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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wer hat Angst vor Greta Thunberg?

    Wer hat Angst vor Greta Thunberg?

    Umweltstreiks sind in Russland eher eine Privatangelegenheit. Das liegt auch an den Gesetzen. So verboten die Moskauer Behörden einen Massenprotest fürs Klima, zu dem die Umweltbewegung Fridays for Future am 20. September weltweit aufgerufen hatte. Während beispielsweise in Berlin laut Polizeiangaben rund 100.000 Menschen fürs Klima auf die Straße gingen, konnte der Protest in Moskau höchstens in Form von Einzel-Pikets stattfinden.

    Und während sich die Debattenbeiträge in westlichen Blättern häuften, war Greta vor allem in sozialen Netzwerken, kaum aber in russischen Medien Thema. Bis Wladimir Putin sich Anfang Oktober auf einem Energieforum in Moskau zu der prominenten Klimaaktivistin äußerte und sagte, es sei bedauerlich, wenn jemand „Kinder und Jugendliche in seinem Interesse nutzt“.

    Große Klimaproteste gibt es in Russland nicht, die Umweltbewegung insgesamt ist eher marginal. Wohl aber gibt es lokale Umweltproteste, etwa gegen die Abholzung eines Waldes oder eine Mülldeponie vor Ort
    Auf Republic kommentiert der Politologe Sergej Medwedew das russische Verhältnis zu Natur und Umwelt sowie den Argwohn, ja Hass, den Greta Thunberg in Russland auf sich zieht – und sieht eine russische Spezifik. 

    Greta Thunberg sorgt für einen seltenen Konsens in der russischen Gesellschaft / Foto © Andreas Hellberg/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Greta Thunberg sorgt für einen seltenen Konsens in der russischen Gesellschaft / Foto © Andreas Hellberg/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Russische Verschwörungstheoretiker sind enttäuscht: Greta Thunberg hat den Friedensnobelpreis nicht bekommen. Dabei hätte er sich perfekt in die bei ihnen beliebte Theorie einer Verschwörung der Klimaforscher und Umweltaktivisten eingefügt, die alles daransetzen, die Welt zu destabilisieren, Jugendliche zu politisieren und nach der Orangenen nun eine Grüne Revolution anzuzetteln. Aber Greta Thunberg ist auch ohne Nobelpreis zu einer neuen geistigen Klammer für Russland geworden, indem sie nahezu jeden gegen sich aufgebracht und einen seltenen Konsens in der russischen Öffentlichkeit herbeigeführt hat. 

    In der Kritik an ihrer Rede beim UN-Weltklimagipfel vereinen sich die unterschiedlichsten Kräfte, angefangen bei Wladimir Putin, der erklärt, es sei „falsch, Kinder im eigenen Interesse zu nutzen“, und sei es auch für einen guten Zweck, bis hin zu aufgeklärten Liberalen, die schreiben, man solle sich erst um das eigene Land und dann um die Erderwärmung kümmern. 

    Was hat dieses Kind gesagt, dass sich das ganze Land seit Wochen nicht mehr einkriegt?

    Russland ist nicht das einzige Land, in dem sich die Gemüter über Gretas apokalyptische Predigt erhitzen, weltweit strotzen die sozialen Netzwerke vor Sarkasmus und Hasskommentaren. Doch nur bei uns scheint Greta wirklich alle Gesellschaftsschichten und politischen Strömungen gegen sich aufgebracht zu haben. Was hat dieses Kind also gesagt, dass sich ganz Russland seit Wochen nicht mehr einkriegt?

    Aber die Frage ist gar nicht, was gesagt wurde, sondern, wer etwas gesagt hat. Wie Ayman Eckford in ihrer Kolumne festgestellt hat, besteht das Problem darin, dass es sich um ein Mädchen, eine Schülerin und eine Autistin handelt. Dadurch gerät Greta ins Kreuzfeuer der vollen Bandbreite von Diskriminierungen, die für Russland typisch sind: Sexismus, Altersdiskriminierung, Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Behinderung) und Mentalismus (Diskriminierung von Menschen mit einer psychischen Störung). Aus diesem bunten Strauß an Triggern sticht insbesondere ihr Alter hervor – in Russlands traditionellem paternalistischen Diskurs ist ein Kind kein vollwertiges Subjekt und hat weder ein Mitsprache- noch ein Stimmrecht. 

    Politischer Generationenkonflikt

    In den Reaktionen auf Greta manifestieren sich also der politische Generationenkonflikt und die wachsende Forderung junger Menschen nach politischer Repräsentation – insbesondere bei Fragen, die sie stärker betreffen werden als die Menschen, die im vergangenen Jahrhundert geboren wurden. Denn einen Generationenkonflikt gibt es nicht nur, was Technologie, Soziologie und Anthropologie betrifft, sondern auch hinsichtlich des Wertesystems: Junge Menschen vertreten zunehmend postmaterielle Werte, Umweltschutz ist ein wesentlicher davon. In Russland ist der Generationenkonflikt zwar nicht so offenkundig wie im Westen, dennoch spüren junge Menschen immer deutlicher, dass sie von der Politik ausgeschlossen sind – daher auch das überraschende Auftauchen von „Schülerpack“ bei Nawalnys Demonstrationen im Frühling und Sommer 2017, die Protestaktionen im Sommer 2019 und die Politisierung der Moskauer Universitäten. 

    Unterminierung der Kontrollinstanzen

    Aus diesem Grund fällt auch die Reaktion der älteren Generation so scharf aus und wird oft begleitet vom Ausruf: „Warum ist die eigentlich nicht in der Schule?!“ Kurz gesagt, mit ihrem Aktivismus unterminiert Greta gleich mehrere Kontrollinstanzen der heutigen Gesellschaft: die Schule, die Universität, die Autorität von Eltern, den Expertenkult und die psychische „Norm“.

    Aber es geht natürlich nicht nur um Greta als Mensch, sondern auch um ihre umweltpolitische Botschaft. Genauer gesagt, um den globalisierungs- und kapitalismuskritischen Diskurs, der im Westen immer breitere Schichten der Gesellschaft erfasst, während er in Russland nur ein ironisches Schmunzeln hervorruft und Anlass zu provinziellen Verschwörungstheorien bietet. „Wem nutzt das?“, fragen hausbackene Analytiker, die Augen listig zusammengekniffen wie Lenin. 

    Obwohl der Klimawandel im vergangenen Jahr nach allen wissenschaftlichen Standards bewiesen wurde und keine Hypothese mehr, sondern ein wissenschaftlicher Fakt ist, halten ihn viele Russen nach wie vor für eine Verschwörung von Klimaforschern und Umweltaktivisten. 
    Überhaupt hat die Wissenschaft an Autorität eingebüßt in Russland, einem Land, wo mehr Kirchen gebaut werden als Schulen, wo in den Nachrichten das Horoskop auf einer Stufe mit dem Wetterbericht und dem Währungskurs durchgegeben wird und wo Verschwörungstheorien und der Glaube an verborgene Kräfte, die das Weltgeschehen lenken, zu einem universellen Erklärungsmodell avanciert sind. 
    Für das Massenbewusstsein steht außer Frage, dass die Welt von einem (unweigerlich bösen) Willen gesteuert wird und dass alles, was passiert, von der Erderwärmung bis hin zur Orangenen Revolution, auf einen Strippenzieher à la Soros zurückgeht. Es überrascht daher nicht, dass auch Greta zu einer „PR-Puppe von Soros“ erklärt wurde, obwohl das Bild eines Philanthropen, der sich seit 30 Jahren aktiv für die Entwicklung des Liberalismus und die Öffnung der Märkte einsetzt, nicht gerade mit Gretas kapitalismus- und globalisierungskritischer Botschaft zusammenpasst.

    In einem paranoiden Diskurs ist natürlich auch die Theorie der Erderwärmung antirussisch

    Hinzu kommt, dass alle Weltverschwörungstheorien bei uns unweigerlich eine antirussische Note haben: Russland gilt als Sand im Getriebe einer „neuen Weltordnung“ – was dieser Begriff auch immer bedeuten mag. In so einem paranoiden Diskurs ist natürlich auch die Theorie der Erderwärmung antirussisch: Weil sie den CO2-Ausstoß als Ursache benennt und auf alternative, erneuerbare Energien setzt und damit Russland seiner wesentlichen Exportgüter – Öl und Gas – beraubt und das Land vom Weltmarkt drängt. Während Greta persönlich, so die regierungsnahe Rossijskaja Gazeta, versucht die russische Jugend auf die Straßen zu bringen und zum Sturz der bestehenden Ordnung aufruft – im Grunde bereitet also auch sie den schrecklichen Maidan vor, gegen den Russland in den letzten 15 Jahren ankämpft.

    Russland ist grundsätzlich kein umweltfreundliches Land. Das liegt an der allgemeinen Unordnung und der enormen Fläche

    Allerdings geht das Problem über die Verschwörungstheorien hinaus: Russland ist grundsätzlich kein umweltbewusstes, geschweige denn ein umweltfreundliches Land. Das liegt an der allgemeinen Unordnung und der enormen Fläche – der Russe betrachtet seine Umwelt nicht als etwas, das ihm gehört, er fühlt sich nicht verantwortlich, sondern sieht sich als vorübergehenden Nutzer, während der wahre Eigentümer der Staat ist. 

    Daraus entspringen auch die Gleichgültigkeit und der Zorn im Umgang mit der Umwelt: der Vandalismus im Wald und die Brandrodungen, die zerstörerischen Ausflüge in die Natur mit Motocross-Bikes, Lagerfeuern, abgebrochenen Ästen und hinterlassenen Müllhaufen. 
    Die Umwelt gilt als etwas Äußeres, etwas Fremdes, deswegen transferiert der Russe auch alles Mögliche in die Natur: Die Couch schleppt er in den Wald, alte Reifen wirft er den Abhang herunter, Kippen schnippt er aus dem Autofenster oder leert ganze Aschenbecher an einer roten Ampel mitten auf die Straße. 
    Schon Nikolaj Berdjajew und Iwan Iljin schrieben, in Russland gebe es zu viel Raum, somit betrachte man ihn als eine grenzenlose Ressource, die „alles verkraftet“. Genauso wird übrigens auch die erneuerbare Bio-Ressource namens Bevölkerung behandelt, die man getrost für höhere Staatsziele opfert, frei nach dem Motto: „Die Weiber werden schon neue gebären“.

    Eine Marotte des reichen Westens

    Bei seinem Privateigentum (Wohnung, Datscha, Auto) legt der Mensch ein anderes Verhalten an den Tag, doch die Umwelt gilt als etwas Fremdes, das niemandem gehört: Daher kommt auch die Scheißegalhaltung sowohl zur heimischen Natur als auch zu globalen Umweltproblemen, die von unserer provinziellen Warte aus als eine Marotte des reichen Westens erscheinen. 

    Deswegen nervt Greta Thunberg auch so – die Tochter reicher Eltern, die ihr einen Törn mit der Segelyacht nach New York finanzieren. Die russische Öffentlichkeit wurmt vor allem diese unerreichbare „Yacht“. Und die Rettung des Planeten wirkt dann auch wie die Yacht und Eskapade eines verzogenen Kindes in einer überfressenen Gesellschaft in den oberen Etagen der Maslowschen Bedürfnishierarchie

    „Welcher Klimawandel?“, fragt der Durchschnittsrusse, „ich hätte lieber mal eine Gehaltserhöhung, keinen Kredit im Nacken, eine anständige Straße in die nächste Kreisstadt, effektive Terrorismusbekämpfung, keine Politgefangenen, keine Korruption und Beamtenwillkür (Zutreffendes bitte ankreuzen) – und dann können wir über die Rettung von Amur-Tigern und Eisbären reden.“ 

    Frust gegen die Welt da draußen

    In den letzten Jahren tut sich etwas, die Bürger erkennen ihr Recht auf den eigenen Lebensraum und eine saubere Umwelt: Man kämpft für Parks und Grünanlagen, gegen Mülldeponien. Aber diese Proteste sind immer nur lokal, und ich scheue mich nicht, es zu sagen: egoistisch (was sie nicht weniger wichtig macht). Die Menschen gehen nicht auf die Straße, solange niemand vor ihren Fenstern Jahrhunderte alte Bäume fällt oder eine neue Müllhalde errichtet. Diese lokalen Proteste stehen nicht im globalen Kontext, den man nur als Störfaktor sieht, als einen Medienrummel, der von „unserem“ richtigen Kampf ablenkt. 

    Alles in allem handelt es sich um ein typisches Ressentiment, einen Frust gegen die Welt da draußen und um eine Übertragung der inneren Probleme nach außen. Um die Unfähigkeit, sich in eine neue Ordnung einzufügen, in der Fliegen als unethisch gilt und Kinder, anstatt die Schulbank zu drücken, Erwachsenen die Leviten lesen. Ich sage nochmals: Das betrifft nicht nur Russland, Greta hat weltweit Millionen Menschen aufgebracht (um nicht zu sagen zu Trollen gemacht), hat die patriarchalen Stereotype auf den Kopf gestellt. Doch gerade in Russland verbindet sich das mit einem umfassenden Frust gegen die Welt, mit der postsowjetischen Identitätskrise und unserem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Umweltthemen. 
    Globalisierung und Globalisierungskritik, Autismus und Toleranz, Feminismus und Kinderrechte – die ganze bei uns so verhasste Losung des Liberalismus und der politischen Korrektheit verdichtet sich in einem schwedischen Mädchen mit Autismus, das zur Zielscheibe und zum Blitzableiter für das russische Ressentiment wurde. Und nun übt sich dieses Ressentiment in Ironie und Hass, ohne zu begreifen, dass es keine skandinavische Zügellosigkeit und keine Klimaverschwörung, sondern nur sich selbst entlarvt.

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  • Gefängnis oder Tod

    Gefängnis oder Tod

    Im August soll der Prozess gegen die drei Schwestern Chatschaturjan beginnen. Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan wird vorgeworfen, ihren Vater Michail vorsätzlich ermordet zu haben. Mit einem Messer hatten sie auf den Schlafenden eingestochen, 36 Messerstiche werden später gezählt. Den Schwestern drohen nun bis zu 20 Jahren Haft.

    Der Fall Chatschaturjan hat in Russland für heftige Debatten über häusliche Gewalt gesorgt. Der Journalist Pawel Kanygin hatte für die Novaya Gazeta ausführlich darüber berichtet. Was seine Recherchen zutage brachten, liest sich schrecklich: Der Vater, der auch gewalttätig gegen die Mutter der jungen Frauen gewesen war, hatte diese sowie den gemeinsamen Sohn aus dem Haus gejagt. Seit 2015 wohnte er mit seinen drei Töchtern alleine. Diese schildern jahrelangen psychischen und physischen Missbrauch und Folter. Die jüngste der drei Schwestern soll versucht haben, sich umzubringen. Nachdem er ihnen wegen Unordnung in der Wohnung Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte, ermordeten sie ihn.

    Es gibt Stimmen, die den Vater verteidigen, der lediglich versucht habe, seine Töchter streng zu erziehen. Auch unter dem Verweis auf „traditionelle Werte“ war in Russland 2017 das Strafmaß bei häuslicher Gewalt gemindert worden. 
    Opferschutzverbände, aber auch viele Prominente dagegen verteidigen die drei Schwestern, argumentieren, dass sie nach jahrelangem Missbrauch aus Notwehr handelten. 

    Olga Romanowa, renommierte Journalistin und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Rus Sidjaschtschaja, stellt sich ebenfalls hinter die drei Mädchen: Warum holten sie keine Hilfe von außen, warum wandten sie sich nicht an die Polizei? Auf Forbes Women wirft Olga Romanowa genau diese Fragen auf – und legt dar, weshalb.

    Die Schwestern Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan sind des Mordes an ihrem Vater Michail Chatschaturjan (57) angeklagt. Bei der Vernehmung gestanden sie die Tat und berichteten vom systematischen Missbrauch durch den Vater. Der Strafrechts-Paragraph wegen vorsätzlichen Mordes nach Absprache, der in ihrem Fall zur Anwendung kommen soll, sieht bis zu 20 Jahre Freiheitsentzug vor.  

    Vorrede

    Szenario 1: Es ist spät abends. Sie sind unterwegs nach Hause und werden im Treppenhaus überfallen. Sie schubsen den Angreifer weg, er knallt mit der Schläfe gegen eine Fensterbank und stirbt.

    Szenario 2: Ihr beinahe Ex-Mann zieht aus und packt seine Sachen, er ist nervös, hat getrunken, er brüllt, Sie hätten sein Leben ruiniert, und er versucht Ihnen eine Ohrfeige zu verpassen – es ist nicht das erste Mal, doch nun ist er beim Waffenschrank angelangt, wo er sein Jagdgewehr aufbewahrt, richtet es plötzlich auf Sie und legt schon eine Patrone ein. Da schwingen Sie seinen Golfschläger. Er fällt um, Sie rufen die Polizei. 

    Und dann?

    Dann kommen Sie ins Gefängnis. Ohne jeden Zweifel. Selbst wenn Sie die besten Anwälte haben, die es schaffen, einen Hausarrest zu erwirken oder eine schriftliche Erklärung, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Doch früher oder später kommt es zum Prozess, und Sie bekommen eine Haftstrafe. Und zwar nicht auf Bewährung.

    Sie bekommen eine Haftstrafe – und zwar nicht auf Bewährung

    Ihre Anwälte und Sie werden argumentieren, es sei Notwehr gewesen und Sie hätten keine Wahl gehabt. Während die Staatsanwaltschaft argumentieren wird, Sie hätten die Grenze der Notwehr überschritten. 

    Hatten Sie im ersten Fallbeispiel andere Handlungsmöglichkeiten? Aber sicher doch. Sie hätten im Treppenhaus versuchen können mit dem Angreifer zu reden, sie hätten ihm Pestalozzi zitieren können, oder zur Not auch etwas aus dem Matthäusevangelium. Er wäre sicher einsichtig gewesen. Aber Sie haben es nicht einmal versucht. 

    Warum mussten Sie den Angreifer denn so schubsen, dass er mit der Schläfe auf der Fensterbank aufschlägt? Man hat Ihnen beim Selbstverteidigungskurs und im Sportunterricht in der Schule doch genau einmal gezeigt, wie man einen Angreifer mit einem Schulterwurf außer Gefecht setzt und fixiert. Warum haben Sie diese simple Technik der Selbstverteidigung nicht angewandt? 

    Und was hatten Sie eigentlich an? Keine dicken Strumpfhosen? Na, da sehen Sie mal! Sie waren an einem Samstagabend allein nach Hause unterwegs, in einem Rock! Sie haben ihn provoziert! 

    Sie hatten keine dicken Strumpfhosen an?

    Und im zweiten Fall mit Ihrem Ehemann ist Ihre Absicht von Anfang an klar: Er hatte Gütertrennung  eingefordert und Sie waren nicht einverstanden? Haben Sie ihn aus Notwehr geschlagen, oder war es vorsätzlicher Mord aus Habgier? Sie wollten Ihr Vermögen nicht aufteilen, deswegen haben Sie ihn provoziert, als er ganz friedlich dabei war, sein Gewehr einzupacken, und haben ihn geschlagen.

    Es wird einen Schuldspruch geben. Darin wird unweigerlich folgende Wendung vorkommen, die wichtigste für Sie: „Die Angeklagte hätte auf eine sozialverträgliche Weise handeln müssen.“ 

    Also versuchen, den Angreifer in ein klärendes Gespräch zu verwickeln. Den Bezirkspolizisten informieren. Sich an die Hausverwaltung wenden. Einen Brief an den Abgeordneten schreiben. Oder Maßnahmen der Selbstverteidigung anwenden, die keine schweren gesundheitlichen Folgen für den Angreifer nach sich ziehen. 

    Das alles haben Sie nicht getan – also ist es Totschlag oder vorsätzlicher Mord (möglich im zweiten und dritten Fall), und Sie bekommen zehn Jahre. 

    Totschlag oder vorsätzlicher Mord – und man bekommt zehn Jahre

    Wie viele solcher Fälle gibt es? In den letzten zwei Jahren wurden etwa 3000 Frauen wegen Mordes unter genau solchen Umständen verurteilt. Wobei es sich in den meisten Fällen um Mord am Ehemann, Lebenspartner oder einem männlichen Verwandten handelt, und zwar beim Versuch der Frauen, sich vor Missbrauch zu schützen. 
    Gleichzeitig sterben jedes Jahr circa 8500 Frauen bei gewaltsamen Übergriffen. Das sind diejenigen, die keinen Golfschläger, kein Messer zur Hand oder nicht genug Kraft hatten, den Angreifer gegen eine Fensterbank zu schubsen. Demnach hat eine Frau immer die Wahl: Sterben oder für zehn Jahre ins Gefängnis gehen.

    Aber schauen wir uns doch mal an, welche „sozialverträglichen Methoden“ es gibt, sich vor Missbrauch zu schützen, ohne radikale Maßnahmen zu ergreifen. Das wird nicht lange dauern. Gar keine gibt es. Gesetzlich ist eine Frau, die angegriffen wird, durch nichts geschützt. Unabhängig davon, ob sie sich wehrt oder nicht. Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis, wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst umgebracht.

    Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis. Wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst du umgebracht

    Sehen wir uns noch einmal die Statistik an. Ich will vorausschicken:  Wir gehen Schritt für Schritt vor. 

    Wo und wie werden Frauen ermordet? Angriffe durch einen Fremden und Notwehr, die den Tod des Angreifers nach sich zieht, sind selten. Meistens (unabhängig ob Mörder oder Mörderin, hier spielt das Geschlecht einmal keine Rolle) kannten sich Täter und Opfer. 
    Handelt es sich allerdings um eine Mörderin, ist das Opfer der Ehemann, Partner oder ein männlicher Verwandter, und der Grund für den Mord ist immer derselbe: häusliche Gewalt.

    2012 verzeichnete das Innenministerium 34.000 Opfer von häuslicher Gewalt. Fünf Jahre später hat sich die Zahl fast verdoppelt: 65.500 Opfer allein im Jahr 2016. Aber 2017 hat sich die Opferzahl signifikant verringert auf 36.000. 2018 waren es noch weniger. Warum? Weil ein Gesetz zur Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet wurde. Konnte man bis 2017 für die Misshandlung seiner Frau noch ins Gefängnis kommen, so gibt es heute nur noch eine Geldstrafe, die kaum höher ist als fürs Parken im Parkverbot. Nicht auszuschließen, dass sich das Verhältnis der beiden dadurch nur noch verschlechtert, und ob die Frau ihren Mann beim nächsten Mal anzeigen wird, ist mehr als fraglich. 

    Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? 

    Es gibt also abertausende Fälle von häuslicher Gewalt, die nicht zur Anzeige gebracht und damit nicht erfasst werden. Welchen Sinn hat es, Anzeige zu erstatten, wenn du selbst dafür bestraft wirst? Der Staat wird dich nicht schützen. Die NGOs und Vereine, die Hilfe bieten könnten und es auch tun, stehen selbst unter Beschuss und gelten größtenteils als ausländische Agenten. Zudem haben NGOs nicht das Recht, dem Täter ein Kontaktverbot aufzuerlegen oder einer Mutter das alleinige Sorgerecht zu erteilen, während kompetente Behörden entscheiden, was mit dem Gewalttäter zu tun ist. Solche Behörden gibt es bei uns nämlich nicht. 

    Zudem wird jegliche Nötigung, Erniedrigung oder Folter, die nicht mit physischer Gewalt einhergeht, gar nicht erst strafrechtlich verfolgt. Im Gesetz tauchen sie nicht einmal auf.

    Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? Dafür gibt es mindestens drei Gründe.

    Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten

    Der erste ist finanzieller Natur. Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten. Dafür bräuchte man einstweilige Verfügungen, die dem Täter verbieten, das Opfer zu kontaktieren, müsste eine Behörde einrichten, die diese verhängt und deren Einhaltung kontrolliert (so ein System funktioniert in 119 Ländern, aber nicht bei uns). Man müsste staatliche Einrichtungen schaffen, die die Opfer aufnehmen können, die sich oft plötzlich mit ihren Kindern ohne Dach überm Kopf wiederfinden. Solche Einrichtung gibt es in Russland, allerdings nur durch private Initiativen, unterhalten werden sie durch Stiftungen und Spenden.

    Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit 

    Der zweite ist ein außenpolitischer Grund. Russland hat die Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung häuslicher Gewalt nicht ratifiziert. Die Nichtunterzeichnung der Konvention war offensichtlich eine Reaktion auf die verschärfte Situation zwischen Russland und Europa nach den Sanktionen. 

    Ein weiterer außenpolitischer Grund für die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt war die Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit über die Aufhebung jeglicher Formen der Diskriminierung von Frauen – eine entsprechende Konvention der Vereinten Nationen wurde noch 1982 durch die UdSSR unterzeichnet. Die Entkriminalisierung hat signifikant dazu beigetragen, diese Statistik zu „korrigieren“. 

    Sehen Sie? Da sehen Sie’s doch! In Russland hat sich die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in nur einem Jahr – von 2017 bis 2018 – halbiert. Das liegt daran, dass wir die Diskriminierung von Frauen so effektiv bekämpfen, und keineswegs daran, dass wir komplett aufgehört haben, die Straftäter zu verfolgen. Sie wollten doch eine Statistik? Bitte schön, da ist sie. 

    Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich

    Der dritte ist ein innenpolitischer und religiöser Grund: die Russisch-Orthodoxe Kirche. „Diejenigen Menschen, die versuchen den Kern unserer Gesellschaft zu zerstören – nämlich die Familie –, handeln unter dem Vorwand des Kampfes gegen Gewalt und zum Schutzes der Schwachen“ heißt es in der Erklärung der Patriarchen-Kommission zum Schutz von Mutter und Kind, deren Vorsitz Erzpriester Dimitri Smirnow innehat. Kurzum, die konservative Position in Russland lautet jetzt tatsächlich: „Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich.“

    Das alles hängt mit dem Fall der Schwestern Chatschaturjan zusammen. Damit, warum es so wichtig ist, dass wir einen fairen und öffentlichen Prozess und natürlich einen Freispruch erkämpfen. Weil es jede von uns betrifft. Weil es keine Stelle gibt, an die wir uns wenden können. Weil uns niemand schützt. Weil wir nur zwei Möglichkeiten haben: Gefängnis oder Tod. 

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  • Gerechtigkeit statt harte Hand

    Gerechtigkeit statt harte Hand

    66 Prozent der Menschen in Russland äußern ihre Zustimmung für die Tätigkeit des Präsidenten. Gleichzeitig meinen nur sechs Prozent, dass die Staatsmacht gerecht ist. Wie geht das zusammen? Viele russische Beobachter haben schon versucht, diesen Widerspruch aufzulösen. Etwa unter Verweis auf die häufig als alternativlos empfundenen Herrschaftsverhältnisse, die zudem in Russland ja nie anders gewesen seien. Vor allem vor dem Hintergrund von sinkenden Zustimmungswerten für Putin liefern Soziologen nun Antworten auf das scheinbar widersprüchliche Phänomen. 

    Manche von ihnen, wie etwa Grigori Golossow, halten angesichts des steigenden Rufs nach Veränderung sogar eine Perestroika 2.0 für möglich. Andere sind da vorsichtiger. Wie Wladimir Petuchow – einer der Gründerväter der modernen russischen Soziologie. Auf Vedomosti analysiert der Wissenschaftler die aktuellen Zahlen – und widerspricht dabei dem häufigen Eindruck, „dass im Land viel passiert, aber sich kaum etwas ändert“.

    In den letzten Jahren, besonders 2017 und 2018, gab es einige signifikante Verschiebungen – in der öffentlichen Meinung und in den Erwartungen der russischen Bürger. Das zeigen Forschungsergebnisse der RAN (Rossijskaja Akademija Nauk, dt. Russische Akademie der Wissenschaften). Am auffälligsten ist dabei das Bröckeln des paternalistischen Konsens. Dieser hat  sich, verglichen mit dem Krim-Konsens, als wesentlich beständiger erwiesen, war er auch weniger klar ausgedrückt. Sein Kern ist schnell zusammengefasst: Loyalität zur Regierung im Tausch dafür, dass sie sich aus dem Privatleben der Bürger heraushält und eine grundlegende soziale Absicherung bietet – wenn auch nicht für alle, so doch für den Großteil der Bürger. 

    Dieser Konsens fußte auf einer mehr als ein Jahrzehnt andauernden Phase des wirtschaftlichen Wachstums, die mit wenigen Unterbrechungen bis 2014 andauerte. Sie ermöglichte es den Menschen, sich um ihre privaten Angelegenheiten zu kümmern und die Lösung gesellschaftspolitischer Fragen der Regierung zu überlassen. Ob die Regierung etwas tat oder nicht, stieß dabei kaum auf Interesse. In diesen Jahren galt Stabilität als das höchste Gut. Daher gab es auch keine Forderungen nach Veränderung – weder wirtschaftlich noch politisch.

    Fundamentaler Richtungswechsel

    Doch schon die nächste Krise, gefolgt von einer wirtschaftlichen Depression, veränderte die Zukunftspläne vieler Russen oder machte sie sogar zunichte. Schließlich erkannten die meisten, dass ein Festhalten am Status Quo angesichts der wirtschaftlichen Depression und des Verfalls sozialer Einrichtungen die Stagnation und die Krisenerscheinungen nur befördert, was wiederum zu einer weiteren Verschlechterung der ohnehin schon schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage eines jeden Einzelnen führt. Hinzu kommt, dass die Regierung selbst in letzter Zeit recht eindeutige Botschaften an die Bürger sendet: Der paternalistische Konsens der Nullerjahre habe sich erschöpft, und nun sei es an ihnen, sich selbst und ihre Familien zu versorgen. 

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Daraus erklärt sich der fundamentale Richtungswechsel in der öffentlichen Meinung und den Erwartungen: Zwischen 2012 und 2016 wuchs der Anteil der Russen, die finden, das Land brauche grundlegende Veränderungen sowie politische und wirtschaftliche Reformen, von 28 auf 56 Prozent. Er hat sich also verdoppelt. Gleichzeitig sank die Zahl der Befürworter des Status Quo von 72 auf 44 Prozent. 

    Weder radikal noch revolutionär

    Da die moderne russische Gesellschaft sehr heterogen und fragmentiert und die gegenwärtige Polit- und Wirtschaftselite alles andere als eine glühende Anhängerin des Wandels ist, unterbreitet sie dem Volk auch keine realistischen Zukunftsstrategien. Darum trägt die Forderung nach Veränderung einen amorphen und meist wenig zielgerichteten Charakter. Es handelt sich wohl eher um eine Ansammlung von Wünschen: Dringliche soziale Probleme sollen gelöst und verschiedenste Formen der Ungleichbehandlung aufgehoben werden. Solche Forderungen sind weder radikal noch von revolutionärem Pathos durchdrungen. Die Zahl der Befragten, die sich für Veränderungen aussprachen, gleichzeitig aber fanden, das Land brauche einen allmählichen, vorsichtigen Wandel, ist doppelt so hoch wie die Zahl jener Menschen, die sich schnelle und tiefgreifende Veränderungen wünschen (60 zu 30 Prozent).

    Umfragen belegen außerdem, dass viele Russen, weil sie keine klaren Richtlinien für die Zukunft sehen und wegen dieser Ungewissheit besorgt sind, nichts dagegen hätten, zum vergleichsweise ruhigen Zustand der Nullerjahre zurückzukehren, als das Erdöl teuer war, die Löhne stiegen und Russland deutlich weniger Feinde hatte als heute. Im Bewusstsein eines Großteils der Gesellschaft verdrängt die Nostalgie nach Putins ersten zwei Amtszeiten allmählich sogar jene nach dem goldenen Zeitalter der Stagnation unter Breshnew.   

    Der Unterschied zur Zeit der Perestroika

    Darin unterscheidet sich die Situation von der vor 30 Jahren, als in unserer Gesellschaft das letzte Mal heftige Forderungen nach Veränderung aufkamen. Damals war vor allem in der Anfangsphase die Regierung mit Michail Gorbatschow an der Spitze die treibende Kraft. Erst später gaben aktivistisch orientierte Gruppen und Kreise diesen Veränderungen eine neue Ausrichtung und Agenda
    Aber es gibt noch einen wichtigen Unterschied: Gerade im Vergleich zur Jelzin-Zeit machen sich die heutigen Russen weniger Hoffnungen und Illusionen in Bezug auf den Staat. Forderten unsere Mitbürger in den 1990er Jahren buchstäblich den Staat zurück, der sie ihrem Schicksal überlassen hatte, so lässt sich in den letzten Jahren ein entgegengesetzter Trend beobachten: Der Staat verblasst zunehmend als zentrales Element, um gute Lebensumstände für alle zu erreichen. Denn immer mehr Menschen zweifeln daran, dass der Staat alltägliche, routinemäßige, nicht auf einen schnellen propagandistischen Effekt zielende Aufgaben lösen könnte, die zu einer Erhöhung der Lebensqualität führen. 
    So erscheint den Russen ein vom Präsidenten angekündigter Durchbruch im Bereich der Technik und Wissenschaft in den nächsten zehn Jahren realistischer als beispielsweise eine Sanierung der Straßen im selben Zeitraum, erst recht, wenn es um die russische Provinz geht.   

    Selbstverantwortung statt Sozialstaat

    Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass zahlreiche Gruppen und Schichten aufgetaucht sind, die den Sozialstaat für unnötig erklären oder schlicht seine Effektivität anzweifeln. Außerdem sprechen sie sich für mehr individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung aus. 
    Der Anteil der Russen, die angeben, sich ohne staatliche Unterstützung versorgen zu können, wächst langsam, aber beständig: 2015 waren es 44 Prozent der Befragten, heute sind es schon fast 50 Prozent. Unter den heute 18- bis 30-Jährigen sind es sogar 62 Prozent. In dieser Alterskohorte geben nur 38 Prozent an, dass sie und ihre Familien ohne staatliche Unterstützung nicht überleben könnten.

    Gleichzeitig sind diese „selbstverantwortlichen Russen“ im Großen und Ganzen regierungsloyal. Die Zustimmung für Präsident Putin unter ihnen ist ähnlich hoch wie unter denjenigen Menschen, die eine staatliche Unterstützung für sich und ihre Familie für notwendig erachten. Aber das ist nicht ungewöhnlich, denn Selbstverantwortung muss keineswegs in Opposition zum Staat stehen. 

    Sollten die Interessen des Staates Vorrang vor den Rechten des Individuums haben?

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Bemerkenswert ist allerdings, dass viele von ihnen die Interessen des Staates nicht über die Interessen der Bürger stellen. Nur 29 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass „die Interessen des Staates Vorrang vor den Rechten des Individuums haben sollen“. 36 Prozent verneinen diese Aussage und ein relativ großer Anteil (35 Prozent) zeigt sich unentschieden. Besonders oft verneinen Bewohner von Megastädten die Aussage (42 Prozent, gegenüber 26 Prozent Zustimmung). Insgesamt verneinen sie Befragte aus nahezu allen Gruppen und Bevölkerungsschichten (mit Ausnahme der über 60-Jährigen). 

    Die „harte Hand“ verliert an Anziehungskraft

    Auch die ehemals populäre Idee der sogenannten harten Hand, die dann angeblich für Ordnung im Land sorgt, verliert ihre Anziehungskraft. Auf die Frage „Welche Ideen entsprechen am ehesten Ihren Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft für Russland?“ gab es folgende Antworten (Platz 1 bis 5): soziale Gerechtigkeit (59 Prozent); Demokratie, Menschenrechte, Recht auf freie Selbstentfaltung (37 Prozent); Russlands Wiedererlangung des Status einer führenden Weltmacht (32 Prozent); Rückkehr zu nationalen Traditionen und moralischen Werten (27 Prozent), starke, durchgreifende Regierung, die Ordnung gewährleistet (26 Prozent). „Maskuliner Herrschaftsstil“ rangiert als Idee also nicht nur hinter der Idee der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch um fast zehn Prozentpunkte hinter der Idee der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechts auf freie Selbstentfaltung.

    Welche Ideen entsprechen am ehesten Ihren Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft für Russland?

     


    Quelle: RAN/WZIOM

    Anders gesagt: Im Land für Ordnung zu sorgen ist eine Losung von Gestern oder sogar von Vorgestern. Die heutigen Russen beschäftigen ganz andere Probleme, die sich auf administrativem Weg nicht lösen lassen. Allen voran ist es die Situation im sozialen Bereich, die unsere Mitbürger heute sogar für besorgniserregender erachten als mögliche materielle Einbußen. Deswegen verlangen die Russen von der Regierung keine Härte, sondern vor allem Effektivität. Und die Achtung des Gesetzes durch alle Menschen – auch durch die Machthaber. Wobei die Gleichheit vor dem Gesetz für die Russen gleichbedeutend ist mit Gerechtigkeit und Demokratie.

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    „Die Menschen wollen Veränderung“

    Stört die Rente den WM-Frieden?

  • Kirche versus Grünanlage – wer gewinnt?

    Kirche versus Grünanlage – wer gewinnt?

    „Sind das Gottlose?“, unterbrach Wladimir Putin letzte Woche einen Teilnehmer des Medienforums in Sotschi. Der hatte den Präsidenten eigentlich um einen Kommentar zu den Protesten in Jekaterinburg bitten wollen. Nein, entgegnete er und wurde wieder von Putin unterbrochen. Zuvor hatte der junge Mann die Geschehnisse in der Stadt geschildert: Seit Anfang vergangener Woche protestieren dort hunderte Menschen gegen die Bebauung eines Parks. Da dieser laut Plan der Behörden einer Kirche weichen muss, ist das Vorhaben brisant. 

    Eine polarisierende Debatte ist deshalb in Russland entbrannt: Еinerseits stellten sich viele russische Prominente demonstrativ auf die Seite der Protestierenden, andererseits gingen einige andere Prominente mitsamt achttausend Menschen zu einer Prozession für den Kirchenbau, wie die Jekaterinburger Eparchie berichtet.

    Das ganze Land debattiert, während sich die Jekaterinburger weiter gegen die Bebauung der Grünfläche stemmen. Einige von ihnen haben letzte Woche den Bauzaun eingerissen; es gab Zusammenstöße mit Gegendemonstranten und OMON-Kräften. Diese verhafteten über 40 Protestierende, manche wurden mit administrativer Haft von bis zehn Tagen bestraft.

    Wladimir Putin jedenfalls schlug auf dem Medienforum vor, eine Umfrage in Jekaterinburg durchzuführen. Diese soll in den nächsten Tagen stattfinden. Für den Vorschlag erntete der Präsident Kritik, unter anderem vom Soziologen Grigori Judin. Dieser vergleicht die Umfrage mit dem Krim-Referendum, das Ergebnis steht für den Meinungsforscher fest: Die Befragten, so Judin, werden laut offiziellen Angaben für den Kirchenbau votieren.

    Auf Republic argumentiert der Journalist Michail Schewtschuk, dass der Protest in Jekaterinburg nicht einfach ein lokaler, sondern ein systemischer Konflikt ist. Und der richtet sich nicht nur gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche.

    Zum 300-jährigen Stadtjubiläum soll im Zentrum von Jekaterinburg eine große Kirche errichtet werden: die Kathedrale der Heiligen Jekaterina. Doch Aktivisten wollen den Plan vereiteln und protestieren gegen den Bau. 

    Zwei ähnliche Fälle gab es vor nicht allzu langer Zeit auch in Sankt Petersburg: den in den Medien viel diskutierten Streit um die Übergabe der Isaakskathedrale an die Russisch-Orthodoxe Kirche und den jenseits der Stadtgrenzen weniger bekannten Versuch, eine Kirche im Malinowka-Park zu bauen. Die Argumente im zweiten Fall sind in etwa dieselben wie die der Baugegner in Jekaterinburg: Für die Stadtbewohner ist eine Grünanlage wichtiger als eine Kathedrale. Für die Regionen sind diese Situationen mittlerweile durchaus normal – sie alle passen in dasselbe Muster: Derzeit wehren sich gegen den geplanten Bau von Kirchen in Grünanlagen Einwohner von Nishni Nowgorod, Krasnojarsk, Tscheljabinsk und vielen weiteren Städten. 

    Für Stadtbewohner ist eine Grünanlage wichtiger als eine Kathedrale

    Die Konflikte gehen unterschiedlich aus. So ist in Wolgograd, allen Protesten und Petitionen zum Trotz, der Bau der Alexander-Newski-Kathedrale bereits im Gang, während sich die Stadtregierung in Rostow am Don nach Protesten der Anwohner dafür entschieden hat, die Baugenehmigung für eine Kirche im Park Elektroapparat zurückzuziehen. Seit sich die Museumsschützer der Isaakskathedrale in Petersburg durchgesetzt haben, häufen sich die Fälle, in denen Baugenehmigungen zurückgezogen oder zumindest Lösungen qua Dialog befördert werden. Der Ablauf der Konflikte hat sich aber kaum verändert: Auf die erste Empörungswelle folgt eine kategorische Ablehnung der Kirche und/oder der Regierung, die die Wut der Bürger erst richtig entfacht. 

    Unpolitische Bürger treten in offenen Konflikt 

    Vor den Massenprotesten gegen die Mülldeponien – zunächst in der Oblast Moskau und nun auch in der Oblast Archangelsk – war ausgerechnet der Widerstand gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche, mit sehr wenigen Ausnahmen, das einzige Thema, bei dem man sich sicher sein konnte, dass es zu einer heftigen Reaktion kommt. Unpolitische Bürger treten hier in einen offenen Konflikt mit der Regierung, bis hin zu Rangeleien mit der Polizei.

    Solche Reaktionen sind erstaunlich. Denn die Regierung gibt eigentlich klar zu verstehen, auf wessen Seite sie steht, wenn sie Gesetze gegen die Verletzung religiöser Gefühle verabschiedet und die Abspaltung der ukrainischen Kirche verurteilt. Dennoch sorgen die antiklerikalen Proteste bei der föderalen oder der regionalen Regierung nur in den äußersten Fällen für Unmut. Womöglich weil die Demonstranten selbst auf die Grenzen ihrer Aktion verweisen und keinen Anspruch auf eine direkte politische Einflussnahme erheben. Es mag aber auch daran liegen, dass die Abgeordneten die Ansprüche der Kirche insgeheim als ungerecht anerkennen.

    Die Kirchenbau-Kontroversen werden besonders hart ausgefochten, doch geht es bei dem Konflikt nicht nur um materielle Baufragen. Bei der Isaakskathedrale ging es weder um Bau noch um Abriss. Die Menschen, die sich so vehement dagegen wehrten, dass die Kirche mit ihrer Ideologie in einen „weltlichen“ Bereich eindringt, haben oft nichts daran auszusetzen, wenn die weltliche Regierung Ähnliches tut. 

    Pflichtfach Orthodoxe Kultur versus militärisch-patriotische Erziehung

    So stieß der Versuch, „die Grundlagen der orthodoxen Kultur“ als ein Pflichtfach an Schulen einzuführen, seinerzeit auf enormen Widerstand. Bei Elternabenden wurde hitzig debattiert, die Menschen gingen auf die Straße. Schließlich musste das Bildungsministerium zurückrudern und es zu einem Wahlfach erklären (was dann von den wenigsten Eltern gewählt wurde). Wohingegen eine Ausweitung der militärisch-patriotischen Erziehung in der Regel ohne bemerkenswerte Gegenwehr passiert, obwohl sie ebenso gut als eine ideologische Expansion betrachtet werden könnte.

    Gleichzeitig unterstützen selbst die radikalsten Oppositionellen keine Aktionen gegen die Kirche. Über die langen Schlangen vor Reliquien fällt zwar mal ein ironischer Kommentar, aber es wird sich niemand finden, der eine Entweihung der Reliquien öffentlich guthieße. Auch während des Skandals um Pussy Riot entrüsteten sich zwar einige Menschen über die unverhältnismäßig harte Strafe, aber kaum einer hätte sich getraut, die Aktion öffentlich zu befürworten. Und selbst bei der Gründung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche teilen die meisten Russen die Position des Kreml und des Patriarchen. 

    Die Bevölkerung sieht die weltliche Machtvertikale (mit den bekannten Einschränkungen) als durchaus legitim an. Wohingegen sie der Kirche, die der Regierung neuerdings immer nähersteht, diese Legitimität verweigert wie nie zuvor. Der Kreml erweist sich für die Russisch-Orthodoxe Kirche als ein toxischer Verbündeter. Trotz der scheinbar uneingeschränkten Unterstützung zieht er sich sofort zurück, wenn ihm Gefahr droht, und wälzt jeglichen Unmut auf die Kirche ab, wie im Fall der Isaakskathedrale. 

    Der Kreml: toxischer Verbündeter der Russisch-Orthodoxen Kirche 

    Im Endeffekt betrachten die Menschen die Kirche genauso wie schon zur Jahrhundertwende: als einen aufdringlichen ideologischen Vertreter des Regimes. Sie wird geduldet, wenn sie sich an die vorgegebenen Grenzen hält, bekommt aber keine Machtbefugnisse wie der Staat, geschweige denn Unterstützung. Obendrein tritt die Kirche in Jekaterinburg als ein Vertreter des großen Kapitals auf, zu dem der Großteil der Bevölkerung ein, milde gesagt, ambivalentes Verhältnis hat. 

    Die Ursachen dafür liegen wahrscheinlich im historischen Gedächtnis begründet. Erstens war die Kirche bis 1917 der weltlichen Macht unterstellt, verwaltet wurde sie von Beauftragten der Synode; so gesehen lässt sich der Protest loyaler Bürger gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche auch als ein unbewusster Versuch verstehen, der zentralen Regierung dabei zu helfen, die Eigenmächtigkeit ihrer Untertanen im Zaum zu halten. Zweitens definiert sich das Regime als Nachfolgestaat der Sowjetunion, und zur Grundausstattung der konservativen postsowjetischen Werte gehört neben der Ablehnung des Westens, dem Paternalismus, dem Militärkult und ein paar weiteren regierungsstützenden Eigenschaften, auch die anerzogene Abneigung gegen die Kirche und das Großkapital. 

    Greifen diese beiden seine Rechte an, empfindet der Durchschnittsrusse das als eine Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags, welche umso schwerer wiegt, da er das Recht auf solche Angriffe nur dem Staat zuerkennt. Mit dem Ausmaß, das von der Regierung als zulässig eingestuft wurde, hat sich die Gesellschaft längst abgefunden. Aber ein weiterer Ausbau der Position der Kirche und des Kapitals geht den Russen bislang noch zu weit. 
     

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  • Wann endet der Sieges-Wahn?

    Wann endet der Sieges-Wahn?

    Der 9. Mai, der Tag des Sieges über NS-Deutschland, ist der wichtigste Nationalfeiertag in Russland. Obwohl in der Roten Armee etwa auch ukrainische, belarussische oder kasachische Soldaten kämpften, wird der Tag des Sieges heute vor allem als Schlüsselereignis der russischen Geschichte thematisiert. Schon zu Sowjetzeiten diente der 9. Mai zur Selbstdarstellung auf internationaler Bühne – heute finden in jeder größeren russischen Stadt Militärparaden statt, die größte auf dem Roten Platz in Moskau. Im vergangenen Jahr waren der serbische Präsident Vucic und Israels Premier Netanjahu zu Gast. 

    Für den einzelnen Bürger allerdings bedeutet der 9. Mai nicht nur Paraden, sondern auch Gedenken an die eigenen Vorfahren, der Tag des Sieges ist auch ein Familienfest. 

    Auf Republic beschreibt Andrej Sinizyn, wie der offizielle 9. Mai mehr und mehr zum Propagandainstrument wird – und konstatiert, dass politisches und individuelles Gedenken immer weiter auseinanderdriften.

    Im Jahr 2000 oder 2001 gab es in Petersburg den schönsten Tag des Sieges, an den ich mich erinnern kann. Damals gab es, soweit ich weiß, noch nicht wieder die Morgenparade (oder zumindest ohne Waffenschau?), und am Abend fand ein Umzug der Veteranen über den Newski-Prospekt statt. Es waren auch noch deutlich mehr Veteranen als heute, und in ihrer Kolonne waren ganz unterschiedliche Militärorchester unterwegs (größtenteils russische, aber es gab auch Schotten mit Dudelsack). Man konnte sich einfach so der Kolonne anschließen und mit den Veteranen und den Orchestern zum Dworzowaja Ploschtschad vor der Eremitage ziehen.

    Auf dem Platz fand, so seltsam das heute klingen mag, keine offizielle Feier statt mit Tribünen, Festansprachen von Beamten oder Auftritten heimischer Popstars. Die Orchester verteilten sich auf dem Platz und spielten Märsche, Walzer aus der Sowjetzeit oder Wünsche aus dem Publikum. Und die Zuhörer, ob Veteranen oder nicht, tanzten um sie herum. Es gab auch kleinere Grüppchen mit Akkordeons in der Mitte, die die Veteranen selbst mitgebracht hatten. Und so ging es bis tief in die Nacht, weil niemand heimgehen wollte. Später habe ich mehrmals versucht, dieses Gefühl wiederzufinden – es ist mir nicht gelungen. Auf dem Dworzowaja Ploschtschad gab es nur noch kontrolliert-ausgewählte Konzerte und beim Umzug immer weniger Veteranen, dafür aber immer mehr seltsame Kolonnen irgendwelcher politischer Kräfte oder der Petersburger Bezirke. Und ab Mitte der 2000er nahm auch die bürokratisch-patriotische Begeisterung rapide zu. 

    Der Wahn um den Sieg

    Über den Sieges-Wahn ist schon viel gesprochen und geschrieben worden, verschwunden ist er trotzdem nicht. Beispielsweise hat dieses Jahr in Sewastopol eine Abteilung des Unsterblichen Regiments einer anderen 500 Veteranenportraits gestohlen. Was will man machen, die Region ist neu in der Russischen Föderation, es gibt genug patriotischen Enthusiasmus und entsprechendes Chaos, die Bürokratie hat sich noch nicht etabliert. 

    Aber es kann sich ja alles ändern. Drei, vier Jahre und der Krim-Rausch hat sich nahezu verflüchtigt. Natürlich heißen die Bürger die Angliederung nach wie vor gut, wollen diese aber nicht mehr mit schlechten Lebensbedingungen bezahlen und sehen immer weniger Grund, sie zu feiern.

    Oder nehmen wir den 1. Mai, diesen seltsamen Feiertag. Er hatte schon während der offiziellen Paraden zu Sowjetzeiten seinen Sinn eingebüßt. Je länger das offizielle Programm der  Feierlichkeiten wurde, desto leichter fiel es den Menschen, auf ihre Datscha zu fliehen oder einfach ein Picknick zu machen. Später privatisierten die Bürger den Feiertag vollends für ihre Frühlingsarbeiten auf der Datscha und die Politiker der 1990er verlängerten die Feiertage sogar, um die eigenen Beliebtheitswerte zu steigern.

    Den Arbeitnehmern lag nicht viel daran, für ihre Rechte zu kämpfen, aber ein zusätzlicher freier Tag ist immer gut. 

    Die Bedeutung des Maifeiertags ändert sich

    Heute ändert sich die Bedeutung des Feiertags wieder: Zum einen wurden die Arbeitnehmer vom Staat in letzter Zeit ziemlich gegängelt, zum anderen ist angesichts der eingeschränkten Versammlungsfreiheit der offizielle Tag des Frühlings und der Arbeit zu einer Möglichkeit des Protests geworden. Nach Angaben von OWD-Info wächst die Zahl der Verhaftungen jährlich: 2016 wurden in Moskau und Petersburg 27 Menschen festgenommen, 2017 waren es 37, 2018 bereits 53, 2019 dann 65 allein in Petersburg und 131 im ganzen Land. 

    Die diesjährigen Exzesse zeugen natürlich auch von der zunehmenden Gewalt der Polizei und der Nationalgarde. Es ist offenkundig, dass diese Organe die kleinste Regung von nicht-kontrollierten Aktionen verhindern sollen (vgl. die brutale Auflösung des Rap-Festivals im Olympiastadion Lushniki am selben Tag). Die Regierung jagt Demonstranten der neuen Art, um sie zusammenzuschlagen. Fragt sich, ob sie sie aufhalten wird. Vielleicht entwickeln sich die Feierlichkeiten am 1. Mai zu tatsächlichem Protest.

    Wird sich womöglich auch der 9. Mai verändern? Der Tag des Sieges war ja nicht immer ein offizieller staatlicher Feiertag, das private Begehen („Feier“ ist hier das falsche Wort) hatte für die Menschen der Nachkriegszeit, aber auch noch in den 1970ern, einen deutlich höheren Stellenwert.

    Fanfaren-Müdigkeit

    Neueste Umfragewerte des Lewada-Zentrums lassen den Schluss zu, dass es eine Entwicklungstendenz zu Individualisierung und zu menschlichem Mitgefühl gibt. Auf die Frage, wie man den Feiertag am besten verbringen sollte, antworteten 52 Prozent: „Indem man sich um die Kriegsveteranen kümmert“ (2015 waren es 49 Prozent , 2018  42 Prozent); 23 Prozent sagten: „mit Paraden, Umzügen, Feuerwerk und offiziellen Veranstaltungen“ (2015 waren es 29 Prozent, 2018 35 Prozent). 2015 war die Freude über den Sieg noch wesentlich größer und die Trauer um die Millionen Gefallener wesentlich kleiner als 2019. Vielleicht beobachten wir eine gewisse Fanfaren-Müdigkeit der Bürger in Anbetracht ständig sinkender Löhne

    Selbstverständlich hängt vieles davon ab, wie aufmerksam der Staat ist. Sobald das nachlässt, werden Veranstaltungen ungezwungener und volksnäher. Aber der Staat hat nicht vor, auf die strenge Kontrolle über den Tag des Sieges zu verzichten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es ist der einzige Feiertag, der alle Menschen eint, eine unhinterfragte historische Errungenschaft, die man sich unter den Nagel reißen muss, um die eigene Legitimität zu festigen und eine Quasiideologie darauf aufzubauen. 

    Doch Kontrolle schafft auch einen bürokratischen Überbau. Diese Bürokratisierung des Feiertages verdrängt allmählich seinen wahren Inhalt und die Möglichkeit, irgendetwas zu empfinden. Denn überbordende Euphorie ist als Dauerzustand nicht möglich.

    Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden

    Bemerkenswert ist auch, dass die Regierung seit 2014 mit allen Mitteln versucht, im Massenbewusstsein den Großen Vaterländischen Krieg mit dem Krieg in der Ukraine und in Syrien gleichzusetzen. Der Militarismus, der Waffenkult und das Versprechen, es zu „wiederholen“ (und ins Paradies zu kommen) zielen darauf ab, diese Kriege in Synonyme zu verwandeln. Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden. Gerade droht diese Strategie aber nach hinten loszugehen: Wenn die Menschen des heutigen Krieges müde werden, interessiert sie der historische Sieg nicht mehr besonders.

    Das Neueste im Rahmen der Krim-Propaganda – zumindest für die Massen, im Kleinen hatten Beamte schon früher Anstrengungen in dieser Richtung unternommen – ist die „Verteidigung unserer Geschichte“ vor den heimtückischen Plänen des Westens sie „umzuschreiben“.  

    Wir wissen allerdings, dass sich das Verhältnis zum Westen auch grundlegend ändern kann – alles hängt von der Politik des Kreml ab. Die „heimtückischen Pläne des Westens“ könnten verschwinden, wenn sich die russische Politik ändert oder die Personen, die sie definieren, ersetzt werden. Verschwinden könnten auch der Militarismus und die überschwängliche Feier des Sieges mit vollkommener Ignoranz für die Tragödie.

    Natürlich gibt es wenig Hoffnung, dass sich die russische Politik ändert. Deswegen wird sich der Tag des Sieges bei den heutigen Tendenzen wohl allmählich aufspalten: in einen immer wahnsinnigeren offiziellen und einen immer persönlicheren – oder protestlerischen? – im Untergrund. Dem Urgroßvater mit einem Gläschen auf der Datscha im Kreis der Familie zu gedenken wird zum Mainstream. Doch die offiziellen Veranstaltungen sucht man nur noch auf, wenn es unbedingt sein muss.

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  • „Das gesellschaftliche Bewusstsein ist sehr dynamisch“

    „Das gesellschaftliche Bewusstsein ist sehr dynamisch“

    „Gehst du nach rechts – verlierst du dein Pferd, gehst du nach links – verlierst du deine Seele, gehst du geradeaus – dann stirbst du.“ Glaubt man den vielen Unkenrufen, dann steht das System Putin derzeit vor einer ähnlichen Ausweglosigkeit wie in dieser Variante des berühmten russischen Sprichworts. 
    Vor rund einem Jahr wurde Wladimir Putin als Präsident wiedergewählt. Seine offiziell vierte Amtszeit hat turbulent begonnen: Massenproteste wegen Rentenreform und Steuererhöhungen, wachsende Unzufriedenheit mit der Kreml-Politik, steigender Ruf nach Veränderungen – all das mache die politischen Eliten nervös, meinen Beobachter.
    Wie geht der Kreml mit diesem Spannungsverhältnis um? Hat er immer noch alle Hebel in der Hand? Und welche innenpolitischen Szenarien sind denkbar? Diese Fragen stellt die Internetzeitung Znak Grigori Golossow, dem Dekan der politikwissenschaftlichen Fakultät an der Europäischen Universität Sankt Petersburg. Golossows Stimme gilt sowohl in der Politikwissenschaft als auch in den liberal-demokratischen Kreisen als sehr gewichtig.

    Grigori Golossow gilt als wichtige Stimme in den liberal-demokratischen Kreisen Russlands / Foto © Alexej Salomatow
    Grigori Golossow gilt als wichtige Stimme in den liberal-demokratischen Kreisen Russlands / Foto © Alexej Salomatow

    Juri Grebenschtschikow/Alexander Sadoroshny: Der Kreml reagiert auf die gefallenen Beliebtheitswerte des Präsidenten mit umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen, die in Putins letzter (Jahres-)Ansprache angekündigt wurden. Denken Sie, dass diese Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden?

    Grigori Golossow: Um irgendwelche Sozialmaßnahmen umzusetzen, braucht man Geld. Gibt es im Staatshaushalt kein Geld, bleibt die Umsetzung unvollständig und folgenlos. Wo soll denn das Geld herkommen? Aus dem Wirtschaftswachstum? Dafür gibt es derzeit keine Anzeichen und nicht einmal Prognosen. Darin sind sich alle Experten einig, selbst die staatlichen. 

    Wo soll denn das Geld herkommen? Aus dem Wirtschaftswachstum?

    Man könnte die Ausgaben kürzen, die an die Außenpolitik, an die Sicherheitskräfte und die Verwaltung geknüpft sind. Aber auch das ist nicht abzusehen. Russland beteiligt sich nach wie vor aktiv an den Konflikten in der Ukraine und in Syrien, außerdem versucht es, seinen Einfluss auf der internationalen Bühne auszuweiten, bis hin zu den abgelegensten Winkeln der Welt wie der Zentralafrikanischen Republik. Dafür fließen horrende Summen. 

    Ein weiterer Faktor ist die permanente militärische Aufrüstung. Für die USA ist das Wettrüsten weitestgehend eine Metapher, für Russland hingegen ist jeder Versuch eines militärischen Wettbewerbs mit den USA eine Belastung. 
    Wenn es also keine überschüssigen Mittel gibt, kann man sie auch nicht für soziale Anliegen ausgeben.

    Aber wir haben doch einen Haushaltsüberschuss? Einen Puffer von fast zwei Billionen Rubel [rund 28 Milliarden Euro – dek]?

    Ein Überschuss ist noch kein Puffer, keine Rücklage, mit der sich Sozialprogramme finanzieren ließen. Der russische Haushaltsüberschuss ist dafür vorgesehen, der Inflation entgegenzuwirken und zeugt nicht von einer stabilen Wirtschaftslage. Eine Unmenge objektiver Anzeichen belegen den schlechten wirtschaftlichen Zustand. Eines davon ist, dass es einen Haushaltsüberschuss gibt, denn er ist schlichtweg die Auswirkung einer spezifischen Wirtschaftspolitik. Und wie wir sehen, ist diese Wirtschaftspolitik nicht gerade auf Sozialausgaben ausgerichtet.  

    Ein paar Fragen zur Zukunft. Auf der innenpolitischen Bühne gibt es bislang keine ernsthafte Bedrohung für Wladimir Putin. Was denken Sie, bleibt er noch lange?

    Macht übt bekanntermaßen eine große Anziehungskraft aus. Das Bestreben von Berufspolitikern, sie zu erhalten, ist also nichts Ungewöhnliches. Aber das ist nicht die einzige Erklärung. 

    Die Machthaber sind oft davon überzeugt, ihr Handeln sei wichtig und richtig für ihr Land. Selbst wenn sie tief in der Seele wissen, dass sie schwere Fehler begangen haben, sind sie sich sicher, jemand anderem wären noch schlimmere Fehlkalkulationen unterlaufen. Putin hat diese Überzeugung.

    Gleichzeitig ist den Machthabern bewusst: Je länger sie an der Macht sind, desto mehr Sprengkraft akkumuliert sich durch die Fehler, die man ihnen vorwirft. Aber sie wissen um ihre Verantwortung, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Angehörigen und die Menschen, die ihnen aus unterschiedlichsten Gründen nahestehen. Deshalb wissen sie auch, dass ein Machtverzicht nicht nur für sie, sondern auch für all diese Menschen eine Tragödie wäre. Selbstverständlich wollen sie diese Tragödie vermeiden. 

    Aus Putins subjektiver Sicht wird es also niemals Umstände geben, die einen realen Machtverzicht erfordern. 

    Aus Putins subjektiver Sicht wird es niemals Umstände geben, die einen realen Machtverzicht erfordern

    Sicher, wenn es zu einer schweren Krise kommt und massiver Druck ausgeübt wird, beispielsweise durch außenpolitische Probleme, Massenproteste oder den Erfolg der Opposition, wird Putin gezwungen sein zu gehen. Aber es wird keine freiwillige Entscheidung sein. 

    Mir scheint, das Hauptproblem, das die Entwicklung des Landes behindert, ist ein psychologisches: die Angst der sogenannten Eliten, Putin eingeschlossen, alles zu verlieren, „was man mit unsäglicher Mühe erworben hat“. Deswegen zieht man es vor, alles zu belassen wie es ist, nicht auf Veränderungen hinzuarbeiten und in der Illusion von Sicherheit zu verharren. Wie könnte man dieses Problem lösen?

    Das hängt davon ab, wer es löst. Bislang gibt es niemanden, der es lösen könnte. Ganz im Gegenteil: Der Großteil der russischen Politiker ist am Erhalt des Status quo interessiert. Eigentlich ist die Angst der russischen Führungsriege, alles zu verlieren, durchaus berechtigt: Russland hat viel Erfahrung mit Revolutionen, jeder weiß, dass mit den Vertretern der herrschenden Klasse nicht lange gefackelt wurde, weder 1917 noch 1991

    Andererseits hat die Praxis gezeigt: Wenn im Land ein Demokratisierungsprozess in Gang kommt, beweist ein wesentlicher Teil der herrschenden Klasse Umsicht und schließt sich ihm an. Für jedes Beispiel à la 1917 finden sich auch Gegenbeispiele wie der Übergang zur Demokratie nach Francos Tod in Spanien, als fast die ganze herrschende Klasse, geradezu geschlossen, zur Demokratie überging.

    Das Verhalten der herrschenden Klasse ist rational, alles hängt davon ab, welchen Anstoß sie bekommt

    Kurzum: Das Verhalten der herrschenden Klasse ist rational, alles hängt davon ab, welchen Anstoß sie bekommt. Nur das bestimmt ihr Handeln. Ich denke, jedem ist klar, dass eine totale Revolution nach dem Beispiel von 1917 nicht im Interesse des Landes ist, solche Revolutionen haben meist einen sehr hohen Preis. 

    Bei uns kamen die Reformbestrebungen bisher nie von unten, sondern nur von oben – seien es die Reformen unter Alexander II., die Demokratisierung unter Gorbatschow oder die Liberalisierung der Märkte unter Jelzin. Sehen Sie in der heutigen Regierung potenzielle Initiatoren und Anhänger einer neuen Perestroika?

    Ich denke, das spielt überhaupt keine Rolle. Wenn Politiker finden, die Veränderungen sind in ihrem Interesse, sind notwendig für ihr eigenes politisches Überleben, dann werden sie zu Reformern, ganz unabhängig von ihren psychologischen Befindlichkeiten. So gesehen, kann jeder zum Reformer werden, der die nötige Initiative und den Mut dazu hat. Wenn ein Mensch allerdings weiß, dass ihn die Reformen ins Gefängnis bringen könnten, wird er sich hüten, Reformbestrebungen voranzutreiben.

    Wenn Politiker finden, die Veränderungen sind in ihrem Interesse, sind notwendig für ihr eigenes politisches Überleben, dann werden sie zu Reformern

    Anders gesagt: Die Vorteile der Reformen müssen die Risiken überwiegen. Ich vermute, dass in den oberen Etagen der heutigen russischen Politik zu viele Leute sitzen, die die Risiken als zu hoch erachten. Das gilt auch für Präsident Putin und viele Leute aus seinem direkten Umfeld. 

     

     

     


    Quelle: RAN

     

    Umfragen belegen, dass in der heutigen Gesellschaft ein Wunsch nach Veränderung besteht. Allerdings in sehr unterschiedlichen Formen. „Unter Stalin hätte es das nicht gegeben“ – ist ja auch ein Wunsch nach Veränderung. 

     

    Das Bild, das die Umfragen widerspiegeln, wird in großem Umfang (wenn auch nicht vollständig) von  Informationen geprägt, die Menschen über die ihnen zugänglichen, staatlich kontrollierten Medien bekommen. Wenn man ihnen ständig sagt, Stalin sei gut gewesen, glauben sie irgendwann, dass unter Stalin tatsächlich alles besser gewesen sei und vielleicht auch heute besser wäre. Das sollte man nicht allzu ernst nehmen. 

    Wenn man den Menschen ständig sagt, Stalin sei gut gewesen, glauben sie irgendwann, dass unter Stalin tatsächlich alles besser gewesen sei. Das sollte man nicht allzu ernst nehmen

    Wenn wir darüber sprechen, welche Phänomene im Massenbewusstsein einer Demokratisierung im Wege stehen, sollten wir unseren Blick auf jenen Teil der Bevölkerung richten, der sich ihr tatsächlich aktiv widersetzen würde. Die Meinungsumfragen belegen nicht, dass es in Russland einen maßgeblichen Bevölkerungsanteil gäbe, für den demokratische Veränderungen unannehmbar wären. 

    Viele Menschen sind desorientiert, ihre Loyalität zur gegenwärtigen Politik ist auf den Einfluss der Medien und auf das gesamte Propaganda-System zurückzuführen. Diese Menschen können ihre Meinung auch ändern und zu Anhängern einer Demokratisierung werden. 

    Viele Menschen sind desorientiert, ihre Loyalität zur gegenwärtigen Politik ist auf den Einfluss der Medien und auf das gesamte Propaganda-System zurückzuführen. Sie können ihre Meinung auch ändern

    In der russischen Geschichte gab es so etwas schon. Hätte Anfang 1988 jemand gesagt, dass die Sowjetunion in drei Jahren zerfallen und der Kapitalismus kommen würde, hätten die Menschen es nicht geglaubt. Und sie hätten diese Perspektive auch nicht begrüßt. Damals hielten fast alle den Sowjetstaat und den sowjetischen Sozialismus für ein hohes Gut, etwas anderes kannte man ja auch nicht. 
    Doch später, als man es kennenlernte, gab es überhaupt keinen gesellschaftlichen Widerstand gegen die Reformen. Im Gegenteil, viele fanden, alles entwickle sich zum Besseren. Das zeigt, wie dynamisch das gesellschaftliche Bewusstsein ist. Es ist durchaus in der Lage, ein sehr breites Spektrum von Veränderungen mitzumachen. 

    Eine neue Perestroika ist also möglich: Früher oder später wird man sich da oben ihrer Notwendigkeit bewusst und da unten wird der Wunsch nach ihr reifen. 
    Aber unsere Geschichte kennt doch auch andere Entwicklungen: Chaos mit anschließender Diktatur, Isolation und Stagnation hinter dem Eisernen Vorhang, das Scheitern eines Systems unter dem Druck der technischen Revolution wegen einer prinzipiellen Unreformierbarkeit. 
    Das könnten wir doch auch wiederholen?

    Auch diese Szenarien sind denkbar. Politik ist die Folge von Handlungen. Die Folgen ihrer Handlungen können Politiker in eine Sackgasse führen, zu einem Scheitern. Ich kann diese Entwicklung bei der herrschenden Klasse in Russland nicht ausschließen. Für das Land sind das nicht die besten Varianten, aber sie sind möglich. 

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    Absage an die Moderne

    „Archaisierung“ – so nennen viele russische Liberale die Epoche Putins, vor allem die Zeit nach der Krim-Angliederung. Der Begriff geht auf den russischen Philosophen Alexander Achijeser zurück – einer der Begründer der Kulturwissenschaft in Russland, der 2007 ruhmlos und weitgehend vergessen verstarb. In den 1970er Jahren verfasste er sein (erst in den 1990er Jahren erschienenes) Hauptwerk: Russland: Kritik der historischen Erfahrung. Darin sagte er sowohl die Perestroika voraus als auch deren Scheitern. Dieses Scheitern, so Achijeser, würde auch eine „Archaisierung“ nach sich ziehen – eine Abkehr von den Werten der Moderne.
    Heute begründet die russische Propaganda diese Abkehr auch mit einem Scheitern der Moderne überhaupt. So sieht Wladislaw Surkow, angeblicher Chefideologe des Kreml, das liberal-demokratische Modell quasi am Ende. Dabei erklärt er das mutmaßliche Interesse am „russischen politischen Algorithmus“ damit, dass es im Westen keine „Propheten“ gebe.
    Warum geben sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufrieden, fragt Andrej Archangelski auf Republic. Und versucht eine Antwort.

    Die russische Propaganda, wie wir sie kennen, hat vor fünf Jahren begonnen und sie verfolgte ein praktisches Ziel: dem Einfluss des ukrainischen Maidan etwas entgegenzusetzen. Die Rhetorik bediente sich zunächst propagandistischer Elemente aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs (karateli und so weiter) und ging dann zur Sprache des Kalten Krieges über (die Trennung in „wir“ und „sie“, der „Westen“ als pauschalisierte Gefahr). 

    Zwei Dinge verblüffen dabei immer noch: 
    Erstens, dass dieses Schema akzeptiert wurde von einem Großteil der russischen Gesellschaft (der die Propaganda in ihrer sowjetischen Variante vor nicht allzu langer Zeit noch abzulehnen schien). 
    Und zweitens: die Ausführenden. Wir können annehmen, dass ein Teil der Propagandisten „einfach seine Arbeit tut“, dass er „Familien ernähren und Kredite abstottern“ muss. Aber wir müssen auch berücksichtigen, dass die Hauptakteure – Experten, Politologen, Fernsehmoderatoren – im vorgegebenen ideologischen Rahmen etwas finden, das ihnen nahe ist und sie inspiriert, etwas, worin sie sogar eine eigentümliche „Freiheit“ sehen.

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes, sie nimmt den Menschen die Last einer existenziellen Verantwortung ab. 
    Das Wort Geopolitik bedeutet, den Menschen von der Pflicht zu befreien, eigene Entscheidungen, eine ethische Wahl zu treffen. Die Geopolitik sagt dem Menschen, dass alle grundlegenden Entscheidungen bereits für ihn gefällt wurden – automatisch und ein für allemal – und zwar von der Geschichte, der Geographie und dem Schicksal.

    Aber auch das liefert noch keine Antwort auf die Frage, warum sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufriedengeben („wir sind die Guten, alle anderen die Bösen“). Vielleicht besteht die Wirkmacht der Propaganda ja darin, dass sie eine viel fundamentalere, nicht ausgesprochene, aber implizite „tiefere“ Idee enthält, die obendrein mit globalen Prozessen zusammenfällt.

    Diese Idee lässt sich kurz als eine Absage an die Moderne, den Fortschritt, an die moderne Gesellschaft an sich beschreiben.

    Magische Praktiken

    Während man den endlosen propagandistischen Gesprächen lauscht, fragt man sich unwillkürlich: Welchem mündlichen Genre kommen sie am nächsten? Sie erinnern an magische Praktiken: Beschwörungen, Zauberformeln, Versuche, das Gewünschte mithilfe von Worten Wirklichkeit werden zu lassen. 
    Dutzende von Menschen wiederholen tagein tagaus, Jahr für Jahr ein und dieselben Verwünschungen, in der Hoffnung, dass sie wahr werden mögen. In erster Linie betreffen sie nach wie vor die Ukraine: „Kiewer Sackgasse“, gescheiterter Staat, die Parodie eines Landes und so weiter.

    Wladimir Paperny beschreibt in seinem bekannten Buch [Kultura Dwa (Kultur-2), dek] ein wichtiges Merkmal dieser „Kultur-2“, indem er sie als mythologisches Denken bezeichnet: als „das Zusammenfallen von Bezeichnung und Bezeichnetem, von Bild und Abgebildetem, von Wort und Bedeutung. Kultur-2 glaubt gleichsam, dass etwas, wenn man es laut ausspricht, wahr wird“.

    Ablehnung des Fortschritts

    Heute sind im Propaganda-Äther alle Verschwörungen und Phobien der Welt vereint; alles unter der Erde, in den Katakomben, in Dostojewski’schen Kellerlöchern der Menschheit scheint sich an einem Ort versammelt zu haben und krakeelt jetzt um die Wette. All das trifft sich nur in einem Punkt – in der Ablehnung der Idee der Moderne, des menschlichen Fortschritts. Sogar die Verherrlichung der sowjetischen Vergangenheit ist in Wirklichkeit ihre verkappte Bekämpfung. 

    Natürlich war die sowjetische Gesellschaft totalitär, doch formal war sie modernistisch. Sie bestand auf dem universellen und globalen Charakter ihrer Ideologie, und sie war in die Zukunft gerichtet („unser Ziel ist der Kommunismus“). Die Grundzüge der sowjetischen Ethik überschnitten sich mit universalistischen Werten. Heute betreibt die Propaganda einen konsequenten Exorzismus gegen jene modernistischen Pfeiler der sowjetischen Ideologie: Wörter wie „Internationalismus“, „Humanismus“, „Kampf für den Frieden“ oder „Völkerfreundschaft“  werden sie heute von keinem Sowjet-Liebhaber mehr hören – derlei Postulate werden als Schwäche der Sowjetmacht verlacht. Selbst der Feminismus bleibt nicht verschont (auch wenn vorher definitiv der Zusatz kommt, dass die UdSSR seine Heimat gewesen sei).

    Ein gewaltiges, allumfassendes Kippen der Gesellschaft zurück in archaische Zeiten – genau das ist die generelle Stoßrichtung der heutigen Propaganda.

    Lustpunkt getroffen

    Anfangs gab es für dieses „Einfrieren“ übrigens rein praktische Beweggründe. Wie wir uns alle erinnern, hießen die Reformen unter Medwedew Modernisierung und endeten 2012 mit Massenprotesten, die die Mächtigen in Angst und Schrecken versetzten. Ihr wichtigstes Symbol war weniger die Masse oder die Aktivität der Menschen, als vielmehr die „Sprache der Bolotnaja“, die Sprache auf jenen funkensprühenden und unzähligen selbstgebastelten Plakaten. In der Sprache dieser Plakate begann die gerade geborene russische Gesellschaft der Moderne zu sprechen. Genau darin erkannten die Machthaber die Hauptgefahr: Die neue Sprache bedeutete die Entstehung eines neuen Bewusstseins – eines säkularen, universellen – die Renaissance von sozialer Verantwortung und Teilnahme. 
    Als Gegengewicht zur Sprache der Bolotnaja war bald die Sprache der Antimoderne à la UralWagonSawod gefunden, bei der es sich natürlich großenteils um ein künstliches Konstrukt handelt. Doch die Erfindung funktionierte. Die Sprache der Propaganda erwuchs im Grunde aus dieser Verdichtung, nur der Stil wurde 2014 perfektioniert.

    Sprache der symbolischen Gewalt

    Das zentrale Moment der Propaganda ist bis heute die Sprache der symbolischen Gewalt – das Phänomen der schmutzigen Hasssprache. Ein weiteres wichtiges Element der Propaganda ist das höhnische Lachen, das Lachen von Dostojewskis Menschen aus dem Kellerloch.

    Dabei wird der Gegner, meist ein westlicher Politiker, auf jede erdenkliche Art erniedrigt. „Blogger verhöhnen“ Poroschenko, Merkel, Macron: Innerhalb von fünf Jahren ist in Russland ein völlig neues Genre entstanden. Aber sowohl die Sprache der Gewalt als auch die des Hohns haben etwas noch viel Größeres hervorgebracht: ein Weltbild, eine Kommunikationsweise, ja sogar eine Art Philosophie der Abkehr von der Welt.

    Das Geheimnis der Propaganda ist, dass sie einen Lustpunkt getroffen hat: Es verschafft dem Menschen Erleichterung, sich von den hemmenden Mechanismen der Kultur zu befreien, das steht schon bei Freud. Darum wiederholen Propagandisten auch so gern immer wieder ein und dasselbe, stunden-, tage-, jahrelang. Übrigens spricht die Propaganda das Wichtigste nicht direkt aus, sondern nur in Andeutungen. 

    Das Ende der Welt

    Das Konzept vom „Scheitern der westlichen Welt“ – noch so ein Imperativ der Propaganda – ist etwas komplizierter: Es ist eine bemerkenswerte Verschmelzung von Marxismus und Eschatologie. Die sowjetische Ideologie postulierte, unter Berufung auf die „eisernen Gesetze der historischen Entwicklung“, das unweigerliche Scheitern des Kapitalismus. Doch stattdessen scheiterte das sowjetische Projekt. Das von der heutigen Propaganda versprochene „Scheitern des Westens“  erinnert formal an sowjetische Dogmen, die nun eschatologisch untermauert werden (den „Gesetzen der Geschichte“ zufolge werden Zivilisationen, die vorangeprescht sind, „bestraft“ und bei der Gelegenheit wird auch gleich der „Zerfall der UdSSR“ gerächt). 
    Ab einem gewissen Punkt dominierten die archaischen Motive der Propaganda. Sie sind anscheinend außer Kontrolle geraten und haben eine Eigendynamik entwickelt. Die Absage an die Moderne zog auch in allen anderen Bereichen eine Archaisierung nach sich. So klingt die These vom „Scheitern der Aufklärung“ gar nicht mehr so abwegig und ist immer öfter in den Reden der Ideologen zu hören. 
    Die Propaganda ist zu einer globalen Predigt über den verlorenen Glauben an den Menschen und die Enttäuschung über die Menschheit geworden, sie wurde zu einem Geschäker mit den niederen Instinkten des Menschen. 
    „Die Menschen leben kein echtes Leben mehr“, behaupten diejenigen, die Tag für Tag ein falsches Leben auf Bildschirmen kreieren. Als Beispiele für echtes Sein werden dann Kriege oder anderes menschliches Leid angeführt. 

    Der Masochismus der Propaganda offenbart sich auch in ihrem penetranten Streben nach Selbstauslöschung – jedes Mal redet sie davon, wenn sie auf die „radioaktive Asche“ zu sprechen kommt.
    Schnell hat die Absage an die Zivilisation auch im Alltag Einzug gehalten. Es ist keine Seltenheit, dass ein propagandistischer Radiosender verkündet, technischer Fortschritt sei nicht notwendig und gar schädlich (die größte Sorge wecken dabei Gadgets aller Art: sie „stehlen“ unsere Lebenszeit). 
    Die panische Angst vor dem Internet, das den „Menschen verdorben hat“, und das Verlachen wissenschaftlicher Erkenntnisse (die berühmten „britischen Forscher“) münden in eine Verhöhnung der Wissenschaft an sich. 

    Natürlich hat die Propaganda auch den wirtschaftlichen Geschmack der Massen geprägt: Unter „Realwirtschaft“ versteht man bei uns „Werke und Fabriken“ und nicht die „virtuelle Ökonomie“ des Westens.  

    Die letztgültige Wahrheit

    Es fällt auf, dass all diese Postulate gleichzeitig mit einem weltweiten Trend zum Konservativismus aufkommen. Allerdings gilt dieser im Westen als eine von vielen Möglichkeiten, keineswegs als „unausweichlich“. Selbst wenn wir annehmen, Russland hätte das Zeug zum Anführer der konservativen Wende, macht der Stil der Propaganda das unmöglich: jenes schroffe und alternativlose Aufdrängen der eigenen „letztgültigen“ Wahrheit. Deswegen betrachtet man Propaganda im Westen heute nicht nur als einen Angriff auf liberale Ideen, sondern auf die universale Ethik. Ihr Hauptziel ist es, „die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen“. Damit wären wir beim erstaunlichsten Widerspruch der Propaganda: Sie erklärt sich selbst für das absolut Gute und beharrt gleichzeitig auf der Relativität der Begriffe von Gut und Böse (post-truth). Wie sich das dialektisch vereinbaren lässt, ist ein Rätsel. Mit Paperny gesprochen vielleicht so: In der Welt des absolut Guten, wo die Kultur-2 herrscht, existiert kein Böses. Es wurde ausgelagert in eine eigene, andere Welt, die sich „der Westen“ nennt – dort, im Revier des Bösen, ist „alles erlaubt“, denn dort ist sowieso von vornherein alles falsch (und sündig). 


    Die Propaganda gab der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen

    Der Versuch, die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen, hatte allerdings paradoxe Konsequenzen: Er brachte Europa und Amerika dazu, sich an die Ethik zu erinnern und sie wieder ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Jeder zweite Hollywoodfilm – egal ob Thriller oder Komödie – verhandelt heute eine ethische Frage. #MeToo ist eine eindeutige Debatte über Ethik. Die Wertedebatte wurde zum wesentlichen Bestandteil des westlichen Diskurses. Hier zeigt sich eine verblüffende Parallele: So wie das sowjetische Projekt den Arbeitnehmerschutz im Westen befeuert hatte, gab die Propaganda der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen. Heutzutage wird die Propaganda vor allem als eine ethische Herausforderung erforscht, womit sie letztlich die Suche nach einer neuen Ethik initiiert. Diese wird natürlich komplexer sein, aber es lässt sich erahnen, dass Gut und Böse darin ihren Platz haben werden. 

    Die Propaganda, die nach außen gerichtet war, traf vor allem Russland selbst. Indem sie dem Schlechteren nacheiferte, hat sie eine Millionen-Gesellschaft in eine vormoderne, archaische Welt zurückgeworfen und damit abermals ein „tiefes“ Volk konstruiert. Letzten Endes bedeutet das: Wir treten auf der Stelle und erteilen der Moderne, dem Fortschritt, der Welt eine Absage – wohlbemerkt nicht zum ersten Mal. Für Jahre, oder gar Jahrzehnte? So oder so wird es tiefgreifende und traurige Konsequenzen haben, die eine Gesellschaft nicht so schnell überwindet. 

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    Belarus: Brüderliche Einverleibung?!

    „Öl gegen Küsse“, so nennt man das Modell in Belarus: Moskau liefert Öl und Gas zu günstigen Bedingungen, Minsk zeigt sich im Gegenzug als treuer Freund Moskaus. Doch derzeit gibt es immer mehr Verstimmungen zwischen beiden Seiten. Etwa wegen des sogenannten Steuermanövers Russlands: Während die Ausfuhrzölle auf Rohöl auf Null Prozent sinken, steigt die Steuer auf die Förderung – und soll in vollem Umfang an die Abnehmer weitergegeben werden. Für Belarus bedeutet dies nicht nur, dass die einst zollfreie Ware plötzlich mehr kostet, sondern auch eine Weiterverarbeitung ist dann nicht mehr lukrativ.
    So forderte Lukaschenko von Moskau Kompensation, doch Anfang Dezember 2018 stellte Premierminister Medwedew ein Ultimatum und verlangte nach einer Gegenleistung: Die sieht er in einer stärkeren Integration zwischen beiden Ländern, also einer Zoll- und Währungsunion etwa. Eine solche (schrittweise) Annäherung war bereits in einem Unionsvertrag im Jahr 1999 geplant, dieser sowie andere Verträge gingen aber selten über Absichtserklärungen hinaus. 

    Mehrere Treffen zwischen Moskau und Minsk im Dezember 2018 blieben ergebnislos, eine Arbeitsgruppe wurde ins Leben gerufen, die an der angestrebten Annäherung arbeiten soll. Zwar betonte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow, eine Angliederung von Belarus an Russland sei nicht geplant, doch gleichzeitig sitzt der belarussische Präsident Lukaschenko in einer Abhängigkeitsfalle. Unterdessen schwelt der Streit weiter.

    Wird Belarus eine zweite Krim? Artyom Shraibman schaut sich die Gründe, die scheinbar dafür sprechen, auf Carnegie.ru genauer an.

    Wie ein altes Ehepaar neigen Minsk und Moskau dazu, sich ständig Fehltritte und Kränkungen aus längst vergangenen Tagen vorzuhalten. Beim Streit über das sogenannte Steuermanöver in der Erdölindustrie und potentielle Ausgleichszahlungen für Belarus hat Moskau nun einen der ältesten Sprengsätze hervorgeholt: den nicht eingelösten Unionsvertrag von 1999. 

    Von Russland heißt es nun: Ihr wollt Unterstützung? Dann integriert euch tatsächlich! Allerdings steht dieses Ultimatum in einem neuen Kontext: Die Umfragewerte des Kreml sinken, russische Experten beraten über eine mögliche Machtübergabe 2024, gleichzeitig betrachtet man Russland nicht mehr als ein Land, das die Souveränität seiner Nachbarstaaten allzu ernst nimmt. Das zusammen sorgte für eine Flut von anonymen Telegram-Meldungen, offiziellen Stellungnahmen und Artikeln in der westlichen, russischen und belarussischen Presse, inwieweit eine Einverleibung von Belarus unumgänglich sei. 

    Seit 2014 lassen sich solche Prognosen nicht mehr so leicht von der Hand weisen. Panikmacher wie besonnene Kritiker können zurecht darauf verweisen, dass auch 2014 niemand mit der Krim oder dem Donbass gerechnet hätte. Und dass es Situationen gebe, in denen Regierungschefs schwer nachvollziehbare Entscheidungen treffen, da sie, geleitet von Vorurteilen, Phobien und dem Gefühl einer historischen Mission und den zugänglichen Informationen, andere Lösungen für noch schlechter halten.

    Deswegen muss jede Analyse solcher Themen mit dem Vorbehalt beginnen, dass im Prinzip alles möglich ist. Jede Prognose ist gewissermaßen eine Aufbereitung des vergangenen Krieges. Ausgehend von den gegenwärtigen Bedingungen, können wir nur die Wahrscheinlichkeit gewisser Szenarien abschätzen. Und auf die Mythen über Belarus und sein Verhältnis zu Russland verweisen, die unter denen besonders verbreitet sind, die den Anschluss prognostizieren.

    Sehen wir uns das Szenario der Einverleibung von Belarus aus drei Perspektiven an: der belarussischen Gesellschaft, der Führungselite und Russland. 

    Liebe auf Distanz

    In Russland ist der Irrglaube verbreitet, allein der zickige Lukaschenko hielte Belarus, die  sowjetischste aller ehemaligen Sowjetrepubliken, davon ab, sich wie die Krim in einem freudestrahlenden Sprint Russland anzuschließen.

    In Wirklichkeit gibt es in der jüngsten Geschichte von Belarus kaum einen stabileren Trend als die wachsende Zahl von Befürwortern der Unabhängigkeit. 28 Jahre in einem eigenen Staat mit allem, was juristisch und politisch dazugehört, mit einer Generation, die in einem unabhängigen Land aufgewachsen ist und mittlerweile selbst Kinder hat, hinterlassen ihre Spuren in der kollektiven Identität einer Nation.

    Dass die Mehrheit der Belarussen die Union mit Russland befürwortet, heißt noch lange nicht, dass sie eine Verschmelzung beider Länder anstrebt. Werden die Belarussen befragt zu dem derzeitigen Ausmaß der Zusammenführung mit Russland und nach der Rechtmäßigkeit von Russlands Anspruch auf die Krim, zeigt sich für beides eine stabile Zustimmung zwischen 55 und 75 Prozent, je nach Formulierung der Fragen und den zur Wahl stehenden Optionen. 

    Wird jedoch gefragt: Vereinigung mit Russland oder Erhalt der Souveränität, dann hat erstere nicht die geringste Chance. Nur 15 bis 20 Prozent befürworten eine stärkere Zusammenführung und weniger als 5 Prozent wollen eine Eingliederung in die Russische Föderation (Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt von Andrej Wardomazki vom April 2017).

    Außerdem befindet sich die potentielle „russische Partei“ – anders als in der Ukraine, der Republik Moldau oder Kasachstan – in keiner bestimmten Region. Es gibt keine belarussische Krim und keinen belarussischen Donbass, die sich als Aufmarschgebiet für die Destabilisierung der Regierung in Minsk eignen würden.  

    Die prorussischen Belarussen sind im Gegensatz zu den prowestlichen nicht einmal eine eigene politische Kraft, sogar gemessen am belarussischen Maßstab gesellschaftlicher Apathie sind sie nicht mobilisiert. Sie empfinden keine Diskriminierung auf sprachlicher oder kultureller Ebene, um der Matrix von Krim-Donezk folgend zu argumentieren: Unsere ganz besondere, russlandnahe Identität wird von westbelarussischen Nationalisten bedroht – diese Karte lässt sich im heutigen Belarus nun wirklich nicht ausspielen. 

    Auch in der Außenpolitik gibt es keine uneingeschränkte Sympathie für Russland. Fügt man in den Umfragen dem simplen „Russland oder EU?“ noch ein paar Varianten hinzu, wie zum Beispiel „ähnlich enge Beziehungen zu allen“ oder „keinem Block beitreten“, liegt die Zustimmung zu diesen neutralen Optionen bei 60 Prozent (Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt von Andrej Wardomazki vom September 2018). Würde die belarussische Regierung in ihrer Außenpolitik also einen neutralen Kurs verkünden, stieße sie beim Großteil der Bürger auf enthusiastische Zustimmung. 

    Sogar die nicht einmal ansatzweise nationalistischen „sowjetischen Belarussen“ sehen Russland als ein Land der Oligarchen, der sozialen Ungleichheit, der Korruption, der Kriminalität und der falschen Wege. Wenn diese Menschen, von denen die meisten im Staatsdienst tätig oder Rentner sind, nostalgisch auf das einst große Land, die Sowjetunion, zurückblicken, dann ist das ein Land, das in seiner sozialen Ordnung dem heutigen Belarus wesentlich näher ist als dem heutigen Russland. 

    Belarus mag ein überraschend russlandfreundliches und russischsprachiges Land sein, aber wenn Moskau meint, in der belarussischen Gesellschaft eine Stütze zu finden, so wird das wohl kaum gelingen. 

    Schon seit vielen Jahren ist die Eingliederung in die Russische Föderation ein Tabuthema in der belarussischen Politik. Sogar für die Kommunisten, die sich ja theoretisch nach der Sowjetunion sehnen könnten, ist die Unabhängigkeit axiomatisch. Die Regierung hat gezeigt, dass sie bereit ist, eine Überschreitung der Grenzen des Zulässigen hart zu bestrafen: 2017 verbrachten drei allzu prorussische Journalisten ein ganzes Jahr wegen Anfachung von Hass zwischen den Nationen in Untersuchungshaft.

    Es ist schwer, eine „russische Partei“ zu mobilisieren, wenn es keine wirklichen Parteien oder wenigstens ein halbwegs entwickeltes Netz von nicht regierungsnahen Organisationen oder andere politische Infrastruktur gibt, weder in Russland noch in Belarus. Hinzu kommt, dass Belarus ein autoritär regiertes Land ist, wo jegliche Angriffe auf die Stabilität der Regierung im Keim erstickt werden. 

    Aber nehmen wir an, die Einverleibung von Belarus, wie wir sie uns ausmalen, geschieht schnell: mit Panzern auf der Straße oder einem Umsturz in Minsk. Würden sich die Menschen gegen die Okkupation wehren?

    Eine drei Jahre alte Umfrage besagt, dass 19 Prozent bereit wären, eine Waffe in die Hand zu nehmen (Umfrage des IISEPS vom Juni 2015). Aber die Frage ist viel zu hypothetisch, um sich auf diese Zahlen zu verlassen. 

    Allerdings lässt sich mit Sicherheit vorhersagen, dass sofort Politiker auftauchen und zum Widerstand aufrufen würden. In Belarus gibt es ein paar national-demokratische und nationalistische Parteien und Bewegungen, die sich mit der Situation nicht abfinden würden. Sie haben in etwa dasselbe Verhältnis zu Russland wie die ukrainischen Nationalisten: Sie sehen es als ein aggressives Imperium und eine permanente Bedrohung der belarussischen Unabhängigkeit. Der reale Beginn einer Einverleibung  würde die Stimmung in der Gesellschaft anheizen. Die Operation würde also nicht ohne Massenproteste in den Großstädten vonstattengehen können. 

    Aber ob wir hundertprozentig überzeugt sind oder nicht, dass es Widerstand geben würde, das ist nicht Kern unserer Analyse. Wichtiger ist, dass niemand, einschließlich Moskau, mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass es keinen Widerstand geben wird. Es ist ein nicht kalkulierbares Risiko. Und das bedeutet, dass man bei der Planung einer solchen Operation damit rechnen muss, auf Proteste oder Partisanenwiderstand zu treffen. Diese Feststellungen brauchen wir später für die Analyse der Vorteile und Risiken für Russland in dieser Angelegenheit.

    Wenn man etwas zu verlieren hat

    Eine wesentliche Hürde für jedwede enge Anbindung von Belarus ist sein politisches Regime. Autokraten teilen ungern ihre Macht, weder im Inland noch außenpolitisch. Alexander Lukaschenko hat zwar stapelweise Unionsverträge mit Russland unterzeichnet, als der Rücktritt von Boris Jelzin in Sicht war und um den Platz im Kreml konkurriert wurde. Sobald der jedoch vergeben war, verschwand auch Minsks Wunsch, sich mit Russland zu verbünden.

    Lässt man brutale persönliche Erpressungen außer Acht, kann man sich nur schwer vorstellen, was Moskau Lukaschenko für den Verzicht auf seine Macht zu bieten hätte. Geld, eine Yacht und eine Villa bei Sotschi kompensieren wohl kaum den Verlust von Möglichkeiten und Status eines uneingeschränkten Herrschers von einem mittelgroßen europäischen Land. 

    Bleibt also nur die Variante einer Spaltung der belarussischen Elite und die Suche oder Schaffung einer prorussischen Fraktion vor Ort.

    Die Führungsriege in Belarus ist nicht homogen. Es gibt prowestliche Diplomaten, marktorientierte Technokraten, rote Direktoren und einfach nur opportunistische Beamte. Aber all diese Unterschiede verblassen vor dem Hintergrund der Treue zu Lukaschenko, die sie ihm schon viele Jahre halten.

    Die meisten, wenn nicht alle hochrangigen Beamten profitieren von der Souveränität. Nicht zuletzt durch die Möglichkeit, ohne finanzielle Sorgen zu leben und dank ihrer Beziehungen nach einem Rückzug aus dem Staatsdienst in die Privatwirtschaft zu gehen, und das in einem kleinen und bestens kontrollierten Land, das nicht in Einflusssphären einzelner Oligarchen unterteilt ist. Das russische Kapital, das die Vereinigung beider Länder mit sich brächte, würde nicht nur ihre angestammten Plätze, sondern auch ihre Garantie auf eine sorgenfreie Zukunft gefährden.

    Aber selbst wenn wir annehmen, dass irgendwo im Verborgenen noch überzeugte russophile Beamte sitzen, ginge für sie der Verrat an ihren Vorgesetzten mit allzu großen persönlichen Risiken einher, erst recht, wenn man bedenkt, dass der Ausgang dieses Abenteuers ungewiss ist. Ein belarussischer Beamter jeder Karrierestufe riskiert schon durch die Aufnahme von eigenständigen Verhandlungen mit Moskau oder mit Kollegen im Staatsapparat alles, was er hat, einschließlich seiner Freiheit. Besonders aktuell ist dieses Problem in einem System, in dem die begründete Angst herrscht, dass die Geheimdienste alle Beamten äußerst genau beobachten.

    Bislang gibt es keinen Grund anzunehmen, dass unter den belarussischen Silowiki, die sich – wie auch alle anderen Beamten – gegenseitig kontrollieren, der Wunsch bestünde, die Souveränität aufzugeben. Für sie ist das persönliche Risiko beim Scheitern eines solchen Vorhabens sogar wesentlich größer als für die Staatsbeamten. 

    Die kostspieligste Variante

    Damit sind wir bei der Kernfrage angekommen: Ist die Sache den Aufwand tatsächlich wert? Wollte Belarus von sich aus der Russischen Föderation beitreten, würde sich Moskau wohl kaum widersetzen. Aber da mit keinen freiwilligen Szenarien zu rechnen ist, blieben nur die gewaltsamen mit den dazugehörigen Ausgaben.

    Kosten würden sowohl durch die Operation selbst als auch durch die Mitfinanzierung der neuen Region mit fast zehn Millionen Menschen entstehen, die der Westen zudem wie im Fall der Krim durch Sanktionen isolieren und nicht anerkennen würde. Darüber hinaus könnten auch Russland selbst neue, schwerwiegende Sanktionen erwarten.

    Würde Russland einfach so Nachbarländer, die nicht niet- und nagelfest sind, einsammeln und anschließen, müsste man beispielsweise mit einer Angliederung des deutlich weniger komplizierten Südossetien rechnen. Weil dies aber bislang nicht geschehen ist, können wir davon ausgehen, dass für Moskau eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum Westen von Bedeutung wäre.

    Wäre Wladimir Putin so besessen von seinen Umfragewerten, dass er dafür sogar ganze Länder gewaltsam angliedern würde, wozu dann die Erhöhung des Rentenalters? Er hätte dieses Problem auch seinen Nachfolgern überlassen und die sakralen Zahlen der Volksliebe aufrechterhalten können.

    Soziologen beobachten schon seit Monaten eine gestiegene Nachfrage in der russischen Gesellschaft nach einer friedlichen Außenpolitik und einer Hinwendung der Regierung zu innenpolitischen Fragen. Offensichtlich sind diese Zahlen auch dem Kreml bekannt. Nicht nur, dass eine Angliederung von Belarus keinen Anstieg in den Umfragewerten garantiert, sie hätte womöglich sogar den gegenteiligen Effekt: die Unzufriedenheit des Volkes. Erst recht, wenn diese Operation mit neuen Sanktionen und finanziellem Aufwand verbunden wären. 

    Mit anderen Worten: Die Frage von 2024 durch die Vereinigung mit Belarus zu lösen, käme der Provokation eines scharfen Konflikts mit einem bislang verbündeten Land gleich. Es wäre ein Szenario voller unkalkulierbarer Risiken und Ausgaben, die nicht einmal steigende Umfragewerte garantieren. Wenn Putin an der Macht bleiben möchte, könnte er dieses Problem wesentlich leichter lösen: durch eine Verfassungsänderung.

    Es müsste viel passieren, damit die Waage sich noch zur anderen Seite neigt. Aber bis dahin gleicht Moskaus Annäherungsultimatum an Minsk eher dem Wunsch, endlich Geld zu machen, als dem Versuch, ein solches Projekt mit Gewalt bis zum Ende durchzuziehen.

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  • Auf in die Zukunft mit Lew Tolstoi!

    Auf in die Zukunft mit Lew Tolstoi!

    Der Sozialismus ist nicht mehr, die Zeit der Heilsversprechen ist vorbei. Die Entzauberungwelle nach dem Ende der Ideologien ebbe aber immer noch nicht ab, schreibt Maxim Trudoljubow auf Inliberty. Seit den 1990er Jahren erschallen in Russland Rufe nach Visionen. Die Politik des Kreml quittiere diese aber höchstens mit ideologischen Versatzstücken aus der Mottenkiste, und im Ergebnis braue sich in den Köpfen ein höllischer Brei zusammen, kritisiert etwa der Journalist Andrej Loschak.

    Wie ist dieser Orientierungslosigkeit beizukommen? In einer Inliberty-Serie über das Comeback Tolstois meint Maxim Trudoljubow, die Antwort genau bei jenem Klassiker der russischen Literatur gefunden zu haben.

    Will ich zu Tolstoi vordringen, erwische ich mich häufig bei dem beruhigenden Gedanken: Das ist ist ja alles auf Russisch geschrieben und gar nicht anstrengend. Doch es ist anstrengend. Von den Themen, um die es geht – Mensch, Leben, Schicksal der politischen Gesellschaft – trennen uns heute dicke Schichten wissenschaftlicher Formeln, Termini, Ziffern und Daten. Die sowjetischen Formulierungen sind noch nicht aussortiert und oben auf dem Stapel häufen sich chaotisch Lehnbegriffe wie „Ressourcen-Fluch“, „hybride Systeme“ und „extraktive Insitutitionen“.

    Bei Debatten über Politik und Gesellschaft geht es meist nicht um Werte, sondern um Techniken. Was nicht überraschend ist, denn die Auffassung von Politik als einem technischen Prozess, für den es Ingenieure und keine Ideologen braucht, war eine Reaktion auf das Scheitern des sowjetischen Systems. 
    Kaum jemand bedauert den Verlust der Ideologie, dennoch haben wir ein Trauma davongetragen und ein gemeinsames zukunftsgerichtetes Koordinatensystem eingebüßt: An die Stelle der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie mit einem materialistischen Ziel und Schritten, die eine Gesellschaft dorthin führen sollen, traten Polittechnologien – eine Ansammlung von Instrumenten, die nicht dazu dienen, eine Gesellschaft voranzubringen, sondern sich allein um eines zu drehen – die Macht. 


    Prognosen, Umfragen, PR-Strategien


    Wir betrachten das gesellschaftliche Leben nicht mehr als eine Etappe auf dem Weg zu etwas, sondern als ein Spielfeld, auf dem es ein System, Spieler, Prognosen, Umfragen, die Türme des Kreml und PR-Strategien gibt. Der heutige Publizist und seine Leser bleiben oft bei der Diskussion eines Schemas hängen, ohne zum Wesentlichen vorzudringen: dem Leben der Menschen und ihrem Umfeld. So wurden beispielsweise die Bürgermeisterwahlen und die Niederlagen der Kremlkandidaten 2018 größtenteils als Siege und Niederlagen von Polittechnologen diskutiert. 


    Sogar dort, wo wir nicht durch die Zensur oder die zunehmenden juristischen Hürden für Medien eingeschränkt sind, sogar dort, wo wir uns nicht auf die Diskussion ein und derselben Politmühle beschränken müssten, sind wir durch Autoritäten beschränkt. Und da sich die meisten von ihnen jenseits der Grenzen der russischen Gesellschaft befinden, ist das heutige Russland provinzieller und beschränkter als das Russland vor 150 Jahren, in dem die Romane von Turgenjew, Dostojewski, Gontscharow und Tolstoi entstanden. 

    Ideologiefetzen, Ablagerungen gesellschaftswissenschaftlicher Vorstellungen, Zitate einflussreicher Meinungen – das alles bildet ein geistiges Sediment, das man erst einmal durchstoßen muss, um zu Tolstoi zu gelangen. Zugegeben, das gilt nicht nur für Russland. Aber in der russischen Situation zeigen sich gewisse Vorgänge besonders deutlich. Wobei ein schmerzlicher Umgang mit den Ergebnissen einer rapiden Modernisierung und das Trauma durch den Verlust einer Zukunftsvision sowohl uns als auch den westlichen Kulturen eigen ist.   

    Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch gab es auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs sehr verschiedene Zukunftsvisionen, doch mit dem Fall der Mauer verschwanden die Perspektiven hier wie dort. Nicht nur Russland, sondern die ganze Welt ist am Ende eines langen Weges angelangt, auf dem Autoritäten und eine Expertenindustrie dafür zuständig waren, Ziele wie Entwicklung und Fortschritt durchzusetzen – unabhängig davon, wie diese Ziele in der jeweiligen Ideologie aussahen. 
    Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass dieser Weg irgendwann in ruhigen und stabilen alten Zeiten begonnen habe. Genau wie wir heute, durchlebte die damalige Gesellschaft tiefgreifende Umbrüche und das Trauma des Verlusts eines einheitlichen Weltbildes. 

    Tolstoi, der in den ewig gestrigen Zeiten der 1820er Jahre geboren wurde, erlebte die Erfindungen des Grammophons, des Automobils, des Flugzeugs und die Entstehung des russischen Parlamentarismus. Er war Zeuge der industriellen Revolution und wissenschaftlicher Entdeckungen, die die Vorstellung vom Leben von Grund auf umkrempelten. Vor seinen Augen vollzogen sich die Bauern- und Rechtsreformen, sowie administrative und andere Reformen, die den russischen Staat modernisierten. 

    Ende der 1850er Jahre erscheint Darwins Entstehung der Arten, in den 1860ern veröffentlicht Marx Das Kapital und Mendelejew entdeckt die periodische Gesetzmäßigkeit. Die Welt lässt sich immer besser erklären und man kann förmlich dabei zusehen, wie sie in ihre Einzelteile zerlegt wird. 


    Die Welt, in ihre Einzelteile zerlegt


    In den 1860er und 1870er Jahren erscheint sukzessive die Bibel in moderner russischer Sprache. Der Haupttext der Christenheit hatte bis dahin nur auf der Sprache der Geistlichkeit existiert und wird so erstmals den breiten Massen zugänglich.

    In der Nähe von Jasnaja Poljana verläuft die Tschugunka – die erste Eisenbahn. Die Zeitungen berichten von Weltausstellungen und sagenhaften Innovationen, die schnell auch Russland erreichen. In den 1880ern gab es erstmals elektrisches Licht: elektrische Straßenlaternen, beleuchtete Rampen im Theater, angestrahlte Gebäude. Alles Zeichen eines immer schnelleren Fortschritts, der das Denken der Bildungsschicht über die Gegenwart und Zukunft maßgeblich mitbestimmt. Die meisten Intellektuellen jener Zeit waren Fortschrittsoptimisten, dabei sahen insbesondere deutsche Denker den Staat als Triebkraft des Fortschritts.
    Tolstois Antwort, die ihn sofort zu einem Außenseiter im Kreis der europäischen Intellektuellen machte (wobei er natürlich nicht völlig allein dastand, man denke nur an Schopenhauer oder Proudhon), war: dem „progressiven“ Geschichtsbild zu widersprechen, sprich im Staat keine modernisierende Kraft, sondern einen Unterdrückungsapparat zu sehen und die sich rapide in Spezialgebiete auseinanderdividierende Wissenschaft abzulehnen. 

    „Ich sehe überhaupt keine Notwendigkeit, in der Geschichte nach allgemeingültigen Gesetzen zu suchen, ganz abgesehen davon, daß dies ja unmöglich ist. […] Das Gesetz des Fortschritts beziehungsweise der Vervollkommnung ist einem jeden Menschen in die Seele geschrieben und wird nur irrtümlich auf die Geschichte übertragen“ (Der Fortschritt und die Definition der Bildung, 1862/1863).

    Gegen Ende seines Lebens formuliert Tolstoi seine Auffassung von wahrer Wissenschaft folgendermaßen: „Wissen, was man tun und was man lassen soll. Darin, und nur darin, bestand und wird die echte, die wahre Wissenschaft auch weiterhin bestehen. Diese Wissenschaft ist wirkliche Wissenschaft, d. h. ein Konglomerat aus Erkenntnissen, die sich dem Menschen nicht von selbst erschließen.“ (Über die Wissenschaft (Antwort an einen Bauern), 1909). Tolstoi konzentriert sich nicht darauf, wie das Leben im materiellen und sozialen Sinne beschaffen ist, sondern darauf, wie der einzelne Mensch sein Leben führt und was ein richtiges oder falsches Leben ausmacht. 


    Weltumspannender Umsturz statt Revolution


    In dem Traktat Das Ende des Jahrhunderts verallgemeinert Tolstoi seine Ablehnung des liberalen und des sozialrevolutionären Fortschritts und nennt die für ihn einzig zulässige Form historischer Entwicklung: von einer Welt der Nötigung durch den Staat oder die Revolution hin zu einer Welt, in der sich die Menschen gegenseitig verpflichtet sind und die auf der Befolgung von Lebensregeln gründet, welche von Gelehrten des Christentums, Buddhismus und Konfuzianismus aufgestellt worden sind. Dieser „große weltumspannende Umsturz“ müsse von Russland ausgehen, denn das russische Volk kenne, so Tolstois Überzeugung, besser als alle anderen Völker die gewaltsame Natur des Staates, weil er sie im verheerenden Japankrieg gezeigt habe. 

    Das Ende dessen, was zu Tolstois Zeiten begann, haben wir miterlebt. Russland hat ein wahnwitziges politisches und menschliches Experiment durchlaufen, dessen Initiatoren an ein allgemeingültiges Gesetz der Geschichte glaubten. Die Kommunisten schufen einen Apparat physischer und moralischer Gewalt, wie ihn die Geschichte nicht kannte, und der die Menschen dazu brachte, an ein gemeinsames historisches Ziel für alle zu glauben. Dieser Apparat, der Sowjetstaat, hat alle Ziele, für die er erschaffen worden war, überdauert. 

    Alle halbherzigen, unentschlossenen Versuche, diesen Staat von kommunistischen auf liberal-demokratische Ziele auszurichten, sind erwartungsgemäß gescheitert. Der Staat, der – ich sage es nochmal – für die Lösung einer großen historischen Aufgabe entwickelt worden war, ist zum Selbstzweck geworden und wird von der gegenwärtigen Regierung zähnefletschend verteidigt. Dieser Gewaltstaat, der das Volk zu keinem historischen Ziel führt, sondern nur im Kreis, um sich selbst herum, hat seine wahre Natur unverkennbar gezeigt. Etwas Ähnliches würde Tolstoi wohl sagen, würde er von Zauberhand in unsere Zeit befördert.
    Heute kann man sich bei den großen Lebensfragen nur schwer eine solche intellektuelle und spirituelle Unbefangenheit vorstellen, wie sie Tolstoi an den Tag legte. Aber man muss mit Tolstoi nicht in allem übereinstimmen, um von ihm zu lernen, wie man jene Schicht aus wissenschaftlichen Formeln und einflussreichen Zitaten durchbricht und anfängt selbst zu denken.

    Heute stehen wir da mit Tolstoi „nach dem Fortschritt“, auf den Trümmern des Gebäudes, vor dessen Errichtung er warnte. Wir befinden uns immer noch im Zeitalter der „großen Entzauberung“: Wir durchleben verschiedene Formen der Erschöpfung, Empörung und Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Prozessen. Die Entscheidung der russischen Führung für die Polittechnologie und gegen die Ideologie ist nachvollziehbar und unter den gegebenen historischen Umständen sogar unumgänglich. Zudem wurden sogar mehrfach Versuche unternommen, etwas wie eine Ideologie zu erschaffen. Diese Versuche wurden von der Gesellschaft weder angenommen noch begrüßt. Die russische Gesellschaft besteht aus Menschen mit verschiedenen Überzeugungen und lehnt offenbar schon die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunftsvision ab.  

    Bei seiner Warnung vor dem Glauben an einen linearen Geschichtsverlauf, sagte Tolstoi im Wesentlichen, dass ein Staat keine Zukunftsvision für alle schaffen könne, das könne nur der einzelne Mensch für sich selbst. Die Fokussierung auf das individuelle Leben und die Erforschung dessen, was richtig und was falsch ist, waren die Stärke des Denkens in Tolstois Russland. Wir können in diese Zeit nicht zurückkehren, das müssen wir auch nicht. Es genügt, wenn wir von unseren Vorfahren lernen, die eigene Erfahrung selbstständig zu reflektieren. 

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  • „Das mit den Trollen war Prigoshins Idee“

    „Das mit den Trollen war Prigoshins Idee“

    Jewgeni Prigoshin ist Unternehmer. Weil ihm das einzige private Restaurant im Weißen Haus gehört, wird er auch „Putins Koch” genannt. Prigoshin soll außerdem Besitzer der Medienholding Föderale Nachrichtenagentur (FAN) sein und hinter der berühmt-berüchtigten Trollfabrik in Sankt Petersburg stecken. 2013 hatte es einige DDoS-Attacken auf unabhängige russische Medien gegeben. Auch die Novaya Gazeta war betroffen. 

    Nun hat sie einen ehemaligen „Mitarbeiter“ Prigoshins getroffen: Andrej Michailow hatte bis 2013, als er und andere wegen Geldstreitigkeiten keine Aufträge mehr bekamen, tatkräftigen Einblick in Prigoshins Medienimperium bekommen.

    Der Novaya Gazeta erzählt er ausführlich über von ihm inszenierte Fake-News (um Konkurrenten stolpern zu lassen), über eine Trollfabrik – und über Prigoshins „Bewilligt“-Stempel. 

    Denis Korotkow: Wie haben Sie Jewgeni Viktorowitsch Prigoshin persönlich kennengelernt?

    Andrej Michailow: Ich wurde in eins der Büros auf der Wassiljewski-Insel eingeladen. Guljajew und ein paar seiner Leute waren da. Sie meinten, es gäbe da ein Projekt: Für ehrliche Medien oder so ähnlich. Damals hatten sie auch schon ihr eigenes Medienunternehmen angemeldet: Die Zeitung über Zeitungen. Es musste eine Website der Zeitung und andere Seiten erstellt und gleich mit Informationen gefüllt werden. Man bot mir an, mich um die organisatorischen Fragen zu kümmern. Als ich ein Angebot für das Projekt geschrieben hatte, brachte man mich zum Chef. Wir trafen uns in seinem Büro. Ein solides Büro mit Eichenmöbeln, geschmackvoll und pragmatisch eingerichtet, mit einem großen Bildschirm für Videokonferenzen. Ein Massagezimmer nebenan. 

    Prigoshin war begeistert, holte gleich anderthalb Millionen aus dem Safe 

    Ich wurde Prigoshin als jemand vorgestellt, der sich direkt um das Projekt Zeitung über Zeitungen kümmern würde. Ich habe ihm mein Konzept vorgestellt. 

    Prigoshin war begeistert, holte gleich Geld aus dem Safe und gab mir anderthalb Millionen in bar für die ersten vier Ausgaben. Nach den ersten drei brüllte er aber rum, wir hätten alles verschissen, das Projekt müsste eingestampft und ich müsste … nun, sagen wir, ordentlich bestraft werden. Ich muss dazu sagen, dass er nie handgreiflich gegen mich geworden ist, gegen andere auch nicht, zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Obwohl es derartige Gerüchte gab.

    Was war das Konzept der Zeitung über Zeitungen

    Was der Zweck davon war? Medien sollten gegen Bargeld fiktive Informationen veröffentlichen. Das haben sie auch getan.
    Geplant wurde die Sache Ende Dezember 2012, eingetragen wurde die Firma Anfang 2013, glaube ich. 

    Anfang 2013, da war doch die Geschichte mit Dimitri Bykow? Warum ausgerechnet Bykow?

    Wir brauchten einen käuflichen Journalisten. Da kam uns die Idee mit Bykow, der kam bei uns von seiner Bedeutung her an zweiter Stelle, gleich nach Nawalny. 

    Wir brauchten einen käuflichen Journalisten

    Wir haben ihn vorgeschlagen und es hieß: Den nehmen wir! Bei Jewgeni Viktorowitsch [Prigoshin] musste es immer schnell gehen, für große Vorbereitungen war keine Zeit, alles musste rausgehauen werden. 

    Bykow sollte etwas zur Unterstützung eines Lokalpolitikers sagen, der von unserem Mann, Sergej Solowjow, gespielt wurde. Von der Unterstützung eines Politikers wusste Bykow natürlich nichts, wir haben ihn reingelegt

    Er hat sich mit Solowjow getroffen, einem respektablen Mann. Solowjow erzählte, dass er für irgendein Amt kandidieren wolle – der ganze Auftritt Bykows wurde gefilmt, und das, was er sagen sollte, hat er gesagt. Der Plan ging auf. (Das ist Michailows Interpretation. De facto hat sich Bykow nicht für den Politiker ausgesprochen, sondern sich nur für die Einladung bedankt. – Anm. d. Novaya Gazeta)

    War das derselbe Solowjow, der den Geschäftsmann im russischen Forbes gespielt hat?

    Das war schon die nächste Stufe. Es war keine gewöhnliche, sondern die Jubiläumsausgabe des Forbes. Darin gab es einen Artikel von unserem Solowjow mit nicht verifizierter Information und ohne Kennzeichnung als Werbung. Wir hatten zeigen sollen, dass man selbst beim Forbes alles kaufen kann. 

    Wir sollten zeigen, dass man selbst beim Forbes alles kaufen kann 

    Im Frühling 2013 wurden ausgerechnet am Tag des Sieges durch DDoS-Angriffe die Webseiten von Novaya Gazeta, Echo Moskwy, Moskowski Komsomolez, Doshd und Fontanka.ru lahmgelegt. Können Sie sagen, wer hinter dieser Aktion stand?

    Wer den Angriff organisiert hat, weiß ich nicht, ich habe die Leute nie persönlich kennengelernt. Beauftragt wurden sie von einem unserer Männer, Kirill Fulde. Keine Ahnung, wo er heute ist und für wen er jetzt arbeitet. Maxim Bolonkin, der die Videobotschaft im Namen der Netzhamster aufgenommen hat – der Bewegung, die angeblich für den Angriff verantwortlich war – haben wir über mehrere Ecken gefunden und für viel Geld damit beauftragt.

    Die Videobotschaft wurde direkt im Büro der Zeitung über Zeitungen aufgenommen. Wir hatten mehrere Pläne, die Netzhamster auszubauen, aber daraus wurde nichts. Jewgeni Viktorowitsch ist ein launischer Mensch. Heute will er so ein Projekt, morgen nicht mehr.

    Wie viel hat die Aktion gekostet?

    Zwischen fünf und sieben Millionen Rubel [damals etwa 120.000 bis 170.000 Euro – dek].

    Wie werden solche Aktionen finanziert?

    Wenn eine besondere Aktion durchgeführt werden muss, schreibt man ein Skript und macht einen Kostenvoranschlag. Wenn Prigoshin einverstanden ist, gibt er einem das Geld gleich bar oder setzt seinen „Beiwilligt“-Stempel drauf, und man holt es sich von der Buchhaltung.

    Etwa zur selben Zeit sind Sie doch von punktueller zu flächendeckender Arbeit übergegangen. Es entstanden die Olgino-Trolle, die längst zum Meme avanciert sind. Wessen Idee war das?

    Das war allein Prigoshins Idee. Manche behaupten ja, es sei ein Auftrag vom Kreml, eine Hausaufgabe, die Prigoshin im Tausch für milliardenschwere Kreml-Kontakte gemacht hätte. Aber nach allem, was ich gesehen und gehört habe, bin ich mir sicher, dass er keine Anweisungen erhalten, sich mit niemandem beraten und auch niemanden um Erlaubnis gefragt hat. 

    Es gab keine Kommandotürme, alles ging direkt von Prigoshin aus. 

    Das mit den Trollen war allein Prigoshins Idee, keine Hausaufgabe vom Kreml

    Er hat sogar die Räumlichkeiten für die Trollfabrik selbst ausgesucht, das Gebäude in Lachta liegt auf dem Weg zu seiner Datscha (das Anwesen von Jewgeni Prigoshin befindet sich in der Feriensiedlung Venedig des Nordens am Lachta-See – Anm. d. Novaya Gazeta). Übrigens haben wir es nie Trollfabrik genannt, das ist ein Label, das uns die Journalisten übergestülpt haben und das sich beharrlich hält.

    Welche Aufgaben hatten Sie bei den Trollen?

    Zunächst mussten wir ein Gebäude mieten, parallel wurden schon Leute angeworben. 2013 war sehr viel los, da mussten viele Dinge gleichzeitig erledigt werden. Die Angestellten mussten nicht nur Informationen in Blogs unterbringen, sondern auch anhand von Schlüsselbegriffen Informationen der gegnerischen Position im Netz suchen.

    Wie viele Leute haben am Anfang des Projekts für Sie gearbeitet? 

    Anfangs waren es etwa 200. Es gab verschiedene Abteilungen. Die einen waren für die Ukraine, die anderen für die USA zuständig. 
    Aber in Wirklichkeit waren die Trolle nicht besonders effektiv. Ich hatte parallel noch eine Mannschaft aus Profis, etwa zehn Mann, die sie locker übertrumpft hat.

    Die Trolle waren nicht besonders effektiv

    Können wir diese zehn Profis namentlich nennen?

    Wir können diese Menschen nicht nennen, weil … Weil wir sie nicht nennen können. 

    Ihre Tätigkeit beschränkte sich nicht allein auf Netzaktivität und betraf manchmal auch die Offline-Welt? Erzählen Sie doch, wie Sie Waleri Ameltschenko kennengelernt haben, der über die dreckigen Jobs von Prigoshins Leuten erzählt hat. Welche Aufgaben hat er für Sie oder die Organisation, für die Sie gearbeitet haben, erledigt?

    Ich weiß nicht mehr genau, wahrscheinlich war es 2012 oder 2013. Ich habe ihn zufällig über Freunde von Freunden kennengelernt  …

    Welche Aufgaben hat er erledigt?

    Sie wollen sicher auf den Blogger aus Sotschi im Sommer 2013 hinaus. Da gab es so eine Sache. Dieser Blogger, [Anton] Grischtschenko, Huipster, hat falsches Zeug verbreitet, jemand musste mal ein ernstes Wort mit ihm reden. 

    Aber warum gerade er? Wie kommt man auf ihn? Dass Dimitri Bykow ein potentielles Ziel ist, leuchtet ein. Aber wozu dieser Grischtschenko, von dem nie jemand etwas gehört hat?

    Damals lief bereits eine zielgerichtete Suche nach negativen Kommentaren. Man fand bei ihm etwas sehr Beleidigendes gegen unseren Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin. Da hat Jewgeni Viktorowitsch ihn gleich als Kunden vorgeschlagen. Ich weiß nicht mehr genau, wer seine Daten besorgt hat. Jedenfalls wurden mir Videoaufnahmen von ihm gebracht, das lief über Guljajew. Es hieß, mit dem müsste man mal ein ernstes Wort sprechen, damit er sowas nie wieder macht.

    Einmal mit einem Werkzeug gegen den Arm und fertig 

    Verstehe ich Sie richtig, dass Ameltschenko für dieses „Gespräch“ mit seinem Partner Wladimir Gladijenko nach Sotschi geflogen ist?

    Gladijenko ist ein Freund von Ameltschenko. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie sie dorthin gekommen sind und was sie dort gemacht haben. 
    Huipster hat aufgehört zu bloggen und seine Accounts gelöscht, also haben sie ihre Aufgabe erledigt. Da war irgendetwas mit seinem Arm, aber das habe ich erst später von Ameltschenko erfahren, als die beiden schon zurück waren. Er meinte: einmal mit dem Werkzeug gegen den Arm und fertig. 

    Mit was für einem Werkzeug?

    Einem Eisenstab.

    Haben Sie noch andere Aktionen außerhalb des Internets organisiert?

    Ich sage doch, es lief alles parallel. 2013 war überhaupt ein verrücktes Jahr, ein Projekt nach dem anderen, im Internet und außerhalb. Im Herbst haben wir alle landesweit gegen RIA Nowosti gearbeitet.

    Was gab es gegen die Nachrichtenagentur einzuwenden?

    Ich vermute, Prigoshin wollte Mironjuk (Swetlana Mironjuk, die Chefredakteurin von RIA Nowosti – Anm. d. Novaya Gazeta) loswerden. Das lief unter dem Deckmantel: Prüft die größte Nachrichtenagentur ihre Informationen? Was die Ursache war und was als solche herhalten musste, kann ich nicht sagen.

    Ich habe von Guljajew die Aufgabe bekommen, zu überprüfen, wie sauber die Infos sind. Mir Meldungen auszudenken, sie unterzubringen und Geld reinzupumpen. Dafür hatten wir uns Wladiwostok, Nowosibirsk und Petersburg ausgesucht. 

    Es wurde ein Skript geschrieben, und es wurden Fake-Nachrichten erfunden. In Petersburg wurde eine neue Hunderasse gezüchtet. In Wladiwostok trat eine Zirkusmannschaft umsonst auf. Und anderes albernes Zeug, alles frei erfunden. Dann kam ein Mann von der Straße und brachte das bei RIA unter. 

    Wie das ging? Man musste herausfinden, wer in der Redaktion für die Platzierung der Nachrichten verantwortlich war, dann redete man mit dieser Person. 

    Diesem Nachrichten-Menschen wurde einfach Unsinn erzählt, später ließ man ihm über Dritte Geld zustellen, angeblich für die Unterbringung der Fake News. Das war dann der Beleg für seine Käuflichkeit. Selbstverständlich wurde alles gefilmt.

    Gab es auch echte Abmachungen mit Journalisten von RIA?

    Nein, die Leute, die die Nachrichten platziert haben, haben kein Geld genommen. Das war alles ein Spiel. Aber, dass sie die Nachrichten nicht verifiziert haben, stimmt. Sie haben ohne Überprüfung Fakes veröffentlicht.

    Die Leute von RIA haben ohne Überprüfung Fakes veröffentlicht

    Wenn die Arbeit erledigt war, wurde ein Bericht geschrieben, die Videos über die Käuflichkeit von RIA Nowosti geschnitten und Guljajew gegeben. Guljajew reichte das Ganze an Prigoshin weiter. Was Prigoshin damit machte, weiß ich nicht. Im Netz sind diese Videos, soweit ich weiß, nie aufgetaucht. Aber im Dezember 2013 musste Mironjuk ihre Stelle aufgeben, also war die Aufgabe erledigt. 

    Wer hat diese Leute, die die Fakes zu RIA gebracht haben, angeheuert, vorbereitet und angewiesen?

    Das war ich. In Petersburg waren es die einen, auf Reisen gingen andere. Aber allesamt Leute, die ich kannte und die auch für Prigoshin arbeiteten. Sie bekamen ein festes Gehalt für die Ausführung verschiedener Veranstaltungen, die Kosten für die gesamte RIA-Operation beliefen sich also nur auf die Flugtickets und Hotels.

    Sie haben zugestimmt, uns nicht nur davon zu erzählen, wie Prigoshins Medienimperium entstanden ist, sondern auch von der Organisation der offenkundigen Provokationen in der realen Welt. Warum tun Sie das, und wie wird Prigoshin darauf reagieren?

    Nun ja, im Wald war ich schon, ich hoffe, das machen sie nicht noch einmal. Aber ich will meinen ersten Waldtrip nicht ungestraft lassen. Eine Reaktion vorherzusagen ist schwierig, aber die Erfahrung zeigt, dass still hinter einem Baumstamm zu hocken, die schlechteste Art der Verteidigung ist.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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