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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Warum Lukaschenko nicht freiwillig gehen wird

    Warum Lukaschenko nicht freiwillig gehen wird

    Auch vergangenen Sonntag, am 22. November 2020, gingen die Belarussen beim Marsch gegen den Faschismus wieder auf die Straße, um gegen Machthaber Alexander Lukaschenko zu protestieren. In der Hauptstadt Minsk hatten sich die Demonstranten eine andere Taktik ausgedacht, um der Strategie der Aufreibung durch OMON und andere Spezialeinheiten entgegenzuwirken. Diesmal formierten sich die Bewohner in den Bezirken selbst zu Kolonnen, waren ausschließlich in ihren Rajony unterwegs und zielten nicht darauf ab, sich im Zentrum mit anderen Menschenmengen zusammenzuschließen. Dennoch wurden fast 400 Personen festgenommen. Seit Monaten scheint das Regime nur eine Art der Konfliktlösung zu verfolgen: den der Gewalt und der Repressionen. Über diesen eindimensionalen Weg sagte die Belaruskennerin Astrid Sahm in einem Interview mit der Deutschen Welle: „Aber wenn dies der einzige Schritt ist, dann ist es ein Schritt ins Nirgendwo.“

    Lukaschenko hat seit August, als die Proteste im Zuge der Präsidentschaftswahl an Fahrt aufnahmen, auch immer wieder Dialogangebote oder Verfassungsreformen in den Raum gestellt. Für Januar ist eine sogenannte Allbelarussische Volksversammlung angekündigt, die Lösungsvorschläge erörtern soll. Gleichzeitig hat Lukaschenko häufig betont, dass er seinen Posten, den er bereits seit 1994 innehat, nicht freiwillig räumen werde. Sind die Dialogangebote von Seiten Lukaschenkos also ernst zu nehmen? Verstehen Machtvertikale und Silowiki-Strukturen überhaupt, wie ernst die Lage ist? Wie geht es weiter in Belarus?

    Diesen Fragen geht der renommierte Analytiker und Journalist Alexander Klaskowski in einem Beitrag für das belarussische Internetportal Naviny nach. Dabei zeigt er auch auf, wie umfassend und tiefgreifend die Krise in Belarus tatsächlich ist.

    „Ich werde diesen Posten verlassen, wenn es an der Zeit ist. Wozu denn ‚sofort‘? ‚Sofort‘ ist gefährlich. Mit Verabschiedung der Verfassung und so weiter plane ich jetzt präzise und fristgemäß auf einer landesweiten Volksversammlung öffentlich zu erklären, wie und unter welchen Umständen wir weiter vorgehen“, erklärte Lukaschenko.

    Mit wem will sich der Machthaber einigen? 

    Der Mann, der seit 27 Jahren [sic!] an der Macht ist, hatte vor nicht allzu langer Zeit schon einmal eingestanden, er würde „schon ein wenig zu lange auf diesem Posten sitzen“. Darüber, dass er die Macht satthabe, lamentiert er seit Anfang der 2000er Jahre. Nur ist nach seiner Auslegung nie der richtige Zeitpunkt, um zu gehen, weil innere und äußere Feinde das Land bedrohen. Obendrein ist der Machthaber ja großherzig und will seine Gefährten nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen. 

    Diese Haltung klang auch in einem Interview vom 13. November an: „Außer Belarus habe ich nichts. Ich habe mich daran festgeklammert und lasse es nicht los. Weil ich weiß, was ihm zustoßen könnte. Und ihr auch, ihr wisst, was ihm zustoßen wird. Ich kann die Menschen nicht verraten und im Stich lassen.“

    Nun ja, er sitzt dort schon zu lange, andererseits hat er Angst ums Land. Was ist die Lösung? Nach Auffassung des Machthabers „muss man sich in Ruhe einigen. Beim Abgang Lukaschenkos möge im Land Ruhe und Frieden herrschen. Alle Regierungsorgane mögen funktionieren. Es bedarf einer friedlichen und ruhigen Atmosphäre. Und fair möge es sein. Wählt das Volk diesen, so soll er es sein, wählt es jenen, so soll es jener sein …“

    Gut, aber mit wem will sich Lukaschenko einigen? Er äußerte sich positiv über die Initiative von Juri Woskressenski, der aus der Untersuchungshaft des KGB entlassen wurde: Der habe „schon ein paar Dutzend Leute um sich versammelt, die an dem Dialog teilnehmen werden“. Lukaschenko versprach, sich mit ihnen zu treffen.  

    Damit nannte er Punkte eines Projekts, hinter dem selbst ein Blinder den Geheimdienst sieht: ein Pseudodialog mit einer Pseudoopposition. Gleichzeitig verkündete der Machthaber, „mit Verrätern und Terroristen“ sei er zu keinem Dialog bereit. Unter diese Kategorie fallen offensichtlich alle, die beim Projekt „Woskressenski“ nicht mitmachen wollen. 

    Auch den Dialog mit seiner wichtigsten Gegnerin Swetlana Tichanowskaja hat Lukaschenko abgelehnt: „Was soll ich mit einem Menschen besprechen, der mich gebeten hat: ‚Helfen Sie mir, Belarus zu verlassen, ich möchte zu meinen Kindern (sie hatte ihre Kinder vorsorglich nach Litauen geschickt).‘ Sie hat Belarus verlassen und schadet dem Land mit allen Mitteln. Was soll ich mit ihr besprechen? Wir haben keine gemeinsamen Themen.“

    Wer soll denn das Affentheater glauben? 

    Lassen wir die Frage beiseite, warum Tichanowskaja in Vilnius ist (laut ihren Bekannten war sie schwerster Erpressung durch ranghohe Sicherheitsbeamte ausgesetzt).

    Wie dem auch sei, es gibt genug Beweise, dass am 9. August 2020 Millionen Belarussen für Tichanowskaja gestimmt haben. Sie vom Dialog auszuschließen, bedeutet, den Willen dieser Millionen Bürger zu ignorieren, die immer noch in Belarus sind und sich nicht damit abfinden werden, dass man ihre Stimmen stiehlt. 

    Gleichzeitig werden die Protestierenden dämonisiert, als Radikale oder Abfall der Gesellschaft verunglimpft. Hier widerspricht sich Lukaschenko allerdings selbst, wenn er im selben Atemzug verkündet, es gingen nur Bewohner aus Luxusbezirken auf die Straße, die völlig übersättigt seien. So oder so werden auch diese Menschen vom Dialog ausgeschlossen. Wie kann dann überhaupt noch von einer Befriedung der Gesellschaft die Rede sein?

    „Sie sollten Protestierende nicht mit Oppositionellen verwechseln. Die haben nichts gemeinsam“, erklärte Lukaschenko. Er plant also eine gemütliche Zusammenkunft unter Gleichgesinnten, und zur Augenwischerei sind ein paar Pseudo-Oppositionelle (mittlerweile sicher Spitzel beim Geheimdienst) mit von der Partie. Aber wer soll diesem Affentheater glauben?

    Weiterhin setzt er immer noch auf die einzig dekorativen Zwecken dienende Allbelarussische Volksversammlung, in der es gar keinen Widerstand gegen seinen Verfassungsentwurf geben kann. Anders gesagt: Lukaschenko will die neue Verfassung in tiefstem Eigeninteresse schreiben.  

    Ein Referendum unter Machtmissbrauch und Willkür?

    Zugegeben, der Machthaber verspricht Befugnisse abzugeben, einige davon sogar schon jetzt: „Wir haben 57 oder 70 Befugnisse des Präsidenten gezählt, die nach der jetzigen Verfassung auch anderen Regierungsorganen überantwortet werden können.“ Schon die Zahl dieser großzügig abzugebenden Befugnisse lässt vermuten, dass es sich dabei um Peanuts handelt. 

    Zudem soll die neue Verfassung durch ein Referendum bestätigt werden. Wohlgemerkt unter demselben Regime, das nicht einmal mehr seine eigenen, oftmals drakonischen Gesetze ausführt. Mit derselben Zentralen Wahlkommission, die zu 120 Prozent von Lukaschenko kontrolliert wird. Und höchstwahrscheinlich nach demselben Muster des Machtmissbrauchs wie die letzte Präsidentschaftswahl. Denn anders könnte Lukaschenko kein Referendum gewinnen, wenn man bedenkt, wie viele Belarussen seine Politik ablehnen. 

    Hält man das Referendum allerdings unter Machtmissbrauch und Willkür ab, könnte eine noch größere Protestwelle folgen. Zum anderen wäre eine Verfassung, die Lukaschenko durchbringt, indem er die Meinungsfreiheit erstickt, wertlos und sicher kein Ausweg aus der innenpolitischen Krise.

    Aus Lukaschenkos Aussagen vom 13. November geht außerdem klar hervor, dass die Repressionen nicht aufhören werden. Er prophezeit eine Wirtschaftskrise und einen heißen Frühling. Was mit der Wirtschaft zu tun ist, davon hat der Machthaber keine Ahnung, aber den heißen Frühling will er mit allen Mitteln verhindern. 

    „Es ebbt ab – sie brauchen gewichtige Ereignisse, um die Proteststimmung wieder anzuheizen und bis zum Frühling durchzuhalten, wie sie es vorhatten. Aber wir werden säubern, wir werden sie finden – wir kennen jeden einzelnen von ihnen“, versprach Lukaschenko. Wenn das mal keine Einladung zum Dialog ist!

    Was will die Gesellschaft nur bloß?

    Wichtig ist außerdem, dass Lukaschenko die Ereignisse im Land als einen vom Ausland befeuerten Aufstand darstellt. Er versichert, seine politischen Gegner wollten „Belarus zu einer Provinz Polens machen“. Während in ausländischen Zentren, die für Aufruhr sorgten, Amerikaner säßen, „die leider ein zweites Zentrum in der Ukraine errichtet haben. Damit sie gegen Belarus arbeiten können. Aber wir haben dieses Zentrum im Blick“.

    Die Interviewer haben leider nicht nachgehakt, was denn aus den militärischen Ausbildungszentren bei Pskow und Newel geworden sei, von denen die Silowiki vor den Wahlen gesprochen hatten. Damals kursierte noch die Legende, dass die Strippenzieher im imperialen Russland säßen. Und wohin sind eigentlich die zweihundert russischen Soldaten verschwunden, die sich angeblich in den belarussischen Wäldern versteckten?

    Aber wir wollen uns nicht an Details hochziehen. Wichtig ist hier die Denkweise. Lukaschenko und seine Clique halten es scheinbar für ausgeschlossen, dass die Belarussen ohne Strippenzieher etwas ganz Grundlegendes wollen, wovon schon Kupala vor hundert Jahren schrieb: „Sich Mensch Nennen.“

    In einem Interview erklärte Lukaschenko, in Belarus hätte es keine Gründe für Protest gegeben, nichts hätte auf ihn hingedeutet. Das zeugt davon, dass die Machthaber so in ihre Verschwörungstheorien verstrickt sind, dass sie die Gründe für die innenpolitische Krise und den Kern der Forderungen der Avantgarde (mittlerweile allerdings schon der Mehrheit) der Gesellschaft tatsächlich nicht verstehen. Bei einer solchen Diskrepanz der Auffassungen dürfte es grundsätzlich schwierig werden, sich auf einen Ausweg aus der Krise zu einigen.

    Lukaschenko und einige seiner hochrangigen Amtsträger (Natalja Kotschanowa, Wladimir Karanik und andere) scheinen aufrichtig nicht zu begreifen, warum diese wohlgenährten Menschen, die nicht in Lumpen herumlaufen, protestieren? Was wollen sie noch? Offenbar hat den Leuten in der Führungsriege nie jemand Maslows Pyramide auf den Schreibtisch gestellt. Weder im Weltbild noch im Wortschatz von Lukaschenko und seinem Umfeld gibt es den Begriff der Freiheit.

    Deswegen ist das heutige, nennen wir es, mit Verlaub, Establishment per se gar nicht in der Lage den Forderungen nach einem Wandel gerecht zu werden. Es sieht den Ausweg in der Erstickung dieser Forderung. Eine lästige Angelegenheit.

    Der Wandel wird sehr dramatisch

    „Auf den Bajonetten der NATO in Belarus wird das Glück des belarussischen Volkes nicht gründen“, erklärte Lukaschenko in belehrendem Ton. Ja – aber auf den Gummiknüppeln der OMON wird solches Glück erst recht nicht gründen.

    Auf Gummiknüppel zu setzen (zudem das Wirtschaftssystem vor die Wand gefahren ist) bedeutet, dass Belarus auch fürderhin zittern und schütteln wird. Und Lukaschenko wird es immer so vorkommen, dass es nicht an der Zeit ist zu gehen.

    In dem Interview am 13. November hat er dargelegt : „Was, wenn es keinen Lukaschenko geben würde? Dann würde heute niemand dieses Land zusammenhalten. Es würde in Stücke gerissen.“

    Er hat sich allerdings verplappert, dass er „unter ruhigen, friedlichen Umständen“ bereit sei, „nach Russland zu gehen“, um dort „zu leben und zu arbeiten“. Doch es sieht so aus, als hätte er das um der schönen Worte willen gesagt, denn anschließend war zu hören: „Doch Ihnen wird klar sein, was dann mit ihnen (das ist zu übersetzen als: seinen Mitstreitern, Anhängern, Staatsbeamten, Silowiki und so weiter – A. K.) passiert? Sie werden in Stücke gerissen.“

    Wir stecken hier in einer Sackgasse. Das Regime baut auf eine Befriedung der Gesellschaft mit Hilfe von Repressionen. Doch Tatsache ist, je länger und brutaler sie sind, desto mehr Zorn wird sich in der Gesellschaft anhäufen. Und desto schärfer und unentrinnbarer wird die Angst der Machtelite, der Silowiki (und nicht nur sie – derzeit sind alle staatlichen Strukturen an den Repressionen beteiligt) vor Vergeltung.

    Unter Lukaschenko ist keinerlei Stabilität mehr möglich. Auch Vertrauen in den morgigen Tag wird es mit ihm nicht mehr geben. Die Perspektive, dass er politischen Gegnern Platz machen, dass es eine ernsthafte (und keine, wie jetzt geplante, dekorative) Erneuerung des politischen Systems, einen Machtwechsel geben wird, wird sich zu einer Katastrophe auswachsen.

    Und wenn er emotional erklärt: „Kein Machtwechsel! Keine Amtsnachfolger!“, dann wirkt es so, als wolle er den ekelhaften Gedanken verjagen, dass er irgendwann irgendwem seinen Sessel wird überlassen müssen. Er ist zu verliebt in die Macht, zu misstrauisch und hat zu große Angst um seine und seiner Nächsten Sicherheit im Falle seines Abtretens.

    Und das heißt, dass der Wandel in Belarus sehr dramatisch wird.
     

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  • „Wir müssen das Triumphale aus der Geschichte tilgen“

    „Wir müssen das Triumphale aus der Geschichte tilgen“

    Imperium, das waren immer die anderen, vor allem die USA: Der Begriff war in der Sowjetunion stets dem „kapitalistischen Westen“ vorbehalten. Unter anderem durch zahlreiche Marketingmaßnahmen russischer Unternehmen bekam der Ausdruck nach dem Zerfall der Sowjetunion eine andere Färbung. So konnte man schon Mitte der 1990er Jahre in der Zeitschrift Imperium des Geschmacks blättern, eine Schönheitssalon-Kette verpasste sich den Namen Imperium des Stils, es gab einen Imperium-Vodka und die Reisebüro-Kette Imperium des Tourismus

    Auf diesen fruchtbaren Boden fiel in den frühen 2000er Jahren auch die Idee von der Wiederherstellung des Imperiums. Nach dem Ende des Kalten Krieges, so hieß es darin, hat sich der Westen als arroganter Sieger aufgeführt: In seinem eitlen Stolz habe er alles darangesetzt, Russland zu demütigen. Russland sei jedoch „von den Knien auferstanden“ und zum alten Glanz des Sowjetimperiums zurückgekehrt.

    Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew ist überzeugt, dass diese Erzählung den Menschen in Russland von oben aufgesetzt worden ist. Der Ökonom Sergej Gurijew hat den Preisträger des diesjährigen Pushkin House Prize in seiner Interview-Reihe auf Doshd-TV befragt, die einer der ewigen russischen Fragen gewidmet ist: „Was (soll man denn) tun?“ Was muss man tun, um ein freies und wohlhabendes Russland aufzubauen, und was muss man als Erstes tun, wenn sich eine Gelegenheit für den Wandel bietet? VTimes hat das Interview verschriftlicht, darin erklärt Medwedew, warum er davon überzeugt ist, dass der Aufbau eines normalen und modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist. Und das Rezept dafür, so der Politologe, ist denkbar einfach.

    Politologe Sergej Medwedew (links) im Gespräch mit Sergej Gurijew darüber, warum er glaubt, dass der Aufbau eines modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist / Foto © vtimes
    Politologe Sergej Medwedew (links) im Gespräch mit Sergej Gurijew darüber, warum er glaubt, dass der Aufbau eines modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist / Foto © vtimes

    Sergej Gurijew: Sergej, heute wird überall auf der Welt von der Verschiebung globaler Werte hin zu nationalen Identitäten gesprochen. Hat Russland eine besondere Identität, einen Sonderweg?

    Sergej Medwedew: Ich bin Konstruktivist, und ich glaube, dass jede soziale Wirklichkeit erfunden ist. Jede nationale Idee, jede Ideologie ist vollständig konstruiert, von einer Elite erdacht und über die Massenmedien verbreitet – und sie lässt sich innerhalb von ein paar, sagen wir zehn, Jahren durchaus verändern. 

    Sicher, einige Mythen inspirieren die Menschen. Doch das sind keine ewigen Werte, kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen und Leute aus der Präsidialadministration vor uns drapieren. Bis dieses Tableau wieder abgenommen und durch ein anderes ersetzt wird. 

    Das Tableau lässt sich also innerhalb von zwei oder zehn Jahren vollständig austauschen? Werden denn die Werte und Identitäten von der Präsidialadministration und von Medienleuten gezielt entworfen? Oder geschieht das als Reaktion auf eine Nachfrage der Gesellschaft?

    Das geht von beiden Seiten aus. Sehen Sie sich an, wie sich das Tableau in den letzten 30 Jahren verändert hat: Das Ende der 1980er und der Anfang der 1990er waren geprägt von einer Ideologie der Normalität: „Hinter uns liegen 70 Jahre kommunistischer Finsternis, doch jetzt tritt Russland in die Gesellschaft der zivilisierten Nationen ein, öffnet sich der Welt.“ Das war eine natürliche Reaktion der Gesellschaft, in Kombination mit der wirkmächtigen Publizistik der Perestroika.

    Es ist kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen vor uns drapieren

    Auch Putin war ein Produkt dieser Ideologie. Ich kann Putins Worte bei einem Treffen mit Vertrauten nur unterschreiben: Er wurde gefragt, ob Russland eine nationale Idee haben solle. Woraufhin er gereizt erwiderte, offenbar konnte er diese Frage nicht mehr hören, Russlands einzige nationale Idee sei die Wettbewerbsfähigkeit. Das war damals das vorherrschende Paradigma der gesamten Elite und der Bevölkerung.

    Später wurden uns allmählich neue Folien drübergelegt: die Idee der Autarkie, der Souveränität, einer souveränen Demokratie. Und dann fällt endgültig der Vorhang – 2014, mit der Annexion der Krim: „Russland muss die imperiale Vergangenheit wiederherstellen, Russland geht einen Sonderweg“, hieß es dann. Das alles geschah innerhalb von 15 Jahren.

    2014 zeigte, dass einige Veränderungen im Narrativ auf sehr große Zustimmung in der Gesellschaft stießen. Durchaus möglich, dass nicht einmal Putin mit so einer positiven Reaktion auf die Ereignisse mit der Krim gerechnet hatte. 
    Womit hängt das zusammen? Gibt es gewisse Stereotype im russischen kollektiven Bewusstsein, die vielleicht mit nostalgischen Gefühlen für das Imperium, das Russische Reich, mit den Schulbüchern im Geschichtsunterricht zusammenhängen? 

    Ich würde das [mit Nietzsche – dek] als Ressentiment bezeichnen, als ein postimperiales Trauma. Alle postimperialen Nationen mussten es durchleben – Großbritannien, Frankreich. Auch Russland hat es während des Ersten und des Zweiten Tschetschenienkrieges durchlebt; bis heute prägt das postkoloniale Erbe das gesamte Denkschema in Bezug auf Tschetschenien

    Die Krim hat unerwartet einen wunden Punkt des kollektiven Bewusstseins berührt und die fortdauernde imperiale Gestalt aufgezeigt. 

    Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran

    Ich hatte ja gesagt, jede Ideologie sei konstruiert, doch es gibt einige langwährende Modelle, die mindestens zwei, wenn nicht drei Jahrhunderte halten: Nämlich das imperiale Selbstbewusstsein, die imperiale Selbstwahrnehmung: Die Elite und die Massen betrachten sich als Teil eines riesigen territorialen Projekts.

    In dieser Hinsicht hinkt Russland furchtbar hinterher. Alle haben sich mehr oder weniger an die postimperiale Weltordnung angepasst, doch Russland will zurück ins 19. Jahrhundert, zurück zum „europäischen Konzert der Großmächte“, zu Gortschakow und zu den großen Erzählungen, als Stalin sich in seiner weißen Jacke mit Churchill und Roosevelt über die Karte beugte, um Europa und die Welt aufzuteilen

    Dieses Gefühl des Ressentiments und der Kränkung wurde von der politischen Elite kreiert. Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran. Aber nachdem Putin an die Macht kam, etwa Mitte der 2000er Jahre, begann man uns zu erzählen, Russland sei zu kurz gekommen. Die Elite erklärte die Russen zu armen Leuten: „Ihr Lieben seid zu kurz gekommen, die ganze Welt hat euch gelinkt. Wir schotten uns ab und rächen uns an der Welt, die uns missverstanden und nicht akzeptiert hat.“ Das ist eine Ideologie, die von Null auf konstruiert wurde und aus der das Verhältnis zur Krim und dem Rest der Welt erwächst. 

    Aber das postimperiale Ressentiment ist nicht nur ein russisches Problem. Wie Sie richtig gesagt haben, mussten es viele europäische Länder überwinden, als sie den Nationalstaat errichtet haben. Es gibt auch weniger moderne Staaten wie den Iran, der ein Imperium in seiner Region sein will. Oder die Türkei, deren Präsident die hundertjährige Geschichte leugnet, in der eine säkulare Republik geschaffen wurde, und der eine Variante des Osmanischen Reichs wiedererrichten möchte. 

    Als Konstruktivist denken Sie sicher darüber nach, wie sich dieses Ressentiment überwinden ließe, wie sich die Debatte hinlenken ließe zum Aufbau eines Nationalstaates ohne imperiale Ambitionen?

    Ich denke, der Lauf der Geschichte wird das Ressentiment aufheben. Ein harter Schlag, ein Schlag in die Magengrube, war der Verlust der Ukraine. Diesen Schlag wird Russland wohl nicht so schnell verkraften – vielleicht auch nie. Brzeziński hatte Recht, als er sagte, dass der russische Imperialismus in der Ukraine beginnt und endet, dass Russland aufhört ein Imperium zu sein, sobald es die Ukraine verliert.

    Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, alles, was gesagt oder getan wird, die gesamte Ideologie und alle Auftritte von Sacharowa sind vor allem auf Washington ausgerichtet. Russland misst sich an Amerika. 

    Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, der zweite die Ukraine

    Der zweite Referenzpunkt ist die Ukraine. Ich sehe das als eine Art Exorzismus, wenn die Dämonen heulend hervorkommen, jedes Mal, wenn die Rede auf die Ukraine, den Donbass oder die Krim kommt. Das sind die Krämpfe eines postimperialen Ressentiments. Dieses Ressentiment wird von den Wellen der Geschichte weggespült. Aber um den hohen Preis des Blutvergießens in der Ukraine, unzähliger vertriebener Menschen, der Bombenangriffe in Aleppo – alles Dinge, die zweifellos als Kriegsverbrechen eingestuft werden müssen.

    Gibt es eine zweite Krim? Würden sich die Russen genauso über eine nicht nur symbolische, sondern tatsächliche Angliederung von Belarus freuen? Gibt es noch mehr Hebel wie damals 2014, an denen die russischen Eliten ansetzen könnten?

    Ich hoffe nicht. Der Krimsekt ist schal geworden. Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim.

    Heute scheint mir die Geschichte das wesentliche Schlachtfeld zu sein. Nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland. 

    Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim

    Putin hat sich plötzlich zum Historiker Nummer eins erklärt, veröffentlicht Fachartikel und das russische kollektive Bewusstsein empört sich wöchentlich über irgendein Denkmal.

    Der Präsident veröffentlicht Fachartikel mit unverkennbaren imperialen Tendenzen, propagiert einen stalinistischen Blick auf die Welt. Das Fernsehen trieft vor Propaganda. Unsere Schulbücher widersprechen dem, was man in den Nachbarstaaten in Geschichte lernt.

    Es gibt also zwei Felder. Das erste ist das Fernsehen. Wir konnten wunderbar beobachten, wie die Hass- und Propaganda-Maschine vorübergehend gestoppt wurde, um die Fußballweltmeisterschaft abzuhalten. Plötzlich verwandelten sich die Russen in freundliche Gastgeber. 

    Das zweite ist eher ein lang angelegtes Projekt: die Geschichtsbücher. Was müsste dort stehen, damit sich die Schüler von heute zivilisiert verhalten, wenn sie in zehn, 20 oder 30 Jahren die Elite der russischen Gesellschaft bilden?  

    Bei der Fußballweltmeisterschaft haben Sie Recht. Sogar die Russen haben es geglaubt. Viele meiner Freunde schrieben auf Facebook: „Sieh einer an, wir sind normale Menschen, die Polizisten lächeln.“ Doch dann kam der heiße Sommer von 2019.  

    Geschichte kann nicht aus einem einzigen Narrativ bestehen. Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat. Jede Ethnie innerhalb der Russischen Föderation hat ihre eigene Geschichte. 

    Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat

    Damit werden wir immer wieder konfrontiert. Wenn beispielsweise die Tataren gegen die Verherrlichung von Iwan dem Schrecklichen protestieren. Für sie ist er ein Aggressor, der den tatarischen Staat zerstört hat. 

    Ich denke, wir sollten uns darauf einigen, dass mehrere Perspektiven auf die Geschichte im Unterricht behandelt werden müssen.

    Es gibt ein Ensemble, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur

    Geschichte muss in Russland auch die Geschichten der kleinen Völker einschließen, die Geschichten der besiegten Völker, beispielsweise die Geschichte aus Sicht der Tschetschenen. In russischen Schulen muss über die Deportation der Tschetschenen gesprochen werden, über den 200-jährigen Tschetschenienkrieg, über den Imam Schamil

    Die eine Geschichte gibt es nicht – es gibt ein Ensemble, ein Orchester, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur. 

    Wir haben die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen

    Außerdem müssen wir das Triumphale aus der Geschichte tilgen, uns von der Idee verabschieden, dass da einst das große Russische Reich war, dessen Nachfolger wir sind. Wir leben in der Vergangenheit, wir gehen vorwärts, doch unser Blick ist nach hinten gewandt. Wir werden ständig stolpern, weil niemand vorwärts gehen kann, wenn er nicht nach vorn schaut. Aber wir schielen auf das Russische Reich und begreifen nicht, dass Russland ein schon fast zerfallenes Imperium ist.   

    Das Russische Reich erlebte seinen Zerfall in zwei Akten: 1917 und 1991, und jetzt befinden wir uns in der Mitte des komödiantischen dritten Aktes. Im Gegensatz zu anderen großen Imperien ist das Russische Reich immer noch nicht ganz zerfallen. Russland begreift sich bis heute im großen territorialen Paradigma der letzten Jahrhunderte. Ich glaube, Witte sagte einmal: „Ich weiß nicht, was Russland ist, aber ich weiß, was das Russische Reich ist.“ Wir meinen auch heute noch dieses Imperium, wenn wir „Russland“ sagen. Wir schaffen es nicht, Russland als einen Nationalstaat zu denken. 

    Gerade deswegen ist ein kleinster gemeinsamer Nenner notwendig. Aber welcher könnte das sein? Ist Russland ein europäisches Land? Sind die klassische russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, das Streben nach Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wertschätzung der Bildung ein gemeinsames Fundament, um Russland als einen Teil der europäischen Kultur betrachten zu können? Oder wird auch das von einem Teil der Gesellschaft angenommen und von einem anderen abgelehnt werden? 

    Letzteres, denke ich. Ich würde mir natürlich wünschen, dass die Bewohner des Fernen Ostens und alle Völker des Kaukasus sagen: Russland ist eine europäische Kultur. Aber ich möchte diese Position niemandem als die einzig richtige aufdrängen. Für mich ist die Multikulturalität der kleinste gemeinsame Nenner – der Dialog der Kulturen, der Ethnien, der Religionen und der gegenseitige Respekt. Wir respektieren die Geschichte des tschetschenischen Volkes und das tschetschenische Volk respektiert die russische Geschichte. 

    Genau das ist nämlich Russlands Stärke, weil wir die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen haben, die beispielsweise Frankreich fehlt. Wir sehen ja, was in den Banlieues passiert. In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte. 

    In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte

    Außerdem braucht die russische Nation für ihren Aufbau ein antistaatliches Pathos. Denn der starke Staat, der Leviathan, war immer Russlands Rettung und Russlands Verhängnis zugleich. Russland war nicht nur ein Imperium, Russland war auch ein riesiger halbmilitaristischer Staat, der während der Putin-Ära in all seiner mittelalterlichen Pracht wieder zum Leben erwacht ist.

    Es gibt zwei Hürden, die Russland den Weg in die Moderne versperren: das Imperium und der Staat. Und gerade das sind die beiden wesentlichen Klammern des Putinismus.

    Wir haben Angst vor dem Staat, vor diesem ehernen Reiter, der über die gefluteten Weiten unserer Heimatstadt galoppiert. Überall wittern wir staatliche Interessen und fühlen uns ihnen unterworfen.  

    Sie haben Recht, wir haben Angst vor dem Staat. Wir vertrauen ihm nicht. Auch unsere Lust, gegen das Gesetz zu verstoßen, rührt daher, dass der russische Bürger im letzten Jahrhundert eines mit Sicherheit wusste: Das Gesetz ist nicht gerecht. Weil es von oben kommt und nicht aus einem demokratischen Konsens hervorgeht. Aber es kann keine moderne Gesellschaft ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Vertrauen in die staatlichen Institutionen geben. Wie können wir dieses Vertrauen schaffen?

    Dieses Vertrauen entsteht über funktionierende Institutionen. Die gab es in Russland bereits. Wir haben gesehen, wie Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre allmählich eine Infrastruktur des Rechts entstand und auch funktionierte, bis die Rechtsinstitute von der administrativen Vertikale und all der politischen Bürokratie entmachtet wurden.

    Ich würde gern über Vertrauen sprechen, nicht nur das Vertrauen zum Staat, sondern auch zueinander. Das fehlende Vertrauen, so scheint mir, versperrt der russischen Gesellschaft den Weg in eine erfolgreiche Zukunft. Zynismus ist heute ein wesentliches Instrument, mit dem die russische Elite das Volk manipuliert. Deswegen sagen die Menschen Dinge wie: „In unserem Land wird es nie etwas Gutes geben, weil wir schlechte Menschen sind und einander nicht vertrauen. Die Hoffnung, dass wir eine erfolgreiche, prosperierende Gesellschaft werden, können wir gleich vergessen.“ Was kann man diesem Zynismus entgegensetzen? Wie bringt man die Menschen dazu, einander zu vertrauen?

    Sie haben Recht … In seinem Buch Trust bezeichnet Francis Fukuyama das Vertrauen als Grundlage des Humankapitals. Die Kapitalisierung eines Landes bemisst sich nicht am Bruttosozialprodukt, sondern am Vertrauen, das einen viel größeren Wert hat als die Wirtschaftsgüter. Auch der amerikanische Kapitalismus basiert, wie auch jedes erfolgreiche Unternehmen, auf Vertrauen, wie es das zum Beispiel zwischen den Protestanten oder den russischen Altgläubigen gab. 

    Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist kein Land der gemeinschaftlichen Sobornost, sondern ein Land der massiven Sabornost, ein Land der Zäune [Sabornost]. Eine Fahrt über die Rubljowka ist eine Fahrt durch einen Tunnel aus massiven Zäunen.     

    Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist ein Land der Zäune

    Vertrauen beginnt mit den Institutionen, genauer gesagt mit der Transparenz von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, mit ihrer Auskunftsbereitschaft, Rechenschaft und Verantwortung. Mit einer fairen, unbestechlichen, transparenten Justiz, mit Rechtsinstituten. Damit, dass der FSB seine Archive öffnet, dass Finanzströme transparent gemacht werden, die derzeit alle unter Verschluss sind. Damit beginnt Vertrauen – es geht nicht darum, dass wir einander lächelnd in der Metro grüßen, obwohl das natürlich auch schön wäre. Die Institutionen schaffen oder vernichten das Vertrauen, sie erzeugen diese Muster des Zynismus, des Misstrauens und des Hobbschen Kampfes aller gegen alle.

    Wir haben viel über das Imperium gesprochen, vielleicht wäre es noch wichtig, über die Dekolonisation zu sprechen. Was müssen wir tun, damit Russland aufhört, Teile seines Landes oder die Nachbarstaaten als Kolonien zu betrachten?

    Lernen und die Welt mit offenen Augen betrachten, das müssen wir tun. Es ist doch befremdlich, wenn Leute, die deine Ansichten zur Ukraine und der Krim teilen, plötzlich explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht. Ich möchte das alles auf einen Nenner bringen, denn das alles sind Anzeichen der Dekolonisation. 

    Es ist doch befremdlich, wenn Leute deine Ansichten zur Krim teilen, aber explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht

    Wir leben in einem durch und durch kolonialen Diskurs. Er besteht nicht nur darin, dass Russland den Kaukasus erobert und Sibirien kolonisiert hat. Sondern auch darin, dass die Macht in den letzten Jahrhunderten bei den Männern, den Weißen, den Bewaffneten, den Erwachsenen lag. Diese Machtverhältnisse geraten jetzt ins Wanken. Und das passt vielen nicht.

    Die Lösung wäre also eine Anerkennung der Pluralität und die Dekolonisation. Die moderne Demokratie ist genau das Instrument, das den Menschen dabei hilft, sich zu einigen. Wenn wir vernünftige, moderne, politische Institutionen schaffen, schaffen wir auch die Grundlage dafür, dass Russland ein normaler Nationalstaat wird und von seinen imperialen Eskapaden Abstand nimmt. Es gibt keine besondere Politik der Dekolonisation, es braucht nur den Aufbau eines normalen, modernen Staates.    

    Genauso ist es. Dafür müssen die Institutionen gut funktionieren. Sobald sie es tun, lösen sich die Probleme zwischen Russland und Tschetschenien, zwischen Männern und Frauen, die Frage nach dem tatarischen Sprachunterricht in den Schulen und vieles mehr.

    Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess des 21. Jahrhunderts, bei dem Russland, wie so oft, hinterherhinkt. 

    Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess

    Gaidar sprach in seinen Büchern von einer 40- bis 50-jährigen Verspätung, mit der Russland bei den wesentlichen kulturellen Errungenschaften ankommt. So ist es auch jetzt: Russland steht jetzt da, wo der Westen in den 1960ern war, und versucht nun mit denselben Herausforderungen fertigzuwerden. 

    Bleibt nur zu hoffen, dass Russland aus der Erfahrung der anderen Länder lernt und diesen Weg schneller zurücklegt. 

    Ja, die Normalität ist viel näher, als wir glauben, wir müssen nur das Denken in Stereotypen ablegen und die Hand nach der Normalität ausstrecken – und nach den Menschen, mit denen wir leben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Fall Nawalny: Was der Kreml nicht sagt

    Fall Nawalny: Was der Kreml nicht sagt

    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets. Im Inforauschen rund um den Fall Nawalny tauchte irgendwann sogar die Version auf, der Oppositionspolitiker sei womöglich in Berlin vergiftet worden. 

    Doch warum das Argument, man habe keine giftige Substanz nachweisen können, gerade dann nicht gelten kann, wenn es um eine Vergiftung durch Nowitschok geht, zeigt eine Recherche von Roman Schleinow für Washnyje istorii und Novaya Gazeta. Warum hätten die russischen Ärzte aufgrund der Symptome Nawalnys sehr wohl auf eine Vergiftung durch Nowitschok kommen können? Es gab schon mal einen ähnlichen – allerdings nicht politischen – Fall: 1995 wurde der Bankier Iwan Kiwelidi durch Nowitschok vergiftet. Da dies allerdings Staatsgeheimnis war, war offiziell stets von einem amerikanisch-britischen Kampfstoff von Typ-V die Rede gewesen.

    Im Vergleich der beiden Fälle, den das Medium unternimmt, tun sich erstaunliche Parallelen auf, was die Symptome angeht, und deutliche Unterschiede, was die Ermittlungen betrifft.

    dekoder hat eine gekürzte Version der umfangreichen Recherche ins Deutsche übersetzt:

    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets / Foto © instagram/navalny
    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets / Foto © instagram/navalny

    Der Kreml sieht keinen Grund, im Fall Nawalny Ermittlungen einzuleiten. Das teilte Dimitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, am 25. August 2020 mit – drei Tage, nachdem der Oppositionspolitiker, der zuvor keinerlei gesundheitliche Probleme gehabt hatte, in einem Flugzeug zusammengebrochen und ins Koma gefallen war. 

    „Zuerst muss die Substanz gefunden werden, es muss festgestellt werden, was diesen Zustand herbeigeführt hat“, erklärte Peskow.

    Diese kategorische Haltung des Kremlsprechers überrascht. So musste im Fall des Giftanschlags auf Kiwelidi 1995 nicht zuerst „die Substanz gefunden werden“. Man fand sie auch nicht sofort, sondern nach drei bis vier Monaten komplexer Untersuchungen an den Oberflächen der Gegenstände aus dem Büro des Bankiers. Dass diese Untersuchungen durchgeführt wurden, war nur durch die Einleitung von Ermittlungen und die schnelle Sicherung der Beweismittel möglich. Benannt wurde die Substanz bis zuletzt nicht. In den Akten heißt es, die Eigenschaften „sind Staatsgeheimnis“.

    Fall Kiwelidi: Einleitung von Ermittlungen und schnelle Sicherung der Beweismittel

    Am 1. August 1995 war Iwan Kiwelidi in seinem Büro der Rosbisnesbank plötzlich ins Koma gefallen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Am nächsten Tag folgte die Einlieferung seiner Sekretärin Sara Ismailowa mit denselben Symptomen. Bereits am 6. August leitete die Moskauer Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein – wegen Anzeichen einer Intoxikation „durch ein unbekanntes Gift“, „mutmaßlich Cadmiumchlorid“.

    Eine Vergiftung durch Cadmiumchlorid vermuteten auch Kiwelidis Angehörige und Kollegen. Doch auch nach dem Tod des Bankiers und seiner Sekretärin konnten bei den Analysen weder Gift noch andere bekannte hochwirksame Substanzen nachgewiesen werden. Die Annahme, es handele sich um Cadmium, bestätigte sich nicht. Nicht einmal das Büro für gerichtsmedizinische Gutachten des Moskauer Gesundheitsministeriums konnte die Todesursache von Ismailowa ermitteln, die offenbar unbeabsichtigt ebenfalls vergiftet worden war. 

    Dennoch genügte im August 1995 der von Kiwelidis Angehörigen und Kollegen geäußerte Verdacht, um eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten. Als Nawalnys Angehörige und Kollegen im August 2020 offen erklärten, er sei vergiftet worden, zeigte das keinerlei Wirkung auf die russischen Sicherheitsbehörden. Die Einleitung eines Strafermittlungsverfahrens wurde abgelehnt. 

    In Russland ist nicht einmal mehr der rätselhafte Tod eines Politikers Grund genug für ein Verfahren. Im Sommer 2003 starb der Duma-Abgeordnete und stellvertretende Chefredakteur der Novaya Gazeta Juri Schtschekotschichin infolge einer seltenen allergischen Reaktion, obwohl er keine Allergien hatte. Nicht nur seine Angehörigen, sondern auch der Vorsitzende des Sicherheitskomitees der Duma, die Partei Jabloko und die Novaya Gazeta hatten darauf bestanden, dass umgehend ein Ermittlungsverfahren eröffnet wird, weil Schtschekotschichin wegen seiner beruflichen Tätigkeit mehrfach bedroht worden war. Ein Verfahren wurde dreimal abgelehnt. Erst fünf Jahre später wurden Ermittlungen aufgenommen, die ergebnislos blieben: Eine Substanz, die eine solche Reaktion hätte auslösen können, wurde nicht gefunden. 


    I. Kein Gift in Nawalnys Organismus nachweisbar – gab es also keine Vergiftung?

    Russische Regierungsvertreter betonen immer wieder, dass die russischen Ärzte kein Gift in Nawalnys Organismus gefunden hätten. 

    „In dem Moment, als Alexej Nawalny Russland verließ, waren keine toxischen Substanzen in seinem Organismus“, erklärte der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin.

    Die These, in Nawalnys Organismus sei kein Gift nachgewiesen worden, äußerte als erster Anatoli Kalinitschenko, der stellvertretende Chefarzt der Klinik Nr. 1, bereits einen Tag nach Nawalnys Einlieferung. Er fügte dann vorsichtig hinzu, dass die anfängliche „Diagnose einer Vergiftung wohl noch nicht ganz vergessen ist, aber wir denken nicht, dass der Patient vergiftet wurde“.

    All diese Erklärungen muten seltsam an. Denn wie der Fall Kiwelidi gezeigt hat, ist es ausgesprochen schwer, eine Substanz aus der Nowitschok-Gruppe im Organismus des Vergifteten nachzuweisen. Bei Kiwelidi und seiner Sekretärin wurden keine bekannten Gifte festgestellt – weder durch die Ärzte der Zentralklinik der Verwaltung für die Angelegenheiten des Präsidenten noch durch die Ärzte der Moskauer Stadtklinik Nr. 1 und auch nicht durch die Gerichtsmediziner.

    Nowitschok ist im Organismus kaum nachweisbar

    Als der Rettungswagen Kiwelidi aus seinem Büro abtransportierte, notierten die Ärzte in ihrem Bericht: „Hatte eine Stress-Situation bei der Arbeit“ (der Bankier kam aus einem hitzigen Meeting); außerdem gaben sie an, er hätte sich unwohl gefühlt, sei ohnmächtig geworden und kurz darauf ins Koma gefallen. In den Vernehmungsprotokollen der drei Ärzte, die im Einsatz waren, lautet die „Diagnose: Verdacht auf schwere zerebrale Durchblutungsstörungen“. 

    Am nächsten Tag wurde Kiwelidis Sekretärin Sara Ismailowa mit ähnlichen Symptomen aus demselben Büro mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Im Vernehmungsprotokoll des Notarztes heißt es, sie „war nicht bei vollem Bewusstsein, stöhnte“, dann sei sie ins Koma gefallen. Der Notarzt stellte die Diagnose: „epileptischer Anfall“. Es vergingen keine 24 Stunden, bis sie starb. Kurz darauf starb auch Kiwelidi. 

    In zwei gerichtsmedizinischen chemikalischen Untersuchungen konnten keine hochwirksamen oder toxischen Substanzen und auch keine Schwermetalle im Blut des Bankiers festgestellt werden. Die Gerichtsmediziner folgerten nur anhand von indirekten Anzeichen, dass eine „unbekannte Substanz“ auf Kiwelidi eingewirkt haben musste. Den Prozessakten zufolge war das erste und wesentliche Anzeichen einer solchen Einwirkung „eine Abnahme der Konzentration von Cholinesterase im Blut“. Cholinesterase ist ein lebenswichtiges Enzym bei der Neurotransmission. „Wird die Cholinesterase gehemmt, kommt es zu einem fast vollständigen Versagen aller lebenswichtigen Funktionen“, heißt es im Abschlussbericht der Gerichtsmediziner. 

    Die Cholinesterase als Marker

    Auch bei Alexej Nawalny stellten die deutschen Ärzte niedrige Cholinesterase-Werte fest, als er im Koma in die Berliner Universitätsklinik Charité eingeliefert wurde. 

    Nawalnys Angehörige hatten seine Verlegung gefordert, mehrere europäische Staats- und Regierungschefs hatten mit Wladimir Putin gesprochen. Schließlich änderten die Gesundheitsbeamten in Omsk, die zuvor erklärt hatten, Nawalny sei „nicht transportfähig“, innerhalb weniger Stunden ihre Meinung. Nach einer Untersuchung des Oppositionspolitikers gab die Charité in einer Pressemitteilung bekannt: „Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin. […] Die Wirkung des Giftstoffes, d. h. die Cholinesterase-Hemmung im Organismus, ist mehrfach in unabhängigen Laboren nachgewiesen.“

    „Es ist wichtig herauszufinden, warum der Cholinesterase-Wert gesunken ist. Bisher konnten weder unsere noch die deutschen Ärzte diesen Grund feststellen“, entrüstete sich Putins Pressesprecher. „Wir verstehen nicht, warum die deutschen Kollegen so voreilig von einer Vergiftung sprechen. Diese Version war unter den ersten, die unsere Ärzte in Betracht gezogen hatten. Aber es wurde keine Substanz ermittelt.“ 

    Die Empörung des Kremlsprechers ist wenig plausibel. So wird in den russischen Prozessakten im Mordfall Kiwelidi die Vergiftung durch „rapide gesunkene Cholinesterase-Werte im Blut“, „plötzliche Ohnmacht mit darauffolgendem Koma“ und eine Reihe weiterer Symptome belegt. 

    „Ein überzeugender Beleg für eine Vergiftung durch Cholinesterase-Hemmer war die biochemische Analyse von Kiwelidis Blut, […] bei der sehr niedrige Cholinesterase-Werte festgestellt wurden“, heißt es im gerichtsmedizinischen toxikologischen Befund.

    In den Prozessakten sind außerdem folgende äußerliche Anzeichen der Vergiftung aufgelistet: Blässe, kalte Hände, kalter, klebriger Schweiß, Flimmern vor den Augen, Stöhnen während des Bewusstseinsverlusts, Krämpfe. Den Menschen ergreife Todesangst, er rede konfus, erkenne Angehörige nicht wieder und habe Atemnot. Dies geht aus den Zeugenaussagen im Fall Kiwelidi, der Anklageschrift und dem toxikologischen Befund der Gerichtsmedizin hervor.  

    Alexej Nawalny erzählte Washnyje istorii, was er gespürt hat, als ihm im Flugzeug übel wurde. Mindestens zehn seiner Symptome und Reaktionen entsprechen dem, was Kiwelidi und seine Sekretärin durchgemacht hatten.

    Die Plastikflasche als Träger

    Als Nawalnys Kollegen erfuhren, dass er während des Flugs ins Koma gefallen war, schöpften sie sofort Verdacht. Sie engagierten einen Anwalt und nahmen in dessen Anwesenheit einige Gegenstände aus Nawalnys Hotelzimmer in Tomsk mit. Darunter auch eine Wasserflasche aus Plastik, die Nawalny berührt hatte. 

    Nawalnys Angehörige übergaben diese Flasche und weitere Dinge den Ärzten aus der Charité. Diese zogen ein Speziallabor der Bundeswehr hinzu, das minimale Spuren einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe auf der Flasche feststellte. 

    „Diese Flasche möchte man ja gar nicht erwähnen, so ein Unsinn ist das!“, sagte der Experte des Duma-Verteidigungsausschusses Leonid Rink gegenüber RIA Nowosti. Rink ist ein ehemaliger Mitarbeiter des staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie, an dem die Gifte der Nowitschok-Gruppe entwickelt wurden. 

    Bevor Rink zum Experten der Duma und einem der größten Kritiker der Version wurde, dass Nawalny vergiftet worden sei, war er in den 1990ern in einem geheimen Gerichtsverfahren wegen Handels mit einer toxischen Substanz angeklagt. Die Ermittler vermuteten, dass eben diese Substanz beim Mord an Kiwelidi zum Einsatz kam. Obwohl Rink eine ausführliche Aussage dazu gemacht hatte, wie er das Gift an verschiedene Leute verkauft oder schlicht weitergegeben hat, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Beim Prozess im Fall Kiwelidi tauchte er plötzlich als Zeuge auf. Später behauptete Rink in einem Interview für The Bell, er hätte Gift für Nagetiere verkauft und sei an Kontrollkäufen beteiligt gewesen, die von den Geheimdiensten initiiert worden wären.

    Mithilfe der Prozessakten im Fall Kiwelidi lässt sich auch erklären, warum die minimalen Giftspuren auf der Plastikflasche erhalten geblieben sind, die Nawalny kurz angefasst hatte. In den Gutachten heißt es, die Substanz habe die Konsistenz von Wasser oder sei nur geringfügig dickflüssiger, sie könne in Plastik eindringen, in Gummi hingegen nicht. Deswegen fanden sich auch Giftspuren auf dem Telefonhörer im Büro des Bankiers, die sich noch nicht vollständig zersetzt hatten und verdampft waren.


    II. Warum wurden im Fall Nawalny keine Ermittlungen eingeleitet?

    Nawalnys Kollegen taten das, was die russischen Sicherheitsbehörden hätten tun sollen. Und was die Ermittler im Fall Kiwelidi 1995 getan haben. Nach den gerichtsmedizinischen Untersuchungen, in denen niedrige Cholinesterase-Werte bei Kiwelidi und seiner Sekretärin festgestellt worden waren, schlussfolgerten die Ermittler, dass in ihren Getränken, Nahrungsmitteln oder auf den Oberflächen, die die beiden angefasst hatten, Cholinesterase-Hemmer sein mussten. Drei Tage nach dem plötzlichen Koma des Bankiers, wurden Proben von den Oberflächen der Gegenstände in seinem Büro genommen, um sie auf Spuren von toxischen Substanzen zu untersuchen. Man nahm Proben vom Schreibtisch, von den Telefonen und den persönlichen Gegenständen.

    Nach wenigen Tagen waren Kiwelidis Büro und die Nachbarzimmer leergeräumt – man untersuchte alles: von den Tellern bis zu den Putzlappen, nahm Proben von Lebensmitteln, Medikamenten, vom Staub auf den Schränken und der Raumluft. Diese Proben gingen an die fünf höchstrangigen Einrichtungen auf dem Forschungsgebiet.

    Schließlich fand man auf einem Telefonhörer in Kiwelidis Büro Spuren einer stickstoffhaltigen phosphororganischen Substanz, die eine starke cholinesterasehemmende Wirkung haben kann. Die genaue Bestimmung stellte ein Problem dar, weil über solche Substanzen keine Daten vorlagen.    

    Während die Ermittler vor 25 Jahren also ein Verfahren einleiten und die Vergiftung durch eine unbekannte Substanz feststellen konnten, die bis zuletzt nicht benannt wurde, weigert sich die heutige Regierung auch nur Ermittlungen im Fall Nawalny aufzunehmen, obwohl ihr modernere Verfahren und besser qualifizierte Experten zur Verfügung stehen.

    Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Substanz

    Warum betonen die Beamten im Fall Alexej Nawalny, dass in Russland keine giftige Substanz nachgewiesen werden konnte? Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass sogar in diesem politisch neutralen Fall, in dem zu einer ganz anderen Zeit ermittelt wurde, die führenden russischen Labore nicht dahintergekommen sind, welches Gift konkret eingesetzt worden war.

    „Wegen der extrem geringen Mengen, in der der nachgewiesene Stoff vorliegt, ist es nicht möglich, seine physikalischen und chemischen Eigenschaften zu bestimmen“, hieß es im Befund des Zentrums für kriminalistische Gutachten des Innenministeriums. 

    Die Militärakademie für chemische Waffen entdeckte ebenfalls Spuren „einer hochwirksamen giftigen Substanz mit signifikanter cholinesterasehemmender Wirkung“. Doch welcher Substanz genau, konnte sie nicht bekanntgeben.

    Am umfassendsten waren die Untersuchungen des Staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie (GosNIIOChT), wo das System Nowitschok entwickelt worden war. Hieraus ging hervor, dass auf dem Telefonhörer „Spuren einer giftigen Substanz nachweisbar sind, die dem Schädigungsmuster und der cholinesterasehemmenden Wirkung nach den festen, hochtoxischen, phosphororganischen Verbindungen mit signifikanter hautresorptiver Komponente [dringen durch Berührung in den Organismus ein] auf Niveau eines Kampfgifts von Typ V zuzuordnen ist“. 

    Die gerichts-chemische Untersuchung des GosNIIOchT wies Fluor in jenem Giftstoff nach, mit dem Kiwelidi ermordet wurde. Doch eine endgültige Formel nannte auch das GosNIIOChT nicht. Letztlich lief das Gift in den Prozessakten unter dem Titel „unbekannte giftige Substanz“, als „giftige Substanz mit enormer cholinesterasehemmender Wirkung auf Niveau von Kampfgiften des Typs V“. Diese Benennung war noch dazu insofern absurd, als das britisch-amerikanische Kampfgift V gar kein Fluor enthält. Dieses findet man jedoch in Substanzen der Gruppe Nowitschok.  

    Warum im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens niemand das konkrete Gift nannte, ist nachvollziehbar. Ein Experte für Chemie und führender Mitarbeiter des GosNIIOChT, der als Gutachter befragt wurde, sagte im Fall Kiwelidi aus, dass die Eigenschaften dieser Substanz ein Staatsgeheimnis sind. Dass die Substanz der Geheimhaltung unterliege, bestätigte in seinem Verhör auch Leonid Rink, gegen den wegen Handels mit giftigen Substanzen ein Strafverfahren mit dem Vermerk „streng geheim“ eingeleitet, aber dann eingestellt wurde. Heute erzählt Rink den staatlichen Medienagenturen, dass der Fall Nawalny eine westliche Provokation sei.


    III. Symptome einer Nowitschok-Vergiftung

    Wirkungsdauer

    „Im Fall einer Vergiftung mit Nowitschok […] hätte es Nawalny zu keinem Flugzeug geschafft“, erklärte Leonid Rink in einem Interview für RIA Nowosti. „Die ersten Symptome zeigen sich innerhalb weniger Minuten. Nach zehn Minuten tritt der Tod ein“, so Rink.

    In den Prozessakten zum Giftanschlag auf Kiwelidi dagegen, in denen Rink als Zeuge geführt ist, heißt es im gerichtstoxikologischen Gutachten: Bei Aufnahme über die Haut werde eine Inkubationszeit beobachtet, die in der Regel eineinhalb bis fünf Stunden betrage.

    Stoffwechselchaos und Zuckerschock

    Anfang Oktober wurde Alexander Sabajew, Cheftoxikologe des Föderationskreises Sibirien und der Oblast Omsk, zum Interview gebeten. Er erklärte RIA Nowosti, bei Alexej Nawalny sei eine Störung des Kohlehydratstoffwechsels diagnostiziert worden. Diese sei ausgelöst worden durch eine Dysfunktion der Bauchspeicheldrüse, die wiederum zu plötzlichen und extremen Schwankungen des Blutzuckers führe.    

    „Die ersten 12 Stunden, ja, da gab es so ein Zuckerchaos, der Blutzuckerspiegel war hoch – und er ließ sich nicht durch eine Insulintherapie korrigieren“, sagte Sabajew. Er verplapperte sich aber, indem er angab, Nawalny habe keine „offensichtlichen, chronischen, verschleppten Krankheiten“.

    Sabajew sagte zudem, die Krisis sei in der Nacht vom 20. auf den 21. August eingetreten, als Nawalnys Laktatwerte einen gefährlich hohen Wert erreicht hätten. „Zu diesem Zeitpunkt hätte ein Multiorganversagen eintreten können, das zum Tod des Patienten geführt hätte“, betonte Sabajew. 

    Die Erklärung des andauernden Komas mit Hypoglykämie (eines verringerten Blutzuckerspiegels) hält einer Kritik nicht stand, wie die Endokrinologin Olga Demitschewa, Mitglied der European Association for the Study of Diabetes (EASD), dem Magazin Forbes erklärte. „Eine Verabreichung von Präparaten zur Erhöhung des Blutzuckerspiegels hätte das Problem schnell gelöst, und der Patient wäre innerhalb weniger Minuten wieder bei Bewusstsein gewesen“, sagte sie. Außerdem litt Nawalny nicht unter Diabetes.  

    Der israelische Intensivmediziner Michail Fremderman sagte in einem Kommentar für die BBC, nach Angaben der Omsker Ärzte sei Nawalny wie ein Patient in einem Koma unklarer Genese behandelt worden, eine richtige Diagnose hätten ihm die russischen Ärzte nach wie vor nicht gestellt. Fremderman merkte an, die Laktatazidose, von der die Omsker Ärzte sprechen, komme sowohl bei akuten Schüben chronischer Stoffwechselstörungen bei Diabetikern vor – als auch bei Vergiftungen. Bei Nawalny (der kein Diabetiker ist) könne nur eine Vergiftung der Grund für einen solchen Zustand sein . 

    Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass bei dem Bankier bei seiner Hospitalisierung nach Vergiftung mit einer unbekannten Substanz ebenfalls vor allem erhebliche Zuckerschwankungen aufgetreten sind. Und die Vergiftung hat zu Stoffwechselstörungen und Multiorganversagen geführt. 

    Mit anderen Worten, wenn der Toxikologe Sabajew Nawalnys Blutzuckerschwankungen beschreibt, dann beschreibt er einen Zustand, den auch Kiwelidi nach seiner Vergiftung mit einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe durchlaufen hat.

    Es ist wichtig zu wissen, dass ein phosphororganischer Giftstoff auf besondere Weise wirkt. Wenn die Dosis gering war und der Mensch überlebt, kann der weitere Verlauf auch ganz anders sein als bei einer Vergiftung. Und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen. 

    Je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen

    Dies erklärte Viktor Schulga bei seiner Befragung zu Kiwelidis Vergiftung. Schulga ist Toxikologe mit 40-jähriger Berufserfahrung und war damals Laborleiter am staatlichen Institut für organische Chemie und Technologie (in einer Außenstelle dieses Instituts wurde das System Nowitschok entwickelt). Im Protokoll gab er an, dass die Symptome einer Vergiftung mit einem phosphororganischen Kampfgift mit der Zeit sowohl auf altersbedingte Veränderungen als auch auf diverse Erkrankungen und so weiter zurückgeführt werden können.   

    Innenministerium, Ermittlungskomitee, Gesundheitsministerium und das Städtische Krankenhaus für Notfallmedizin Nr. 1 in Omsk haben auf unsere Anfragen bezüglich Alexej Nawalnys Situation nicht reagiert.

    Auf die Fragen von Novaya Gazeta und Washnyje istorii, was der Grund für die ungewöhnlichen gesundheitlichen Probleme und die Ermordung von Oppositionellen in Russland sei und ob sich der russische Präsident für das verantwortlich fühle, was mit Oppositionsführern und seinen Kritikern geschehe, antwortete Dimitri Peskow, Pressesprecher des Präsidenten. Er sagt, er lehne „diese Versuche ab, in dem verschlechterten Gesundheitszustand und in der Ermordung von Oppositionsführern irgendwelche allgemeinen Tendenzen zu sehen“.

    Und er fasst zusammen: „Jeder Fall ist strikt als Einzelfall zu beurteilen, und so wird das auch gehandhabt.“ 

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    Der Protest in Belarus wird besonders von Frauen getragen und geprägt, darüber ist schon viel gesagt worden. Olga Shparaga ist eine der prominentesten Stimmen in diesem Diskurs. Die Philosophin lehrt am European College of Liberal Arts in Belarus, ist Mitglied im Koordinationsrat der Opposition – und auch international bekannt, im April 2021 erscheint ihr Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht in deutscher Übersetzung im Suhrkamp-Verlag.

    Shparaga befindet sich aktuell in der Haftanstalt Shodino östlich von Minsk, nachdem sie während einer friedlichen Demonstration Anfang Oktober zunächst für einen Tag festgenommen und am 12. Oktober schließlich zu einer 15-tägigen Haftstrafe verurteilt wurde – für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“.

    Inwiefern die Figur der Frau in patriarchalen Strukturen heute stellvertretend für die gesamte belarussische Gesellschaft steht, warum sich so viele Menschen in Swetlana Tichanowskaja wiedererkennen können, und wie die Oppositionsbewegung auch auf diejenigen zugehen kann, die ihr kritisch gegenüber stehen – darüber sprach Shparaga noch kurz vor ihrer Haft beim Spaziergang mit Darja Amelkowitsch vom unabhängigen belarussischen Portal Reformation.

    Wir beobachten zurzeit, wie sich unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen zusammentun und gemeinsam protestieren. Kann man diese Bewegung als neue Solidarität bezeichnen?

    Schon während der Wahlkampagne haben wir gesehen, wie eine neue gesellschaftliche Energie freigesetzt wurde. Nach den Wahlen erreichte sie eine neue Intensität, als den Leuten nichts anderes übrigblieb, als auf die Fälschungen und den von der Regierung entfesselten Terror zu reagieren. Für die Gesellschaft gab es kein Zurück mehr. Die Leute spürten, was für eine gewaltige Energie plötzlich da war, was für eine Solidarisierung im Gange war, und suchten nach Formen, sie zu bewahren. Wir sehen auch jetzt noch, wie diese Formen sich wandeln, wie neue erfunden und weiterentwickelt werden.

    Darja Amelkowitsch im Gespräch mit Olga Shparaga (rechts) / Fotos © Anna Sharko
    Darja Amelkowitsch im Gespräch mit Olga Shparaga (rechts) / Fotos © Anna Sharko

    Was zeichnet diese Solidarität aus?

    Die Idee der Humanität. Dass Menschen sich miteinander solidarisieren, einfach weil sie Menschen sind. Weil sie finden, dass niemandem Gewalt angetan und niemand in seinen Grundrechten und seiner Freiheit eingeschränkt werden darf. Wir sehen, wie diese Idee die Leute über alle beruflichen, alle Alters- und Geschlechtsunterschiede hinweg vereint: Sie wollen aktive Bürgerinnen und Bürger sein, dafür stehen sie ein. Sie wollen keinen autoritären Staat und sind bereit, sich miteinander zu verständigen, um dieses Ziel zu erreichen. 

    Wir haben viel über die Atomisierung der belarussischen Gesellschaft diskutiert. Ihr fehlt Debattenerfahrung, ihr fehlt Vertrauen. Und plötzlich war da diese große Offenheit und Toleranz, der Wunsch der Menschen, gemeinsam etwas zu schaffen und sich daran zu freuen. 

    Derzeit wird viel diskutiert, ob man nicht alle Kräfte darauf richten sollte, den politischen Gefangenen zu helfen, ihr Trauma zu bewältigen. Oder ob es richtig ist, dass sich die Leute abends in den Innenhöfen versammeln, um positive Emotionen zu teilen – ich finde, das ist alles wichtig. Die Menschen brauchen einen emotionalen Rückhalt, sie suchen Verständigung und wollen vertrauensvolle Beziehungen aufbauen. Es ist genau die Art von Solidarität, die unserer Gesellschaft bislang gefehlt hat.

    Und doch lebt ein Teil der Gesellschaft immer noch in einer anderen Realität. Diese Menschen halten Veränderungen weder für notwendig noch für wünschenswert. Sie werfen dem progressiven Teil der Gesellschaft vor, die Stabilität aufs Spiel zu setzen. Was kann man diesem paradoxen Argument entgegnen, wenn man bedenkt, dass der Sozialstaat praktisch nicht mehr existiert? 

    Führen wir uns diese Gruppe vor Augen. Sie ist überaus heterogen. Glühende Lukaschenko-Anhänger gibt es dort kaum, sondern vor allem Frauen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Diese Frauen haben ein kleines Gehalt, sie müssen sich um ihre Kinder kümmern, oft auch um ihre alten Eltern. Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist deshalb groß. Diese Gruppe hat sehr wenig Freizeit. Wenn die Frauen außerhalb von Minsk wohnen, haben sie häufig keine Zeit, ins Internet zu gehen. Deswegen bleiben ihnen die vielen Wege der Solidarität verborgen – sie wissen schlicht nicht, wo sie Hilfe erhalten können. Das Regime wiederum nutzt sie aus und droht ihnen damit, dass sie alles verlieren. Dasselbe tut auch die Propaganda, die behauptet, eine neue Regierung werde sich nicht um sozial schwache Gruppen kümmern. 

    Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist groß

    Es gibt in dieser Gruppe sicher auch Menschen, die unter Lukaschenko Karriere gemacht haben und dank ihm sozial aufgestiegen sind. Sie sind dem System gegenüber loyaler. Aber es gibt auch Menschen, die in Lukaschenkos System gefangen sind. Beide muss man ansprechen, in unterschiedlicher Weise. 

    Wir müssen uns eingestehen, dass sich der alternative Diskurs derzeit überhaupt nicht an diese Gruppe richtet. Wir können nicht nur über Privatisierung [des staatlichen Eigentums] und politische Freiheiten sprechen. Wir müssen uns auch um die anderen Themen kümmern: Was wird aus dem Schulsystem, dem Gesundheitswesen, den sozial Benachteiligten? Die Gesellschaft braucht auch dieses Narrativ.

    Wie stehen Sie dazu? Sind Sie auch eine Verfechterin des Sozialstaats?

    Ja. Aber nur, wenn er funktioniert wie in Deutschland oder Schweden. In Belarus ist er seit langem erodiert, wie wir bei Corona gesehen haben, oder auch, als die halbe Stadt ohne Wasser war. Die Regierung unternahm nichts und erklärte: „Das ist euer Problem.“ Das wäre in einem Sozialstaat undenkbar. Der ganze Beamtenapparat, die Ministerien – wozu sind sie da? Ich bin sicher, dass sich viele Leute zum ersten Mal gefragt haben, ob sie mit einem anderen Staat nicht besser dran wären.

    Es wird weitere Pandemien wie Corona geben, und dafür braucht es ein funktionierendes Gesundheitssystem, und überhaupt soziale Unterstützung. Der Staat sollte keine Ideologie erfinden, sondern den Menschen helfen. Es gibt verschiedene Institutionen, die mit einem vernünftigen Steuersystem gut funktionieren würden. Ich denke, wenn wir heute für so ein Modell des Sozialstaates kämpfen, gewinnen wir gleichzeitig neue Anhänger. 

    Kommen wir zur Kreativität der Frauenbewegung, die zum Gesicht der belarussischen Proteste wurde. Frauen haben sich einen Glitzermarsch ausgedacht, oder sie kommen zusammen und bilden eine Kette, weiß gekleidet, Blumen in den Händen … Heute spricht die ganze Welt über die belarussischen Frauen, weil sie mutig, schön und kreativ sind. 

    Es war ein langer Prozess. Alles hat mit der Solidaritätsaktion für die Eva von Chaim Soutine begonnen. Das war noch im Juni. Diese Bewegung wurde überwiegend von Frauen unterstützt, weil viele von ihnen mit der Sammlung der Belgazprombank zu tun hatten: Künstlerinnen, Kuratorinnen. Auch im Kulturbetrieb gibt es sehr viele Frauen, insbesondere in den Projekten, die Viktor Babariko unterstützt hat. Die Frauen machten Eva zu einem Sinnbild für sich selbst: Viele fotografierten sich als Eva oder trugen T-Shirts mit Eva.

    Haben sie sich mit ihr identifiziert? 

    Ja. Wohlgemerkt nicht mit dem Bild einer halbnackten Frau auf dem Sofa, sondern mit Eva. Mit dieser strengen, ernsten, vielleicht sogar missbilligenden, herausfordernden Frau – sie wurde zum Gesicht der weiblichen Solidarität. Später kamen dann die Bilder, die für das schwache Geschlecht standen.  

    Die Frauen in Weiß? 

    Ja. Und mit Blumen. Als sich die Frauen am 12. August auf dem Komarowka-Markt versammelten, als der Terror der Behörden losging. Das war so ein Bild der Weiblichkeit, der Schwäche. Und gleichzeitig ein Symbol dafür, dass auch in der Schwäche eine Stärke liegt. Unsere Revolution – der friedliche Protest – ist ein Ausdruck dafür: Man kann sich wehren und für seine Rechte kämpfen, auch wenn man schwach ist. 

    Als die Frauen am 12. August eine Kette bildeten, wussten sie nicht, wie die Sicherheitskräfte reagieren würden. Heute können wir sagen, die Frauen werden nicht inhaftiert, ihnen wird weniger Gewalt angetan, aber ich weiß, dass sie Todesangst hatten, als die Aufseher um sie herumliefen und keiner wusste, wie es ausgehen würde. In dieser Haltung liegt eine große Selbstaufopferung.

    Diese Reaktion wurde zum Vorzeichen dafür, dass die Revolution friedlich verlaufen könnte. Dass wir friedliche, kreative Wege gehen. Wir werden sie, unsere Freunde, unsere Nächsten, bis zum Schluss verteidigen. 

    Die nächste Etappe, das waren dann schon die Frauenmärsche? 

    Die Frauen nehmen längst eine aktive Position ein. Ob feministische Elemente oder LGBTQ-Community, die Märsche zeigen, dass das weibliche Subjekt existiert. Die Frauen sprechen nicht mehr als Opfer. 

    Der Protest hat viele unterschiedliche weibliche Gesichter, denn auch die Frauen sind ja alle ganz unterschiedlich. Wir haben unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Doch das Thema Gewalt hat alle vereint. Eva wurde „verhaftet“. Die Männer landeten in den Gefängnissen – die Frauen gingen gegen Gewalt und Willkür auf die Straße. Die Frauen machen klar, dass die Gewalt die Gesellschaft als Ganze betrifft. Sie sagen es mit den unterschiedlichsten Slogans. Das Wichtigste ist, dass Plakate, die ich sonst auf feministischen Demos gesehen hatte (wie „Er schlägt dich, also wandert er in den Knast“), auf den großen Frauenmärschen auftauchten. Ein Plakat für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt wurde zum Symbol dafür, wie sich die ganze Gesellschaft wahrnimmt. Das bedeutet, die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt. 

    Sobald die Frauen ihre Position behaupteten und Subjekte wurden, begegnete die Staatsmacht ihnen mit Gewalt. Bis dahin verhielt sie sich nachsichtig. Wie würden Sie das interpretieren? 

    Warum wohl hat Swetlana Tichanowskaja die Wahlen gewonnen? Weil Lukaschenko sie nicht ernstgenommen hat. Aber die Gesellschaft hat sie ernstgenommen. Maria Kolesnikowa hat ihren Pass zerrissen und ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Frauen haben erzwungen, dass man fortan mit ihnen zu rechnen hat. Die Staatsmacht, die nur auf Gewalt setzt, fand die entsprechende Antwort.

    Die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt

    Doch die Art des Protestes hat sich dadurch nicht geändert. Der Koordinationsrat plant keinen Staatsstreich, die Frauenmärsche sind völlig friedlich. Dieses Engagement hat mittlerweile einen Rückhalt in der Gesellschaft, es kann nicht mehr ignoriert werden. 

    Sprechen wir über unsere Anführerinnen – Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa. 

    Ihr Wahlkampfbündnis war gut, weil darin verschiedene Frauen vertreten waren. Jede von ihnen arbeitete für die eigene Gruppe. Maria Kolesnikowa vertritt eine eher aktivistische Position; in einem der Interviews bezeichnete sie sich als Feministin. Swetlana Tichanowskaja sagte, sie sehe sich selbst nicht in der Politik. Veronika Zepkalo ist Managerin und richtet sich an Frauen in der Wirtschaft. Ich denke, die Kraft lag in der Zusammensetzung dieses Bündnisses. 

    Und was Swetlana betrifft: Ihre Reaktion gleicht der Reaktion der belarussischen Gesellschaft. Auch sie überwindet sich selbst und schöpft daraus Kraft. Das ist toll. Ich denke, die Menschen erkennen in ihr sich selbst. Vielleicht wollten die Belarussen sich nicht an dieser Wahl beteiligen, wollten nicht aktiv werden. Aber dann entstand eine Situation, die die Leute in den Protest trieb. Die Wahlfälschungen, die brutale Gewalt des Staates gegen seine Bürger … Die Menschen haben Angst, es ist schwer, Alltag und Protest unter einen Hut zu bringen, aber sie machen es trotzdem, sie tun sich zusammen und kämpfen.

    Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben. Wir wollen und können nicht mehr in einem autoritären Staat leben.

    Dabei sagt sie aber auch, ein starker Anführer werde künftig an ihre Stelle treten.

    Das ist schade. Ich finde, wir brauchen keine starken Anführer, wir brauchen eine starke Gesellschaft. „Wir wollen nicht auf Anführer hoffen“ – das höre ich von vielen engagierten Menschen. 

    Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben

    Wie die Erfahrung gezeigt hat, kann ein starker Anführer uns und unsere Bedürfnisse ignorieren. Wichtig ist, dass der politische Anführer unser Partner ist, einer von uns. 

    Um Ihren Gedanken fortzuführen: Mir fällt der berühmte Ausspruch von Maria Kolesnikowa ein: „Liebe Belarussen, ihr seid unglaublich!“ Darin steckt doch die Grundeinstellung: Alles, was die Belarussen tun müssen, ist an sich selbst zu glauben. Oder etwa nicht? 

    Wenn wir davon ausgehen, dass sich unsere Gesellschaft in einem Zustand der Gewalt befindet, (erinnern Sie sich, wie Lukaschenko sagte: „Eine Geliebte lässt man nicht gehen“), so heißt das: Ihr fehlt der Glaube an die eigene Stärke. Es gibt viele Formen der Gewalt: physische, ökonomische, psychische. Oft fällt es schwer zu erkennen und sich einzugestehen, dass man Gewalt ausgesetzt ist. Oft wissen die Frauen nicht, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollen. 
    Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass jenes Empowerment, von dem die Feministinnen reden, der Glaube an die eigene Stärke, genau das ist, was man in solchen Situationen braucht. „Ich beende eine Missbrauchsbeziehung“, sagen die Frauen heute. Offenbar ist es genau das, was heute die gesamte Gesellschaft tun muss. Und dafür muss sie auf ihre eigene Stärke vertrauen.  

    Das ist eine wichtige Parallele, aber ich muss doch fragen, wie es weitergeht. Natürlich verändert sich unsere Gesellschaft. Doch wie stehen die Chancen, dass die konkreten Frauen, über die wir heute gesprochen haben, aber auch die Frauen insgesamt, in der Politik bleiben, wenn das gegenwärtige Regime fällt?

    Ich denke, die Frauen, die das Problem erkennen, müssen kämpfen. Das ist eine der Aufgaben, die wir uns in der Koordinationsgruppe, dem Femsowjet, stellen. Wir meinen, dass die belarussische Gesellschaft eine patriarchale Gesellschaft ist. Natürlich verändert sich jetzt etwas, aber das bedeutet nicht, dass es morgen keinen Sexismus mehr gibt und alle Männer aufhören, Frauen herablassend zu behandeln. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Frauen, die sich dessen bewusst sind – die Feministinnen -, die anderen Frauen darin bestärken, sich zu vereinen und ihre Interessen und Probleme zu artikulieren. Ihnen dabei helfen, zu verstehen und daran zu glauben, dass ihre Probleme einer Erörterung wert sind. Ich wiederhole, diese Probleme betreffen die gesamte Gesellschaft. Häusliche Gewalt ist nicht nur das Problem der Frauen. 

    Warum ist die Gleichheit der Geschlechter so wichtig?

    Wenn Männer und Frauen in der Gesellschaft nicht gleichgestellt sind, wie sollen sie dann in anderen Gruppen kooperieren? In Gruppen unterschiedlichen Alters, im Beruf? Wie werden sie sich als Partner erkennen, wenn sie der Meinung sind, dass eine Frau einem Mann in vielerlei Hinsicht unterlegen ist? Deshalb wird die Gleichstellung der Geschlechter in demokratischen Ländern so sehr verteidigt – sie ist wichtig für die gesamte gesellschaftliche Ordnung.

    Und die letzte Frage, Olga: Wer ist Ihr Präsident? 

    Für mich ist der Präsident oder die Präsidentin eher eine technische Figur. Ich wiederhole es: Der Präsident, so würde ich sagen, ist einer oder oder eine von uns. Ein Mensch, der sensibel und offen ist für die Probleme der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Der Präsident muss nicht in erster Linie ein guter Manager, sondern ein guter Kommunikator sein, jemand, der zuhört und bereit ist, Kompromisse einzugehen. Er steht für bestimmte Werte, und für mich sind diese Werte verbunden mit einer inklusiven Gesellschaft. 

    Haben Sie eine bestimmte Person aus unseren Kreisen im Blick?

    Julia Mizkewitsch. Ich sehe sie als mögliche Präsidentin.

    PS: Die Feministin und Bürgerrechtlerin Julia Mizkewitsch befindet sich derzeit ebenfalls im Gefängnis. 

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    „Hallo, hier ist Nawalny“, so hatte der russische Oppositionspolitiker seine Instagram-Follower vergangene Woche begrüßt – mit Familienfoto aus dem Krankenbett. Inzwischen ist er aus der Charité entlassen, ist vorerst aber noch in Deutschland. „Er ist weiterhin in Behandlung“, teilte seine Pressesprecherin Kira Jarmysch mit.

    Die Nowitschok-Vergiftung Nawalnys hatte zu scharfen Worten zwischen Deutschland und Russland geführt. Die russische Regierung sprach von „Hysterie“, im russischen Staatsfernsehen hatte unter anderem Leonid Rink, der an der Entwicklung von Nowitschok beteiligt war, mehrfach behauptet, dass es unwahrscheinlich sei, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff vergiftet worden sei.

    Manche Beobachter, wie etwa Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, sprechen gar von einem Wendepunkt in den Beziehungen. Nun berichtet die französische Zeitung Le Monde von einem Telefonat zwischen Putin und Frankreichs Präsident Macron: In diesem habe Putin mehrere Versionen ins Spiel gebracht, wie Nawalny hätte vergiftet werden können, auch die einer „Selbstvergiftung“.

    Dmitri Muratow, Chefredakteur der Novaya Gazeta, hat auf Echo Moskwy ein Interview gegeben. Darin berichtet er von den Recherchen der Novaya Gazeta zu Leonid Rink – der Nowitschok in Ampullen verkauft und in Umlauf gebrachte habe. Und er spricht über zahlreiche Hinweise dafür, dass vermutlich auch Anna Politkowskaja und Dimitri Bykow, prominente Novaya-Gazeta-Journalisten, mit Nowitschok vergiftet wurden. Muratow betont in dem Interview: „Ich liefere nur Fakten.“ „Die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen“, entgegnet die Moderatorin.

    Irina Worobjowa: Hallo, willkommen bei Ossoboje Mnenije (dt. Die besondere Meinung). Heute ist Dmitri Muratow bei uns, der Chefredakteur der Zeitung Novaya Gazeta. Guten Abend, Dmitri! 

    Dmitri Muratow: Guten Abend! 

    Die Novaya Gazeta hatte auf der Titelseite ein Foto von Nawalny und die Bildunterschrift: „Willkommen zurück!“ Sind Sie sich sicher, dass Alexej wieder vollkommen gesund wird?

    Wir wissen nichts über die Folgeschäden, genauso wenig wie alle anderen, auch die Ärzte. Als die Ausgabe bereits in Druck war, kam uns der Gedanke, dass wir es halb in Farbe und halb in Schwarz-Weiß hätten drucken sollen. Denn er war von den Attentätern und Mördern schon mit einem Bein ins Grab befördert worden, hat sich jedoch an [seiner Frau] Julia, den Ärzten und seinen Freunden festgeklammert und konnte mit dem zweiten Bein in dieser Welt bleiben. 

    Nawalny war ja schon mit einem Bein ins Grab befördert worden

    Sie sprechen von „Attentätern“ und „Mördern“. Sie glauben also die Version der Deutschen, dass es sich um einen Giftanschlag handelt, dass ein Stoff aus der Nowitschok-Gruppe zum Einsatz kam und so weiter?

    Lassen Sie es mich von einer anderen Seite her aufziehen. In unserem Land lassen sich Beteiligungen und die verdeckten Interessen von jemandem ganz gut nachvollziehen anhand der Experten, die man uns im Staatsfernsehen präsentiert. Der wichtigste Experte im Zusammenhang mit diesem Mordanschlag ist ein gewisser Leonid Igorewitsch Rink. Der Mann, der Nowitschok eigenhändig in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat. Er hat nicht nur die Formel für Nowitschok erfunden, sondern es auch eigenhändig hergestellt. 
    Dieser Rink steht also vor dem Logo von Ria Nowosti (ich glaube, er steht da seit dem Giftanschlag auf Skripal immer wieder) und verkündet uns in der Fernsehsendung Wremja, auf NTW, in der Wirtschaftszeitung Wsgljad und in unzähligen anderen regierungsfreundlichen Medien: „Wen interessiert dieser Nawalny? Wenn man gewollt hätte, hätte man ihn getötet.“ Aber spezielles Nowitschok sei da sicher nicht im Spiel, sagt Rink. 

    Jetzt mache ich einen Sprung in die Vergangenheit und erinnere Sie daran, wie 1995 Iwan Kiwelidi ermordet wurde. Der Vorsitzende der Assoziation russischer Banken starb unter schweren Qualen im Krankenhaus. Davor hatte er mehrmals telefoniert. Am Telefonhörer wurde eine Substanz entdeckt, die der Nowitschok-Gruppe zugeordnet werden konnte. Offenbar war der Hörer aufgeschraubt und ein Wattebausch mit der Substanz hineingelegt worden. Mit diesem Hörer in der Hand hatte er mehrmals telefoniert. 

    Der wichtigste Experte im Fernsehen ist der Mann, der Nowitschok in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat

    Wie ist die Substanz dort hingekommen? Die Mörder hatten sie von [Rink] bekommen – dem Kommentator, den wir heute im Staatsfernsehen sehen, dem Chefpropagandisten und Verfechter der Version, dass Nawalny keinesfalls mit Nowitschok vergiftet worden sei.

    Das ist ein schwerer Vorwurf.

    Das ist es. Deswegen antworte ich auch mit seinen Worten. Aus dem Verhörprotokoll vom 16. Februar 2000: „Als ich in Schichany gearbeitet habe, in eben diesem Labor, hatte ich einen Konflikt mit Rjabow.“ Rjabow war irgendein hohes Tier im kriminellen Milieu. 
    „Er fragte mich nach Gift, um einen Hund zu vergiften. Ich gab ihm Diphacinon, ein Rattengift. Aber er kam wieder und sagte, das passe nicht, er brauche etwas für Menschen. Er hat mich bedroht. Ich bekam Angst und sicherte ihm zu, ein entsprechendes Gift zu besorgen.“ 

    Wie hat er dieses Gift besorgt? Er ging in das Labor, in dem er viele Jahre gearbeitet hatte. Bei dem Labor handelte es sich um das Staatliche Institut für Technologien organischer Synthese in Schichany. Das war eine geschlossene, streng geheime Einrichtung.  

    Er bat seine ehemalige Angestellte, Nowitschok zu synthetisieren, das sogenannte VX – das ist ein Nervengift, das als chemische Waffe eingesetzt wird, und füllte sich Ampullen mit je etwa 0,25 Gramm ab. Drei davon verstaute er in seiner Garage. 

    Wurde der Mensch, der das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?

    Der Mensch schleppt hunderte tödlicher Dosen aus einem vom FSB bewachten Labor in seine Garage in einer Stadt, die, wie wir wissen, auch heute noch bewacht wird, lange nachdem die chemischen Waffen vernichtet wurden – so zumindest die offiziellen Angaben.

    Im Gerichtssaal bekommt Rink folgende Frage gestellt: „War Ihnen zu dem Zeitpunkt, als Sie die von Ihnen hergestellten Substanzen weitergaben, bewusst, dass sie gegen Menschen eingesetzt würden?“ Der Staatsanwalt wollte sich vergewissern. „Ja, mir war bewusst, dass diese Leute vorhatten, sie gegen Menschen einzusetzen.“

    Entschuldigen Sie, welches Gerichtsprotokoll meinen Sie? Gab es einen Prozess gegen Rink?

    Vor zwei Jahren hat Roman Schleinow für die Novaya Gazeta recherchiert und jetzt haben wir  weitergemacht. Wir haben die Materialien im Zusammenhang mit den Skripals untersucht. Und da sind wir auf dieses Strafverfahren gestoßen. 

    Was glauben Sie: Wurde dieser Mensch, der hunderte Menschenleben gefährdet und das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?

    Es war also ein Verfahren gegen Rink?

    Es war der Prozess im Fall Kiwelidi. Rink war da als Zeuge! Das ist eine Zeugenaussage. Und er blieb auch Zeuge, denn ich denke mal, er ist äußerst nützlich. Dieser Kerl kann alles herstellen. Wer weiß, was er noch in seiner Garage unter der Werkbank hat. Das alles lässt sich wunderbar am Gesetz vorbei einsetzen. Wissen Sie, für wie viel er eine Ampulle, deren Inhalt hunderte Menschen umbringen könnte, an Mörder verkauft? Für 1500 US-Dollar.

    Da kann man sich in etwa ausrechnen, was ihm ein Menschenleben wert ist, diesem großen Fernsehexperten in staatlichen und staatsnahen Sendern und propagandistischen Talkshows.

    Als ihn die Kollegin, die auf seine Bitte hin Nowitschok synthetisierte, fragte: „Ist das nicht gefährlich?“, erwiderte er: „Nein, nein, ich mache das fürs Militär.“ Sie hakte nach: „Warum denn fürs Militär, wir sind doch eine zivile Einrichtung?“ Und er: „Naja, das haben Militärs schwarz bestellt.“ Niemand hat sich gewundert. 

    Ich würde gern über Folgendes sprechen: Die Vergiftung von Alexej Nawalny – wäre es die erste Geschichte dieser Art, würde man vermutlich nicht so viel darüber sprechen, aber wir haben das schon so oft mitangesehen …

    Genau, und irgendwie steckt Rink da mit drin. Jemand muss ihm den Befehl erteilt haben. Bei uns kommt ja keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung, Einladung und Vorbesprechung des Themas.

    Bei uns kommt keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung oder Einladung

    Außerdem stellen sich mir noch weitere Fragen. Erinnern Sie sich daran, wie im April vergangenen Jahres unser Kollege Dimitri Bykow, unser Rezensent und Ihr Moderator, aus Jekaterinburg nach Ufa geflogen ist, wo er eine Veranstaltung hatte? Bei der Landung lag er im Koma. Ich flog mit einem herausragenden Neurochirurgen und Intensivarzt aus einer der besten Kliniken hin. Als wir ankamen war Bykow völlig ruhig – er lag tatsächlich im Koma. Es wurde entschieden, dass er in eine andere Intensivklinik verlegt werden musste, mit anderen Versorgungsmöglichkeiten, anderer Ausstattung. 

    Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Das bereue ich heute. Ich dachte: Bykow eben, vielleicht hat er was Falsches gegessen. Vielleicht gesundheitliche Probleme. Wer weiß. Kann ja alles sein. Außerdem ist er ein absoluter Workaholic. Er schuftet Tag und Nacht. Vielleicht war er einfach überarbeitet. Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige. Der Zug ist offenbar schon abgefahren.

    Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige

    Uns war klar, dass wir ein Krankentransportflugzeug brauchten. Unsere Zeitung – wir haben eine Krankenversicherung – kam für die Kosten auf. Die Maschine mit zwei Intensivmedizinern an Bord war bereits unterwegs, als der Pilot uns plötzlich mitteilte, er hätte vom Gesundheitsministerium den Befehl erhalten, umzukehren und nicht nach Ufa zu fliegen. Wir waren schockiert. Das Flugzeug war bezahlt, sollte eigentlich bald landen. Dann versuchte man auch noch, den Arzt zurückzurufen, mit dem ich gekommen war. Später hieß es dann, das Gesundheitsministerium sehe keine Notwendigkeit einer Verlegung, er solle bleiben, wo er ist. 

    Das kommt einem bekannt vor.

    Genau das meine ich auch. Als das mit Nawalny passierte, habe ich eins und eins zusammengezählt: den Flughafen, das, was vor dem Flug geschah, damit dann auf dem Flug alles passiert. Nach dem Flug liegt der Mensch im Koma. Dann muss er verlegt werden in eine geeignete Intensivklinik – wie auch immer man das nennt –, damit andere Maßnahmen ergriffen werden können. Doch dieser Vorgang wird durch sonderbare Anordnungen verzögert, so wie man bei Bykow versucht hatte, das Flugzeug umkehren zu lassen. 

    Aber es ist nicht umgekehrt.

    Der Pilot sagte damals: „In zehn Minuten werde ich dem Befehl folgen müssen und umkehren, den Kurs ändern.“ Ich sage es offen: Ich habe also jemanden angerufen, einen der wenigen Kontakte, den ich von Treffen mit Chefredakteuren und hohen Politikern hatte. Er war damals und ist auch heute noch auf einem der höchsten Posten. Acht Minuten später teilte der Pilot uns mit, es sei eine Erlaubnis vom Himmel gefallen, er könne seinen Flug doch fortsetzen. Die Erlaubnis kam vom Kreml. 

    Als das alles mit Nawalny passiert ist und wir uns gefragt haben, was wohl dahintersteckt … Ob die Ärzte in Omsk vielleicht etwas sehen, was wir nicht sehen …

    Ob etwas durcheinandergeraten ist? Durchaus möglich. Aber wenn ich jetzt sehe, dass bei Bykow derselbe Algorithmus am Werk war: Hotel, Flughafen, Flugzeug, Koma, Notfallklinik, Verzögerungen beim Transport …

    Ich möchte keine Schlüsse ziehen. Neulich habe ich einen sehr treffenden Satz gehört: „Die Wahrheit genügt uns nicht, wir brauchen Fakten.“ Ich liefere Ihnen also nur Fakten. Sie stehen für sich. Das sind die Fakten über Rink, unseren gegenwärtigen Experten und Propagandisten. Das sind die Fakten über die Evakuierung von Bykow. Die Fakten über Politkowskaja – ich habe ja schon oft erzählt, wie das damals [als Politkowskaja 2004 nach Beslan flog, um über die dortige Geiselnahme zu berichten – dek] vonstatten ging: Flugzeug, Koma, zerstörte Proben, Krankenhaus. Die Proben gingen im Flughafen kaputt, Blut und Erbrochenes gingen verloren. [Politkowskaja überlebte – 2006 wurde sie vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Die Hintermänner der Tat sind bis heute nicht bekannt – dek.]

    Und auf der anderen Seite ist da ein Rink, der eine unbekannte Menge Ampullen an jemanden weitergegeben hat. Da fügen sich in meinem Kopf die Puzzleteile zusammen. Ich will diese Gedanken verjagen, will das alles nicht glauben. 

    Ja, lassen Sie uns bei den Fakten bleiben, die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen.

    Bitte, gern. Schlussfolgerungen sind ja kein Gift.

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  • Warum gehen wir nicht auf die Straße?

    Warum gehen wir nicht auf die Straße?

    Am 1. Juli haben Russlands Wahlberechtigte über die Verfassungsänderung abgestimmt. Mit einem Häkchen – bei Ja oder Nein – sollten sie über 206 Änderungen abstimmen: darunter etwa die Ehe als Institution zwischen Mann und Frau, und die Nullsetzung der Amtszeiten Putins. Offiziell wegen der Corona-Pandemie waren diesmal auch Wahllokale an „einem Ort unter freiem Himmel“ erlaubt, es lief eine mehrtägige „Vorab-Abstimmung“, noch vor dem eigentlichen Abstimmungstag, dem 1. Juli, und in zwei Regionen konnten Stimmen auch online abgegeben werden. So gab es Wahllokale in Kofferräumen und auf Baumstümpfen, Wahlurnen wurden in Hausflure getragen. 
    Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Golos kritisierte, dass weder eine freie Wahl noch eine unabhängige Wahlbeobachtung unter diesen Umständen wirklich möglich sei – außerdem sei kaum nachprüfbar, wer sowohl online als auch offline abgestimmt hat. Schließlich gab die Zentrale Wahlkommission ZIK ein Zwischenergebnis von über 70 Prozent Zustimmung bereits vor Schließung der letzten Wahllokale bekannt – was in Russland unüblich ist und als Manipulation kritisiert wurde. Analysten wie Sergej Schpilkin sprechen von den größten Wahlfälschungen und -anomalien in der Geschichte der Russischen Föderation. Das ungewöhnliche Prozedere werten manche Beobachter als Testlauf für die Dumawahl 2021.
    Das Vorgehen und auch das Ergebnis (knapp 78 Prozent Zustimmung) hält die Redaktion des unabhängigen Online-Mediums Projekt für eine moralische Niederlage – nicht nur des Systems, sondern auch der Bürger, die jetzt nicht auf die Straße gehen. Ein Kommentar.

    Die radikale Umschreibung der Verfassung durch den Kreml im Jahr 2020, die es Putin erlaubt, noch länger im Amt zu bleiben, droht als eines der schlimmsten Ereignisse für die Zivilgesellschaft in die Geschichte einzugehen. Unterschieden sich die Menschen schon vor der Corona-Epidemie in ihren Überzeugungen, so hat Corona sie auch noch physisch voneinander entfernt. Am Ende blieb jeder Kritiker allein mit sich und seinem Wahlzettel.

    Die Kampagne zur Verfassungsänderung begann noch vor dem Ausbruch von COVID-19 in Russland, nahm aber so schnell Fahrt auf, als stünde das Virus schon vor der Tür. Das sorgte bei einigen für Irritation: Anfangs schien es, als wolle Putin die Macht gar nicht bei sich konzentrieren, sondern sie sogar mit dem Parlament teilen. Doch schon bald wurde klar, dass die neue Version des Grundgesetzes kein Konzept von Checks and Balances festschrieb, sondern dass stets Putin das Machtzentrum sein würde, und das nicht nur im Amt des Präsidenten. 

    Das alles kam nicht überraschend: Experten hatten schon lange damit gerechnet, dass der Mensch, der de facto seit 20 Jahren an der Macht war, diese nicht plötzlich aufgeben würde. Die Frage war bloß, wie konkret er das bewerkstelligen würde. Die Verfassungsänderung war also in dieser Hinsicht einzig ein Moment der Ehrlichkeit: Genau, so wird es sein.

    Unverhohlene Offenheit: Genau, so wird es sein

    Diese unverhohlene Offenheit und die Perspektive noch viele Jahre in Putins Russland – im wahrsten Sinne des Wortes – zu leben, hätten zum Anlass für Proteste werden können. Trotz der Augenwischerei mit der Rentenanpassung, „dem staatsbildenden Volk“ oder dem Verbot der Geschichtsklitterung. Hätten, wurden sie aber nicht. Genauso wenig wie es am 24. September 2011 zu Protesten kam, als der damalige Präsident Dimitri Medwedew den Wiedereinzug Wladimir Putins in den Kreml verkündete, der seine nächste, damals erst dritte Amtszeit antrat. Es dauerte noch mehr als zwei Monate bis Tausende Menschen auf die Straße gingen – dafür brauchte es erst die massiven Fälschungen bei der Dumawahl im Winter, und später bei der offiziellen Präsidentschaftswahl im März 2012. Zunächst vereinte die Menschen die Forderung nach fairen Wahlen, nach einer Anerkennung ihrer Stimme. Darin trafen und solidarisierten sich die Anführer der Opposition (der rechten wie der linken, und der Menschenrechtsbewegung).

    Als 2020 Putins Amtszeiten auf Null gesetzt wurden, gab es keinen Zusammenschluss der Opposition. Keine allgemeine Strategie des Widerstands: Sollte man gegen die Verfassungsänderung stimmen oder die Abstimmung boykottieren? „Jelzins“ Verfassung von 1993, die die Regierungszeit einer Person zwar sehr dehnbar, aber wenigstens überhaupt begrenzte, fand keine überzeugenden Verteidiger, deren Stimme laut genug gewesen wäre. 

    Die Verfassung war für die meisten bloß ein Stück Papier mit irgendeiner Erklärung, pathetisches Geschwurbel

    Aber vermutlich hätten sie auch kein Publikum gefunden. Wie Umfragen des Lewada-Zentrums belegen, war die Verfassung für die meisten bloß ein Stück Papier mit irgendeiner Erklärung, pathetisches Geschwurbel, aber sicher kein gesetzgebendes Dokument mit direkter Auswirkung auf das politische System. Wenn sie also weder Wahrheit noch Gewicht hat und man sie verdrehen kann, wie es gerade passt, braucht man sie auch nicht zu verteidigen (so unter anderem die Meinung von Alexej Nawalny). Dennoch sahen viele den Vorschlag, die Verfassung durch ein paar Sozialleistungen zu ergänzen, als eine Chance an, endlich einmal etwas „Nützliches“ für die einfachen Leute zu tun. (Dass diese Leistungen längst in anderen Gesetzen festgeschrieben sind, wissen die wenigsten.) Doch obwohl die Mehrheit die „Sozialreformen“ unterstützte, befürworteten nicht einmal alle Putin-Anhänger die Nullsetzung der Amtszeiten. Die Gesellschaft teilte sich in zwei gleich große Lager.

    Gespaltene Gesellschaft

    Diese unerwartete Spaltung hat sich jedoch kein einziger russischer Oppositionspolitiker zu Nutze gemacht, weder von der systemischen noch der nichtsystemischen. Das kann man in Teilen mit politischem Pragmatismus erklären: Es war klar, dass der Kreml unbedingt, koste es, was es wolle, eine hohe Beteiligung und hohe Zustimmungsraten für die Änderungen erreichen möchte, und so konnte die Opposition nicht ernsthaft mit einem Scheitern der Abstimmung rechnen (und selbst der Erfolg eines Boykotts ließe sich nur schwer mit verlässlichen Zahlen belegen). 

    Aber es gab auch ein ethisches Problem: Man konnte nicht zu Protestaktionen aufrufen (die während der Pandemie verboten sind), aber selbst ein Aufruf, zur Abstimmung zu gehen [und mit Nein zu stimmen – dek], hätte so ausgesehen, als würde man das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus einfach ignorieren – das konnte sich nur Putin selbst erlauben, als er die Russen am 30. Juni zur Teilnahme an der Abstimmung aufforderte.

    Fernseherverpackung dient als Wahlurne

    Eine weitere Rolle spielte sicher auch die Komik des Abstimmungsprozesses selbst: Diese ganzen Wahllokale in Kofferräumen, auf Hockern und Bänken mit Urnen aus Pappkarton. Es ist schwer den Feind in Form einer Fernseherverpackung [als Wahlurne – dek] ernst zu nehmen.

    „Und wie gefällt euch das Wählen auf dem Fußballfeld so?“ – Tweet des Wahlkampfstabs von Alexej Nawalny vom 25. Juni 2020

    Es gab viele Witze, aber auch Beschwerden über vielfältige Verstöße im Verlauf der Abstimmung: So berichtet die Wahlbeobachtungsorganisation Golos über fast 700 mutmaßliche Verstöße. Das Hautproblem: Wählernötigung. Doch das passiert de facto bei allen wichtigen Wahlen. Diesmal gab es eine massenhafte fast einwöchige Vorab-Abstimmung, auch online, wo eine ebenso massenhafte, unabhängige Beobachtung unmöglich war. Allein dieses Format der „Willensbekundung“ ließ nicht groß hoffen auf wirklich ehrliche Wahlen, vor allem in den Regionen. Dass, wer wollte, zwei, drei, ja sogar vier Mal abstimmen konnte – für sich selbst, die Oma und für die ganze Sippe – das war schon in den ersten Tagen dieser Vorab-Abstimmung klar. Schon allein die Umstände ihrer Durchführung boten die Möglichkeit zu manipulieren – ja, zwangen einen schon fast dazu. Das an sich demoralisiert schon: Was für einen Unterschied macht es, wie man abstimmt und ob man überhaupt abstimmt, wenn die ganze Abstimmung im Grunde zum reinsten Chaos geworden ist, das auch noch von den Behörden verwaltet wird?

    Moralisches Versagen

    Verärgerte Bürger, die davon noch nicht völlig paralysiert und apathisch geworden waren, fanden sich vor ihren Notebooks, ihrem Facebook, wieder, allein mit ebenso verstörten Menschen, und stellten einander immer wieder ein- und dieselbe Frage: Was tun?

    Klar, man kann sich jetzt über die 20 bis 30 Prozent an Nein-Stimmen freuen. Aber gleichzeitig gibt es 70 bis 80 Prozent an Ja-Stimmen [das derzeitige Ergebnis ist 77,92 Prozent Ja-Stimmen und 21,27 Nein-Stimmen – dek]. Ungefähr so viel, wie der Kreml erreiche wollte. Man kann versuchen Trost zu finden in Debatten über die Kurzlebigkeit der neuen Putinschen Verfassung. Aber es ist nicht gesagt, dass sie kürzer wirkt als die Erinnerung an das moralische Versagen im Sommer 2020.
    Am Abend des 1. Juli kamen nicht mehr als 300 Leute [zu einer Protestaktion gegen die Abstimmung – dek] zum Puschkin-Denkmal in Moskau, in Petersburg waren es noch weniger.
    Übrigens: Auch am 4. Dezember 2011 konnte keiner voraussehen, dass schon binnen weniger Tage Zehntausende auf die Straße gehen würden.

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  • Vedomosti: Ende der Unabhängigkeit?

    Vedomosti: Ende der Unabhängigkeit?

    Zensur kritischer Inhalte, sinnverfälschende Einmischungen und eine unverkennbare Nähe zum Kreml und zu Rosneft – die Vorwürfe gegen den neu eingesetzten Vedomosti-Chefredakteur Andrej Schmarow sind schwerwiegend. Zahlreiche Redakteure der Zeitung haben aus Protest inzwischen ihre Kündigung eingereicht. Viele Beobachter fühlen sich an das Schicksal von NTW, Lenta.ru oder RBC erinnert: Geht mit Vedomosti nun ein weiteres Flaggschiff der unabhängigen Presse in Russland unter? Pjotr Mironenko und Irina Malkowa berichten auf The Bell.

    Die Zeitung Vedomosti, so wie wir sie seit zwanzig Jahren kennen, wird es bald nicht mehr geben. Der vom neuen Eigentümer Iwan Jeremin einberufene Verwaltungsrat hat Andrej Schmarow, den Mitgründer der Zeitschrift Expert, zum neuen Chefredakteur von Vedomosti ernannt. Schmarow hatte im März 2020 den Posten kommissarisch übernommen und war bald in Konflikt mit der Redaktion geraten: Diese beschuldigte ihn der Zensur. Aus Protest reichten [am 15. Juni 2020] alle leitenden Redakteure die Kündigung ein.

    An der Ernennung Schmarows war laut Recherchen von Meduza, The Bell, Forbes und Vedomosti vermutlich auch Michail Leontjew, der Pressesekretär von Rosneft beteiligt. Seit 2017 hatte das Unternehmen, dem Vedomosti gehörte, einen riesigen Kredit bei einer Tochterbank von Rosneft laufen.

    Das ist passiert

    Der Verwaltungsrat von Vedomosti (Aktiengesellschaft Business News Media (BNM)) hat Mitte Juni in neuer Zusammensetzung getagt und Andrej Schmarow als Chefredakteur der Zeitung bestätigt. Es war der neue Vedomosti-Eigentümer Iwan Jeremin, der die Ernennung Schmarows initiiert hatte. Am 10. Juni hatte Jeremin dann bekanntgegeben, dass der Verwaltungsrat in Kürze tagen werde und die Journalisten ihrerseits einen Kandidaten vorschlagen sollten. Denn laut Gesellschaftervertrag muss der Verwaltungsrat des BNM neben dem Kandidaten des Eigentümers auch einen Kandidaten der Redaktion in Betracht ziehen. Die Redaktion schlug daraufhin eine Herausgeberin zahlreicher Co-Projekte von Vedomosti vor, die ehemalige Vedomosti-Redakteurin Anfissa Woronina.

    Der neue Verwaltungsrat besteht aus Jeremin, dem Geschäftsführer eines seiner Unternehmen Michail Neljubin, dem ehemaligen Chefredakteur von TASS und ehemaligen Leiter des Finanzressorts von Vedomosti Anton Trifonow, dem anfänglichen Kaufinteressenten Konstantin Sjatkow und dem Dozenten für Unternehmensrecht der Juristischen Fakultät der MGU Alexander Molotnikow. Mit drei zu zwei stimmten die Ratsmitglieder für Schmarow. Die vierte und entscheidende Stimme für Schmarow kam vom Vorsitzenden des Verwaltungsrats – Jeremin.

    Nach Bekanntgabe der Entscheidung reichten die fünf stellvertretenden Chefredakteure von Vedomosti [am 15. Juni 2020] die Kündigung ein: Dimitri Simakow, Alexander Gubski, Boris Safranow, Filipp Stepkin und Kirill Charatjan. Damit verlässt das sogenannte Aquarium die Zeitung – der Kreis der leitenden Redakteure, die für die operativen Entscheidungen bei Vedomosti verantwortlich waren.
    Alle fünf hatten bereits leitende Positionen inne, bevor die ausländischen Aktionäre 2015 zum Verkauf der Zeitung genötigt wurden. Mit ihnen gehen auch die komissarische Chefredakteurin der Online-Redaktion Alexandra Tschunowa und die Redakteurin des Wirtschaftsressorts Jelisaweta Basanowa. Etwa zehn Journalisten, einschließlich mehrerer Ressortleiter, haben Vedomosti schon vorher verlassen.

    Ihre Kündigung begründeten die Redakteure in einer öffentlichen Erklärung damit, dass Andrej Schmarow in den drei Monaten als Chefredakteur demonstriert habe, wie wenig er mit den Standards von Vedomosti übereinstimme; seine Ernennung zeuge davon, dass diese Prinzipien bei der Zeitung nicht länger gebraucht würden. „Alle Vermittlungsversuche sind gescheitert und die endgültige Entscheidung für Schmarow ist getroffen, damit bleibt uns nichts als zu gehen“, heißt es in der Erklärung.

    Nach dem Verkauf der Zeitung – Ernennung des neuen Chefredakteurs im März

    Schmarow war am 24. März kommissarisch zum Chefredakteur von Vedomosti ernannt worden – eine Woche, nachdem Demjan Kudrjawzew den kurzfristigen Verkauf der Zeitung bekanntgegeben hatte.

    Vom ersten Tag an gab es Konflikte mit der Redaktion: Schmarow erklärte, er lese Vedomosti nicht und sei mit deren Redaktionskodex Dogma nicht vertraut. Er änderte eigenmächtig Überschriften ins komplette Gegenteil und verkündete den Journalisten, er verbiete auf Bitte der Kreml-Administration hin, Artikel zu Umfragen des Lewada-Zentrums zu veröffentlichen. Doch das offensichtlichste Beispiel für Zensur war, dass ein schon publizierter, kritischer Online-Artikel über den Vorstandsvorsitzenden von Rosneft Igor Setschin wieder gelöscht wurde.

    Eine Quelle von Meduza, die Einblicke in den Verkauf von Vedomosti hatte, berichtet, dass an der Entscheidung, Schmarow zum Chefredakteur zu machen, auch der Pressesekretär von Rosneft Michail Leontjew beteiligt gewesen sei. Darauf angesprochen, stritt Schmarow dies nicht ab. Leontjew antwortete auf die Nachfrage von The Bell mit: „Was habe ich denn damit zu tun?“

    Als Kudrjawzew im März 2020 den Verkauf von Vedomosti bekanntgab, sollten zunächst Konstantin Sjatkow, der Herausgeber der Zeitung Nascha Werssija, und der Investmentbanker Alexej Golubowitsch, Vedomosti kaufen. Doch Golubowitsch und später auch Sjatkow zogen ihr Angebot wieder zurück. Ende Mai wurde Iwan Jeremin zum alleinigen Eigentümer. Die Vertragsdetails blieben unter Verschluss, über Abmachungen zwischen Jeremin und der WBRR oder Rosneft ist nichts bekannt. Allerdings hatte Jeremins Online-Portal FederalPress PR-Verträge mit Tochterunternehmen von Rosneft und veröffentlichte geringfügig redigierte Pressemeldungen, ohne sie als Werbung zu kennzeichnen.

    Die Folgen

    Der Satz, Vedomosti werde es bald nicht mehr geben, mit dem dieser Artikel beginnt, ist keine Übertreibung. In den letzten zehn Jahren wurden mindestens zehn große unabhängige Redaktionen zerschlagen. Mal geschieht das langsam und qualvoll, mal gelingt es einer Redaktion, einen Teil der Unabhängigkeit zu bewahren, indem sie auf besonders sensible Themen verzichtet. Nichtsdestoweniger beweist eine Vielzahl von Beispielen: Hat eine Zeitung ihre Unabhängigkeit verloren, ist es unmöglich, die Qualität der Redaktionsarbeit zu erhalten.

    Angenommen, das Ziel der ganzen Aktion war es, Vedomosti als Marke zu erhalten und bloß jenen Teil loszuwerden, der sich nicht per Telefonanruf steuern lässt, so ist dieser Plan doch zum Scheitern verurteilt. Das kann nicht funktionieren. Denn mit der redaktionellen Unabhängigkeit verschwinden nicht nur die kritischen Artikel über Politik oder die Aufdeckung von Korruption, sondern nach und nach auch die qualitativ hochwertigen Inhalte zu Wirtschaft und Finanzen. Vor allem aber verschwindet der Geist der Zeitung, der sie antreibt und den Leser an sie bindet.

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  • Putins Offshore-Macht

    Putins Offshore-Macht

    Am 1. Juli stimmen alle Wahlberechtigten Russlands über die geplanten Verfassungsänderungen ab. Unter anderem sieht die Reform auch vor, die bisherigen Amtszeiten Putins auf Null zu setzen – somit könnte er bis 2036 im Amt bleiben. Das Vorhaben hatte unverzüglich heftige Kritik ausgelöst. Die Abstimmung, die ursprünglich im April stattfinden sollte und nun am 1. Juli durchgeführt wird, bezeichnen liberale und oppositionelle Beobachter als Farce, auch weil sich formal nicht mal die Hälfte aller Wahlberechtigten daran beteiligen muss.
    Die offizielle Webseite zur Abstimmung listete nun die geplanten Änderungen auf – doch ausgerechnet der umstrittenste Punkt, die Nullsetzung der Amtszeiten Putins, fehlte zunächst. Wie kam es überhaupt zu diesem Vorstoß, fragt Michail Schewtschuk auf Republic. Er versucht, die Spuren so weit wie möglich nachzuzeichnen – und landet im „politischen Offshore“.

    Zweifellos eine seltsame Entscheidung: Ausgerechnet die Reform, Wladimir Putins Amtszeiten auf Null zu setzen, fehlte in der Liste der Verfassungsänderungen auf der speziell dafür eingerichteten Webseite – dabei war es abzusehen, dass das Internetpublikum, das belesener und sensibler für politische Fragen ist, diesen Punkt als allererstes überprüfen würde. 

    Später, als die Aufregung schon groß war, wurde die Reform an entsprechender Stelle ergänzt, aber das Image war bereits ruiniert. Die wichtigste Neuerung, zu deren Kaschierung all die vielen anderen Punkte erdacht worden waren, versuchte man auf diese Weise de facto zu verstecken. Unklar warum, denn die Nullsetzung der Amtsjahre war ja weitreichend bekannt und keine Überraschung.

    Die wichtigste Änderung verschwiegen

    Formal wird die Reform nicht verheimlicht. Sie steht genauso im Gesetzentwurf wie die anderen Änderungen, und der ist jedem frei zugänglich. Hier gibt es also nichts zu beanstanden. Doch offensichtlich wurde in dem Aufruf zur Teilnahme an der landesweiten Abstimmung am 1. Juli ein Teil ausgelassen – jener Teil über das Recht des amtierenden Präsidenten nach seiner vierten Amtszeit nochmals zu kandidieren. Der fiel irgendwie raus. Die Organisatoren der Abstimmung versuchen die Menschen davon zu überzeugen, dass die Verfassungsänderung notwendig sei, um die russische Sprache zu bewahren und zu verhindern, dass homosexuelle Paare Kinder adoptieren, aber die wichtigste Änderung – nämlich der Machterhalt Wladimir Putins – wird verschwiegen.

    Der Grund für diese Zurückhaltung leuchtet nicht gleich ein. Der Skeptiker wird sagen, das sei ganz einfach: Der Präsident wolle das Volk nicht verärgern, weil seine Umfragewerte fallen und die negative Stimmung durch die Quarantäne-Maßnahmen steigt; die Russen seien enttäuscht von Putin und könnten ihm die Zustimmung verweigern, Staatsoberhaupt zu bleiben. 

    Nimmt man allerdings die Position eines loyalen Bürgers ein, ist man ratlos.

    Wer, wenn nicht Putin?

    Die bedingungslose Unterstützung der Massen für den Präsidenten  und seine faktische Alternativlosigkeit sind ja nach wie vor die Kernthesen der offiziellen Propaganda. Gerade erst haben die Regierung und regierungsnahe Strukturen gegen Bloomberg gehetzt, einfach nur, weil die Agentur erwähnte, dass das Vertrauen in Putin laut Umfragen sinkt. Wir in Russland haben bekanntlich unsere eigenen Umfragen und denen zufolge ist die Haltung zum Staatsoberhaupt so unerschütterlich wie eh und je. 

    Die Opposition ist es schon gewohnt, dass man sie belügt, doch jetzt werden scheinbar auch  die Anhänger belogen. 

    Wer, wenn nicht Putin? Der Versuch, die Nullsetzung der Amtsjahre zu verschweigen, widerspricht der grundlegenden Maxime: „Russland nur mit Putin, ohne Putin kein Russland.“ Und wer könnte schon dagegen sein, dass Russland viele Jahre fortbesteht? Könnte der Vorschlag einer ewigen Regierung Putins denn überhaupt missfallen? Und  zwar dermaßen missfallen, dass das Volk auf all die wunderbaren Sozialreformen gleich mit verzichten würde?

    Wir alle wissen noch, wie die Debatte um die Verfassungsänderungen begann. Noch letztes Jahr, als Putin erstmals von Reformen sprach und erwähnte, man könne das Wörtchen „in Folge“ bezüglich der Präsidentschaft aus der Verfassung streichen, ging gleich die Diskussion los, wie man Putin im Amt behalten könne. Es begann mit anonymen Vorschlägen, in Russland den Titel des „Obersten Herrschers“ einzuführen, und ging in bester Propaganda-Tradition mit Auftritten von Veteranen und Näherinnen aus Iwanowo weiter – der Präsident musste sogar selbst öffentlich klarstellen, nein, er habe keinerlei Verlängerung seiner Befugnisse im Sinn.

    Filmreife Inszenierung

    Dieser Punkt der Verfassungsänderung wurde erst  im allerletzten Augenblick hinzugefügt: Während der Debatte in der Duma, wo eigens dafür eine filmreife Aufführung mit Valentina Tereschkowa in der Hauptrolle gegeben wurde. Tereschkowa verwies auf gewisse Briefe, mit denen sie die Wähler überhäuft hätten.

    Die Verschleierung der Nullsetzung begann lange vor der Corona-Epidemie. Bei jedem der ersten Schritte hätte der Kreml problemlos die Gesuche des Volkes öffentlich annehmen können. Es hätten tausende persönliche wie kollektive Briefe und Appelle publiziert, wenn nötig auch eine politische Bewegung initiiert werden können. 

    Der Kreml hat bereits mit der Erschaffung der Gesamtrussischen Volksfront bewiesen, dass er im Handumdrehen eine Massenbegeisterung herstellen kann, woran auch die schlimmste sozioökonomische Lage nichts geändert hätte. So wie Putins Wiedereinzug in den Kreml 2012 von unzähligen Reflexionen über einen „Putin 2.0“ begleitet worden war, hätte auch jetzt ein noch viel besserer „Putin 3.0“ auftauchen können. Aber das alles blieb aus.

    Russlands Drehbuch ist wie immer einmalig. Der Präsident wollte, dass die Initiative weder von der Regierung noch vom Volk ausgeht, stattdessen erschuf er einen Ausgangspunkt dazwischen. Die offen verlautbarten Einladungen an Putin, im Amt zu bleiben, wurden öffentlich ignoriert – dafür wurden die anonymen und zweifelhaften „Briefe Tereschkowas“ mit Aufmerksamkeit belohnt. So geht die Initiative scheinbar vom Volk aus, allerdings von einem gesichtslosen, verborgenen, „tiefen“ Volk, das sich weder auffinden noch befragen lässt. 

    ,Politisches Offshore’ – ein geheimnisumwobener Ort, an dem sich alle Spuren verlieren

    2012 hatte Putin die Macht aus den Händen von Dimitri Medwedew übernommen und später womöglich bereut, dass er Medwedew aus Pflicht in seinem nächsten Umfeld halten musste. Nun verbirgt der Präsident den Ursprung der Forderung nach seinem Machterhalt, vermutlich aus demselben Grund, aus dem Großunternehmen es vorziehen, ihre Firmen in Offshores zu registrieren. „Tereschkowas Briefe“ sind eine Art „politisches Offshore“ – ein geheimnisumwobener Ort, an dem sich alle Spuren verlieren. Diese Auslagerung der Macht in ein Offshore gilt es derzeit durch beharrliches Schweigen zu kaschieren.

    Womöglich ist das bloß die Angewohnheit eines alten Spions, alles so einzufädeln, dass sich die Entscheidungskette nicht mehr nachverfolgen lässt und sich bloß ihr letztes Glied schonungslos offenbart. Der Präsident möchte weder den Eliten noch dem Volk etwas schuldig sein – und Verpflichtungen entstünden jedoch unweigerlich aus einer öffentlichen Reaktion auf konkrete Gesuche. 

    2024, wenn Wladimir Putin erneut kandidieren wird, werden sich so einige Leute wundern, vielleicht auch jene, die für bare Münze nahmen, wie für die Verfassungsreform agitiert wurde, ohne sich in die Details zu vertiefen. Eine Antwort auf die Frage „Wie konnte es dazu kommen?“ wird es dann nicht geben. Es wird nicht einmal jemanden geben, der diese Frage stellt. Putin wird sich abermals wie von selbst im Präsidentensessel materialisieren und wieder einmal die geheimnisvolle, ja magische Natur der russischen Macht demonstrieren. Der Ursprung dieser Macht wird dann irgendwo jenseits der Eliten, jenseits des Volks, ja sogar jenseits von Putin liegen – sorgfältig verborgen in einem Offshore.

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  • „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    Das Schicksal der sogenannten „Ostarbeiter“ ist auch in Russland kaum bekannt. Rund drei Millionen sowjetische Zivilisten waren während des Zweiten Weltkriegs als sogenannte „Ostarbeiter“ zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich eingesetzt. Darunter auch viele Frauen und Jugendliche. Nach dem Krieg stellte die Sowjetregierung sie unter pauschalen Verratsverdacht, einige kamen in Lager nach Sibirien. Ihr Schicksal blieb auch nach ihrer Rückkehr ein Stigma und Tabu. Trotz langsamer Aufarbeitung – vor allem durch die Menschenrechtsorganisation Memorial – wissen heute oft nicht mal die Enkel und Urenkel davon, schreibt Iwan Dawydow in seinem Text auf Republic. Dabei braucht Russland diese Erinnerung, meint Dawydow, um vom verlogenen Kitsch im offiziellen Kriegsgedenken wegzukommen. 

    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0
    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0

    Es ist, als hätte es sie nie gegeben. Dabei ist das, was ihnen geschehen ist, im Schuldspruch der Nürnberger Prozesse zusammen mit den anderen Nazi-Verbrechen genannt. Mehrere Millionen Menschen wurden aus der offiziellen Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges einfach gestrichen. In ihrer Heimat betrachtete man sie nicht als Opfer: Einige kamen nach der Befreiung in [sowjetische – dek] Lager, manche kamen dort um, anderen wurde verboten, in den Großstädten zu leben und die Möglichkeit geraubt, eine angemessene Arbeit auszuüben. Sie lebten mit einem Gefühl der Schuld vor dem sowjetischen Staat, verbrannten Briefe und Postkarten, erzählten nicht einmal Freunden und Familie von dem, was sie im Krieg erlebt hatten.

    Ein Gefühl der Schuld vor dem Staat

    Ende der 1980er erinnerte man sich kurz an sie, als in Deutschland Entschädigungszahlungen diskutiert wurden, dann hat man sie wieder vergessen. Auf das Abstellgleis der Geschichte gedrängt, um ihre letzten Jahre zu fristen – ohne Hilfen, mit einem unveränderten Schuldgefühl. Kein Enkel oder Urenkel geht mit ihren Portraits zum Marsch des Unsterblichen Regiments. Oft wissen die Enkel und Urenkel nicht einmal etwas von dem tragischen Schicksal ihrer Großeltern.

    Unter den unzähligen Büchern über den Krieg, die in der Sowjetunion erschienen sind, findet sich eins (eins!), das ihrem Schicksal gewidmet ist und wie durch ein Wunder durch die Zensur der ruhigen 1970er gekommen ist: Vitalij Sjomins Roman Zum Unterschied ein Zeichen

    Nicht einmal die Enkel wissen vom Schicksal ihrer Großeltern

    Einige (die Minderheit) waren freiwillig nach Deutschland gegangen: verwirrt, zermürbt, zunächst vom Kolchose-Paradies des Sowjetstaates, dann von der schnellen Zerschlagung der Roten Armee und der Besatzung [durch die Nazis – dek]. Sie hatten der Nazipropaganda geglaubt, auf ein besseres Leben gehofft. Andere (die überwältigende Mehrheit) waren einfach zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt worden, wie Sklaven, wie Vieh. 

    Sie passten weder in den sowjetischen noch in den derzeitigen russischen Kriegsmythos. Keine Siege, keine Heldentaten und obendrein Arbeit für den Feind.

    Das Erinnern begann mit einem Missverständnis

    2016 hat die Organisation Memorial den Sammelband Das Zeichen bleibt herausgegeben: Auszüge aus Erinnerungen, Interviews und Briefen der ehemaligen Ostarbeiter. Die Auflage betrug 1000 Exemplare – ein Sammlerstück. 1989 war nämlich einem Journalisten, als er über die Debatte in Deutschland um die Entschädigungszahlungen für ehemalige Ostarbeiter berichtete, eine ungenaue Formulierung unterlaufen. Und dadurch hatten die Überlebenden fälschlicherweise angenommen, Memorial sei jene Organisation, die für die Auszahlungen zuständig sein würde: Sie überhäuften das Moskauer Büro mit Berichten darüber, was sie erlebt hatten. 

    So begann die systematische Erforschung ihrer Geschichten, so gelang es auch, die lebendige Erinnerung an die Schicksale von Millionen Kriegsopfern zu bewahren, die keinen Platz im offiziellen Diskurs finden, an Menschen, derer am Tag des Sieges nicht gedacht wird und die man auch sonst zu vergessen versucht. Heute gibt es bekanntermaßen immer weniger Zeitzeugen, und es erscheinen immer weniger Bücher zu diesem Thema.

    Von 1942 und noch bis 1945 wurden massenhaft Menschen in Zügen nach Deutschland gebracht. Die meisten kamen in Zwangsarbeitslager, die an staatliche oder private Fabriken angegliedert waren. Das bedeutete zwölf Stunden Arbeit täglich, Hunger, brutale Strafen und die drohende Gefahr, beim nächsten Fehler vom Arbeitslager ins KZ zu kommen, sprich den sicheren Tod. Andere kamen als Halbsklaven auf Bauernhöfe oder als Bedienstete in die Häuser deutscher Bildungsbürger: Offiziere, Ingenieure oder gar Wissenschaftler.

    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0
    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0

    In den von Memorial veröffentlichten Erinnerungen gibt es auch seltene Beispiele eines menschlichen Umgangs zwischen den Ostarbeitern und ihren Herren, Geschichten von Freundschaft und sogar Liebe. Aber es überwiegen natürlich ganz andere Schicksale. 
    Die Begegnung mit Europa erschütterte unsere Landsleute: Sie sahen, dass das Leben auch anders sein konnte, dass die unmenschlichen Verhältnisse von Stalins Paradies alles andere als normal waren. Viele schickten ihren Verwandten Ansichtskarten von den Orten, in denen sie gelandet waren: hübsche einstöckige Reihenhäuser aus Backstein, ordentliche Kirchen. „Das hier, Schwesterchen, ist das Dorf, in dem ich jetzt wohne“, darin ist eine Verwunderung spürbar, aber auch ein naiver Stolz. Sie wunderten sich darüber, wie gut selbst die normalen Leute angezogen waren, wie viele verschiedene Lebensmittel es in den Geschäften gab.

    Am meisten wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten

    Ja, ihnen war erlaubt, Briefe in die Heimat zu schreiben und sogar Päckchen zu erhalten. Ein paar Wohltaten sah die deutsche Ordnung auch für die Sklaven vor. 

    Aber noch mehr wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten. Man suchte sie sich aus wie auf dem Sklavenmarkt und behandelte sie danach wie Nutzvieh. Das taten sogar die, die in ihren Bücherregalen russische Klassiker mit Goldeinband stehen hatten. Das nette, behagliche Europa konnte in den Russen, Ukrainern und Belarussen keine Brüder erkennen.

    Zerstörte Biographien, Jahrzehnte des Schweigens

    Sie fanden sich in dem neuen Alptraum zurecht, entwickelten Überlebensstrategien und überlebten. Dann kam die Befreiung. Filtrationslager, unendliche Loyalitäts- und Gesinnungs-Prüfungen, für viele folgten Deportation und Zwangsarbeit beim Wiederaufbau der Sowjetwirtschaft, für einige der Gulag. Feiste Prüfer von den Behörden, zerstörte Biografien, nicht zu tilgende Schuldgefühle, Jahrzehnte des Schweigens. Verbrannte Briefe und Ansichtskarten von hübschen deutschen Dörfchen.

    Die Heimat sah einen Feind in den eigenen Bürgern, die einige Jahre lang die Sklaven des Feindes gewesen waren.

    „Wissen Sie, es ist sehr schwer das aus seiner Psyche zu bekommen. Man hat mir eingebläut, ich wäre schuldig, und damit lebe ich bis heute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich unschuldig bin, nein. An irgendetwas bin ich schuld. Also lebe ich mit dieser Schuld“, erzählte eine ehemalige Zwangsarbeiterin, die ein deutsches Lager überlebt hat, in einem Interview mit Memorial.

    In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer

    Es ist sinnlos und peinlich darüber nachzudenken, ob das Leid der Ostarbeiter vergleichbar ist mit dem Leid der Soldaten im Krieg, der Menschen, die in den besetzten Gebieten geblieben sind oder sogar der Menschen, die im sowjetischen Hinterland gearbeitet und um ihr Überleben gekämpft haben. In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer.

    Doch sogar heute, Jahrzehnte später, sind nicht alle Opfer gleich. Die einen werden für ihre Heldentaten geehrt (wobei die Heldentaten nicht selten erfunden und mit geschmacklosem Kitsch aus Propagandafilmen garniert werden, als gäbe es nicht genug echte Heldentaten), über die anderen schweigt man lieber.

    Dabei sind die Geschichten der Ostarbeiter ein ausgesprochen wichtiges Material, um eine richtige Vorstellung von jenem Krieg zu entwickeln. Der Krieg ist die Hölle, eine Wirklichkeit gewordene Hölle auf Erden, wo der Mensch oft nicht mehr über sich selbst bestimmt, wo Tod und Unfreiheit regieren. Die Lebensläufe der nach Deutschland verschleppten Menschen nach dem Krieg sind eine gute Möglichkeit zu verstehen, sich zu erinnern, den jungen und alten Sowjetnostalgikern einzuhämmern, was die Sowjetunion für ihre Bürger wirklich war. Es ist wichtig, sich an Menschen zu erinnern, die es verdienen, die die Not und das Elend des Kriegs überlebt haben – wenn auch an andere, als die offiziellen Mythenschreiber sie besingen, und anders als die Mythenschreiber es gern hätten. Sich an alle zu erinnern, ausnahmslos. Und endlich aufzuhören „die größte geopolitische Katastrophe“ zu beweinen. 

    Wir haben die Freiheit verteidigt. Zu schade, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben

    Der Tag des Sieges gehört zu unseren positivsten Feiertagen, der Tag des Sieges ist wie Ostern. Nicht weil „wir“ es der Welt gezeigt hätten, weil „wir“ ganz Europa zerschmettert hätten – oder was steht da sonst noch auf dem Themenplan der Internet-Patrioten? Nein, weil wir damals gemeinsam mit dem Rest der Welt das größte Ungeheuer des 20. Jahrhunderts bezwungen haben, uns auf die Seite der Freiheit gestellt und diese Freiheit mit unvorstellbaren Opfern verteidigt haben. Zu schade nur, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben, wie sich dann bald herausstellte. 

    Ein ehrliches Gespräch über den Krieg schmälert den Sieg nicht. Eben das tut der verlogene Kitsch, der das Grauen in ein Postkartenmotiv verwandelt und das Andenken an die Opfer beleidigt. Deswegen brauchen wir die Erinnerung an die Millionen Menschen, die nach Deutschland verschleppt wurden, die Erinnerung daran, was ihnen erst die intelligenten Europäer und später die gutherzigen Sowjetbeamten angetan haben. Wir brauchen sie heute. 

    Sie ist (um das Thema wieder aufzugreifen) eine gute Impfung gegen die Krankheit, die wir heute kennen als ein „Wir können das wiederholen“. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

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  • Graues Land Kusbass

    Graues Land Kusbass

    Wenn in Deutschland über den Kohleausstieg diskutiert wird, dann geht es meistens um Klimaschutz. Und wenn über russische Energieträger diskutiert wird, dann geht es meist um die Abhängigkeit von russischem Gas. Dabei verfehlen beide Diskussionen ein gemeinsames Problem: Rein rechnerisch ist die Abhängigkeit von russischer Steinkohle höher als die von russischem Gas – 39 gegenüber 32 Prozent des jeweiligen Gesamtverbrauchs in Deutschland. Außerdem kommt der Großteil russischer Steinkohle aus der Region Kusbass – und das hat gravierende Folgen für die Umwelt, vor allem im Kusnezker Becken selbst.

    2018 und 2019 haben die deutschen Kohlekonzerne Einfuhrrekorde für Steinkohle aus dem Kusbass verzeichnet. Der Rohstoff ist dort so preiswert zu bekommen, wie kaum woanders. Das hat zu tun mit indirekten russischen Subventionen für den Transport, aber unter anderem auch damit, dass der Staat kaum Geld dafür ausgibt, die Umweltfolgen des Tagebaus zu beseitigen.

    Diese Folgen sind mittlerweile verheerend, die steigende Zahl der Krebs- und Lungenerkrankungen alarmierend. Takie Dela hat sich in die Region aufgemacht und mit Menschen vor Ort gesprochen.

    Tagebau im Zentrum Kisseljowsks – der Staat gibt kaum Geld aus, um die Umweltfolgen zu beseitigen / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela
    Tagebau im Zentrum Kisseljowsks – der Staat gibt kaum Geld aus, um die Umweltfolgen zu beseitigen / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela

    Im vergangenen Winter fiel in Kisseljowsk in der Oblast Kemerowo schwarzer Schnee. Ein halbes Jahr später wandten sich die Stadtbewohner mit einer Videobotschaft an den Premierminister Kanadas, Justin Trudeau, und den Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres. Sie berichteten von der schlechten Umweltsituation in ihrer Region und baten um Asyl. 

    In Kisseljowsk leben etwa 90.000 Menschen. In der Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung befinden sich neun Tagebauanlagen. Überall in Kisseljowsk liegt der penetrante Bahnhofsgestank von Teeröl und brennender Kohle in der Luft, als hielte man seine Nase an einen abfahrenden Zug.

    Kohlekessel färben weiße Hunde grau

    Wir treffen Natalja Subkоwa, Aktivistin und Chefredakteurin der unabhängigen Zeitung Nowosti Kisseljowska, vor einem windschiefen zweistöckigen Gebäude – das ist ihr Haus. Zum letzten Mal sei es in den 1990ern geprüft worden, sagt sie. Schon damals gab es 64 Prozent Verschleiß. Heute weigere sich die Lokalregierung, das Gebäude als nicht bewohnbar einzustufen. Und um ein unabhängiges Gutachten in Auftrag zu geben, fehle das Geld. Im Hof qualmt ein kleines Kohlekesselhaus und färbt alles, einschließlich der ehemals weißen Hunde, grau. Im Erdgeschoss von Nataljas Haus wohnt der Bergarbeiter Ljoscha mit seiner Familie, er ist gerade von der Schicht zurück. Während seine Frau uns die Spuren vom Schimmel zeigt, der sich durch die Wände frisst, sprechen Natalja und Ljoscha über das Belüftungssystem – es funktioniert schon lange nicht.

    Auf dem Weg nach Kisseljowsk – überall liegt der Gestank von Teeröl und brennender Kohle in der Luft / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela
    Auf dem Weg nach Kisseljowsk – überall liegt der Gestank von Teeröl und brennender Kohle in der Luft / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela

    „Du könntest versuchen, das Ofenrohr von unten zu putzen, damit er besser zieht – dann ist es vielleicht nicht ganz so schlimm“, schlägt Natalja vor.

    „Glaubst du, das hätte ich noch nicht?“ Ljoscha gestikuliert heftig mit den rußschwarzen tätowierten Armen. „Wir haben schon zweimal den Schornsteinfeger kommen lassen, damit der alles durchputzt, das hat überhaupt nichts gebracht. Danach ist aus dem Schornstein eine Ratte auf meine Tochter gefallen, ihr direkt auf Kopf! Da fasst man besser nichts an!“

    Damit der Schimmel sich wenigstens nicht ausbreitet, raten die Kommunalbehörden, häufiger zu lüften – aber das geht auch nicht: Draußen schwirrt Kohlestaub, und das Haus wird sowieso schon nicht warm. Die Temperatur in den Wohnungen sei in den letzten Jahren stetig gesunken, sagen die Bewohner. Das liege an der schlechten Qualität der Kohle in den Heizkesseln – die schaffe keine Wärme, sondern nur permanente Kopfschmerzen.

    Luftverschmutzung, schlechte Wasserqualität, Krebserkrankungen – das alles führen die Umweltspezialisten und die Stadtbewohner auf die Kohleförderung aus dem Tagebau zurück. 

    Zaun vor dem Tagebau in Kisseljowsk – hier ist alles in diesen besonderen Smog eingehüllt, der aus den Schloten der Kraftwerke, Kohlekessel und Fabriken aufsteigt / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela
    Zaun vor dem Tagebau in Kisseljowsk – hier ist alles in diesen besonderen Smog eingehüllt, der aus den Schloten der Kraftwerke, Kohlekessel und Fabriken aufsteigt / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela

    Der Wechsel von den Minen zum Tagebau vollzog sich hier in den 1990er Jahren, die Regierung begründet ihn nach wie vor mit der Sicherheit der Bergarbeiter: Beim Tagebau wird niemand verschüttet. Aber das Verfahren zerstört Acker- und Waldflächen: Ganze Landstriche verwandeln sich in Mondlandschaften.

    Beim Tagebau wird niemand verschüttet

    Im Süden des Kusbass, im Umkreis von Nowokusnezk, gibt es dutzende Tagebaugebiete und Schwerindustrieunternehmen. Hier ist alles in diesen besonderen Smog gehüllt, einen trüben Dunst, der aus den unzähligen Schloten der Kraftwerke, Kohlekessel und Fabriken aufsteigt.

    „Zu Sowjetzeiten war der Kusbass ökologisch betrachtet eine der besseren Regionen“, erzählt uns Maxim Utschwatow, der Gründer des Portals Otkryty Gorod [dt. Offene Stadt]. „Die Kohle wurde überwiegend unter Tage gefördert, das verursachte weniger Staub, Tagebau gab es kaum. Die Kohle ging vor allem in den Eigenbedarf der Region: in die Metallindustrie und die Kraftwerke hier in Kusbass. Aber in den letzten zehn Jahren haben sich die Prioritäten verschoben: Mittlerweile fördern wir die Kohle einfach nur und verkaufen sie dann ins Ausland.“

    In Wirklichkeit wurden auch in der Sowjetunion Tagebauanlagen errichtet, allerdings nicht in Stadtnähe. Batschatski ist eines davon, es gehört zu den größten Russlands und ist bis heute nicht erschöpft. 1949 eröffnet, gilt sie mittlerweile als eine lokale Sehenswürdigkeit: Die Halden von Batschatski sieht man schon von Weitem, insgesamt erstreckt sich der Tagebau über zehn Kilometer.

    Auf dem Grubengrund hätten locker das Hauptgebäude der MGU und einige Hochhäuser aus Moskau City Platz

    Wir kämpfen uns durch Schneemassen und Berge von Bauschutt bis zum Grubenrand von Batschatski vor. Die Grube ist fast 300 Meter tief. Auf dem Grund hätten locker das Hauptgebäude der MGU und einige Hochhäuser aus Moskau City Platz. Oben dröhnen und poltern tonnenschwere Muldenkipper und Bagger, im dichten Kohlestaub und Methan wirken sie wie Spielzeugautos.

    Die Häuser am Rand der Siedlung sind etwa einen Kilometer von den Abraumhalden entfernt; theoretisch wurde die Schutzzone für solche Objekte also beachtet. Dennoch ist die Siedlung von einer dünnen Kohlestaubschicht überzogen – und die dringt durch jede noch so schmale Ritze in die Häuser, außerdem sind die Sprengungen auf dem Tagebau manchmal so heftig, dass sie anthropogene Erdbeben auslösen. Das bislang stärkste ereignete sich 2013 und lag bei 6,1 Grad auf der Richterskala. Unterirdische Erschütterungen waren sogar in allen benachbarten Regionen spürbar, im Kusbass wurden etwa 5000 Häuser beschädigt. Daran, dass die aktive Seismik in Batschatski menschengemacht ist, zweifeln weder die Wissenschaftler noch die Stadtbewohner. Die Risse in den Häusern sind noch heute zu sehen.

    Seit dem Frühling 2019 gibt es im Städtchen Parnikowka einen unterirdischen Brand / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela
    Seit dem Frühling 2019 gibt es im Städtchen Parnikowka einen unterirdischen Brand / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela

    Zurück in Kisseljowsk. Ein aktiver Tagebau qualmt mitten in der Stadt. Doch wir bemerken zunächst nur die schwarz-weißen Berge vom abgebauten Gestein und die BelAZ, die auf ihren Ladeflächen brennende Kohle abtransportieren.

    „Der gesundheitsschädlichste Job im Tagebau ist Baggerfahrer“, sagt Natalja. „Die arbeiten ganz unten und atmen bis zu zwölf Stunden lang Methan und Qualm ein, kaum einer von ihnen wird 60. Die BelAZ-Fahrer kommen wenigstens zwischendurch mal hoch und können kurz Luft schnappen, die haben es etwas besser. Mein Mann fährt schon 17 Jahre auf seinem BelAZ , alle staunen, dass er noch so gut aussieht, aber vor kurzem haben auch bei ihm die Bursitiden angefangen, das sind Schleimbeutelentzündungen in den Gelenken. Er hat irrsinnige Schmerzen, aber er arbeitet weiter, was soll man sonst machen?“

    Natalja führt uns in eine graue Sackgasse, an deren Ende allmählich eine große Schutthalde ansteigt: ein altes Grubenfeld. In den 2000er Jahren wurden die Stollen aufgegeben und die obere Erdschicht teilweise direkt freigelegt, um an die Kohlevorkommen zu gelangen. Die Einheimischen sagen, das gängige Verfahren, die Tagebauanlagen freizulegen, geht heute so: Die obere Schicht wird weggesprengt, den Rest besorgen dann die Bagger und Muldenkipper, und das, bis alle Schichten verwertet sind.

    „Hier kommt man an den Grubenhang von Fukushima, so nennen wir diesen Abschnitt“, erzählt Natalja. „Aber seien Sie vorsichtig, ein falscher Schritt und Sie stürzen rund hundert Meter in die Tiefe – da findet man Sie so schnell nicht wieder.“

    Der Tod ist hier eine Erlösung

    Am Abhang von Fukushima eröffnet sich die Aussicht auf ein schwarzes Loch mit einem Durchmesser von zwei Kilometern, dessen Grund vor lauter Qualm, Staub und Gasen kaum auszumachen ist. Das Atmen fällt schon hier schwer, nicht auszudenken, wie es unten sein muss, wo die roten Bagger ständig neue Kohle auf die Tragflächen der Muldenkipper hieven. 

    „Der Tod ist hier eine Erlösung“, sagt Natalja. „Das ist doch nicht normal!“ 

    Im Umkreis von Nowokusnezk gibt es dutzende Tagebaugebiete und Schwerindustrieunternehmen / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela
    Im Umkreis von Nowokusnezk gibt es dutzende Tagebaugebiete und Schwerindustrieunternehmen / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela

    Im Frühling 2019 bemerkten die Stadtbewohner zum ersten Mal Rauch über Parnikowka im Bezirk Kisseljowsk, wo sich die angeblich geflutete Sohle des Schachts Kisseljowskaja befindet. Sie wandten sich an alle Instanzen: von der Lokalverwaltung bis hin zur UNO, denn mit einem unterirdischen Brand selbst fertigzuwerden, ist nicht möglich.

    „Anfangs hieß es, da brenne eine illegale Mülldeponie. Dann hat man das Ganze mit Baggern freigelegt und es wurde noch schlimmer“, erinnert sich Witali, der 100 Meter von dem Gelände entfernt wohnt. „Am Ende hat man immerhin Löcher in die Erde gebohrt, flüssigen Stickstoff und dann Wasser reingekippt und alles mit Lehm abgedichtet, aber unter der Erde brennt es trotzdem weiter.“

    Witali ist einer der Verfasser jener Videobotschaft, er erzählt uns, danach hätte jemand das Haus gegenüber in Brand gesteckt. „Entweder haben die sich geirrt oder sie wollten mir nur Angst einjagen, es ist jedenfalls nochmal gutgegangen. Ich habe mir jetzt eine Kamera am Fenster installiert, da kommt keiner so leicht ans Haus.“ 

    Anfangs hieß es, da brenne eine illegale Mülldeponie

    Wir gehen auf das Gelände, das trotz Frost irgendwie seltsam aussieht: Der Schnee bildet kleine Höcker, stellenweise sind schwarze Erde und Lehm zu sehen, die wegen der unterirdischen Hitze auch bei minus zehn Grad noch weich sind. Wenn man eine Handvoll nimmt, tritt sofort Wasser aus. 

    Plötzlich kommt ein lauter Knall vom nächstgelegenen Tagebau. Die Einheimischen drehen sich nicht einmal um – die nächste Schicht wird weggesprengt, sie sind es gewohnt. 

    Siedelt doch die Leute um, dann könnt ihr euch da meinetwegen blöde graben

    „Wir sind ja alle keine Kinder, wir sind nicht blöd, uns ist schon klar, dass die Kohle gefördert werden muss. Mein Vater arbeitet auf dem Tagebau da drüben“, Witali deutet mit der Zigarette in die Richtung, aus der es eben geknallt hat. „Auch die junge Frau, die in dem Video die Erklärung verliest, arbeitet auf einem Tagebau, aber sie hatte keine Angst, an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir verstehen alles, aber so kann man nicht leben. Natürlich soll der Tagebau in Betrieb bleiben, aber siedelt doch die Leute um, dann könnt ihr euch da meinetwegen blöde graben.“ 

    Die Menschen fordern nicht die Schließung der Unternehmen sondern nur die EInhaltung von Umweltstandards und Arbeitnehmerrechten / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela
    Die Menschen fordern nicht die Schließung der Unternehmen sondern nur die EInhaltung von Umweltstandards und Arbeitnehmerrechten / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela

    In Kisseljowsk, das kreuz und quer von Steinbrüchen durchfurcht ist, arbeitet der Großteil der Bevölkerung in der Bergbauindustrie, deswegen fordern die Leute auch keine Schließung der Unternehmen, sondern vor allem die Einhaltung der Umweltstandards und der Arbeitsrechte der Bergarbeiter. 

    „Das Leben der Leute hier könnte so viel besser sein, wenn sich die Kohleunternehmen an die Umweltstandards halten würden“, sagt Maxim Utschwatow. „Aber solange alle nur ihren Profit im Kopf haben, wird sich nichts ändern, die Lage wird sich nur verschlimmern.“ 

    Auf unserer Rückfahrt kommen wir an der Verladestelle vorbei. Wir sehen Häuserfassaden – so schwarz wie die hier abgebaute Kohle. Graue Hunde bellen uns hinterher. Am Straßenrand stehen nachdenkliche Kinder, deren Wangenröte mit Kohlestaub verdeckt ist.

    Quelle: Takie Dela
    Übersetzung: Maria Rajer
    Erschienen am 18.02.2020

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