsten und energischsten Menschen dieser neuen Verhältnisse waren Leute, die nur einen Verhaltensmodus kannten: sich mit einer Handvoll Vertrauter, quasi Brüder, im Schützengraben zu verschanzen und um sich zu schießen. Sind ringsum keine Feinde, werden sie künstlich geschaffen. 

    Einen anderen Verhaltensmodus kennen Menschen nach einer Kriegserfahrung nicht. Weder die gemeinsame Sache, noch patriotische Aufwallung, noch Ehre oder Heldenmut, sondern das Gefühl eines Soldaten, der im Schützengraben sitzt und sich nach allen Seiten vor Feinden verteidigen muss – das war ihr Beitrag zum Frieden. 

    Vor diesem Hintergrund wird vieles verständlich: angefangen bei den Besonderheiten der russischen Privatisierung bis zu den Besonderheiten der russischen kriminellen Szene. 

    Die unterschiedlichen Auffassungen von Krieg haben allerdings eines gemeinsam. Und das konnten wir in den letzten Jahren sehr deutlich spüren: Sie stehen allesamt auf sehr wackligen Füßen. Beim kleinsten Druck von oben kippen wir als Individuen oder als Gesellschaft in Kriegsszenarien. 

    Soldaten auf dem Sofa 

    Plötzlich fühlen wir uns wie Soldaten, auch wenn wir bloß auf dem Sofa sitzen und Kommentare bei Facebook tippen oder den Fernseher anbrüllen. 

    Der Krieg ist eine große Versuchung. Er lockt mit der Möglichkeit, doch noch jene wichtige Sache zu erleben, die alles mit der absoluten Wahrheit auflädt und alle Schulden erlässt. 

    Wir glauben sehr leicht an Geschichten von dunklen Mächten, die unser aller Existenz bedrohen. Und je leichter wir daran glauben, je leichter wir darauf reinfallen, desto schneller geraten wir in die Hände ganz anderer dunkler Mächte, die Menschen zu einer Masse zusammendrängen und in den Tod schicken, wie schon Tolstoi sagte. 

    Je leichtfertiger wir in gewöhnlichen Facebook-Posts eine Sprache des Krieges verwenden, je leichtfertiger wir unsere Widersacher mit Insekten, Parasiten, Käfern und anderem Getier vergleichen, desto näher rücken wir der Ansicht, sie seien Unmenschen, die vernichtet werden müssen. Das Einzige, was uns davor bewahren kann, ist die durch die russische Geschichte buchstäblich leidvoll errungene Erkenntnis, dass die letzte Wahrheit nicht in exaltierten Losungen oder den patriotischen Notizen eines Graf Rastoptschin liegt. Sondern in der Angst, im Schmerz und im Chaos, die im Hirn eines Menschen toben, der irgendwo auf dem Schlachtfeld bei Sewastopol liegt und nur noch eine Sekunde zu leben hat. 

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  • Die wahre Geschichte einer Geisterstadt

    Die wahre Geschichte einer Geisterstadt

    1982: Ein Atomkraftwerk soll gebaut werden. Für die spätere Belegschaft entsteht die Siedlung Kamskije Poljany. 1986 geschieht die Katastrophe in Tschernobyl, der AKW-Bau wird gestoppt. Es beginnt ein reales Warten auf Godot in Kamsjije Poljany, wo Jelena Dogadina aufgewachsen ist. Heute berichtet sie auf Takie Dela.

    Foto © Jewgenija Shulanowa
    Foto © Jewgenija Shulanowa

    „Edik war acht, als sein Papa beschloss, mit der ganzen Familie in eine kleine Siedlung zu ziehen, die für Arbeiter und ihre Familien hastig errichtet wurde. Ein Atomkraftwerk sollte die ganze Region mit Strom versorgen. Das war 1983, drei Jahre vor der Explosion des vierten Blocks im AKW von Tschernobyl. Die Welt hatte ihre mörderische Rettungsmission noch nicht begonnen, bei der alle sowjetischen Baustellen stillgelegt wurden. Deswegen hatten sich Ingenieure, Bauarbeiter, Mechaniker und Chemiker aus dem ganzen Land freudig auf den Weg dorthin gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden.“

    Das ist der Anfang einer Geschichte, die ich in der Schule geschrieben habe. Die Namen aller Orte und Personen sind frei erfunden, jegliche Überschneidungen mit der Realität rein zufällig – würde ich gern sagen. Kann ich aber nicht.

    Für die Errichtung der Stadt wurde ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Für die Errichtung der Stadt wurde ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Die wahre Geschichte über die Geisterstadt ist sogar noch interessanter, als ich zu Schulzeiten dachte. Zum Beispiel, weil für ihre Errichtung ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht wurde, das noch aus Zeiten Iwan des Schrecklichen stammte, oder wenn man sich die Versuche ansieht, wie die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden sollte – durch den Bau von 30 Casinos, jedoch ohne jegliche Infrastruktur für Touristen.

    Bau einer Grünanlage nahe der Sonntagsschule / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Bau einer Grünanlage nahe der Sonntagsschule / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Ljudmila Pospelowa ist 1982 mit Mann und Kindern nach Kamskije Poljany gezogen, aber nicht nur wegen der Allunionsbaustelle. Sie kehrte heim. Ihre Familie hatte schon im 19. Jahrhundert in dieser Gegend gelebt.

    Am 11. Mai 1982 war bekanntgegeben worden, dass dort, wo sich heute die Siedlung befindet, ein Atomkraftwerk gebaut werden soll. Die ersten Arbeiter waren schon im Februar gekommen und hatten eine kleine Containersiedlung errichtet. 

    Die Kama ist ein kalter, schmutziger Fluss / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Die Kama ist ein kalter, schmutziger Fluss / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Ljudmila erzählt, die ersten Bauarbeiter seien besonders sorgfältig ausgesucht worden: Man stellte keine Vorbestraften ein, und es war verboten, in privaten Häusern gemeldet zu sein, um den Strom der Zugezogenen zu kontrollieren. Sogar der Verkauf von Alkohol wurde eingestellt. „Weder hier, noch im Umland konnte man welchen kaufen. Wenn jemand betrunken war, konnten es nur Geologen auf Exkursion sein“, erzählt Ljudmila.

    Wegen der vielen Leute wurden die Lebensmittel knapp

    Wegen des großen Zustroms an Arbeitern wurden bald die Lebensmittel knapp, sogar das Brot wurde knapp. Gärten wurden geplündert und verwüstet, egal wie sehr Ljudmila sich bemühte, ihren in Schuss zu halten. Es mussten dringend Geschäfte her, also wurden im Erdgeschoss der Wohnhäuser Läden eröffnet und eine Kantine gebaut. Jeden Tag wurden 20 bis 30 Personen eingestellt.

    Ljudmila Pospelowa kam 1982 nach Kamskije Poljany / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ljudmila Pospelowa kam 1982 nach Kamskije Poljany / Foto © Jewgenija Shulanowa

    1983 kam auch Viktor in die Siedlung, mein Großvater. Er bekam einen Job als Monteur beim Atomkraftwerk, schätzte die Zukunftsperspektiven ab und holte ein Jahr später die Familie nach: seine Frau Vera und die Söhne Edik und Serjoscha. 

    Damals hat man insgesamt sehr schnell gebaut, und so wurde im Wasserkraftwerk Shiguli schon 1986 die Hebung des Wasserstandes vorbereitet, um aus Wolgodonsk auf Lastkähnen die Brennelemente für den Reaktor zu holen. Doch am 26. April explodierte in Tschernobyl Block 4 des Atomkraftwerks.

    Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf

    Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf. Und Dutzende von hier fuhren zu Abräumarbeiten dorthin. Deren Kinder nennt man die Kinder der ersten und zweiten Tschernobyl-Generation. Meine Klassenkameraden gehörten zur zweiten Generation. Ich hatte eine Schulfreundin, die ständig über Kopfschmerzen klagte: erhöhter Hirndruck. Ihre Mutter hatte bei der Liquidation als Köchin gearbeitet.

    Durch den Bau von Casinos sollte die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Durch den Bau von Casinos sollte die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden / Foto © Jewgenija Shulanowa

    1986 hatten alle außer den Liquidatoren nur eines: Angst. In Tatarstan fanden Demos für den Baustopp des Atomkraftwerks statt, angeführt wurden sie von Ökologen, die warnten, der Vorfall aus Tschernobyl könne sich wiederholen, zudem werde der Reaktor in Kamskije Poljany auf einer tektonischen Bruchstelle gebaut und es könne jederzeit ein Riss durch die Erdplatte gehen. Das stimmte nicht, deswegen beruhigten sich die Einwohner von Kamskije Poljany recht bald. Die Planer des AKWs fuhren von Ort zu Ort und erklärten den Leuten, dieser Reaktor sei ganz anders, er habe ein ganz anderes Kühlsystem und die Erdplatte werde ständig kontrolliert. „Bei uns wurde vor Baubeginn jeder Winkel und jeder Millimeter vermessen, Landvermesser hatten alles ausgeglichen. Die monolithische Platte, auf der der Reaktor stehen sollte, wurde stündlich kontrolliert, sicherheitshalber hat man sogar versucht, sie in die Luft zu sprengen“, berichtet Ljudmila Pospelowa.

    Mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmücken die Menschen ihre Wohnungen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmücken die Menschen ihre Wohnungen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Aber es war zu spät. Den Protesten hatten sich andere „Grüne“ angeschlossen, mit der Schriftstellerin Fausija Bairamowa an der Spitze: Sie forderten die Unabhängigkeit Tatarstans von Russland, ein Verbot von Mischehen und die Ermordung von Kindern aus Mischehen. Und das jagte den Menschen weit mehr Angst ein als irgendeine Atomkraft.

    Verbot von Mischehen macht mehr Angst als Atomkraft

    Die Worte der Islamisten erschreckten sogar jene, die wie Ljudmila gegen eine Schließung des Kraftwerks waren. „Sogar ich als nicht besonders schreckhafter Mensch, bekam Angst, dass wir hier ein zweites Tschetschenien bekommen.“ 

    „Eine Zeit lang konnte ich sagen, meine Mutter arbeitet in Manhattan“ / Foto © Jewgenija Shulanowa
    „Eine Zeit lang konnte ich sagen, meine Mutter arbeitet in Manhattan“ / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Zunächst wurden die aktiven Baumaßnahmen eingestellt, die Menschen verloren ihre Jobs. Aber damals glaubten die Einwohner von Kamskije Poljany noch, der Bau werde fortgesetzt. „Wir kriegten mit, dass Tatenergo sich nur um den Unfall und die Liquidation kümmerte. Uns beachtete man gar nicht, der Reaktor wurde einfach nicht geliefert. Aber wir hatten Hoffnung: Einfach abwarten, bis sich die Lage beruhigt, dann wird es schon weitergehen. Und plötzlich – schwupp – wird Gorbatschow abgesetzt und Jelzin interessiert das alles nicht die Bohne: ‚Nehmt euch so viel Souveränität. wie ihr wollt.‘“, erinnert sich Ljudmila.

    Auf der Ruine des Reaktors veranstalteten Familien ihre Picknicks / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Auf der Ruine des Reaktors veranstalteten Familien ihre Picknicks / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Im April 1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks in Kamskije Poljany per Beschluss des Obersten Sowjets der Tatarischen ASSR endgültig eingestellt. Bis heute lautet die offizielle Version, Grund dafür seien die Proteste der Umweltschützer gewesen.

    Ich bin fünf Jahre nach dem Baustopp zur Welt gekommen. „Uns war die Aufgabe gegeben, das AKW in Datschen zu zerlegen“, lautet eine Zeile der inoffiziellen Hymne von Kamskije Poljany, verfasst von einer einheimischen Rockband. Dort finden sich auch die Worte: „Selbst Kran-Giganten haben wir zerlegt.“ Auch das ist wahr. Gemeint sind die Kräne K-10 000, sie kommen beim Bau von Atomkraftwerken zum Einsatz, weltweit gibt es gerade mal 15 Stück. Zwei davon waren in Kamskije Poljany. Am Bau war nur einer beteiligt, später wurde er zum AKW Kalinin gebracht, aber vorher hatten wir noch Gelegenheit ihn zu nutzen: Wir kletterten hinauf, um uns das Kraftwerk von oben anzusehen. Während der zweite Kran einfach am Kai verrostet ist, der war gar nicht erst bis zur Baustelle gekommen. 

    Badespaß an den ausgehobenen Wasserspeichern des Kraftwerks

    In meiner Kindheit war das AKW keine verbotene, brachliegende oder gefährliche Baustelle – es war ein Freizeitpark. Die Kama ist ein kalter und schmutziger Fluss, deswegen fuhren wir zum Baden an die ausgehobenen und schon befüllten Wasserspeicher des Kraftwerks. Und auf dem Reaktor selbst veranstalteten wir Picknicks mit der ganzen Familie. 

    Gebadet wurde nicht in der Kama, sondern in den Wasserspeichern des Kraftwerks / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Gebadet wurde nicht in der Kama, sondern in den Wasserspeichern des Kraftwerks / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Aber nicht nur das Kraftwerk brach zusammen. Ich war etwa sechs, als meine Mutter und ich ans andere Ende der Siedlung gingen, um die Katze vom Vorgesetzten meines Vaters zu füttern. Damals gab es vor jedem Haus mindestens einen Sandkasten. An jenem Tag lag in einem davon ein Mädchen. 

    1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks endgültig eingestellt / Foto © Jewgenija Shulanowa
    1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks endgültig eingestellt / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Ich rannte vor, fiel vor dem Mädchen auf die Knie und blickte ihr in die Augen. Es war Sweta aus meiner Kindergartengruppe, sie hatte ein riesiges rosa Plüschmammut zuhause. Das hatte sie bei einem Musikwettbewerb gewonnen – alle waren zu Tränen gerührt gewesen, als sie gesungen hatte: „Das kann’s auf der Welt doch nicht geben, dass Kinder allein, ohne eine Mutter leben“. Neben ihr lag im Sandkasten ein Klettergerüst. Das hatte jemand einfach dort abgestellt, ohne es zu befestigen oder ein Schild aufzustellen, dass man darauf noch nicht spielen dürfe. Sweta fiel mit ihm um und war tot. Ich kann mich nicht erinnern, dass dafür jemand zur Verantwortung gezogen worden wäre.

    Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen

    Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen, sie erstickten in Schneehaufen, weil ein Räumfahrzeug sie übersehen und verschüttet hatte, und außerdem tranken Kinder. Man kann ihnen schwer einen Vorwurf machen. Ende der 1990er und Anfang der 2000er war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen. 

    Viktor kam 1983 als Monteur in die Siedlung / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Viktor kam 1983 als Monteur in die Siedlung / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Laut Plan sollten die Wohnhäuser, die Schulen, das Krankenhaus und andere Gebäude zu Ende gebaut werden, wenn der erste Reaktor in Betrieb genommen würde. Ohne das stand die Siedlung still. Während des Baus war es noch direkt von Moskau finanziert worden, aber danach fiel es in die Zuständigkeit von Kasan. Und Kasan ergriff sogar gewisse Maßnahmen: Den Einwohnern von Kamskije Poljany wurden Jobs in Almetjewsk, Nischnekamsk und Kasan versprochen. Aber die Menschen bekamen keine Wohnungen mehr in Kamskije Poljany, und ein Gebäude nach dem anderen wurde leergeräumt.  

    Während meiner Schulzeit hat meine Mutter neun Mal den Job gewechselt. Sie tat mehr als das Mögliche: Dass die schwersten Hungerjahre der Siedlung in den 2000er Jahren waren, habe ich erst vor wenigen Monaten erfahren.  

    Ende der 1990er Jahre war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ende der 1990er Jahre war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Eine Zeit lang konnte ich sagen: „Meine Mutter arbeitet in Manhattan.“ Das war 2006. Zu dieser Zeit hatten sich alle daran gewöhnt, einmal im Jahr Versprechen vom Fertigbau des Kraftwerks zu hören, aber nun kam etwas Anderes: In Kamskije Poljany entsteht ein Zentrum für Glücksspiele! 2007 waren in der Siedlung schon neun Casinos in Betrieb, vier weitere sollten in Kürze dazukommen. 

    „Ingenieure, Bauarbeiter, Chemiker aus dem ganzen Land hatten sich freudig dorthin auf den Weg gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden“ / Foto © Jewgenija Shulanowa
    „Ingenieure, Bauarbeiter, Chemiker aus dem ganzen Land hatten sich freudig dorthin auf den Weg gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden“ / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Laut offiziellen Zahlen hat das tatarische Las Vegas 400 Arbeitsplätze geschaffen. Aber prozentual blieb die Arbeitslosigkeit auf demselben Niveau, nur, dass die Bevölkerung etwas geschrumpft ist.  

    Glücksspielparadies ohne Hotel

    Die Sache ist die, dass das Glücksspielparadies schlecht beworben wurde, die Straßen nicht ausgebessert, kein einziges Hotel gebaut und auch sonst keinerlei Infrastruktur geschaffen wurde. Also kamen auch keine Touristen. So spielten die Einheimischen – versetzten ihre Wohnungen, Autos und Datschen. Und begannen dann auch, sich wegen der Schulden gegenseitig umzubringen. Eine Woche nachdem meine Mutter gekündigt hatte, wurde in ihrem Casino eine alte Garderobenfrau getötet. Ein Mann, der eine große Geldsumme verspielt hatte, lauerte den Casinomitarbeitern bei den Garagen auf, weil er glaubte, sie würden Geld bei sich tragen.  

    Ohne das Atomkraftwerk stand die Siedlung still / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Ohne das Atomkraftwerk stand die Siedlung still / Foto © Jewgenija Shulanowa

    2009 trat das Gesetz zur „staatlichen Regulierung der Tätigkeiten in der Organisation und Durchführung von Glücksspiel“ in Kraft, Spielhallen waren nur noch an vier Orten in Russland erlaubt. Kamskije Poljany gehörte nicht dazu. Also gesellten sich auch noch verlassene Casinos zum Stadtbild. Und mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmückten meine Freunde ihre Zimmer.

    Für das Glücksspielparadies wurde keine Infrastruktur geschaffen, also kamen auch keine Touristen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Für das Glücksspielparadies wurde keine Infrastruktur geschaffen, also kamen auch keine Touristen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    2008 hatte Kasan wieder ein ambitioniertes Vorhaben: ein Kur- und Tourismusgebiet in Kamskije Poljany zu errichten. Gesamtfläche: 103.015 Hektar. Mit verschiedenen Bereichen für Wochenendausflüge (ob Business-, Wassersport-, Erlebnis-, Extrem-, Kinder- oder Familienurlaub); auf Folklore und Kultur ausgerichteten Tourismus; Wellness, Jagd und Ökotourismus; ganzjährige Arten des Abenteuertourismus. Es wurde nichts draus. 

    Fabrik für Stretchfolie und Fischzucht-Freizeit-Cluster

    Laut Medienberichten ist „Kamskije Poljany 2009 in die Liste der Monostädte Russlands aufgenommen worden und hat 1,7 Milliarden für den Bau eines Industriegebiets erhalten“. Das Industriegebiet – das ist eine Fabrik, die Stretchfolie produziert. Es heißt, sie versorge ein Viertel der Einwohner mit Arbeitsplätzen. Auf der offiziellen Website der Fabrik liest man, sie beschäftige 450 Mitarbeiter. In der Siedlung sind 15.000 Einwohner gemeldet. 2011 wurden Kamskije Poljany 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt. Seit 2017 läuft ein Verfahren wegen der Entwendung dieser Summe und weiteren 45 Millionen Rubel, die als Prämie an eine nicht existente Fabrik ausgezahlt wurden. 

    2013 hat die Regierung der Russischen Föderation eine Liste von Atomkraftwerken erstellt, die bis 2030 erweitert oder fertig gebaut werden sollen. Das AKW Tatarien war auf Platz sechs.

    2011 wurden 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt – das Geld verschwand / Foto © Jewgenija Shulanowa
    2011 wurden 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt – das Geld verschwand / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Ljudmila Pospelowa kämpft derzeit darum, dass sich die Verwaltung endlich um den alten Friedhof kümmert, und bereitet Schüler auf die Abschlussprüfungen in Russisch und Literatur vor. Wie mich damals. Am Ende unseres Gesprächs sagt sie noch, man habe versprochen, das Kraftwerk bis 2030 fertig zu bauen – diesmal angeblich wirklich. 

    In den Casinos verspielten die Einheimischen ihre Wohnungen, Autos und Datschen / Foto © Jewgenija Shulanowa
    In den Casinos verspielten die Einheimischen ihre Wohnungen, Autos und Datschen / Foto © Jewgenija Shulanowa

    Offenbar weiß sie noch nichts davon, dass die Liste der Atomkraftwerke letztes Jahr aktualisiert wurde, Tatarien ist nicht mehr dabei.

    Der Plan eines Kur- und Tourismusgebiets in Kamskije Poljany scheiterte / Foto © Jewgenija Shulanowa
    Der Plan eines Kur- und Tourismusgebiets in Kamskije Poljany scheiterte / Foto © Jewgenija Shulanowa

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  • „Die Nowosibirsker ähneln den Leuten im Mittleren Westen“

    „Die Nowosibirsker ähneln den Leuten im Mittleren Westen“

    US-Fotograf Nathan Farb hatte die Gelegenheit, in den 1970er Jahren in der Sowjetunion zu fotografieren: Im Rahmen einer Ausstellung über US-amerikanische Fotokunst fotografierte er etwa 5000 Porträts. Jetzt kehrt er zurück und sucht nach den Menschen auf seinen Fotos. Die Kinobrigada, ein Filmteam aus Frankfurt am Main, begleitet ihn dabei. Hessen Film und Media fördert das internationale Projekt. Die Fotos werden dafür auch über Social Media verbreitet, einige Menschen haben schon sich selbst, Freunde oder Verwandte darauf wiedererkannt.

    Lera Schwez hat für Meduza mit Nathan Farb gesprochen – über seine Eindrücke damals, seine Art zu fotografieren und warum er findet, dass die Menschen in Nowosibirsk denen im Mittleren Westen der USA ziemlich ähnlich sind. 

    Lera Schwez: Wie kamen Sie in den 1970er Jahren in die UdSSR? 

    Nathan Farb: Ich musste regelrecht betteln. Aus Sicht der amerikanischen Informationsagentur USIA, die diese Reise organisiert hat, war ich ein Niemand. Ich hatte kaum Erfahrung, hatte nur ein paar Ausstellungen gemacht. Ich unterrichtete an der Rutgers University, gab dort einen Foto-Kurs; ich war nicht besonders bekannt, habe auch für keine große Organisation gearbeitet. Ich war völlig unabhängig. Ausgewählt wurden [für die US-Delegation] entweder bekannte Leute oder, nun ja, Fotografen von National Geographic
    Ich hatte damals die Idee mit den Polaroid-Aufnahmen. Suchte mir Filme, die gleichzeitig Positiv- und Negativbild erzeugen, und fing an zu fotografieren. Wenn du als professioneller Journalist oder Künstler jemanden fotografierst, kommt etwas anderes dabei heraus, als wenn du es für die Person selbst tust. Wenn du etwas machst, das du ihnen geben kannst, bekommst du ein besonderes Ergebnis. Das klingt einfach, aber ich habe Jahre gebraucht, bis ich das verstanden habe.

    Und dieses Verfahren wollten Sie auch in der UdSSR einsetzen?

    Genau. Ich landete zwar zunächst auf der Warteliste, wurde aber am Ende genommen, weil jemand anderes abgesagt hatte. Etwa drei Wochen vor der Abreise bekam ich einen Anruf: „Wollen Sie immer noch nach Nowosibirsk?“ Ich sagte: „Klar!“ 
    Wissen Sie, im Leben gehört auch immer etwas Glück dazu.

    Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Eindrücke?

    Als ich gerade erst in Nowosibirsk angekommen war und die Menschen traf, war ich erstaunt. Wenn ich zum Beispiel zu jemandem nach Hause kam, sah ich dort eher untypische sowjetische Kunst, so was a lá Rodtschenko. Ich fragte, wie ist das denn einfach so möglich, und sie lachten: „Wir sind sehr weit weg von Moskau.“ In Nowosibirsk, habe ich bemerkt, dass alle Industriegesellschaften etwas gemeinsam haben. Das [politische] System spielt gar nicht wirklich eine Rolle. Zum Beispiel war die Scheidungsrate in Russland und den USA damals gleich hoch.

    Welche Gemeinsamkeiten gab es noch?

    Die Sowjetunion war als klassenlose Gesellschaft aufgebaut. Aber ich sah sofort, dass es in der UdSSR verschiedene Typen von Menschen und auch unterschiedliche Klassen gab.
    Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die Menschen in Nowosibirsk sehr den Menschen im Mittleren Westen der USA ähnelten. Sie sind nicht so prätentiös wie in New York oder Kalifornien. Ich war froh, dass ich ausgerechnet in Nowosibirsk gelandet war und nicht in Moskau oder St. Petersburg. Ich fand, dass ich auf diese Weise dem normalen Leben der Sowjetmenschen näher kam.

    Waren Sie lange dort?

    Ich glaube, sechs Wochen. Ich bin jeden Tag in die Ausstellung [amerikanischer Fotokunst, die in Nowosibirsk gezeigt wurde – dek] gegangen, sie war riesig. Ich habe gehört, es waren täglich 5000 bis 10.000 Besucher da.

    Wie verlief Ihre Arbeit dort in der Ausstellung?

    Ich habe in einem Studio gearbeitet. Die Menschen kamen dorthin und warteten, bis sie fotografiert wurden. Ich nahm mir so viel Zeit, wie ich brauchte.

    Haben die Menschen, die Sie fotografiert haben, versucht, mit Ihnen ins Gespräch kommen?

    Viele kamen einfach, um zu sehen, wie ich arbeite. Sie hatten noch nie ein Polaroid gesehen. Sie bekamen ihr Bild sofort und konnten es mit nach Hause nehmen. Das war etwas völlig Neues. 

    Mit einigen russischen Fotografen habe ich mich unterhalten. Sie sagten: „Oh, wir sind viel fortschrittlicher, wir machen schon alles in 3D.“

    Aber die amerikanische Fotografie bewegte sich damals in eine etwas andere Richtung – sie erforschte, was psychisch in den Menschen vor sich ging. Technische Aspekte, so etwas wie 3D, interessierten mich damals nicht so sehr. Ich war eben Teil der amerikanischen Kultur.      

    Was haben Sie in den Sowjetmenschen aus Nowosibirsk gesehen, die bei Ihnen vor der Kamera standen?

    All diese Menschen waren in einer bestimmten Lebensphase, ich sah sie an und versuchte zu erahnen, was sie über sich erzählen. Wir verbergen immer etwas, das liegt in der Natur des Menschen. 
    Miteinander gesprochen haben wir wenig, aber viele Emotionen ausgetauscht.

    Welchen Eindruck hatten Sie nach sechs Wochen in Nowosibirsk von der sowjetischen Gesellschaft?

    In gewisser Hinsicht erschien sie mir der US-amerikanischen sehr ähnlich. Mehr als ich gedacht hätte. Aber damals gab es zwei Pole. Auf der einen Seite war da die US-amerikanische Propaganda, die alle [Sowjetbürger] als völlig gequält und unterdrückt darstellte. Auf der anderen stand die Sowjetpropaganda, mit traktorfahrenden Frauen, und so – alle sind gleichberechtigt und jeder leistet seinen Beitrag zum Aufbau der klassenlosen Gesellschaft. Diese zwei Narrative gab es, aber keines davon passte zu dem, was ich sah. 

    Waren Sie auch bei jemandem zu Hause zu Besuch?

    Während meines Aufenthalts habe ich drei, vier Menschen kennengelernt. Mir ging es ja hauptsächlich ums Fotografieren. 
    Aber es gab da eine junge Frau – die würde ich übrigens sehr gern finden und erfahren, was aus ihr geworden ist – mit sehr langen Zöpfen. Sie war damals noch ein Teenager. Sie erzählte mir, sie sei Künstlerin, und zeigte mir ein paar Zeichnungen. Man nannte sie Zöpfchen. Einmal habe ich sie zum Mittagessen eingeladen. Für uns Amerikaner gab es ein spezielles Restaurant, es hieß, das Essen dort sei wesentlich besser. Danach hat der Mann, der dafür zuständig war, mich zu beaufsichtigen, der amerikanischen Delegation gemeldet, ich hätte mit ihr zu Mittag gegessen, und das sei inakzeptabel. 

    Sie sagten, Sie hätten es geschafft, die Negative der Portraits per Diplomatenpost außer Landes zu bringen. Komisch, dass es keiner in Ihrem Umkreis mitbekommen hat, nicht einmal der Geheimdienst, der sie überwachte.

    Manche Techniker wussten, was ich mache, sie haben mir ja geholfen, die Filme zu reinigen. Deswegen bin ich nicht davon überzeugt, dass keiner etwas wusste. Bei der Ausreise aus der UdSSR wurde am Flughafen mein Gepäck kontrolliert. Da kam der [Zoll-]Chef und sagte: „Seine Negative haben die Sowjetunion schon verlassen.“ Es hat also definitiv jemand davon gewusst.

    Was passierte danach, als Sie in die USA zurückkehrten? 

    Ich habe mich sofort darangemacht, die Fotos zu vergrößern. Mir war klar, dass ich einmaliges Material aus der UdSSR hatte. Dann reiste ich nach Europa. Ich fuhr mit einem Eurail-Ticket von Hauptstadt zu Hauptstadt und bot den renommiertesten Zeitschriften meine Fotos an. Viele haben welche gekauft, alle fanden es interessant. 
    Später hat ein Bekannter von mir, ein Kunsthistoriker, meine Arbeiten seinem Verlag gezeigt. So ist der Bildband The Russians entstanden.

    Glauben Sie, es ist Ihnen gelungen, den Zeitgeist der Menschen in der damaligen Sowjetunion einzufangen?

    Das ist eine sehr gute Frage. Ich habe mich bemüht, unterschiedliche Menschen zu zeigen, einschließlich ziemlich seltsamer Gestalten, oder freundlicher gesagt, Sonderlingen. 

    Nehmen wir zum Beispiel den Jungen mit der Sonnenbrille und dem langen Mantel. Das ist ein sehr interessanter Fall. Er sah vollkommen gewöhnlich aus. In den USA würde man sagen, das ist ein Junge, der nur Weißbrot isst. Ich meine so Industriebrot. Seine Mutter stand jeden Tag lange dort an und winkte mir zu: „Bitte fotografieren Sie meinen Jungen!“ Eine Woche stand sie so da, vielleicht sogar zehn Tage. Am Ende willigte ich ein. Da zieht sie ihm plötzlich ihren Mantel an und setzt ihm ihre Sonnenbrille auf. Keine Ahnung, warum! Später hat sich gezeigt, dass sich viele genau so einen [typischen] sowjetischen Jungen vorstellen. Sie hat mir diese Aufnahme quasi geschenkt.

    Wie kamen Sie auf die Idee, jetzt noch einmal nach Russland zu fahren?

    Es war nicht meine Idee, sondern die des Schriftstellers Andrej Filimonow und seiner Freunde von der Filmtruppe Kinobrigada aus Frankfurt. Sie haben den Artikel in der New York Times gelesen, Kontakt zu mir aufgenommen und gefragt, ob ich Interesse hätte, noch einmal nach Russland zu fahren. Ich dachte mir, es könnte wieder ein Abenteuer werden und sagte ja.

    Je näher die Reise rückt, desto nervöser werde ich, denn ich habe viele Fragen, auf die ich noch keine Antwort weiß. Ich muss zum Beispiel lernen mit der Digitalkamera zu arbeiten. In den letzten Monaten verbringe ich mehrere Stunden täglich damit und übe. Die Ausrüstung, mit der ich 1970 gearbeitet habe, gibt es nicht mehr. Aber ich möchte den Leuten die Aufnahmen wieder gleich vor Ort mitgeben. 



    Wenn Sie sich auf einem Foto von Natan Farb wiedererkannt haben oder er Sie 1977 in Nowosibirsk bei der Ausstellung „Fotokunst aus den USA“ fotografiert hat und Sie auch an seinem neuen Projekt teilnehmen möchten, melden Sie sich bei Anatoli Skatschkow: NKnop@kinobrigada.net 

    Fotos: Nathan Farb
    Interview: Lera Schwez
    Bildauswahl: Franziska Schmidt
    Übersetzung: Maria Rajer und Jennie Seitz
    veröffentlicht am 14.09.2018

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  • Was haben die Sanktionen bewegt?

    Was haben die Sanktionen bewegt?

    2014 verhängten die EU, die USA und einige andere Staaten Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Diese Reaktion auf die Angliederung der Krim sowie Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine wurde bis dato immer wieder verlängert und ausgeweitet. Russland beantwortet die Sanktionen stets mit Gegensanktionen. Obwohl auch diese der russischen Wirtschaft nachhaltig schaden, bricht sie nicht zusammen.

    Worin besteht die Wirkung der Sanktionen? Und wie haben sie die russische Wirtschaft verändert? Jakow Mirkin ist einer der bekanntesten Wirtschaftswissenschaftler Russlands, für Republic beantwortet er diese Fragen in zehn Punkten.

    Punkt 1. Die Idee einer Wirtschaftsunion mit der EU, wenn auch einer langsamen und komplizierten, ist vom Tisch. 2013 hatte der EU-Anteil fast 50 Prozent des russischen Außenhandelsumsatzes ausgemacht. Es schien, als würde es nur noch einige Umarmungen brauchen, und das Paar wäre nicht mehr zu trennen. Und dann kämen im Weiteren: Freihandelsabkommen, Visafreiheit, Ausbau politischer Verbindungen.

    Aber das alles blieb ein Traum. Heute liegt der EU-Anteil noch bei 42 bis 43 Prozent. Allmählich, um jährlich ein Prozent, sinkt Russlands Anteil an den Öl- und Gaslieferungen in die EU, obwohl die EU immer noch ein Drittel der Brennstoffe aus Russland bezieht. Russland und die EU koppeln sich substantiell voneinander ab.

    Derzeit ist die russische Wirtschaft quasi hängengeblieben – auf zwei Brücken zwischen zwei Modernisierungszentren: der EU und China. Chinas Anteil an Russlands Außenhandelsumsatz, der Anfang der 2010er Jahre 7 bis 8 Prozent betrug, liegt heute bei 15 Prozent. Statt einer glücklichen Bindung mit der EU entsteht eine eurasische Wirtschaft. Aber egal ob mit der EU oder mit China – überall läuft es für Russland auf das sogenannte Hinterhof-Modell hinaus: Rohstoffe im Tausch gegen Maschinen, Technik und Konsumgüter.

    Punkt 2. Wir sind zur Selbstfinanzierung übergegangen. Bis 2014 hatte Russland ein für aufstrebende Märkte typisches Modell: Das eigene Finanzsystem ist unbedeutend, die großen Unternehmen ziehen wegen des Geldes in aller Herren Länder, nach London, New York oder Hongkong, und die kleinen und mittelständischen Unternehmen leben von dem, was übrigbleibt – den paar Kopeken, die auf dem heimischen Markt zu holen sind. Mit den Sanktionen kam ein Wetterumschwung, und der Zugang Russlands zum internationalen Kapitalmarkt wurde drastisch eingeschränkt.

    Die Auslandsschulden erreichten mit 451 Milliarden Dollar in den „sonstigen Bereichen“ (sprich bei allem, was in Russland zur Privat- und nicht zur Bankenwirtschaft gehört) ihren Höhepunkt im Juni 2014. Im Oktober 2017 waren es noch 353 Milliarden Dollar. Die Auslandsschulden russischer Banken lagen im April 2014 bei 214 Milliarden Dollar, im Herbst 2017 bei 108 Milliarden Dollar.

    Wenn die Firmenkasse schrumpft, will jeder wissen, warum. Teilweise – unter Berücksichtigung von Formalia wie dem schwankenden Wechselkurs und so weiter – liegt das daran, weil Russlands Devisenreserven gesunken sind. Anfang 2014 waren es insgesamt 514 Milliarden Dollar, ihr niedrigstes Niveau erreichten sie im April 2015 mit 351 Milliarden Dollar, im Oktober 2017 war der Wert wieder auf 424 Milliarden Dollar gestiegen.

    Punkt 3. Durch die Sanktionen hat die einheimische Produktion leicht zugenommen. Vor den Sanktionen lautete das Motto: Alles kaufen. In der internationalen Arbeitsteilung hatte Russland die Rolle des Rohstofflieferanten inne. 
    Womöglich wurde man erst durch die Sanktionen daran erinnert, dass 10 bis 15 Millionen Menschen in der Rohstoffgewinnung arbeiten, dass die restlichen 130 Millionen aber auch etwas machen müssen, nicht nur bewachen, regulieren, verkaufen und letzten Endes rauben. Erinnern wir uns an die Importabhängigkeit von 2014: bei Werkzeug und Maschinen waren es 70 bis 90 Prozent; und in einzelnen Bereichen sogar 95 bis 100 Prozent. 
    Im Februar 2015 wurden im großen Russland, dem Dritten Rom, in dem mehr als 140 Millionen Menschen leben, 225 Metallschneidemaschinen, 216 Schmiedepressen und 371 Holzverarbeitungsmaschinen hergestellt. Das deckte nicht einmal ein Zehntel der Nachfrage an Maschinen ab, die ausgewechselt werden mussten. Der Importanteil lag bei 90 Prozent.

    Wie sieht es heute aus? Im Februar 2018 wurden 326 Metallschneidemaschinen und 293 Schmiedepressen produziert. Zu den Holzverarbeitungsmaschinen liegen keine Daten vor, Rosstat veröffentlicht sie nicht.

    Es gab in den drei Jahren also ein Wachstum, ein großes sogar, geht man von dem niedrigen Ausgangswert aus, aber das Hauptproblem ist geblieben: die geringe Produktion nach den Verlusten in den 1990er bis 2000er Jahren und die enorme Importabhängigkeit. 
    Wie steht es um die Elektronik? „Der Anteil von ausländischer Elektronik in russischen kommerziellen Kommunikationssatelliten beträgt 70 Prozent“,  wie Igor Tschursin, der stellvertretende Leiter der Föderalen Kommunikationsgesellschaft am 20. April 2018 sagte.

    Die Importabhängigkeit ist also gesunken? Ja, aber um einen unbedeutenden Prozentsatz. Ende 2014 lag der Anteil von Importgütern im Handel bei 36 Prozent, heute liegt er bei 22 Prozent (3. Quartal 2017).

    Punkt 4. Es kam zur Bildung einer Krückenwirtschaft, also von kleinen, extrem schnell wachsenden Inseln als Antwort auf die Sanktionen: die Getreide- und Milchproduktion, Teile des Maschinenbaus, die pharmazeutische und die Rüstungsindustrie sowie die Territorien vorauseilender Entwicklung. Das sind alle, die jährlich um acht bis zehn Prozent wachsen. In diesen Industriezweigen wurde der Markt künstlich normalisiert. Es gibt leichteren Zugang zu (staatlich geförderten) Krediten, der Zins wurde (durch Subventionen) gesenkt, es gibt mehr Steuer- und Investitionsvorteile, mehr staatliche Zuschussprogramme, weniger bürokratische Hürden. Alles zusammen führt zu einem schnellen Wachstum, das durch den Wertverfall des Rubels zusätzlich begünstigt wird. Wir sehen also ein selektives, segmentorientiertes Vorgehen vor dem Hintergrund einer schwerfälligen, tief schlafenden Wirtschaft.

    Punkt 5. Es kommt zur Verstaatlichung, Konzentration und Bündelung aller finanziellen Ressourcen in Moskau und zur Zunahme von Marktregulierungen als Vorbereitung einer Mobilisierungswirtschaft. Je größer der Druck von außen, je umfassender die Sanktionen, desto mehr staatliche Eingriffe gibt es. Schätzungen zufolge hat die Verstaatlichung in der Realwirtschaft mittlerweile 70 Prozent erreicht. Dasselbe gilt für den Bankensektor. Wenn dieser Trend, der übrigens schon vor den Sanktionen einsetzte, anhält, werden wir mit einem staatlichen Anteil von 80 bis 85 Prozent bald eine ganz andere Wirtschaft haben, und zwar eine, die einer Zentralverwaltungswirtschaft, einer abgeriegelten Festung nahekommt.

    Die kleinen und mittelständischen Unternehmen werden entweder an staatliche Projekte angebunden sein oder auf dem Niveau von Schumacherbüdchen existieren, von denen es Anfang der 1930er Jahre soviele gab. Wir werden ein extremes Wachstum großer Unternehmen beobachten und eine noch größere Abnahme kleiner Betriebe, was ihre Bedeutung, Anzahl und Kaufkraft betrifft. In der Folge kommt es zu einem finanziellen und bevölkerungsmäßigen Dahinwelken der Regionen, die immer mehr vom föderalen Zentrum abhängen werden, von seinen riesigen Projekten vor Ort. In Russland ist der Anteil der staatlichen Konsumausgaben am BIP mit 17,5 bis 18 Prozent sehr hoch, höher als in den USA oder China. Eine Wirtschaft der Vertikalen ist kein gutes Mittel, um die technologische Kluft zum Westen zu kitten.

    Punkt 6. In- und ausländisches Eigentum, das aus Russland stammt, wird voneinander abgekoppelt und intensiv umgestaltet. Auf wessen Seite steht ihr, meine hochverehrten Herrn Kapitalisten? Die besitzende Klasse muss entscheiden, an welchem Ufer sie bleiben möchte – dort in den Offshores der Schweiz oder Irlands oder hier bei uns, an unserem Ufer. Darauf drängt alles hin: die Sanktionen, die russischen Programme gegen die Offshores, der Austausch von Steuerdaten, die Kapital-Amnestie.

    Punkt 7. Der verheerende Rückzug von Ausländern aus der russischen Wirtschaft. Wir brauchen sie: für den Technologietransfer, wegen ihrer Managementerfahrung und ihrer neuen Produkte. Aber sie verlassen uns. Die Anzahl von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung lag 2013 bei 24.000. Bis 2015 ist sie mit 17.600 (Angaben von Rosstat) erheblich gesunken. Ende 2013 gab es in Russland 252 Banken mit ausländischen Beteiligungen, Ende 2017 waren es nur noch 160.

    Punkt 8. In der Wirtschaft herrscht eine bedrückende, finstere Atmosphäre voll schlechter Vorahnungen und hoher Risiken. Es ist ein Risiko, mit den Russen Geschäfte zu machen – davon zeugen die nicht abgeschlossenen Geschäfte und die niedrige Investitionsquote. Bezeichnend ist auch die Situation in der Baustoffindustrie, die ihrer Natur nach den Weg in die Zukunft weist: Hier herrscht das vierte Jahr in Folge eine Flaute. 2014 gab es bei den Backsteinen einen Einbruch um 25 Prozent, bei Beton- und Zementziegeln um 50 Prozent, bei Zement um 25 Prozent, bei Mauersteinen laut Schätzungen um 30 bis 35 Prozent. Der Umfang der Bauarbeiten sinkt seit fünf Jahren in Folge. Mittlerweile liegt er um etwa 15 Prozent niedriger als 2013.

    Punkt 9. Mehr Bomben. Die Rüstungsindustrie verzeichnete 2016 ein Wachstum von 10 Prozent, 2017 von 7,5 Prozent. Vergleichen wir das mit der „einfachen“ industriellen Produktion: Dort gab es 2016 ein Wachstum von 1,6 Prozent und 2017 von 1 Prozent.

    Was sagt uns das? Das Wettrüsten, wenn es in derselben Form und mit denselben Investitionen wie in den 1980er Jahren stattfindet, könnte die russische Wirtschaft in die Knie zwingen. Die Waffen, das Öl, ein über dem Weltdurchschnitt liegendes Wachstum, die Modernisierung – man müsste schon ein Genie sein, um diese einander widersprechenden Aufgaben gleichzeitig und zudem halb isoliert in den nächsten 10 bis 15 Jahren zu lösen.

    Punkt 10. Schlechtere Lebensmittelqualität infolge der Gegensanktionen und ein Sinken des Realeinkommens der Bevölkerung. Wie kann man das herleiten? Dazu legt der Rospotrebnadsor keine Statistiken vor. Ein sehr einfacher Index ist der Import von Palmöl nach Russland: Der stieg bis 2017 im Vergleich zu 2011 um 50 Prozent (Angaben des Rosstat). Im Januar und Februar 2018 gab es im Vergleich zu jeweils demselben Monat 2017 abermals einen Zuwachs von fast 40 Prozent. 2018 könnten wir die Marke von einer Million Tonnen dieses wunderbaren Produkts knacken, das die Produktion von billigen Lebensmitteln ermöglicht.

    Fazit
    Die Wirtschaftssanktionen sind eine Herausforderung, auf die wohl oder übel sowohl die Staatsmaschinerie als auch alle anderen reagieren müssen. Durch Wachstum, neue Ideen oder Anreize, aber sicher nicht dadurch, dass man sich in sein Schneckenhaus verkriecht. 
    Mit einer ordentlichen Portion Ironie kann man den Sanktionen sogar danke sagen: Sie haben die Idee einer großen und verschiedenste Bereiche umfassenden russischen Wirtschaft wiederbelebt, die sich nach einer Modernisierung auf eine wachsende Binnennachfrage stützt und nicht auf den Export und die Kapitalabwanderung ins Ausland. Die Sanktionen haben sogar die Regierung dazu gebracht, in dieser Richtung aktiv zu werden. Ihre wirtschaftspolitische Formel ist allerdings äußerst schwach: maximale Menge an Hindernissen (Haushalt, Kredite, Zinsen, Währungskurs) + immer mehr bürokratische Hürden + Verstaatlichung + Anreize und Hilfskrücken, die ausgewählten Industriezweigen zugutekommen.

    Aber natürlich wäre es irrsinnig, für die Sanktionen dankbar zu sein, denn mit jeder neuen Runde wird die Atmosphäre im Land kälter, die Vertikale steiler und werden die Stimmen lauter, die finden, Russland befinde sich im Kalten oder sogar hybriden Krieg und auf Kriegshandlungen müsse man mit der Mobilmachung reagieren.

    Und das ist womöglich die schlimmste Folge der Sanktionen: Sie bringen uns einer isolierten und zentral-administrativen Mobilisierungswirtschaft immer näher. Hätte man diesem Szenario vor vier Jahren noch eine Wahrscheinlichkeit von 2 bis 5 Prozent beigemessen, so liegt sie heute wohl bei 15 bis 20 Prozent. 
    Und wenn Minderheitsmeinungen zur Norm werden, fragt man sich natürlich: Was sind das bitteschön für Sanktionen, die das Land dazu drängen, sich in fünf bis sieben Jahren in eine kasernenhafte Festung zu verwandeln, die weder für uns noch für die anderen erbaulich ist – und am allerwenigstens für unseren größten Wirtschaftspartner, die EU? 
    Und was sind ihre tatsächlichen Folgen, wenn sie ein extrem hohes Risiko für die ganze Welt bedeuten?

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    Zehn Vizepremiers koordinieren derzeit die Arbeit der Regierung. Warum so viele? Und was haben sie zu entscheiden, wenn es außerdem 22 Ministerposten gibt und zudem noch eine Präsidialadministration?

    Wie die Arbeit der Regierung funktioniert und inwieweit sie noch effizient sein kann, das fragt der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Nekrassow auf Republic.


    Fotos © government.ru (CC BY 4.0)
    Sehr viele Vizepremiers, wie in Russland [derzeit sind es zehn – dek], gibt es in den meisten GUS-Staaten. Und zwar unabhängig vom Umfang demokratischer Prinzipien in ihrem jeweiligen politischen System – von Turkmenistan bis zur Ukraine, aber auch in einigen ehemaligen RGW-Staaten wie Bulgarien oder Rumänien, und auch in China.

    Diese Situation ist zweifellos auf die Übernahme des Regierungsmodells zurückzuführen, das noch unter Stalin entwickelt wurde.

    Dieses Modell basierte auf einer Logik, wonach die Minister fachlich versierte Experten sein sollten, die sich mit den Fragen des jeweiligen Industriezweigs auskennen. Fragen der globalen politischen Strategie sollten dann im engen Kreis von Genossen entschieden werden, die dem Politbüro oder dem Präsidium der Regierung angehörten (was sich oftmals überschnitt). Sie erarbeiteten und kontrollierten die Umsetzung der „allgemeinen Parteilinie“. Somit lag die politische Führung bei Regierungshandlungen in den Händen der Vizepremiers, die in der Regel auch Politbüro-Mitglieder waren, während die Minister für die technische Umsetzung der getroffenen Entscheidungen zuständig waren.

    Clan-Logik entscheidet

    Heutzutage gehört der Großteil der Vizepremiers in Russland (oder auch beispielsweise in der Ukraine) vor allem Clans oder politischen Einflussgruppen an, deren Interessen sie vertreten.

    Auch bei der Ernennung von Ministern driften die Prinzipien zunehmend in Richtung einer klaren Clan-Logik. Bisher aber werden Minister immer noch eher aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation ernannt, als das bei Vizepremiers der Fall ist.

    Ein weiterer Grund für die hohe Zahl der Vizepremiers ist die im Vergleich mit anderen Industrieländern hohe Zahl von eigenständigen bürokratischen Strukturen. Bei allen Unterschieden in Aufbau und Bezeichnung, liegt die Zahl der Vorsitzenden von Ministerien und Behörden, die direkt dem Regierungsoberhaupt unterstehen, in mittel und hoch entwickelten Industrieländern im Schnitt bei 12 bis 25 Personen.

    Bereits Cyril Northcote Parkinson schrieb, dass die Zahl der Regierungsmitglieder 20 bis 22 nicht übersteigen solle. Werde diese Grenze überschritten, verliere das Kabinett seine Regierbarkeit. In Russland gibt es formal 21 Ministerien [in der neuen Regierung sind es 22 – dek], allerdings müssen da noch mindestens 16 Agenturen und föderale Dienste hinzugerechnet werden. Außerdem sind viele Behörden, die formal bestimmten Ministerien unterstehen, de facto eigenständig und unmittelbar dem Regierungsoberhaupt unterstellt. Man denke nur an die Steuerbehörde, die formal dem Finanzministerium unterstellt ist. Berücksichtigt man all diese Strukturen, so steigt die Zahl der Behörden und Ministerien, die de facto zur Regierung gehören, auf über 70.

    In diesem Kontext erscheint die Zahl der Vizepremiers dann gar nicht mehr so hoch.

    Überflüssige Behörden

    Bemerkenswert ist, dass die Zahl der Beamten pro 1000 Einwohner in Russland durchaus der Entwicklung des Landes entspricht und deutlich niedriger liegt als in den meisten Industrieländern. Aber es geht nicht um die absolute Größe des Staatsapparats, sondern um die hohe Anzahl überflüssiger Einheiten, die als eigenständige Behörden Funktionen übernehmen, die in Industrieländern für gewöhnlich von zusammengelegten Ministerien ausgeführt werden.

    Auch hier zeigt sich das sowjetische Erbe. Wegen der Verwaltungsbesonderheiten der Planwirtschaft lag die Zahl der branchenbezogenen Ministerien in der UdSSR wesentlich höher als in Ländern mit freier Marktwirtschaft. Offenbar war es in den 30 Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion einfacher, die ökonomischen Prinzipien zu ändern, als die Zahl der Behörden an das neue Niveau anzupassen.

    Sowjetisches Erbe

    Ein weiteres „sowjetisches“ Merkmal ist, dass es neben der Regierung noch eine starke Präsidialadministration gibt, in der viele Regierungsfunktionen gedoppelt sind. Damit wiederholt sich das Modell „Regierung plus Apparat des Zentralkomitees der KPdSU“. Die Präsidialadministration hat sogar ihren Sitz im ehemaligen Gebäude des Zentralkomitee-Apparats und erfüllt eine ähnliche Funktion der „politischen Kontrolle“. Typisch ist, dass dieses Modell in fast allen GUS-Staaten erhalten geblieben ist.

    Direkt über den Behörden hängt bei uns also noch die dicke Schicht aus Präsidialadministration, aus einem – für internationale Verhältnisse riesigen – Regierungsapparat, den Vizepremiers und den Helfern des Präsidenten. Ist das historische Erbe in solchen Fragen wirklich so mächtig, dass völlig unnötige Verwaltungsebenen allem Praxissinn zum Trotz erhalten bleiben?

    Ich denke, neben der objektiv hohen Zahl der eigenständigen bürokratischen Strukturen, liegt die Ursache für die Langlebigkeit solcher Zwischenämter an zwei weiteren Faktoren:

    Zum einen an der Inflation von Titeln: Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist trotz Verkleinerung der Armee und Wissenschaft die Zahl der Generäle, Doktoren und Akademiker gestiegen. Dabei ist den Menschen durchaus bewusst, dass der Wert der Titel gesunken ist. Aber aller Devaluation zum Trotz hat etwas, das in der Kindheit für so wichtig erachtet wurde, für viele auch heute noch seinen Wert.

    Zum anderen gibt es ein neues Mestnitschestwo, das gewissermaßen das Verhalten der Eliten vor Peter dem Großen wieder aufgreift. Viele Vertreter der heutigen russischen Elite wechseln oft ihre Posten, allerdings immer unter Beachtung mindestens zweier Mestnitschestwo-Regeln par exellence:
    a) der neue Posten darf vom Status nicht unter dem vorherigen liegen (es sei denn es handelt sich um eine ehrwürdige Verabschiedung in die Sinekure);
    b) der neue Vorgesetzte darf kein ehemaliger Untergebener sein.

    Man kann nicht behaupten, diese Prinzipien würden immer und zu hundert Prozent gelten. Aber ein Putin, der immer wieder dasselbe Kartendeck mit ein und denselben Figuren mischt und verteilt, könnte schlecht all die Rochaden planen, hätte er nicht die große Zahl von Präsidentenberatern und -helfern, Vertretern des Präsidenten in den Regionen, stellvertretenden Leitern der Administration und deren ersten Stellvertretern, Vizepremiers und deren ersten Stellvertretern. Hätten wir nur 15 Ministerien wie die USA, wären all diese Rochaden stark erschwert – und die politische Verantwortung würde nicht derart verschwimmen hinter einer Vielzahl von involvierten Personen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Der Fall Schaninka: „Es ist eine Farce“

    Die Nachricht erschüttert die Wissenschaftsszene: An der Moscow School of Social and Economic Sciences, einer der renommiertesten Hochschulen in Russland, dürfen keine staatlichen Diploma mehr erworben werden. Das gab das Rosobrnadsor, die staatliche Aufsichtsstelle für Bildung und Wissenschaft, Ende Juni bekannt. Zuvor hatte die Aufsichtsbehörde an der Schaninka, so wird die Hochschule nach ihrem britischen Gründer Teodor Shanin genannt, eine Überprüfung durchgeführt, die notwendig ist für die sogenannte Akkreditierung der Hochschule. 
    Den Vorwurf des Rosobrnadsor, dass an der renommierten Schaninka bestimmte Bildungsstandards nicht eingehalten würden, halten viele für einen Vorwand. Unabhängige Beobachter werten die Entscheidung vielmehr als politisch motiviert. Die Schaninka pflegt enge Verbindungen nach Großbritannien. So können Studenten der Schaninka ihr Studium auch mit einem Diplom an der University of Manchester abschließen. Die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien jedoch gelten seit dem Fall Skripal als stark belastet.

    Auch ohne staatliche Diplome können Studierende ihr Studium an der Schaninka abschließen und haben als Alumni dieser renommierten Hochschule hervorragende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Was derzeit vielen Sorgen bereitet, ist vielmehr die Frage, wie frei Lehre und Forschung in Russland sind.
    Erst im September vergangenen Jahres hatte eine andere renommierte unabhängige Privathochschule – die Europäische Universität Sankt Petersburg – sogar ihre Lehr-Lizenz verloren. Inzwischen wird dort nur noch geforscht.

    Die Schaninka erfährt derzeit viel Solidarität, mehr als 200 russische und internationale Wissenschaftler protestierten in einem offenen Brief gegen die Entscheidung des Rosobrnadsor.

    Meduza hat mit dem Dekan der Soziologischen Fakultät Viktor Wachstein gesprochen. Auf Snob kommentiert Boris Grosowski den Fall.

    Viktor Wachstein: „Noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität erlebt wie jetzt.“ / Foto © Viktor Wachstein/vk.com
    Viktor Wachstein: „Noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität erlebt wie jetzt.“ / Foto © Viktor Wachstein/vk.com

    Taissija Bekbulatow: Wie kann es sein, dass an einer Hochschule, die in diversen Rankings an der Spitze steht, so viele Verstöße [gegen die staatlichen Bildungsstandards – dek] gefunden werden?

    Viktor Wachstein: Lassen Sie uns diese Verstöße einmal genauer ansehen. Zum Beispiel gilt es als Verstoß, wenn ich mit meinen Studenten für ein Praxisseminar die Stadt verlasse. Das sind Studenten der Soziologie – Feldforscher.
    Ein weiterer Kritikpunkt sind die fehlenden Laborpraktika in Geschichte der Politik-  und Rechtswissenschaften. Ich finde, diese ganze Farce mit der Akkreditierung an sich ist schon ein ziemlich gutes Laborpraktikum in der neuesten Geschichte der Politikwissenschaft.
    Zu den anderen Verstößen äußere ich mich nicht. Nicht einer davon hat etwas mit der Qualität der Lehre zu tun.

    Wie bewerten Sie die Vorwürfe insgesamt?

    Als bürokratischen Versuch, eine unvoreingenommene Beurteilung der Qualität von Lehre und Forschung zu imitieren.

    Zu welchem Zeitpunkt wurde Ihnen klar, dass es Probleme geben könnte?

    Den Verdacht hatte ich schon sehr früh. Als sie [die Inspektoren – dek] in die Hochschule kamen, haben sie zunächst wirklich gearbeitet – haben dagesessen und Berge von Papier durchwühlt: Die Unterlagen meines Fachbereichs passen nicht alle in mein Büro, ich musste sie im Büro des Hochschulpräsidenten stapeln. Aber dann plötzlich haben sie alles stehen und liegen gelassen und sind weggefahren. Und dann natürlich die Gespräche hinter verschlossenen Türen. Auch mit den Experten.

    Eine Frage, die sich aufdrängt: Warum das alles?

    Das weiß niemand. Nur eines ist klar – die Qualität der Lehre und Forschung ist nicht der Grund für die Entziehung der Akkreditierung.

    Wenn die Entscheidung nicht vom Rosobrnadsor kommt, von wem dann?

    Ich habe nicht die geringste Ahnung.

    Inwiefern könnte die Situation mit den zunehmend schlechten Beziehungen zum Vereinigten Königreich zusammenhängen, wegen denen schon der British Council seine Arbeit einstellen musste?

    Wir verlieren uns hier gerade in Mutmaßungen. Das ist einfach nur eine mögliche Variante. Ich persönlich denke, dass das vielleicht auch ein Grund war. Aber wohl kaum der Hauptgrund.
     
    Glauben Sie, dass der FSB etwas mit den Vorwürfen zu tun haben könnte?
     

    Aktuell habe ich keinen Anlass, das zu glauben. Aber ich verfolge die Entwicklungen aufmerksam.
     
    Wie schätzen Sie die realen Folgen ein, welchen Schaden könnte die Entscheidung der Hochschule zufügen? Und auch den Studierenden?
     

    Es wird sich natürlich auf die Bewerberzahlen niederschlagen. Aber vermutlich nicht zu stark. Unsere Studenten kommen nicht wegen der staatlichen Diplome.
    Die Schaninka hatte die längste Zeit ihrer Geschichte keine [staatliche – dek] russische Akkreditierung. Und sie ist bestens ohne sie ausgekommen.
     
    Wie ist die Stimmung an der Schaninka?
     

    Ganz ehrlich, egal, was für Motive diejenigen haben, die uns damit zeigen wollten: „Für euch ist hier kein Platz“ – sie haben das genaue Gegenteil erreicht. Ich bin schon mein halbes Leben mit der Schaninka verbunden, aber noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität unter Studenten, Professoren und Ehemaligen erlebt wie jetzt.


    „Es gibt nur noch wenig Freiheit für Forschung und Lehre“

    Der Fall Schaninka ist Ausdruck einer fatalen Entwicklung in der russischen Hochschullandschaft, kommentiert Boris Grosowski auf Snob.

    Noch setzt die „Schaninka“ ihre Arbeit fort –  staatlich anerkannte Diplome ausstellen darf sie jedoch nicht. Foto © Moscow School of Social and Economic Sciences
    Noch setzt die „Schaninka“ ihre Arbeit fort – staatlich anerkannte Diplome ausstellen darf sie jedoch nicht. Foto © Moscow School of Social and Economic Sciences

    Die Schaninka ist die führende Universität in Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie, in der Erinnerungsforschung und Geschichte der sowjetischen Zivilisation und in vielen anderen Bereichen. In einem Vierteljahrhundert wird man sich an die Angriffe gegen sie und an die Geschichte der Europäischen Universität in etwa so erinnern wie heute an die Zerschlagung der Genforschung und an die Schließung des Meyerhold-Theaters und an den Philosophen-Dampfer, der 1922 vom russischen Ufer ablegte. 

    Außerdem ist mittlerweile die seit Jahren laufende Zertrümmerung der RGGU vollbracht, und die Europäische Universität in Sankt Petersburg hat ihre Lehre eingestellt.

    Bürokratisches Aufsichtssystem

    Aber das Wichtigste ist: Es wurde ein bürokratisches Aufsichtssystem für Hochschulen geschaffen, das es ermöglicht, jede Uni wegen Verstößen gegen tausende kleiner formaler Anforderungen zu schließen. Es trägt den nicht allzu wohlklingenden Namen: Föderale Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft.

    Die gesamte Arbeit einer Hochschule ist nun der Bürokratie untergeordnet: Der Wust an Dokumenten, die der Föderalen Aufsichtsstelle vorzulegen sind, übersteigt alle Grenzen der Vernunft. Die Dozenten, Institute, Fakultäten, Bachelor- und Master-Programme produzieren tonnenweise vollkommen sinnlose Berichte.

    Über die Qualität der Lehre und Forschung sagen diese allerdings nichts aus. Die Föderale Aufsichtsstelle hat ein Aufsichtssystem geschaffen, das den Dozenten, Forschern und Universitätsmanagern das Leben unmöglich macht und das die besten Universitäten des Landes planmäßig vernichtet. Diese Aufsichtsstelle Rosobrnadsor sollte mitsamt ihrem Kontrollsystem dringend abgeschafft werden. Aber die Regierung hat andere Pläne. Sie will diese Aufsichtsstelle nicht abschaffen, sondern ihr sogar noch das Recht erteilen, wissenschaftliche Einrichtungen zu prüfen.

    Ein System, das besten Universitäten das Leben unmöglich macht und sie planmäßig vernichtet

    Die Autonomie der Universitäten und der Wissenschaft im weiteren Sinne ist eine der wichtigsten Errungenschaften in der Geistesgeschichte. In Russland ist es damit nun vorbei. Dabei ist die Bildungsaufsicht nur ein kleiner Schritt auf Russlands Weg in eine noch härtere Form des Autoritarismus. 
    Die Geheimdienste brauchen keine Universitäten oder Forschungseinrichtungen, diese Brutstätten des freien Denkens. Wozu braucht es schon die sozial- und geisteswissenschaftliche Expertise der Schaninka? Wir haben eine ganz andere Art von Expertise: Ein vom Geheimdienst beauftragter Experte meldet, der Historiker Juri Dmitrijew beschäftige sich mit Kinderpornografie.

    Es ist an der Zeit, offen zuzugeben, dass die Geheimdienste hinter der Zerstörung der Hochschulen stehen. Gleichsam als Vermächtnis der Väter träumen sie von jener Macht, über die die Tschekisten in der Sowjetunion verfügten, als sie der Genetik und der Molekularbiologie einen Riegel vorschoben.

    Gigantische Liste von Minimalverstößen

    Noch setzt die Schaninka ihre Arbeit fort, sie darf „nur“ keine staatlich anerkannten Diplome mehr ausstellen (so festgelegt für zwei Studienjahre). Aber bedenkt man die gigantische Liste von Minimalverstößen, die die Inspektoren bei der Schaninka festgestellt haben, fürchte ich, dass der Entzug der Lizenz nur eine Frage der Zeit ist. Oder eine Frage der „Kompromissfähigkeit“ der Leitung dieser Bildungseinrichtung und ihrer Fürsprecher bei der RANCHiGS (allein die Kooperation dieser staatlichen Akademie mit der nicht-staatlichen Schaninka lässt die für die Bildung zuständigen Geheimdienstler wohl wütend mit den Zähnen knirschen).

    Eine gute Prognose lässt sich hier leider nicht machen. Die Freiheit der Forschung und Lehre wird zunehmend aus den Unis verjagt. Entweder weil Lizenzen entzogen oder weil fähige Forscher und Dozenten ersetzt werden.

    Die 2010er haben sich als äußerst schwere Zeit für die russische Wissenschaft und Bildung erwiesen. Und es wird eher schlimmer als besser.

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  • „Lasst uns nicht dauernd über den Präsidenten reden“

    „Lasst uns nicht dauernd über den Präsidenten reden“

    Die Philologin und Publizistin Irina Prochorowa ist eine der wichtigsten russischen Intellektuellen. Im Radiosender Echo Moskwy spricht sie über das Russland jenseits von Putin und über das Russland jenseits glänzender WM-Fassaden.

    Irina Prochorowa (links) spricht im Interview mit Olga Shurawljowa (rechts) über das Russland jenseits glänzender WM-Fassaden / Foto © Screenshot aus der Sendung „Ossoboje Mnenije“ vom 18. Juni 2018
    Irina Prochorowa (links) spricht im Interview mit Olga Shurawljowa (rechts) über das Russland jenseits glänzender WM-Fassaden / Foto © Screenshot aus der Sendung „Ossoboje Mnenije“ vom 18. Juni 2018

    Olga Shurawljowa: Haben Sie den Eindruck, dass sich die Stadt verändert hat, wenn Sie jetzt durch die Straßen gehen? Ist irgendetwas passiert, weil das große Fußballfest bei uns stattfindet?

    Irina Prochorowa: Es gibt viele ausländische Fans. Die Stimmung ist gut, wie beim Karneval, die Leute sind ausgelassen und ziemlich freundlich.

    Gibt es mehr Freiheit?

    Ich habe zumindest keine harten Einschränkungen bemerkt. Mir ist etwas anderes aufgefallen: Wie sauber Moskau plötzlich ist. Denn ich laufe ja viel durch die Innenstadt – eigentlich ist es immer ziemlich dreckig: überall Staub, Smog, Schmutz und so. Aber jetzt ist alles blitzblank. Da denke ich mir, interessant, sie können’s ja, wenn sie wollen. Es wäre schön, wenn das einfach auch nach der WM so bliebe.

    Das ist natürlich unwahrscheinlich. Während solcher internationalen Großereignisse wird ja auch gern diskutiert, dass sie ein wichtiger Sieg für Putin seien – eine schicke, großartige WM mit bemerkenswert schönen Bildern und einer Riesenmenge Fans. Das könnte doch Putins Image tatsächlich korrigieren, was meinen Sie?

    Vielleicht. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Letzten Endes wird es auch etwas Gutes haben … Die Menschen freuen sich, die Fans freuen sich …  Und schauen sich um …

    Wir denken die ganze Zeit nur an einen Menschen und reden auch immer nur über diesen einen Menschen. Was machen wir uns die ganze Zeit Gedanken um den Präsidenten? Der Präsident kommt ganz gut ohne uns zurecht. 

    Was machen wir uns die ganze Zeit Gedanken um den Präsidenten? Wichtiger wäre, dass wir uns über unsere eigenen Aufgaben klar werden

    Wichtiger wäre es, dass wir uns erstmal über unsere eigenen Aufgaben klar werden. Und Ziele benennen, die für uns wichtig sind, damit wir ein würdiges Leben führen. Bisher gelingt uns das nicht besonders. Wir sind nicht gut darin, uns zu organisieren und haben bislang keine Mittel gefunden, um unsere Anliegen durchzubringen.

    Dann stelle ich die Frage anders: Ist die WM eine Möglichkeit, Putins Image oder das Image Russlands und der Russen zu verbessern?

    Wenn alles gut läuft und es zu keinen Exzessen kommt, und das nicht zuletzt, weil für die Ausländer besondere Bedingungen geschaffen wurden, werden die Menschen wahrscheinlich in ihre Länder zurückkehren und sagen: „Mensch, war das toll!“

    Und da ist noch etwas, das mich beschleicht. Plötzlich laufe ich durch Moskau, sehe die Stadt mit den Augen eines Zugereisten und denke mir: Wirklich eine schöne Stadt, verdammt nochmal!

    Im Endeffekt werden die Menschen nicht nur die Putinregierung sehen, sondern auch, dass es hier ganz normale Menschen gibt …

    … und nicht alle die Skripals vergiften.

    Ganz genau. Gewissermaßen geht es nicht um das Image der Regierung, manchmal funktioniert das völlig anders. Es geht darum, dass es ein anderes Leben gibt, jenseits von Putin, jenseits aller politischen Skandale …

    Die Leute sehen nicht nur die Putinregierung, sondern auch, dass es hier ganz normale Menschen gibt

    Ich erzähle gern eine erstaunliche Geschichte, die ich einfach nicht vergessen kann. Als ich Anfang der 1990er nach Österreich reiste, gestand mir ein beeindruckender Österreicher, er sei völlig verblüfft gewesen, als er Ende der 1980er eine Liveaufnahme von den Straßen Moskaus gesehen habe. 
    Warum? Er sah eine europäische Stadt, europäische, gutaussehende Menschen, die sogar ganz schick gekleidet waren. 
    Ich sagte: „Mein Gott! Was haben Sie denn erwartet?“ Und er erwiderte: „Ich weiß es nicht. Aber die Propaganda war so mächtig, dass ich nicht damit gerechnet habe, normale Menschen zu sehen.“

    Deswegen denke ich: Es kann nicht schaden, wenn sie sehen, dass hier ganz normale Menschen leben.

    Aber irgendwie stellen Sie nur traurige Fragen.

    Die WM scheint sogar noch das fröhlichste unserer Themen zu sein. Leider geschehen parallel dazu viele Dinge, die derzeit nicht viel Beachtung finden. Doch es gibt Menschen, die jeden Tag von Senzows Hungerstreik mitzählen.

    Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte wurde wiederholt nicht zu ukrainischen Strafgefangenen vorgelassen, zu einem, der wegen Spionage zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Dieser Prozess läuft unbemerkt nebenbei.

    Was denken Sie? Kann man dagegen etwas tun?

    Man kann immer etwas tun. Wenn die Gesellschaft nicht reagiert, hat ein Mensch keine Chance. Wenn wir uns neben Senzow, über den viel gesprochen und geschrieben wird …

    Dmitrijew zum Beispiel, sein Fall wird neu aufgerollt.

    Ganz richtig. Nehmen wir Juri Dmitrijew, für dessen Freiheit wurde lange gekämpft, und das Gericht hatte ihn praktisch schon freigesprochen. Und plötzlich hebt das Oberste Gericht von Karelien den Freispruch wieder auf …

    Der Prozess wird neu aufgerollt. Es wurde nicht nur der Freispruch, sondern auch die Verurteilung annulliert. [Update: Am 28. Juni 2018 ordnete das Gericht in Petrosawodsk an, dass Dmitrijew in zweimonatige Untersuchungshaft muss – dek] Es geht also wieder von vorn los. 
    Ich war ehrlich gesagt nicht sehr überrascht, ich kenne ja unser Rechtssystem. Zu dessen Aufgaben gehört der Schutz von Menschen leider nur selten …

    Die Gesellschaft muss einen langen, schweren Kampf gegen diesen Repressionsapparat führen

    Was ich sagen will, ist: Die Gesellschaft wird offenbar einen langen, schweren Kampf gegen diesen Repressionsapparat führen müssen, der einen unschuldigen Menschen einfach fertigmachen will … ihn im Gefängnis einfach umbringen will. Denn Dmitrijew ist ein alter Mann, wenn er verurteilt wird, wird er seine Freilassung wohl kaum noch erleben.

    Und trotz all dem, wenn die Gesellschaft nicht nachgibt und weiterkämpft, kommen Gespräche zwischen den Menschenrechtsbeauftragten in Gang, die internationale Gemeinschaft entrüstet sich. Und wenn die da oben noch so oft behaupten, es sei uns schnurz – es ist uns nicht schnurz.

    Ja, wir sehen am Fall von Serebrennikow sehr gut, wie die internationale Gemeinschaft handelt: Kein Festival, keine Veranstaltung vergeht, ohne dass jemand Serebrennikow erwähnt.

    Genau. Und das ist sehr wichtig. Es geht hier nicht nur darum, dass es sich um einen herausragenden Regisseur handelt. Auch dieser Fall ist allem Anschein nach – ich war bei zwei Gerichtssitzungen dabei – von vorn bis hinten mit heißen Nadeln gestrickt. Es liegt nicht die Spur eines Diebstahls vor. Die Sache wurde aus dem Nichts aufgeblasen.

    Ich denke, darauf muss man die Aufmerksamkeit lenken und bis zum Letzten kämpfen. Das ist weitaus wichtiger als über das Image vom Präsidenten, Premierminister oder sonstwem nachzudenken.

    Aber wir hoffen doch, dass denen ein Prestigeverlust nicht völlig egal ist.

    Einen Prestigeverlust wird es nur geben, wenn genügend Menschen geschlossen verkünden: „Wir lassen das nicht zu.“ Das heißt nicht, dass wir dann sofort gewinnen. Dennoch ist es wichtig.

    Wenn wir daran denken, dass in unserem Land ein Menschenleben und die Menschenwürde überhaupt nichts wert sind: Ein Lebensabend nach der Pensionierung – das hättet ihr wohl gern! Das Soll erfüllt und ab ins Grab; medizinische Versorgung gibt es für euch auch keine, versorgt euch selbst …

    In unserem Land sind Menschenleben und die Menschenwürde überhaupt nichts wert

    Von der Rechtsprechung ganz zu schweigen. Das ganze Justizsystem, das den Bürger vor staatlicher Willkür schützen sollte, tut bei uns seit Sowjetzeiten das exakte Gegenteil.

    Sicher, wir haben noch keine ausgeprägte Rechtskultur, sie ist noch sehr jung. Ich finde, es scheint nur so, als würden wir uns mit Kleinigkeiten befassen – was sind schon eine Handvoll Menschen, die für irgendeine Person eintreten. Aber das ist falsch. Denn es wird trotzdem wahrgenommen und beeinflusst die öffentliche Meinung.

    Keine Regierung, und sei sie noch so hart, kann das ignorieren. Deswegen denke ich, dass es großartig ist und wir mit großer Beharrlichkeit weitermachen sollten.

    Wir haben Ojub Titijew noch nicht erwähnt. 

    Richtig. Ein ganz einfacher Mensch – und Fälle wie seiner häufen sich – kann einfach so, völlig nichtsahnend in diesen Fleischwolf geraten.

    Auch dieser arme Junge, der, an sich völlig loyal, nach Deutschland gefahren ist und dort irgendetwas im Bundestag gesagt hat, von wegen nicht alle Deutschen wollten kämpfen. Womit er ja völlig Recht hat! Denn wissen Sie, wenn ein Krieg ausbricht, wird niemand gefragt, ob er kämpfen will oder nicht. Gewehr in die Hand und Abmarsch. Und was ist passiert? Man hat eine Riesenhysterie wegen nichts losgetreten.

    Das arme Kind versteht wahrscheinlich bis heute nicht, wo das Problem lag – es gibt ja auch keins. Es ist einfach plötzlich der Mechanismus der Hexenjagd angesprungen. Man hatte ihnen schon lange niemanden zum Fraß vorgeworfen, wie man so sagt.

    Allerdings ist hier ein Mechanismus quasi von unten angesprungen. Bei uns beginnen unzählige Prozesse damit, dass es irgendeinem Bürger in den Fingern juckt.

    Damals hat sich, glaube ich, irgendein Abgeordneter empört, es kam also nicht ganz von unten. Wissen Sie, wenn man es provoziert – es wird ja sogar dazu aufgerufen, zu denunzieren – dann entsteht natürlich ein System, dass die Leute anregt, so etwas zu tun. Dann tauchen all diese Hetzer auf. Kein Wunder! Die gibt es immer und überall, in jeder Gesellschaft. Die Frage ist allerdings, was dann aus diesen Vorfällen wird.

    Und da wird das Problem mit unserem Rechtssystem offensichtlich. Die schrecklichste Situation ist die absolute Hilflosigkeit eines Menschen, der sich nirgends hinwenden kann. Die Rechtsprechung funktioniert nicht.

    Wir haben einen Direkten Draht zum Präsidenten.

    Ich würde sagen, selbst wenn unser Präsident ein Engel wäre, könnte er als Einzelperson nicht jedem helfen, nicht mal ein bisschen. Er hat einigen wenigen geholfen. Das sind tatsächlich Glückspilze.

    Aber wir wissen doch, dass ein Staat als System funktionieren muss, dass es Mechanismen geben muss, die es ermöglichen, Gerechtigkeit und Wahrheit zu erlangen. Wenn diese Mechanismen nicht funktionieren, kann auch der mächtigste Präsident der Welt nichts ausrichten.

    Ich fürchte, dass wir in diesem Stadium immer noch auf irgendeine Einzelperson hoffen, die alles regelt. Offen gesagt: Ich kenne die Antwort nicht. Aber ich stelle zumindest Fragen.

    Vielen Dank! Das war Irina Prochorowa, die Chefredakteurin von Nowoje Literaturnoje Obosrenije. Mein Name ist Olga Shurawljowa. Ich danke allen, auf Wiedersehen!


     


    Irina Prochorowa im Interview bei „Echo Moskwy“

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    Bürokratisches Verbrechen

    In Russland werden offenbar systematisch Archivmaterialien über die Opfer stalinistischer Verbrechen zerstört. Bekannt sind nur einzelne Fälle; weder die Zielrichtung noch das Ausmaß der Zerstörung ist bislang klar.

    Das Vorgehen russischer Behörden wurde nur zufällig entdeckt. Berichten zufolge erging 2014 eine geheime Anweisung, alle „verjährten“ Registrierkarten von Personen ab 80 Jahren zu vernichten. Offizielle Stellen widersprechen den Vorwürfen und behaupten, dass es sich nur um Einzelfälle handeln könne. 
    Bei einem kleinen Teil der Gesellschaft ließ die Meldung Alarmglocken schrillen, einen Großteil lässt sie bislang kalt. Bei Umfragen bekunden ohnehin nur rund zwölf Prozent der Menschen in Russland ein großes Interesse für Stalinsche Säuberungen, auch das Fußballfest lässt es gerade wohl schwinden.

    Steckt da gezielte Geschichtspolitik dahinter? Und warum sind historische Quellen wichtig für die Gesellschaft? Diese Fragen stellte Pawel Aptekar für Vedomosti.

    Ein einzigartiger historische Fundus an Informationen – die Registrierkarten der Häftlinge / Foto © gulagmuseum.org
    Ein einzigartiger historische Fundus an Informationen – die Registrierkarten der Häftlinge / Foto © gulagmuseum.org

    Einige regionale Informationszentren des Innenministeriums vernichten Registrierkarten von Lagerhäftlingen. Auf das Problem aufmerksam wurde der Historiker Sergej Prudowski. Bei einer Aktenanfrage zum Lageraufenthalt eines Häftlings in Magadan wurde ihm von den dortigen Innenbehörden mitgeteilt, dass die angeforderten Dokumente  vernichtet worden seien. Und zwar gemäß einer mit dem Vermerk „Nur zum Dienstgebrauch“ versehenen zwischenbehördlichen Anordnung vom Februar 2014. Laut Kommersant ging diese Anordnung an das Innenministerium, das Justizministerium, das Katastrophenschutzministerium, das Verteidigungsministerium, den [gnose-7771FSB[/gnose], die Drogenaufsichtsbehörde, die Zollbehörde, den FSO (Föderaler Dienst zur Bewachung der Russischen Föderation), den Auslandsnachrichtendienst, die Staatsanwaltschaft und den staatlichen Kurierdienst.

    In welchem Maßstab die Anweisung umgesetzt wurde, ist bislang unbekannt. Prudowski sagt: „Vor  zwei Jahren habe ich vom Informationszentrum des Innenministeriums in Komi noch ausführliche Auskünfte aus Akten und Registrierkarten ehemaliger Häftlinge erhalten.“

    Einzigartiger historischer Fundus

    Die Registrierkarten der Häftlinge sind ein einzigartiger historischer Fundus an Informationen über Menschen, die zur Strafverbüßung in Lager  geschickt wurden. De facto befindet sich in den Archiven des FSB und in den Staatsarchiven also eine Fortführung der Akten der Repressierten. „Die Registrierkarten ergänzen die Prozessakten um Informationen über den Aufenthaltsort, die Verlegungen und durch zusätzliche Vermerke: die ausgeführte Zwangsarbeit, Krankheiten und Strafen während der Haftzeit“, so Prudowski.

    Derartige Anordnungen würden wohl kaum die Geschichtspolitik des Staates widerspiegeln, meint Nikita Sokolow, Begründer der Freien Historischen Gesellschaft. „Die Staatsorgane, insbesondere das Rossarchiv und das Verteidigungsministerium befassen sich aktiv mit der Digitalisierung von Dokumenten. Anschließend werden die Materialien im Netz frei zugänglich gemacht und ermöglichen so jedem Interessierten, die dokumentierten Ereignisse zu den eigenen mythisch verklärten oder politisch gefärbten Versionen ins Verhältnis zu setzen.“

    Widersprüchliche Signale

    Doch die Signale von oben sind widersprüchlich. Hochrangige Politiker fordern eine Erziehung zum Stolz auf die eigene Geschichte und rechtfertigen Stalin, um kurze Zeit später an der Enthüllung eines Denkmals für die Opfer der Repressionen teilzunehmen und die Repressionen als eine Tragödie zu bezeichnen, die sich nicht wiederholen dürfe. Diese Doppelzüngigkeit ermöglicht auch solche absurden Transformationen wie die Umgestaltung des Museums der Geschichte politischer Repressionen Perm-36 in ein Museum über die Lageraufseher.

    Dieser Vorfall hat der Gesellschaft gezeigt, was für ein begrenztes, bürokratisches Verständnis die Archivangestellten des Innenministeriums von ihrer Arbeit haben: Für sie sind die Registrierkarten keine Dokumente von unschätzbarem Wert, sondern einfach nur vergilbtes Papier.
    Erstaunlich, dass in Zeiten, wo man über große Erfahrung in der Digitalisierung von historischen Dokumenten verfügt, diese vernichtet werden, ohne auch nur eine Kopie zu erstellen. Das würde wohl kaum viel Zeit, Personal oder Mittel in Anspruch nehmen. Es geht um Registrierkarten – ein Blatt Papier, nicht um umfangreiche Akten.
    So ein Umgang mit historischen Materialien macht diese „Arbeit“ zu einem Verbrechen – sei es auch ohne Vorsatz – an der vaterländischen Geschichte und am Gedenken an die Opfer, denen man in öffentlichen Reden neuerdings so gern Respekt bekundet. 

    Oleg Chlewnjuk, Historiker und Verfasser zahlreicher Bücher über den Großen Terror, sagt: „Bedenkt man, um welche Dokumente es sich handelt und welche Bedeutung das Thema hat, ist ein solches Vorgehen unvernünftig.“ Die heimliche Anordnung offenbart tatsächlich ein tiefschürfendes Problem: den Konflikt zwischen dem, was die Silowiki für die staatlichen Interessen halten, und der gesellschaftlichen Forderung nach Zugang zu wichtigen Informationen. Derartige Säuberungen müssen, selbst wenn sie auf staatliche Anweisung hin geschehen, transparent sein und mit Erklärung von Zielen und Motiven erfolgen. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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