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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Mediamasterskaja #2: „Allein die Wahrheit zu sagen, ist politisch“

    Mediamasterskaja #2: „Allein die Wahrheit zu sagen, ist politisch“

    Was macht es mit dem Journalismus, wenn der Staat immer schärfer gegen unabhängige Medien vorgeht? In der zweiten Folge des Mediamasterskaja-Podcast diskutieren der russische Journalist Maxim Trudoljubow und sein belarussischer Kollege Alexander Klaskowski diese Frage.

    In Russland wie Belarus geraten unabhängige Medien derzeit unter immer stärkeren Druck – wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen. In Russland haben nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny im Januar/Februar 2021 und vor der Dumawahl im September die Maßnahmen gegen unabhängige Medien und Journalisten dramatisch zugenommen: Erst am vergangenen Freitag haben Behörden das Investigativmedium The Insider zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. Zuvor waren der Chefredakteur und weitere Redakteure des Onlinemagazin Projekt ebenfalls auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt worden. Genauso wie das Onlinemagazin VTimes und das reichweitenstarke unabhängige Portal Meduza.
    Gegen Journalisten anderer unabhängiger Medien wurden mitunter Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redakteure des Studierendenmagazins Doxa – sie hatten zu Solidaritätsprotesten für Nawalny aufgerufen, die Staatsanwaltschaft wertet das als „Aufruf an Minderjährige, an rechtswidrigen Handlungen und illegalen Demonstrationen“ teilzunehmen. 

    Die Situation in Belarus ist noch zugespitzter als in Russland: Die belarussischen Machthaber gehen seit mehr als einem Jahr gezielt gegen unabhängige Medien und Journalisten vor. Auch in den vergangenen zwei Wochen hat es in ganz Belarus wieder Durchsuchungen gegeben, sowie zahlreiche Festnahmen. 27 Journalisten befinden sich derzeit noch in Haft oder unter Hausarrest. Viele Medienschaffende haben das Land bereits verlassen, weil es nahezu unmöglich geworden ist, in Belarus seiner Arbeit nachzugehen. Es ist zu befürchten, dass Alexander Lukaschenko die Strukturen des unabhängigen Journalismus vollständig zerschlagen will. 

    In unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) begleiten wir Medienprozesse in Russland und Belarus kritisch und erörtern sie mit unterschiedlichen Akteuren. In der ersten Folge diskutieren die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt geprägt hat.

    In der zweiten Folge fragen wir den russischen Journalisten Maxim Trudoljubow und seinen belarussischen Kollegen Alexander Klaskowski, inwiefern der starke Druck auf Medien den unabhängigen Journalismus in beiden Ländern beeinflusst. Wir bringen einige Auszüge aus dem russischsprachigen Podcast in deutscher Übersetzung.

    Alexander Klaskowski: Ich bin Alexander Klaskowski und arbeite bei der Nachrichtenagentur BelaPAN. Das ist eine unabhängige Nachrichtenagentur, was für Belarus untypisch ist, weil man den nichtstaatlichen Medien bei uns, offen gesagt, bereits den Todesstoß versetzt. Bei BelaPAN leite ich die analytischen Projekte, außerdem gelte ich als Medienexperte. Seinerzeit habe ich an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius unterrichtet und Workshops unter der Schirmherrschaft des Belarussischen Journalistenverbands geleitet. Manchmal gebe ich Kommentare zu Themen, die mit Medien zusammenhängen. 

    Maxim Trudoljubow: Mein Name ist Maxim Trudoljubow. Ich habe viele Jahre für die Zeitung Vedomosti gearbeitet. Das ist ein Wirtschaftsblatt, das wir 1999 gegründet haben. Vor ein paar Jahren habe ich wegen des Gesetzes, das im Wesentlichen ausländischen Verlegern und Konzernen verbietet, Eigentümer von Medienunternehmen in Russland zu sein, dort gekündigt. Ich habe für ausländische Verlage, unter anderem für die New York Times, geschrieben. Später fing ich an, mit Meduza zusammenzuarbeiten, wo ich seit über einem Jahr das Projekt Idei [dt. Ideen] leite. Als Redakteur des Projekts The Russia File arbeite ich außerdem mit dem amerikanischen Kennan Institute zusammen. 

    Einerseits ist der Bereich der unabhängigen Medien in Russland ziemlich aktiv und entwickelt sich selbst heute noch weiter, aber er ist nicht sehr groß. Unabhängige Medien überleben zum Großteil dank privater Spenden, das gilt auch für das unabhängige Onlinemedium Meduza, mit dem ich zusammenarbeite. Als Meduza zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurde, war das ein harter Schlag für das Budget [Meduza waren damit unter anderem wichtige russische Werbekunden weggebrochen – dek]. Die Verleger haben darüber nachgedacht, die Zeitung zuzumachen, aber dann gingen sie das Risiko ein und veranstalteten eine Spendenkampagne. Kurzum, bislang konnte das Medium überleben.

    Mediamasterskaja: Unser heutiges Thema ist Objektivität im Journalismus, die nächste Frage richtet sich vermutlich vor allem an Alexander: Alexander, wie ist Ihre Einschätzung, kann der Journalismus unter den derzeit gegebenen Umständen in Belarus objektiv bleiben?

    Alexander: Wenn ich mir einen Schlenker in die Theorie erlauben darf: Ich denke, Objektivität im Journalismus ist ein Mythos. Ich will jetzt nicht zu sehr in die Tiefe gehen, aber völlig objektiven Journalismus gibt es nicht. Außerdem gibt es sehr unterschiedlichen Journalismus. Es gibt einen Journalismus der Fakten und einen Journalismus der Meinungen. Wenn wir von einem Reporter sprechen, dann ja, aber er sollte meiner Meinung nach weniger objektiv, sondern vor allem unvoreingenommen sein. Also keine Fakten verschweigen, nichts verfälschen und so weiter. Das ist eine etwas anders gelagerte Forderung. Ein Reporter sollte sich also bemühen, unvoreingenommen zu sein. Meinetwegen, objektiv zu sein. Einigen wir uns auf diesen Begriff. 
    Wenn es sich aber um einen Kolumnisten handelt, dann versteht es sich von selbst, dass es lächerlich wäre, von ihm Objektivität zu verlangen. Der Clou seiner Texte ist ja gerade der subjektive Blick, die Meinung eines Menschen, der den Nagel auf den Kopf trifft. Und die Menschen, seine Leser schätzen gerade das – wie er die Dinge wahrnimmt, beurteilt, Prognosen für gesellschaftliche Ereignisse stellt.

    Was den Einfluss der politischen Situation betrifft: Ja, sie hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht. Es ist allgemein bekannt, dass Journalisten freiheitsliebende Menschen sind, und wenn man sie in die Ecke treibt … Wenn das Regime sie, umgangssprachlich ausgedrückt, fertigmacht, dann ist klar, dass sie dieses Regime nicht gerade lieben werden. Und das schlägt sich natürlich auch in den Texten nieder. 

    Ja, die politische Situation hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht

    Ich sehe in einer Reihe von Medien eindeutig expressive Überschriften, die in Hinsicht auf die Regierung klar negativ aufgeladen sind. Obwohl das im Idealfall nicht so sein sollte. Aber Menschen, die Tag für Tag fertiggemacht werden – kurzum, rein menschlich kann ich es verstehen. Der professionelle Anspruch verlangt, dass man sich unbefangen verhält, aber das klappt nicht.

    Maxim, verfolgen Sie die Situation in Belarus? Halten Sie es für möglich, unter dem Regime, unter dem Ihre Kollegen gerade arbeiten, unbefangen zu bleiben?

    Maxim: Als erstes möchte ich im Namen der russischen Medien unser Mitgefühl und generell unser allgemeines Verständnis ausdrücken. Wir machen uns natürlich große Sorgen wegen all dem, was in Belarus passiert. Ich verfolge es mit, soweit es mir möglich ist.

    Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann. Ich denke auch, dass es psychologisch wirklich schwer ist. Allein schon aufgrund des großen Drucks auf alles, was im weitesten Sinne unabhängig ist: Sei es politischer Aktivismus, Medien oder irgendeine ehrenamtliche Tätigkeit, die nicht unmittelbar vom Staat genehmigt wurde. Im Prinzip ist es in existentieller Hinsicht eine sehr schwierige Situation, deswegen kann man auch keine überragende Objektivität fordern. 

    Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann

    Zur Objektivität als solcher würde ich gern noch sagen, dass sie in der Form, wie wir sie heute überwiegend aus den westlichen Medien kennen, noch nicht lange existiert. Als die ersten Medien entstanden, die noch nicht so genannt wurden, konnten sie politische Pamphlete oder irgendwelche Blättchen sein – unabhängig und unvoreingenommen waren sie nie. Ganz im Gegenteil. Es waren immer sehr scharfe politische Statements. Und das zog sich über knapp 200, 300 Jahre lang so hin. Erst im 20. Jahrhundert, hauptsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Mittelstand sehr schnell wuchs und die Wirtschaft sich entwickelte, entstand vor allem in den USA ein großer Markt an Menschen, denen objektive Information wichtig war.

    Es ist also eine ziemlich junge Tradition, die erst einige Jahrzehnte besteht. Deswegen lässt sich schwer behaupten, die Objektivität sei eine immanente Eigenschaft von Medien. Objektivität ist eine komplizierte Sache. Es ist eine philosophische Frage, ob es sie überhaupt geben kann. Wir sind alle Menschen mit eigenen Ansichten und Meinungen. 

    Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass ich mich der Tradition objektiver Medien verpflichtet fühle und bei dem, was ich mache, versuche, auf Quellen zu verweisen und alle zu Wort kommen zu lassen: Bei einem Konflikt müssen alle Parteien zu Wort kommen, bei einer Story verschiedene Blickwinkel aufgezeigt werden. Geht es um den Staat, wird auch der Blickwinkel des Staates erwähnt, und so weiter. Insgesamt pflegt man also auch in Russland weiterhin diese Arbeitstradition, die schon nach Objektivität strebt. Hauptsächlich in unabhängigen Medien. Auch wenn dieser Sektor sehr klein ist, wird diese Tradition im Großen und Ganzen bewahrt. Und sie wird weiterleben, wie mir scheint.

    Liebe Kollegen, wenn Sie vom Journalismus der Fakten und nicht der Meinungen sprechen, könnten Sie vielleicht eine Art Checkliste für Journalisten nennen, wie man objektiv bleibt, unabhängig von der Situation, die gerade entsteht? Wie schafft man es, dass die eigene politische Haltung die „trockenen“ Fakten nicht überwiegt?

    Alexander: Banal gesprochen, ist es eine Frage der Professionalität. Wir alle haben irgendwo irgendwas gelernt. Dort wurde uns aus professioneller Sicht erklärt, was Fakten sind, wie man mit ihnen umgeht, dass man sie nicht manipulieren darf und so weiter. Kurzum, es ist einfach wichtig, sich an diese Kriterien zu halten und seine Emotionen davon zu trennen.

    Etwas anderes ist es, wenn es – wie im heutigen Belarus – schon eine politische Haltung ist, die Wahrheit zu sagen. Beispielsweise ist das Berichten über die Proteste bereits eine politische Haltung , denn das geht mit Risiko einher. 

    Im heutigen Belarus ist es schon eine politische Haltung, die Wahrheit zu sagen

    Derzeit wird ein Beschluss vorbereitet, demzufolge das gesamte Material von tut.by – eines bereits zerschlagenen und gesperrten Portals, 15 Mitarbeiter sind bereits in Haft – als extremistisch eingestuft werden soll. Das bedeutet zum Beispiel, dass jemand, der vor zehn Jahren einen Artikel von tut.by abgetippt oder verlinkt hat, von heute auf morgen zum Extremisten erklärt werden kann. 

    Aber ich schweife ab. Worauf ich hinaus will, ist, dass es heute schon ein Risiko darstellt und von politischer Haltung zeugt, einfach nur ehrlich und objektiv zu berichten über das, was passiert, und an Themen zu rühren, die der Regierung nicht passen. 

    In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es sehr wichtig ist, den Kontext des Materials professionell darzustellen. Ein konkretes Beispiel ist die Pressekonferenz mit Roman Protassewitsch neulich. Hier kommt die Ethik mit ins Spiel – der Journalist der BBC ist gegangen. Einige westliche Diplomaten sind gegangen, weil sie fanden, dass da ein Gefangener vor laufender Kamera gefoltert werde. Demnach sei es unethisch, überhaupt etwas zu senden. BelaPAN, wo ich arbeite, hat das Material gesendet, wofür uns sowohl einige Kollegen als auch einfach ein politisiertes Publikum auf Facebook attackiert haben. 

    Es ist sehr wichtig, den Kontext professionell darzustellen

    Aber wir haben in unseren Berichten immer den Kontext betont: Wer ist Protassewitsch, wie ist er in diese Pressekonferenz hineingeraten? Wir haben Details wie die Meinung seines Vaters ergänzt, der erklärt, dass er einige Dinge, milde ausgedrückt, nicht aus freien Stücken sagt. Sprich, wir haben die Information gesendet, denn sie zu verschweigen, wenn es doch den Fakt, die Pressekonferenz vor unserer Nase, gibt – das wäre doch unprofessionell.

    Maxim: Da stimme ich Alexander zu. Es ist zweifellos eine sehr schwierige Situation, wenn so ein Druck vonseiten des Staates ausgeübt wird. In Russland ist es nicht ganz so schlimm, aber die Situation ist sehr dynamisch, und sie entwickelt sich im Großen und Ganzen in dieselbe Richtung.

    Eigentlich hindert merkwürdigerweise die Regierung die Journalisten sehr oft selbst daran, objektiv zu berichten. Indem sie beispielsweise ein Medium zum ausländischen Agenten erklärt, hindert sie es einfach daran, seine Arbeit zu machen. Das ist ja quasi auch ihr Ziel. Das leuchtet ein. Aber das Medium wird weniger objektiv, weil es viel schwieriger wird, Kommentare von Staatsbeamten zu bekommen oder sogar von Wirtschaftsvertretern, die Angst haben, mit den falschen Leuten in Verbindung gebracht zu werden. Im Endeffekt wird die journalistische Arbeit erschwert. 

    Es wird immer schwieriger professionelle Standards zu befolgen

    In dieser Situation war beispielsweise die Zeitung VTimes. Das sind meine Kollegen, die früher bei Vedomosti gearbeitet haben. Nachdem Vedomosti von einem kremlnahen Verleger aufgekauft wurde, hatten sie ihre Unabhängigkeit eingebüßt, die Leute haben gekündigt, angefangen wieder zu arbeiten und „wurden kürzlich zu ausländischen Agenten“. Sie haben zugemacht. Nicht nur, weil sie kein Geld verdienen konnten, sondern weil ihnen bewusst war, dass sie nicht objektiv sein konnten. Das sind alles Menschen, die in der Tradition eines objektiven, faktenbasierten Journalismus stehen, der zwingend voraussetzt, dass man bei jeder Story mit allen Seiten spricht. Deswegen haben sie zugemacht. Diese Standards, diese Regeln zu befolgen, wird immer schwieriger. 

    Auch das Investigativmedium „The Insider“ (hier Chefredakteur Roman Dobrochotow) wurde vor Kurzem von der russischen Regierung zum ausländischen Agenten erklärt / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Auch das Investigativmedium „The Insider“ (hier Chefredakteur Roman Dobrochotow) wurde vor Kurzem von der russischen Regierung zum ausländischen Agenten erklärt / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Alexander: Genau, ich würde Maxims Gedanken gern noch weiterführen. Rein technisch oder technologisch läuft es folgendermaßen: Wenn in Belarus Webseiten gesperrt oder andere Medien dicht gemacht werden, wandert die journalistische Arbeit, der Content, zu anderen Plattformen. Insbesondere zu Telegram (der beliebtesten Plattform unter diesen Umständen), weil man es nicht nicht einfach dichtmachen kann. Aber auf Telegram herrscht ein ganz anderer Stil. Ein viel schärferer. Und weniger Faktencheck. Ich möchte den Gedanken, den Maxim schon formuliert hat, nochmal betonen: Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden. Sie wollen die professionellen Webseiten nicht haben und bekommen dafür Telegram, was überhaupt keine Diplomatie kennt und grob gesagt, das Regime einfach kurz und klein hackt, es von vorn bis hinten zerlegt. 

    Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden

    Maxim: Ja, die sozialen Medien sind noch ein Thema für sich.

    Die Statements in den sozialen Medien, ein aufgenommenes Video, ein Podcast – das alles verlagert den Schwerpunkt auf eine möglichst große Reichweite, auf die Idee, die Fakten dem Publikum – einem großen Publikum – möglichst zugänglich zu präsentieren. Dafür muss vereinfacht werden, müssen Ecken und Kanten abgeschliffen werden, Dinge eher attraktiv und anziehend, statt scharfsinnig und genau dargestellt werden. Die Entwicklung geht, objektiv betrachtet, auf der ganzen Welt in diese Richtung. Bei Weitem nicht nur in Russland oder Belarus. 

    Aber vor dem Hintergrund der Ereignisse bei uns bekommen wir gewissermaßen eine Verdopplung aller Effekte, weil wir nämlich noch den staatlichen Druck haben, neben dem Marktdruck, der Veränderung des Publikumsgeschmacks, dem Auftauchen neuer Plattformen, die ausgesprochen verlockend sind, auch für Journalisten. Das steht außer Frage. Weil sie nämlich einen sehr schnellen und wirkungsvollen Auftritt bieten. Aber all diese Dinge schaden den ursprünglichen Standards. Deswegen verwischen die Standards, leider. 

    Alexander: Ich möchte noch Folgendes sagen: Wenn wir mit einer gewissen Skepsis über die Objektivität und andere Standards sprechen, bedeutet das nicht, dass diese nicht wichtig wären. Ich würde folgende Parallele ziehen: Es gibt die Normen der Moral, aber wir befolgen sie nie zu hundert Prozent, ansonsten wären uns allen längst Engelsflügelchen gewachsen. Wir sündigen, wir verstoßen immer gegen irgendwelche Regeln. Aber das bedeutet nicht, dass man die moralischen Normen in die Tonne treten kann. Es existieren trotzdem Begriffe wie „ein anständiger Mensch“ oder ein „niederträchtiger Mensch“, mit dem niemand etwas zu tun haben möchte. Genauso ist es mit dem Journalismus. Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest. 

    Soziale Netzwerke, Blogs, Telegram-Kanäle – das alles senkt einerseits die journalistischen Standards. Andererseits könnte man sie doch auch als Quellen glaubwürdiger Information betrachten, gerade vor dem Hintergrund, dass die Redaktionen der unabhängigen Medien schließen und die Menschen trotzdem irgendwoher ihre Information beziehen, Nachrichten lesen müssen. Können die neuen Medien die Redaktionen ersetzen, die uns in den vergangenen 10, 20 Jahren auf dem Laufenden gehalten, Analysen und nicht nur Nachrichten geliefert haben?

    Maxim: Qualitativ hochwertige Information wird immer mehr zu einer „Luxusware“. Wirklich gute Qualität kostet. Menschen, für die sie lebenswichtig ist, sind bereit zu zahlen. Menschen, für die sie nicht wichtig ist, werden nie dafür zahlen. Und dann gibt es noch die Menschen, die aus Prinzip sagen, sie würden nie für Inhalte aus dem Internet zahlen. In diesem Bereich ist es wirklich die persönliche Entscheidung eines jeden einzelnen.

    Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest

    In der modernen Welt, wo es keine großen Zeitungen mehr gibt, naja, es gibt sie natürlich schon, aber ihr Einfluss ist nicht vergleichbar mit dem von früher. Nirgendwo. Nicht nur in Russland. Nicht nur in Belarus. Das ist überall so. Die Welt ist sozusagen in Stückchen zerfallen und jeder entscheidet selbst, wie er leben möchte, wie er mit Information umgehen möchte. 

    Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen. Ich habe aber den Verdacht, dass die meisten es nicht tun werden. Im Endeffekt finden sich die Menschen umgeben von qualitativ immer schlechterer Information wieder, immer weiter von der Welt der Fakten entfernt, in der wir mehr oder weniger existieren. Und dann wundern wir uns noch, warum sich Menschen beispielsweise nicht impfen lassen wollen. Warum sie irgendwelche komischen Geschichten, Verschwörungstheorien und so weiter glauben. 

    Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen

    So ist die moderne Welt. In ihr gibt es zum einen harte Fakten und Analysen, Information von höchster Qualität, die nur wenigen zugänglich sind. Und dann geht es immer weiter nach unten. Außerdem gibt es noch die Propaganda, die auf Hochtouren läuft. Ganz unterschiedliche Propaganda. Nicht nur bei uns im Land, das ist eine sehr verbreitete Erscheinung auf der ganzen Welt. 

    Das Bild, das wir bekommen: Von der höchsten bis zur niedrigsten Qualität gibt es alles in ein und derselben Welt, in ein und derselben Stadt, bis ins Private hinein. Einer konsumiert das eine, der andere das andere. Kurzum, jeder entscheidet für sich selbst.

    Alexander: Ich möchte sagen, dass ich ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus bin und überzeugt, dass er unersetzlich ist. Und zwar nicht aus beruflichen Ambitionen oder Stolz, sondern aufgrund dessen, was ich beispielsweise bei der Arbeit sehe. 

    Ich ergreife nochmal die Gelegenheit für die Nachrichtenagentur BelaPAN zu werben. Kollegen aus anderen Häusern haben in den letzten Jahren angefangen, von einer Monetarisierung des Contents zu sprechen. Darüber können wir nur lachen, weil wir vom ersten Tag an Information verkaufen – wir leben davon. Andere Medien hatten uns abonniert, solange es sie in Belarus noch gab, jetzt sind es vor allem ausländische Botschaften. Wenn ich mit den Diplomaten spreche, sagen sie: „BelaPAN – das ist verifizierte Information, das schätzen wir, und dafür zahlen wir.“ Es gibt also Blogger wie Sand am Meer, aber sie entscheiden sich für BelaPAN, weil ihnen diese Blogger gestohlen bleiben können. 

    Ich bin ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus und überzeugt, dass er unersetzlich ist

    Ich breche es natürlich etwas herunter, weil es eine Reihe von Bloggern gibt, die eigentlich professionelle Journalisten sind, aber das Leben zwingt sie einfach dazu, sich als Blogger „auszugeben“, bei Telegram oder in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Aber dort produzieren sie exakt dasselbe, was sie gewohnt sind und gelernt haben zu produzieren.

    Für manche ist das sicher zugänglicher und es imponiert ihnen mehr, wie Maxim schon sagte. Aber ich sehe auch, dass eigenverantwortliche, selbstständige Menschen, die es gewohnt sind, die Wirklichkeit kritisch zu durchdringen und selbst Entscheidungen zu treffen – dass sie zu den klassischen Medien tendieren, oder zu Bloggern, die in Wirklichkeit professionelle Journalisten sind.

    Lassen Sie uns ein Jahr nach vorn springen und uns vorstellen, was mit dem belarussischen und dem russischen Journalismus sein wird, wenn man die Krisen berücksichtigt, die sie gerade durchleben. Lassen sich Prognosen machen? Und wenn ja, welche?

    Alexander: Was Belarus betrifft, sind die Prognosen leider nicht sehr erfreulich. Denn die Repressionen dauern an, die Gerichtsprozesse dauern an, knapp 30 Journalisten befinden sich gerade in Haft. 

    Vieles hängt von der Entwicklung der politischen Lage ab. Wenn die Regierung doch noch versucht, mit der EU und Washington das Gespräch zu suchen, wird es vielleicht ein kleines bisschen leichter, obwohl mit einer Liberalisierung natürlich nicht zu rechnen ist. Deswegen werden die Medien – ich rede von den unabhängigen Medien (den staatlichen Journalismus klammere ich gleich aus, denn ich würde ihn nicht als Journalismus bezeichnen, es ist die reinste Propaganda, die immer tiefer sinkt, sodass sie überhaupt nicht mehr Gegenstand einer professionellen Diskussion sein kann), also die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem aggressiven, hochaggressiven Umfeld zu überleben, irgendwelche neuen Kanäle zur Informationsvermittlung erfinden, weil das in der Gesellschaft gefragt ist. 

    Die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem hochaggressiven Umfeld zu überleben

    Die Belarussen haben bewiesen, dass sie eine, wenn auch noch nicht gänzlich so doch zunehmend politische Nation sind. Und Bürger brauchen keine Propaganda, sondern professionelle, durchdachte, vielseitige Information. Das ist gefragt, und deswegen werden die belarussischen Medien weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form. 

    Positive Aussichten sind nur bei einem Regimewechsel denkbar, bei einem Wandel des gegenwärtigen Systems, das sich mittlerweile schlicht in einen Polizeistaat verwandelt hat.

    „Die Regierung tut gerade alles, um tut.by zu vernichten, sie verpassen der Plattform gerade den Todesstoß.“ / Foto ©  tut.by
    „Die Regierung tut gerade alles, um tut.by zu vernichten, sie verpassen der Plattform gerade den Todesstoß.“ / Foto © tut.by

    Alexander, was denken Sie, wenn wir die positiven politischen Szenarien annehmen – wird tut.by in irgendeiner Form wieder zum Leben erwachen?

    Alexander: Die Regierung tut gerade alles, um die Plattform zu vernichten, sie verpassen ihr gerade den Todesstoß. Deswegen wird die Regierung erstmal versuchen tut.by vollends zu erwürgen, die waren ein zu großer Reizfaktor für sie. 

    Die belarussischen Medien werden weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form

    Ich denke, es gibt die Möglichkeit, dass dieses Portal teilweise, natürlich nicht ganz, im Ausland wiederentstehen wird. Denn jetzt wurde tut.by ja lahmgelegt, weil sich der Content, soweit ich weiß, rein physisch auf einem Server in Belarus befand, den man ganz plump ausschalten konnte. Aber wenn der Server im Ausland wäre, wenn die Leute – und die Belarussen haben in dieser Hinsicht im vergangenen halben Jahr einen enormen Fortschritt gemacht – mit VPN, Psiphon und all diesem Schnickschnack umgehen können, dann werden sie, wie die Erfahrung Chinas, des Irans und anderer repressiver Regimes beweist, die Information finden. Das lässt sich nicht mehr unterbinden. 

    Maxim, vielleicht könnten Sie abschließend noch ein paar Prognosen über die Entwicklung des objektiven Journalismus in Belarus und Russland geben?

    Maxim: Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen. Das war’s. Das ist nicht besonders interessant. 

    Ich mache mir eher Gedanken über das Schicksal des faktenbasierten Weltbildes. Eines Weltbildes, das die Analytik ernstnimmt, das auf dem fußt, was man beweisen, und nicht auf dem, was man erfinden kann. Bis vor kurzem waren wir der Ansicht, dass Fakten existieren. Aber in den vergangenen 10, 15 Jahren beobachten wir, wie diese Überzeugung schwindet. Es ist seltsam, das zu sehen, aber es passiert vor unseren Augen, die Menschen finden es zuweilen viel interessanter, die Welt ganz anders zu sehen, als wir es früher mal, teils in der sowjetischen Schule, gelernt haben. 

    Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen

    Das ist ein globaler Prozess. Er hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: dem politischen Populismus, der Demokratisierung des Zugangs zu jeglicher Information, der Entwicklung der sozialen Medien, wo jeder Mensch längst selbst Autor, Journalist und Verfasser von Texten, Statements, Bildern und Tönen ist.

    Qualitativ hochwertige Information – das, was wir gewohnt sind als Standard zu setzen, als das einzig Wichtige zu betrachten, nennen wir es provisorisch „objektiver“, faktenbasierter Journalismus – wird heutzutage zu einem Gut für ein sehr kleines Segment der Gesellschaft.
    Wir leben in einer Welt, in der darüber gestritten wird, ob es überhaupt Fakten gibt, ob es überhaupt Objektivität gibt. In Wirklichkeit ist das das fundamentale Problem – weitaus mehr als das Schicksal der Medien in autoritären Staaten. Die autoritären Staaten sind in diesem Fall einfach ein Teil des Weltgeschehens und der Veränderungen auf der Welt.

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  • Viktor Scheiman

    Viktor Scheiman

    Viktor Scheiman ist eine der mächtigsten und unheimlichsten Figuren der belarussischen Politik. Er zählt zu den Hauptorganisatoren der politischen Repressionen der letzten 25 Jahre und war treuer Schildknappe Alexander Lukaschenkos, den er seit den ersten Tagen seiner Präsidentschaft begleitete. Am 15. Juni 2021 wurde die „Graue Eminenz“ jedoch überraschend von seinem Amt als Leiter des einflussreichen Verwaltungsamtes des Präsidenten der Republik Belarus entbunden.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Viktor Wladimirowitsch Scheiman ist Berufssoldat. Er war an den Kampfhandlungen der sowjetischen Truppen in Afghanistan beteiligt. 1990, als die Perestroika ihren Höhepunkt erlebte, war er Major und wurde als Volksabgeordneter in den Obersten Sowjet der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik gewählt. Dort lernte er Alexander Lukaschenko kennen, der ebenfalls Abgeordneter war. Diese ersten fünf Jahre verhielt er sich still, trat selten auf und vermied den Zusammenschluss mit jeglichen Fraktionen oder politischen Gruppen. Bereits damals war er kein Politiker, der die Öffentlichkeit suchte.

    Lukaschenkos Vertrauter

    Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Scheiman erst 1994 bekannt, als er als Mitglied von Lukaschenkos Wahlkampfteam direkter Zeuge jenes Ereignisses wurde, das später als „Attentat von Liosno“ in die Geschichte der belarussischen Präsidentschaftswahlen einging. Auf das Auto, in dem sich der Präsidentschaftskandidat Lukaschenko zusammen mit Iwan Titenkow und Viktor Scheiman befand, wurde angeblich geschossen. Die Ermittler und der Großteil der Medien kamen allerdings zu dem Schluss, dass das Attentat fingiert war, ziemlich ungeschickt obendrein, eventuell unter Beteiligung von Scheiman. Dennoch dürfte die Geschichte Lukaschenko bei den Wahlen zusätzliche Stimmen eingebracht haben.

    Nach der Wahl zum Präsidenten ernannte Lukaschenko Scheiman zum Staatssekretär des Sicherheitsrates der Republik Belarus. Dieser Rat koordinierte die Arbeit aller Sicherheitsbehörden.

    1995 wurde der beliebte Innenminister Juri Sacharenko gefeuert. Lukaschenko war besorgt, die Polizei könnte aus Solidarität zu ihrem Minister rebellieren und sich gegen ihn wenden. Deswegen wurde Scheiman unverzüglich zum Innenminister ernannt und blieb zwei Monate auf dem Posten, bis ein neuer Minister gefunden war. Damit zeigte Lukaschenko erstmals öffentlich, wer zu seinen engsten Vertrauten unter den Funktionären gehörte.

    Todesschwadron

    Mit Scheimans Namen verbindet man das sogenannte Todesschwadron. Diese Spezialeinheit zur Ermordung von Menschen entstand Mitte der 1990er Jahre. Zunächst war sie auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität ausgerichtet; „kriminelle Größen“, die Mitte der 1990er Jahre bedeutenden Einfluss erlangt hatten, verschwanden damals nicht selten spurlos. Bei einer Parlamentsrede am 4. August 2020 schwelgte Lukaschenko in Erinnerungen und erzählte von den ersten Jahren seiner Präsidentschaft: „Ich verlangte, dass man mir eine Liste der Banditen auf den Tisch legt und sie beseitigt […]. Und tatsächlich haben wir Minsk in einem halben Jahr von allen Banden gesäubert […]. Allein Scheiman und noch ein paar Männer, die mit Pistolen in der Hand durch die Stadt liefen und fuhren, um diese Arschlöcher zur Strecke zu bringen.“1

    Und dann kamen die Oppositionspolitiker an die Reihe. Am 7. Mai 1999 verschwand der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko spurlos. Im selben Jahr verschwanden am 16. September der ehemalige Vizepremier Viktor Gontschar und sein Freund Anatoli Krassowski.

    Die Ermittler kamen den potenziellen Tätern auf die Spur. Am 21. November 2000 wurde dem Innenminister Naumow ein Bericht seines Stellvertreters Nikolaj Lopatkin vorgelegt, in dem es heißt: „W. W. Scheiman erteilte Pawljutschenko die Anordnung, den ehemaligen Innenminister J. N. Sacharenko physisch zu vernichten […] Die Aktion der Ergreifung und des anschließenden Mordes wurde von Pawljutschenko – SOBR-Chef und Chef der Ersten Kompanie der Spezialeinheit – und vier seiner Männer ausgeführt […]. Analog dazu führte Pawljutschenko am 16. September 1999 die Ergreifung und Ermordung von W. I. Gontschar und A. S. Krassowski aus.“2

    Vom Verdächtigen zum Generalstaatsanwalt

    Was folgt, ist ein regelrechter Kriminalroman: Der Verdächtige Dimitri Pawlitschenko (so die korrekte Schreibweise seines Namens) wird verhaftet. Nach einem Verhör sprechen Generalstaatsanwalt Oleg Boschelko und KGB-Chef Wladimir Mazkewitsch bei Lukaschenko vor und bitten um die Erlaubnis, Scheiman festzunehmen. Als Scheiman erfährt, dass der SOBR-Chef verhaftet wurde, kann er sich ausmalen, dass ihm dasselbe droht. Also schickt er eine Spezialeinheit zum Untersuchungsgefängnis des KGB, um Pawlitschenko rauszuholen. Mazkewitsch kontert mit einer eigenen Spezialeinheit. Im Zentrum der Hauptstadt kommt es beinahe zu einer bewaffneten Auseinandersetzung.

    Der Ermittler Iwan Brantschel, der ebenfalls zum operativen Ermittlungsteam gehörte, erzählt: „Wir waren vier Mal da, um den Präsidenten davon zu überzeugen, dass Pawlitschenko und Scheiman Verbrecher sind. Erfolglos.“3 Lukaschenko befiehlt, Pawlitschenko zu ihm zu bringen, doch nach einem kurzen Gespräch mit ihm erteilt er den Befehl, ihn gehen zu lassen.
    Eine Erlaubnis, Scheiman zu verhaften, erteilt der Präsident nicht. Im Gegenteil: Am 27. November 2000 werden Generalstaatsanwalt Boschelko und KGB-Chef Mazkewitsch ihrer Posten enthoben und am Tag darauf wird Viktor Scheiman, der Hauptverdächtige in diesem Fall, zum Generalstaatsanwalt ernannt. Gleichzeitig wird die gesamte Infrastruktur für politische Ermittlungen vom Sicherheitsrat in die Generalstaatsanwaltschaft verlegt. Nun ist er dafür zuständig, den Anschuldigungen gegen sich selbst nachzugehen. Die Ernennung Scheimans zeugt davon, dass Lukaschenko den Fall so schnell wie möglich unter den Tisch kehren, alle Verdächtigen aus der Schusslinie nehmen und die Spuren verwischen wollte. Von da an verbindet Lukaschenko und Scheiman ein unsichtbares Band illegaler Handlungen.

    Zwischenzeitlicher Karriereknick

    2004 wird Scheiman de facto zum zweiten Mann im Staat, als er die Stelle des Leiters der Präsidialadministration bekommt. 2006 kehrt er auf den Posten des Staatssekretärs des Sicherheitsrates zurück, von dem er jedoch im Juli 2008 per Beschluss des Präsidenten wieder entfernt wird. Der engste Vertraute Lukaschenkos war in Ungnade gefallen. Offizieller Grund der Entlassung war eine Bombenexplosion am 4. Juli, Scheiman wurde Fahrlässigkeit vorgeworfen.

    Aber es ist offensichtlich, dass die Explosion nur einen Vorwand für die Entlassung darstellte. Die wahren Gründe lagen woanders: Wenn das Oberhaupt eines autoritären Regimes einem seiner Untergebenen zu sehr verpflichtet ist, erwachsen diesem daraus unweigerlich Probleme. Ein Alleinherrscher steht nicht gern in der Schuld, egal bei wem. Im Idealfall haben alle Beamten ihren Aufstieg ihm zu verdanken. Dann sind sie zuverlässig und ihm treu ergeben.

    Zur selben Zeit bekam Scheiman einen starken Konkurrenten, den Assistenten des Präsidenten in Angelegenheiten der nationalen Sicherheit: dessen Sohn Viktor Lukaschenko. Die Kontrolle über die Sicherheitsdienste fiel nun zunehmend in seine Hände. Denn natürlicherweise vertraute das Staatsoberhaupt seinem neuen Schützling mehr.

    Außerdem hatte Scheiman durch seine lange Zeit in hohen Positionen zu viele Beziehungen, zu viele Menschen waren von ihm abhängig, sein systemisches Gewicht wuchs. Auch das missfiel Lukaschenko.

    Zudem war 2008 das Jahr der ersten Versuche, die belarussischen Beziehungen mit dem Westen aufzubessern. Im April 2004 hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarates eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wurde, Scheiman aus der Regierung zu entlassen und ein Verfahren gegen ihn wegen Beteiligung an der Ermordung der genannten Oppositionspolitiker einzuleiten. Die EU verhängte Visa- und Finanzsanktionen gegen ihn. Womöglich war die Entlassung Scheimans ein Versuch Lukaschenkos, die Beziehungen mit dem Westen von Null zu beginnen.

    Leiter des Verwaltungsamtes des Präsidenten

    Aber der Status der Ungnade dauerte nicht lange an. Bereits 2009 wurde bekannt, dass Viktor Scheiman zum Assistenten des Präsidenten in Sonderfragen ernannt wurde. Als besonders vertrauenswürdige Person wurde er mit geheimen, sensiblen Aufträgen betraut. Unabhängige Medien mutmaßten, dass es sich um Waffenhandel und ähnliche Angelegenheiten handelte, die der Öffentlichkeit besser verborgen bleiben sollten.4 Beispielsweise betreute er die belarussischen Unternehmungen in Venezuela und später in Afrika.

    Im Januar 2013 ernannte Lukaschenko Viktor Scheiman schließlich zum Leiter des Verwaltungsamtes des Präsidenten. Hier ist erklärungsbedürftig, um was für einen Posten es sich genau handelte. Denn das Eigentum des Präsidenten, das vom Verwaltungsamt des Präsidenten kontrolliert wird, bildet eine besondere, in der modernen Welt unbekannte Form des Eigentums, wie es sie wohl nur im belarussischen Modell gibt. Am ehesten ist sie mit den 
    Apanage-Ländereien mittelalterlicher Monarchien vergleichbar.

    Doch anstatt sich, wie in anderen Staaten üblich, um die routinemäßigen Aufgaben der technischen Versorgung des Präsidenten und der Präsidialadministration zu kümmern, widmet sich das Verwaltungsamt des Präsidenten dem Handel. Zunächst hatte es sich die einträglichsten Immobilien in der Hauptstadt angeeignet, um sie als Büroräume zu vermieten. Bald kontrollierte es immer mehr profitable Unternehmen sowie den Import und Export bestimmter Güter (bspw. den Export von Holz aus dem Naturschutzgebiet Beloweschskaja puschtscha). Ebenfalls unter seine Kontrolle fallen die Getreide-, Kohle-, Holz-, Fisch-, Zucker-, Traktoren-, Tabak-, Alkohol- und Hotelindustrie, sowie ein Teil der Erdölindustrie. Außerdem handelt das Verwaltungsamt des Präsidenten mit Konfiskat, also mit ausländischen Waren, die vom belarussischen Zoll an der Grenze beschlagnahmt werden.

    Das alles geht einher mit Steuer- und Zollerleichterungen, die sich auf präsidiale Beschlüsse stützen. Nach Schätzung des ehemaligen belarussischen Ministerpräsidenten Michail Tschigir ist das Verwaltungsamt des Präsidenten die größte Handelsorganisation des Landes.5 Seit Beginn ihres Bestehens gibt es den Verdacht, dass ein Teil der Einnahmen aus seinen überbordenden Aktivitäten nicht ins Staatsbudget, sondern in einen Sonderfonds des Präsidenten wandert.6 Allerdings lässt sich das nicht überprüfen.

    Offenbar konnte so eine Behörde nur einem sehr zuverlässigen Menschen anvertraut werden. Und ein solcher war Scheiman. Er bekleidete den Posten acht Jahre, was sehr lange ist. Einige seiner Vorgänger wurden gefeuert, manche, wie Galina Shurawkowa, kamen sogar ins Gefängnis. Denn dieses Geschäftsmodell, das keinerlei Kontrolle unterliegt, ist ein fruchtbarer Boden für Korruption. Aber Scheiman konnte sich beherrschen.

    Abtritt des „letzten Mohikaners“

    Warum ist er nun zurückgetreten? Da Scheiman ein absolut verschlossener Mensch ist, der die Öffentlichkeit scheut und trotz hoher Staatsposten kaum Interviews gibt, kann man nur spekulieren.

    Es sind verschiedene Versionen im Umlauf. Häufig ist die einfachste Erklärung der Wahrheit am nächsten. Unabhängige Medien berichten, Scheiman habe gesundheitliche Probleme, was nicht dementiert wurde. Angeblich hat er eine Krebserkrankung und unterzieht sich einer Chemotherapie. Lukaschenko sagte, Scheiman habe mehrfach darum gebeten, zurücktreten zu dürfen. Als letzte Amtshandlung rang Lukaschenko Scheiman noch ab, einige begonnene Projekte zu Ende zu bringen – etwa auf Kuba, wo er sich seit Anfang Juli aufhält.

    Doch wie auch immer der Grund für Scheimans Rücktritt lauten mag, klar ist, dass sein Rückzug Wellen schlägt. Denn er ist nicht einfach ein hoher Beamter, sondern gewissermaßen ein Symbol der Unerschütterlichkeit des bestehenden Regimes. Der politische Analyst Juri Drakochrust äußerte in diesem Zusammenhang folgenden Gedanken: „Für viele war Scheiman ein ‚Symbol der Stabilität‘. Wenn dieses Symbol verschwindet, kursieren im System natürlich allerlei Gerüchte, Ängste, Unsicherheiten: ‚Wenn sogar Scheiman geht, stehen die Dinge wohl ziemlich schlecht.‘“7

    Bekanntermaßen endet eine Epoche, wenn ihre markanten Figuren abtreten. Der Abtritt Scheimans, den Lukaschenko bei seinem Abschied als „letzten Mohikaner“ bezeichnete, legt nahe, dass sich möglicherweise auch die Epoche Lukaschenko dem Ende zuneigt.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


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  • Covid: Die Russland-Variante

    Covid: Die Russland-Variante

    Russland droht die vierte Welle der Corona-Pandemie – wenn sich das Land nicht schon mittendrin befindet. Die offiziellen Zahlen – die viele immer noch für geschönt halten – sind erschreckend: Die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag liegt demnach bei mehr als 20.000, mit 669 Toten am Tag war die Sterberate Ende Juni so hoch wie nie zuvor. Besonders stark betroffen sind die Metropolen, dabei sind allein in Moskau laut Behördenangaben 90 Prozent der Neuinfektionen auf die Delta-Variante zurückzuführen. 

    So war es auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der vor rund zwei Wochen Alarm schlug. In Moskau dürfen seit Montag nur noch Geimpfte, Getestete oder Genesene die Restaurants und deren Außenbereiche besuchen, was über QR-Codes geprüft wird. Außerdem verhängte Moskau eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, einzelne weitere russische Regionen in der Folge ebenfalls. Nichtsdestotrotz wird am morgigen Freitag ein Viertelfinalspiel der Fußball-EM in der Sankt Petersburger Gazprom-Arena stattfinden – 50 Prozent Auslastung sind zugelassen, das sind knapp 30.000 Menschen.

    Beim Direkten Draht mit Wladimir Putin am gestrigen Mittwoch war Corona eines der wichtigsten Themen. Putin betonte dabei die Notwendigkeit einer Impfung, schloss eine Impfpflicht jedoch aus und sagte, dass durch die neue Impfstrategie der Regionen ein Lockdown hoffentlich verhindert werden könne. 
    Immer wieder werden kritische Stimmen laut, dass eine einheitliche Coronastrategie fehle: Die Regierung habe vielmehr lange den Eindruck erweckt, als sei die Coronagefahr gebannt. Und auch jetzt überlasse sie die Verantwortung den Regionen – wohl aus Angst, vor der Dumawahl im Herbst unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.

    Die Impfskepsis jedenfalls ist in Russland trotz der erschreckend hohen Zahlen nach wie vor groß: Laut John Hopkins University sind nur knapp 12 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – und das, obwohl Russland mit Sputnik V als erstes Land einen Impfstoff zugelassen hatte. Laut Umfrageinstitut Lewada lehnen nach wie vor rund 60 Prozent der Menschen im Land eine Impfung ab. 

    In sozialen Medien entbrannte sogleich eine heftige Debatte über die teilweise geltende Impfpflicht. Die Linien verlaufen dabei jedoch nicht nur zwischen Corona-Leugnern, Impfgegnern und -befürwortern, vielmehr wird quer durch alle Milieus ein hohes Misstrauen gegenüber staatlich verordneten Maßnahmen deutlich. 

    Ein solches „Misstrauen auf allen Ebenen“ nimmt auch Journalist Andrej Sinizyn wahr und gibt auf Republic Einblick in ein zerrüttetes Gesundheits-und Vertrauenssystem.

    Impfmöglichkeit in einem Einkaufszentrum, Woronesh / Foto © Oleg Charsejew/Kommersant
    Impfmöglichkeit in einem Einkaufszentrum, Woronesh / Foto © Oleg Charsejew/Kommersant

    Letztes Jahr, als meine Zwillinge zwei Monate waren, fuhren wir in die Poliklinik, um sie vorschriftsgemäß impfen zu lassen. Wir gingen nacheinander ins Behandlungszimmer (die Mutter mit der Tochter und ich mit dem Sohn). Als wir fertig waren, wunderten wir uns, warum ein Kind eine Schluckimpfung gegen Rotaviren, das andere aber eine Spritze bekommen hatte. Doch auf unsere empörte Nachfrage entgegnete die Krankenschwester, das müsse so sein. Erst zu Hause sagte unsere wachsame Großmutter (eine Kinderärztin mit langjähriger Berufserfahrung), die gerade zu Besuch war, eine Rotaviren-Impfung würde niemals gespritzt. Wir fuhren sofort wieder hin und es stellte sich heraus, dass die Krankenschwester sich vertan und meinen Sohn gegen Hepatitis statt gegen Rotaviren geimpft hatte („Was ist schon dabei? Nächstes Mal machen wir es eben andersrum.“). 

    Falsche Impfung? „Was ist schon dabei?“

    Wir mussten ihn umgehend gegen Rotaviren und unsere Tochter gegen Hepatitis impfen lassen. Das war natürlich eine zusätzliche Belastung für den kleinen Körper (zuvor hatten beide auch noch „Prevenar“ bekommen), aber sonst wäre es noch gefährlicher geworden: Gegen Rotaviren gibt es eine Lebendimpfung, ein Kind könnte das andere anstecken, sie leben ja nicht nur zusammen, sie saugen auch noch an derselben Brust. 
    Selbstverständlich war der Papa schuld, weil er sich nicht im Voraus informiert hatte, welche Impfstoffe wie verabreicht werden. Anders gesagt, er hätte sich nicht blind auf die Pädiatrie verlassen dürfen, wo man offensichtlich Impfungen vertauscht, dies zunächst abstreitet und dann auch noch sagt: „Was ist schon dabei?“

    Gesundheitssystem am Boden – und dann bricht die Epidemie aus

    Der Papa ist ja nicht erst seit gestern auf der Welt, er hat schon seine Eltern zu Grabe getragen – verstorben an einem Infarkt und an Lungenkrebs, beides war im Bezirkskrankenhaus nicht diagnostiziert worden. Und auch er selbst hat schon bei Gesprächen mit Ärzten widersprüchliche Erfahrungen machen müssen. Ob Sowjetunion oder Russland, ob Kinder- oder Erwachsenenmedizin – die Qualitätsunterschiede sind nicht sonderlich groß. Alles hängt vom jeweiligen Krankenhaus, den jeweiligen Ärzten und jeweiligen Krankenschwestern ab, und die haben nicht wirklich viele Anreize, ihre Arbeit gut zu machen. Darüber wurde bereits hundertfach berichtet. Das Ausbildungsniveau, die technische Versorgung, die Gehälter, die Korruption, der Druck durch die Verwaltung (Buchhaltung und Schönung der Daten, damit das Ergebnis stimmt), der Druck durch die Behörden (Stichwort „Ärzteverschwörung“), die berüchtigte Optimierung des Gesundheitswesens – das alles sind Faktoren, weshalb die medizinische Versorgung in Russland in den letzten Jahren ins Bodenlose gestürzt ist.

    Und dann bricht in diesem Land eine Epidemie aus. Wir berichten über heldenhafte Ärzte, heldenhafte Krankenschwestern, heldenhafte Ehrenamtler – völlig zurecht. Sie sind Helden, sie retten Menschen, riskieren ihre Leben, sterben. Wir berichten von aus dem Nichts gestampften Covid-Krankenhäusern mit moderner Technik – auch zurecht, obwohl sich hier schon erste Fragen stellen: nach der medizinischen Versorgung jenseits von Covid und nach Korruption. 

    Korruption, Ineffizienz und schwindende Kompetenz

    Vergessen wir nicht, dass das russische Gesundheitssystem immer noch von Korruption, Ineffizienz und schwindender Kompetenz geprägt ist. Und wenn wirklich große Aufgaben wie die Impfung der gesamten Bevölkerung anstehen, wird das besonders deutlich.

    Die Novaya Gazeta berichtete davon, wie in Impfzentren Sputnik V gegen EpiVacCorona ausgetauscht wird (der Impfstoff hat zwar keine klinischen Studien durchlaufen, aber dafür hat der Leiter der Gesundheitsaufsichtsbehörde ihn mitentwickelt). Forscher haben ernsthafte Vorbehalte gegen EpiVac. Zudem wird einigen Patienten nach einer ersten Impfung mit Sputnik V als zweite Dosis EpiVac verabreicht, was prinzipiell nicht zulässig ist. Diese Fälle sind so häufig, dass sie sich nicht mehr mit Versehen oder Unwissenheit entschuldigen lassen – es scheint vielmehr, als bekämen die Kliniken entsprechende Anweisungen von oben. Zudem gibt es vermutlich Lieferengpässe bei Sputnik. Angenommen, Sputnik fehlt, die Logistik hinkt, aber, sieh an, EpiVac ist verfügbar – nehmen wir!

    Die Menschen, die der Novaya davon erzählt haben, werden vor Gericht ziehen. Aber wie viele Menschen, die wissen, dass sie betrogen wurden, ziehen nicht vor Gericht? Und wie viele wissen es nicht mal?

    Misstrauen auf allen Ebenen

    Wenn wir behaupten, der Unwille der russischen Bevölkerung, sich impfen zu lassen, käme vom Misstrauen gegenüber der Regierung, denken die meisten wohl an Putin, Mischustin, Sobjanin oder irgendwelche Minister und Bürgermeister. Aber Misstrauen herrscht auf allen Ebenen, auch auf der untersten: Misstrauen untereinander ist allen wohlbekannt.

    Gehört ein Arzt zum Machtapparat dazu? Für den Durchschnittsrussen absolut, und das seit Sowjetzeiten. Das Gesundheitswesen war ja staatlich (und ist es auch heute noch mehr oder weniger). Aber sogar, wenn es um konkrete Behandlungen geht, lehrt die Erfahrung mit diesem System einen Patienten, dass er ihm nur vertrauen soll, wenn es gar nicht anders geht. 60 Prozent der Lunge hin – na gut, dann rettet mich mal, wo wart ihr denn bislang? Aber mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka, ein bewährtes Volksheilmittel. 

    Deswegen liegt Russland am 23. Juni mit einer Impfquote von 14,13 Prozent auch weltweit auf Platz 83. Während die Zahl der Infizierten unaufhaltsam steigt, Moskau und Petersburg brechen alle Rekorde bei der Corona-Sterberate.

    „Mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka“

    In den sozialen Netzwerken wird hitzig diskutiert, ob das russische Volk gut oder böse sei, weil es sich trotz aller Gegebenheiten, trotz wirksamen Impfstoffs, nicht impfen lassen wolle und damit die Gesundheit anderer gefährde. Während die Regierung – endlich „aufgewacht“ – die Verantwortung für die Nicht-Impfung auf das Volk schiebt. 

    Aber eigentlich nehmen sich Volk und Regierung nicht viel. Das Problem ist nicht nur, dass ein Staat, der bisher gelogen hat, plötzlich die Wahrheit sagt und etwas Nützliches tut, während das Volk sein Glück nicht fassen kann und ihm nicht glaubt. Das Problem ist auch, dass der Staat das Nützliche mit seinen gewohnten Mitteln macht – sprich, einfach Mist –, indem er nur die halbe Wahrheit sagt, und auch die nur, wenn er davon einen Vorteil hat. Deswegen verliert nicht nur der Durchschnittsrusse den Überblick, sondern auch der Durchschnittsarzt, der zu diesem Russen sagt: „Der Impfstoff ist nicht ausreichend erforscht, lass dich lieber nicht impfen.“ 

    Aber die Beamten wären keine Beamten, wenn sie die Bürger nicht zur Impfung motivieren würden: durch strenge Regelungen in Restaurants, Druck auf Unternehmen, die Einführung einer 60-prozentigen Impfpflicht, Androhung von Diskriminierung und Kündigung. Sie übererfüllen die Norm und reproduzieren Sowjetpraktiken, denen die Bürger längst zu entgehen gelernt haben.

    Nicht alle natürlich. Die Impfpflicht („wie in der Sowjetunion“) kann die Quote anheben. Viele Bürger sind paternalistisch eingestellt; wenn eine „starke Hand“ uns zur Impfung zwingt – na dann machen wir’s halt. Aber irgendein „Impfkapital“ oben drauf, das wär doch fein? Natürlich mit der Verpflichtung, es in die Gesundheit zu investieren. Nur in die Gesundheit! Keine Auszahlung in bar, versteht sich … Na ja, höchstens für eine Reise in den Kaukasus. Oder für die Hypothek. Ein bisschen was für die Hypothek ist schon in Ordnung, oder Wladimir Wladimirowitsch? So kurz vor den Wahlen?

    Dann lassen wir uns auch impfen. Wenn wir dann noch leben.

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  • Leben und Sterben

    Leben und Sterben

     „Mir fällt es schwer, über die Gegenwart zu sprechen, wenn ich die Vergangenheit nicht verstehe.“ In diesem Satz liegt wohl die Quintessenz dessen, was Lesia Pcholka antreibt und was ihre Arbeit ausmacht. Die Belarussin beschäftigt sich als Fotografin, Künstlerin oder Projektmanagerin in unterschiedlichen Formen mit der Aufarbeitung der Geschichte ihres Landes, seiner Kultur und seinen Traditionen. Gerade hat sie mit ihrer Initiative VEHA nach drei Jahren Arbeit zwei Projekte zum Abschluss gebracht: Die beiden Bücher Dsjawotschy wetschar (dt. Jungfernabend) und Aposchni fatasdymak (dt. Das letzte Foto) umfassen 100 Fotografien aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Belarus zum Russischen Zarenreich gehörte, bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der Sowjetunion. Die beeindruckenden Fotos von Hochzeiten und Beerdigungen stammen aus unzähligen Familienarchiven, die Lesia Pcholka in den vergangenen Jahren zusammentragen konnte. Die Bilder zeigen die Veränderung von Traditionen und Ritualen vor dem Hintergrund von gesellschaftspolitischen und kulturhistorischen Wandlungsprozessen in Belarus.

    1915–1925, Sluzk, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Sjarebrnikau. Alle Fotos © VEHA.by
    1915–1925, Sluzk, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Sjarebrnikau. Alle Fotos © VEHA.by

    dekoder: Mit was beschäftigt sich VEHA? Und wie ist das Projekt entstanden?

    Lesia Pcholka: VEHA lässt sich am ehesten als eine unabhängige Initiative beschreiben, die sich mit Archivfotografie und der Alltagsgeschichte der Belarussen beschäftigt. Ich habe sie 2017 gegründet, und zwar als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte. Die wird vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Kriegs konstruiert und über die Angst, dieser könnte sich jederzeit wiederholen. Das öffentliche Narrativ beginnt natürlich mit dem einigermaßen bequemen Jahr 1941 und endet mit den Erben des Sieges (so heißt ein Saal im neuen Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Minsk, in dem Porträts des Präsidenten und seiner Familie ausgestellt sind). Die Erinnerungsmuster, die man uns bietet und die uns zugänglich sind, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Große Vaterländische Krieg aus Sicht der heutigen Regierung, das Großfürstentum Litauen als einer der Vorgängerstaaten von Belarus, aus Sicht der damaligen Opposition. VEHA aber geht es um die Bewahrung der unsichtbaren Geschichte, um das Verstehen der kulturellen Codes auf alten Fotografien und um die Beteiligung jedes einzelnen am Erhalt des kulturellen Erbes. Das erscheint dem gegenwärtigen Regime so langweilig, dass es nicht einmal unter die Zensur fällt. 

    Woher kam die Idee für die Projekte zu den Hochzeits- und Beerdigungsfotos?

    2018 haben wir das erste Buch Nailepschy bok (dt. Die beste Seite) herausgegeben, in dem wir Portraits von Belarussen vor gewebten Teppichen gesammelt haben. Es sind Aufnahmen von armen Leuten auf dem Land in der Zwischenkriegszeit. Sie konnten sich keinen Besuch im Fotostudio leisten, deswegen wird das auf den Fotos imitiert. Das erkennt man nur, wenn man den Kontext kennt, in dem diese Bilder entstanden sind. Auf den Fotos sehen wir schön gekleidete Menschen, die sich von ihrer „besten Seite“ zeigen, um für ihre Nachfahren ein positives Bild von ihrem Leben zu hinterlassen. Nach dem Erscheinen des ersten Buchs beschlossen wir, eine Retrospektive des gesamten 20. Jahrhunderts zusammenzustellen, und mit etwas Glück auch des auslaufenden 19. Jahrhunderts, um zu sehen, wie sich Generation um Generation verändert, um eine visuelle Chronologie zu kreieren. 

    Das beliebteste Thema, das dokumentiert wird, war und ist die Hochzeit. Wir fingen also an, Hochzeitsfotos zu sammeln, um ein Narrativ anhand der Kommunikation von Frauen während der Erstellung eines wjasselnaga wjanka (eines Kranzes aus Kunstblumen für die Braut) herauszuarbeiten. Viele Hochzeitsbräuche, die heute tradiert werden, wurden künstlich geschaffen, ihnen liegt die Idee der Manipulation zugrunde, etwas zu lenken, durch sie werden Politik oder kapitalistische Prinzipien des Konsums umgesetzt. Nicht viele Menschen kennen die Herkunft, Bedeutung und Authentizität der Bräuche. Die Fotografien zeigen die Entstehungszeit von Bräuchen und ihr Verschwinden.  

    Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land, das viele Kriege und Katastrophen erlebt hat. Welchen Einfluss hat dies auf Familienarchive und die Fotografie an sich?

    Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Fotografie ein Privileg der Städter. Um sich fotografieren zu lassen, musste man ein Studio aufsuchen, diese befanden sich meist in der Nähe der Eisenbahn und wurden überwiegend von jüdischen Familien betrieben. Dorfbewohner konnten sich teure Fotografien oft nicht leisten, außerdem hätten sie dafür in die Stadt fahren müssen. Die meisten Familienarchive wurden seit Anfang der 1950er Jahre gesammelt – nachdem die Fotografie nicht mehr an Studios gebunden war und sich schnell ausbreitete. Nicht zu vergessen sind auch die zwei Weltkriege und die Repressionen, als in Familien viele Fotografien einfach vernichtet wurden, um bestimmte Verwandtschaftsbeziehungen zu verbergen. Derzeit erleben wir einen weiteren Verlust einer ganzen Schicht unserer visuellen Geschichte, weil die Menschen den Wert von Familienfotografie nicht sehen und sie dementsprechend auch nicht in der nötigen Form aufbewahren. 

    Kümmern sich in Belarus nicht die staatlichen Museen um den Erhalt solcher Fotos?

    Doch, aber sie betreiben das völlig losgelöst von den Menschen. Auf den Webseiten der Museen finden sich kaum Fotoarchive, und es ist nahezu unmöglich, an die Bestände zu kommen. Im vergangenen Jahr habe ich selbst versucht, mir die Frage zu beantworten, was denn mit unseren Museen nicht stimmt, und kam zu folgendem Ergebnis: Für 2017 bis 2020 gab es einen Plan, der eine Modernisierung der Museen und eine Digitalisierung der Exponate vorsah, es sollten Kataloge erstellt, neue Technologien bei der Ausstellungs- und Bildungsarbeit eingeführt werden (so stand es im Gesetz zu den Museen und Museumsbeständen der Republik Belarus). Das wurde auch umgesetzt – alle belarussischen Museen haben jetzt eine Webseite. Ich habe es selbst überprüft. Das Problem ist nur, dass es meistens Standardwebseiten sind, die nur ein Minimum an Information enthalten; Kataloge der Bestände finden sich dort gar nicht. Ich habe mit einigen Museumsmitarbeitern gesprochen und sie gefragt, warum die staatlichen Museen so einen schlechten Internetauftritt haben. Die häufigste Antwort war: Fehlende Mittel und die Machtvertikale im Entscheidungsprozess (der sogenannte Plan „von oben“, der einen strengen Rahmen vorgibt). Die zweithäufigste: Die Museumsmitarbeiter wollen die Exponate aus ihren Beständen nicht online präsentieren, weil sie befürchten, dass die Besucher dann nicht mehr ins Museum kommen. Ließe sich das erste mit finanziellen Mitteln lösen, so ist das zweite eine Frage des Umdenkens darüber, was ein Museum eigentlich ist – dafür braucht es Weiterbildung und Zeit. 

    Auf den Beerdigungsfotos sind Freunde und Verwandte um den Sarg der Verstorbenen gruppiert. Was ist das für eine Tradition, und wie ist sie entstanden?

    Das ist eine sehr alte Tradition, solche Fotos finden sich in fast jedem Familienalbum. Besonders verbreitet waren sie in den 1970er Jahren, damals wurden halbautomatische Kameras jedem zugänglich. Im Gegensatz zu europäischen Traditionen wurden Tote nie wie Lebende fotografiert, also mit offenen oder aufgemalten Augen, in netten Posen. So etwas zu tun, galt als ein beleidigender Umgang mit dem Körper des Verstorbenen. Die kanonisierten Traditionen waren ein Porträt vom Verstorbenen im Sarg in Nahaufnahme und unbedingt ein Foto von einer Menge an Verwandten um den Sarg. Während die Trauernden in den 1930er Jahren in die Kamera gesehen und posiert hatten, sahen sie später, ebenfalls posierend, den Toten an, um ihm quasi die letzte Ehre zu erweisen. Im Moment der Aufnahme gehörte es sich nicht, Gefühle zu zeigen (die Angehörigen weinten und klagten nicht); Menschen verschiedenen Alters sahen dem Verstorbenen ruhig und ernst ins Gesicht. Heute berichten sie, dass diese Kollektivaufnahmen angefertigt wurden, „um sich zu erinnern, wer bei der Beerdigung war“, und dass sie daran teilgenommen haben, weil es wichtig sei „Traditionen zu achten“. 

    Werden solche Fotos auch heute noch gemacht?

    Heute wollen viele Menschen ihre Angehörigen nicht tot auf Fotos sehen, sie wollen sie „lebend in Erinnerung behalten“, deswegen werfen sie die Fotos von Beerdigungen weg. Die Erinnerung an den Tod wird aus dem Leben der Menschen verdrängt, was typisch ist für eine postchristliche, atheistische Gesellschaft, die den Tod fürchtet. Beerdigungsfotos werden aus Familienalben entfernt und nur die ältere Generation bewahrt sie aus Tradition auf. Wobei diese Träger der Tradition selbst nicht wirklich erklären können, wozu sie es machen.

    1900–1915, Minsk. Fotostudio von Hirscha Hatouskau. Aus dem Archiv von Ivan Maraŭjeŭ
    1900–1915, Minsk. Fotostudio von Hirscha Hatouskau. Aus dem Archiv von Ivan Maraŭjeŭ
    1920–1939, Brest. Aus dem Archiv von Aliaksandr Paščuk
    1920–1939, Brest. Aus dem Archiv von Aliaksandr Paščuk
    Links - 6. August 1933, Kamjanez, Oblast Brest. Aus dem Archiv von Andrej Astašenia. Rechts - 1936, Polesien. Traditionelles Hochzeitskleid. Foto von Zofja Chamiantoŭskaja. Aus dem Archiv der Stiftung für Archäologie der Fotografie
    Links – 6. August 1933, Kamjanez, Oblast Brest. Aus dem Archiv von Andrej Astašenia. Rechts – 1936, Polesien. Traditionelles Hochzeitskleid. Foto von Zofja Chamiantoŭskaja. Aus dem Archiv der Stiftung für Archäologie der Fotografie
    1930–1940, Oblast Vitebsk. Aus dem Archiv des historisch-kulturellen Museumskomplexes Polazk
    1930–1940, Oblast Vitebsk. Aus dem Archiv des historisch-kulturellen Museumskomplexes Polazk
    1950–1960, Brest. Aus dem Archiv von Alieh Pališčuk
    1950–1960, Brest. Aus dem Archiv von Alieh Pališčuk
    1950–1955 Staryna, Rajon Ljosna, Oblast Vitebsk. Aliena Bierzin and Viktar Varapajeŭ. Aus dem Archiv des Militärmuseums von Ljosna
    1950–1955 Staryna, Rajon Ljosna, Oblast Vitebsk. Aliena Bierzin and Viktar Varapajeŭ. Aus dem Archiv des Militärmuseums von Ljosna
    1950–1960, Hradzianka, Asipovichy Rajon, Mogiljow Oblast. Aus dem Archiv der Familie Byčkoŭ
    1950–1960, Hradzianka, Asipovichy Rajon, Mogiljow Oblast. Aus dem Archiv der Familie Byčkoŭ
    1955–1960 Dzivin, Rajon Kobryn, Oblast Brest. Familie Skraščuk. Aus dem Archiv von Iryna Dajnakova
    1955–1960 Dzivin, Rajon Kobryn, Oblast Brest. Familie Skraščuk. Aus dem Archiv von Iryna Dajnakova
    1957–1958 Smorgonski Rajon, Oblast Hrodna. Archiv von  Siarhiej Lieskieć
    1957–1958 Smorgonski Rajon, Oblast Hrodna. Archiv von Siarhiej Lieskieć
    Ca. 1956 Minsk. Viktar Paŭloŭski and Maryja Lučyna. Aus dem Archiv von Aliaksandr Lučyna
    Ca. 1956 Minsk. Viktar Paŭloŭski and Maryja Lučyna. Aus dem Archiv von Aliaksandr Lučyna
    10. Oktober 1962, Mir, Kareličy Rajon, Oblast Hrodna. Uladzimir and Tamara Rafiejenka. Aus dem Archiv von Voĺha Kalasoŭskaja
    10. Oktober 1962, Mir, Kareličy Rajon, Oblast Hrodna. Uladzimir and Tamara Rafiejenka. Aus dem Archiv von Voĺha Kalasoŭskaja
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1908, Vialikaja Bierastavica, Oblast Hrodna. Paviel Valyncevič am Grab seines Vaters. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1908, Vialikaja Bierastavica, Oblast Hrodna. Paviel Valyncevič am Grab seines Vaters. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1940–1950, Asipovičy Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Archiv von Hanna Čarapko
    1940–1950, Asipovičy Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Archiv von Hanna Čarapko
    1950–1952, Puhačy, Rajon Valožyn, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1950–1952, Puhačy, Rajon Valožyn, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Fotografie von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Fotografie von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1964, Lushki, Rajon Sharkawshchyna, Oblast Vitebsk. Beerdigung von Uladzislaŭ Akušk. Aus dem Archiv von Iryna Skakoŭskaja
    1964, Lushki, Rajon Sharkawshchyna, Oblast Vitebsk. Beerdigung von Uladzislaŭ Akušk. Aus dem Archiv von Iryna Skakoŭskaja
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Totengedenktag Raduniza. Foto von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Totengedenktag Raduniza. Foto von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1985, Ljubіschtscha, Magіljoўskі Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Aus dem Archiv von Andrej Karačun
    1985, Ljubіschtscha, Magіljoўskі Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Aus dem Archiv von Andrej Karačun
    1988, Brest. Foto von Vadzim Kačan. Aus dem Archiv von Vadzim Kačan
    1988, Brest. Foto von Vadzim Kačan. Aus dem Archiv von Vadzim Kačan
    Vorbereitung der VEHA-Ausstellung "Dziavočy viečar" („Jungefernabend”), FAF Galerie | Warschau
    Vorbereitung der VEHA-Ausstellung „Dziavočy viečar“ („Jungefernabend”), FAF Galerie | Warschau

    Fotos: Lesia Pcholka/VEHA
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Maria Rajer
    Veröffentlicht am 27.05.2021

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    „Wenn es zur Demokratisierung kommt, dann aus Versehen“

    Am 10. Mai 2021 hat Alexander Lukaschenko das Dekret „Zum Schutz der Souveränität und der verfassungsmäßigen Ordnung“ unterschrieben, über das bereits in den vergangenen Wochen in der belarussischen und internationalen Presse spekuliert worden war. Das Dekret regelt einen neuen Machtübergang, abseits des Weges, den die Verfassung vorsieht. Im Falle eines gewaltsamen Todes von Lukaschenko übergeht die präsidiale Macht nun nicht mehr an den Premierminister, sondern an den Sicherheitsrat. Dieser kann dann beispielsweise den Kriegszustand ausrufen, der die Durchführung von Demonstrationen oder Streiks unmöglich macht. Der Sicherheitsrat hat neben dem Präsidenten aktuell acht weitere Mitglieder, so unter anderem den Premierminister, den Vorsitzenden des KGB, den Chef der Präsidialverwaltung sowie Innen- und Verteidigungsminister. Der Politologe Waleri Karbalewitsch beispielsweise sieht in der neuen Regelung eine klare Stärkung der Silowiki

    Aber natürlich braucht es nicht nur Beamte der Sicherheitsstrukturen, um den autoritären Staatsapparat am Laufen zu halten. In einem Interview für das belarussische Medium Belorusy i rynok befasst sich der politische Analyst und Journalist Artyom Shraibman mit dem Beamtenapparat des Lukaschenko-Staates und mit Fragen, die für das weitere Überleben des Systems eine immanent wichtige Rolle spielen. 

    Nach welchen Kriterien erfolgt in Belarus die Auswahl von Staatsbeamten?

    In politisch sensiblen Strukturen wie dem KGB, dem operativ-analytischen Zentrum OAZ oder dem Innenministerium war das Hauptkriterium schon immer die Loyalität zur Regierung. In anderen Behörden war die politische Komponente früher weniger wichtig: Im Gesundheitsministerium, dem Katastrophenschutzministerium oder dem Außenministerium war bis vor kurzem noch ein gewisses Ausmaß an Freigeist zulässig. In diesen Behörden wurde mit dem Aufstieg auf der Karriereleiter immer stärker ausgesiebt. Ein solider Fachmann konnte beispielsweise bis zum Posten des Verwaltungschefs aufsteigen, danach wurden seine Karrierechancen mit dem KGB, der Präsidialadministration und anderen Behörden abgestimmt. Menschen mit einem „falschen“ politischen Lebenslauf blieb der Aufstieg verwehrt.

    Ich denke, das war der entscheidende Faktor, warum sich die Regierung nach den Ereignissen im August halten konnte: Das System hatte den Aufstieg der meisten unabhängig denkenden Menschen verhindert. In höheren Ämtern haben nur einige wenige offen oder halboffen Kritik geäußert. In der Mitte und dem unteren Teil des Staatsapparates sah es schon ganz anders aus.

    Derzeit werden alle Anwärter für Staatsämter unabhängig von der Stellung und Behörde danach durchleuchtet, ob sie politisch vertrauenswürdig und loyal zur gegenwärtigen Regierung sind. Aus zuverlässigen Quellen weiß ich, dass Mitarbeiter des Innenministeriums und des Ermittlungskomitees unter Einsatz eines Lügendetektors befragt werden, um diejenigen auszusieben, die bei den Wahlen für den „falschen“ Kandidaten gestimmt hatten – ihre Verträge werden nicht verlängert. Die Regierung hat die enorme Bedeutung der politischen Loyalität von Beamten auf allen Ebenen klar erkannt.

    In diesem Jahr rechne ich nicht mehr mit einem Zusammenbruch

    Aber das trifft nicht nur auf Ministerien zu. Sogar in kleineren Staatsunternehmen werden Geschäfts- und Abteilungsleiter ersetzt. 

    Da greift aber ein anderes Prinzip. Ich denke nicht, dass diese Menschen sich in irgendeiner Form als illoyal gezeigt hatten. Vielmehr waren sie nicht aktiv genug bei der Verfolgung von Dissidenten in ihren Unternehmen. Sie hatten ihre Unternehmen nicht von „aufwieglerisch Denkenden“ gesäubert und mussten den Preis dafür zahlen. Würde sich der August wiederholen, würde es zu Streiks kommen und sich ein Fabrikleiter seinen Arbeitern anschließen, wäre das katastrophal für die Regierung. Wenn sie mich also nach einer Tendenz fragen, dann lässt sich eine Abwanderung von qualifizierten Fachkräften und von Menschen mit einem Gewissen beobachten, und an ihre Stelle treten Aufseher.

    Welche Konsequenzen hat es, wenn erfahrene Fachleute durch einfach nur regimetreue Menschen ausgetauscht werden?

    Auf kurze Sicht stärkt es das Regime. Das System besteht nur noch aus besonders gehorsamen und loyalen Menschen, die keine Bedenken bei der Ausführung jedweder Anweisungen haben. Aber langfristig sägt man damit den Ast ab, auf dem man sitzt, denn solche Leute sind vor allem darauf bedacht, sich anzudienen und berücksichtigen keine langfristigen Konsequenzen. Sie treffen realitätsferne Entscheidungen, sie glauben, das Recht zu haben, ideologisch Druck auf Menschen auszuüben, ihre Mitarbeiter dreist zu behandeln, harte Entscheidungen zu treffen, ohne sie mit der Belegschaft abzustimmen. Letztendlich verliert das gesamte System an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen. 

    Außerdem zerstört diese „negative Selektion“ jegliche Chancen auf einen positiven politischen Wandel in Belarus. Je mehr sich das System abschottet, desto weniger Möglichkeiten hat es, in Krisenzeiten vernünftige Entscheidungen zu treffen. Unter diesen Umständen wird ein Wandel nicht als eine Evolution, sondern durch eine politische Katastrophe passieren, sprich durch einen Zusammenbruch der gesamten politischen Struktur. 

    Wann wird die kurzfristige Phase enden, und wann werden die Konsequenzen eintreten, von denen Sie sprechen?

    Das hängt davon ab, wann der Regierung die Mittel für die brutale autoritäre Kontrolle von jedem gesellschaftlichen Bereich ausgehen und davon, wie sehr sie die Daumenschrauben noch anzieht. 

    In diesem Jahr rechne ich nicht mehr mit einem Zusammenbruch. Die Regierung hat sich potentieller Überläufer entledigt, und sie hat finanzielle Reserven, zumindest für die nächste Zeit. Ich denke, die Konsequenzen werden zutage treten, sobald es konstitutionelle Veränderungen gibt – selbst wenn die Regierung davon überzeugt ist, den Nachfolger oder die führende Partei vollkommen unter Kontrolle zu haben. In diesem System reicht eine Prise Freiheit und es bricht wegen seiner flächendeckenden Inkompetenz und seiner Unfähigkeit, vorauszudenken, in sich zusammen.

    Ich erwarte von dieser Regierung hingegen keinerlei demokratische Reformen

    Was motiviert die Fachleute derzeit noch in diesem System zu bleiben? Denen ist ja sicher klar, wie falsch alles war, was in den letzten sieben Monaten passiert ist?

    Teilweise hält sie dort die Angst um ihre eigene Zukunft, um die Zukunft ihrer Familien, die materielle Abhängigkeit von der Anstellung, vielleicht auch Kredite oder Wohnraum, der ihnen als Beamten im Staatsdienst zur Verfügung gestellt wird.

    Denkbar ist auch, dass manche von ihnen noch hoffen, das Regime würde sich von selbst reformieren. Sie reden sich ein, dass es besser sei, Teil des Staatsapparates zu bleiben, denn „wenn wir gehen, nehmen völlige Obskuranten unsere Plätze ein, wir lenken das Land wenigstens in die richtige Richtung“. Mit solchen Illusionen beruhigen sie ihr Gewissen. Sie glauben, Alexander Lukaschenko wäre allen Ernstes zu demokratischen Reformen und Fortschritt bereit, und wollen ihn darin unterstützen. Solche Menschen gibt es noch im Innenministerium und in den Finanzbehörden. Ich erwarte von dieser Regierung hingegen keinerlei demokratische Reformen. Wenn es zu einer Demokratisierung kommt, dann aus Versehen. Die Regierung wird mit Veränderungen experimentieren und die Kontrolle über diese Vorgänge verlieren. So etwas ist in vergleichbaren Fällen auch in anderen Ländern passiert. 

    Die andere Möglichkeit ist, dass die Demokratisierung durch einen Zusammenbruch kommt: Wenn es zu einer neuen Welle der Gewalt oder einem Wirtschaftskollaps kommt – dann fegt der Sturm alles weg. Diese zwei Varianten halte ich für wahrscheinlich. Aber eine gesteuerte Modernisierung, die sich diese Menschen womöglich erhoffen, wird es ganz sicher nicht geben.

    Die Oppositionsführer haben einen offenen Brief im Namen der Staatsbeamten aufgesetzt, den sie veröffentlichen wollen, wenn über 5000 Unterschriften zusammenkommen. Wie stehen die Chancen, dass die Opposition die Unterstützung so vieler Beamter bekommt?

    Es ist schwer, das Ausmaß des Dissidententums innerhalb des Systems zu beurteilen. Viele Menschen, bei denen der August wirklich dauerhafte Spuren hinterlassen hat, hatten im letzten halben Jahr genug Gelegenheit zu gehen. Manche taten es leise, ohne großes öffentliches Aufsehen. Wie der stellvertretende Finanzminister Andrej Belkowez, der seinen Posten verließ, ohne dass es medial Beachtung fand. Er stellte an dem Tag, als Roman Bondarenko starb, in den sozialen Netzwerken eine Kerze als Profilbild ein; da war allen klar, dass er seinen Posten nicht einfach so aufgegeben hatte. Ich denke, es gab einige solche Menschen auf verschiedenen Regierungsebenen, die ohne viel Aufsehen ihre Stellung verlassen haben.

    Das Volk ist gewachsen, während sich die Regierung zurückentwickelt hat

    Den anderen ist es irgendwie gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie in diesem System weiterarbeiten sollten: Das geht uns nichts an; wir sind nicht dafür verantwortlich, was die OMON-Kräfte machen; die andere Seite trägt eine Mitschuld und so weiter. Da greifen dann psychologische Schutzmechanismen. Und ein Mensch, bei dem die einsetzen, hat keine Zweifel mehr: Wozu soll er denn so einen Brief unterschreiben? Er hat doch seinen Seelenfrieden schon erreicht oder ist auf dem besten Weg dorthin. Deswegen bin ich mir nicht sicher, ob sich im Beamtenapparat noch 5000 Menschen finden, die ihr Gewissen plagt, die aber noch im Amt sind. Wir werden es an den Unterschriften sehen. 

    Es heißt oft, ein Volk hätte den Herrscher, den es verdient – das ließe sich doch auch auf die Beamten übertragen. Was denken sie darüber?

    Jedes Volk, auch das belarussische, verdient es, seine Regierung und seine Amtsträger frei zu wählen. Würde das Volk auch bei freien Wahlen weiterhin Populisten und inkompetente Leute wählen, könnte man vermutlich sagen, es habe sich dafür entschieden und dementsprechend seine Wahl verdient. Aber es ist nun mal so, dass das belarussische Volk schon lange keine Wahl mehr hatte.

    In den 1990er Jahren entsprach das Wertesystem der Regierung den durchschnittlichen Forderungen der Belarussen, deswegen konnte sich Lukaschenko mit seinen Werten bei fairen Wahlen durchsetzen. Aber das belarussische Volk ist gewachsen, es hat ein Generationswechsel und eine Werterevolution im Bewusstsein der Belarussen stattgefunden, wie einige Umfragen belegen. Die Ansichten der Belarussen über Marktwirtschaft, Toleranz und Meinungsfreiheit haben sich geändert. Das Volk ist gewachsen, während sich die Regierung zurückentwickelt hat. 

    Wann haben wir aufgehört, diese Regierung zu verdienen? Wann sind wir über sie hinausgewachsen? Diese Fragen zu beantworten ist unmöglich. Genau wie die Frage, wann ein Junge zu einem Mann wird. Das kann niemand sagen. Solche Prozesse haben nicht den einen Wendepunkt. Man kann ja auch nicht sagen, am Morgen vor dem Fall der Berliner Mauer hatten die Ostdeutschen die kommunistische Regierung noch verdient und am Tag darauf sind sie ein Volk gewesen, dass eine bessere Regierung verdient. So funktioniert das nicht. 

    Verdient Maria Kolesnikowa, die ihren Pass an der Grenze zerrissen hat, etwa unsere Regierung? Oder Dimitri Daschkewitsch, der für seine Überzeugungen insgesamt mehr Zeit im Gefängnis gesessen hat als die meisten unserer Abgeordneten an der Universität? Verdienen all die anderen politischen Gefangenen und Menschen, die bei friedlichen Protesten festgenommen wurden, etwa diesen Umgang? Ich denke, unser Volk verdient viel bessere Verwaltungsbeamte als die, die es gerade hat.

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  • „Das war nicht die übliche Stimme der Sieger“

    „Das war nicht die übliche Stimme der Sieger“

    Ein halbes Jahrhundert lang lag ein Erinnerungsschatten über den Schicksalen der zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion: In der deutschen Erinnerungskultur war dieses dunkle Kapitel der NS-Zeit kaum sichtbar. Auch in der Sowjetunion herrschte Schweigen über die tragischen Schicksale von fast drei Millionen Menschen.

    In Deutschland konnten erst nach der Gründung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) die individuellen Entschädigungszahlungen an die zivilen Zwangsarbeiter am 30. Mai 2001 beginnen. Heute, 76 Jahre nach Kriegsende, sind einige von über 30.000 Zwangsarbeitslagern Gedenkorte. In den vergangenen Jahren kamen in Deutschland zahlreiche Publikationen heraus, auch die Zivilgesellschaft beschäftigt sich immer mehr mit dem Thema. 

    Auf Afisha zeichnet Memorial-Mitarbeiterin Ewelina Rudenko die Aufarbeitung in Russland nach – und schildert, wie diese eigentlich „aus Versehen“ begann.

    dekoder zeigt Bilder und erzählt die Geschichten dahinter – in Zusammenarbeit mit Batenka. Memorial-Mitarbeiterin Irina Schtscherbakowa ordnet die Bilder ein und erklärt, warum viele Zwangsarbeiter über Jahrzehnte ihre Biografie verheimlichen mussten. 

    Iwan Sch., 16 Jahre alt. Weihnachtsfeier. Selb, 1942 / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 212046

    Ewelina Rudenko, Koordinatorin des Memorial-Projekts Digitalisierung des „Ostarbeiter“-Archivs

    1990 erschien in der Zeitung Nedelja ein kurzer Artikel über „Ostarbeiter“. Darin hieß es, dass die Organisation Memorial die Entschädigungszahlungen an die Menschen übernehmen würde, die während des Großen Vaterländischen Krieges zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren. Der Artikel wurde in unzähligen Lokalzeitungen nachgedruckt. Ein paar Monate später hatte Memorial etwa 320.000 Briefe von ehemaligen „Ostarbeitern“ und ihren Verwandten erhalten. In der Hoffnung auf eine gerechte Wiedergutmachung und aus dem Wunsch heraus, ihre Geschichte zu teilen, schrieben die Menschen ausführliche Briefe, schickten Fotos und Dokumente von ihrer Zeit in Deutschland. So entstand die Sammlung von Dokumenten zur Geschichte der Zwangsarbeit, die Memorial International angelegt hat, durch einen glücklichen Zufall.

    Als Geschichtsstudentin hat mich allein schon die Möglichkeit fasziniert, Fotos aus der Kriegszeit in Deutschland in den Händen zu halten. Aber noch viel beeindruckender waren die Erzählungen der „Ostarbeiter“ über den Krieg.

    Denn das war nicht die übliche Stimme der Sieger (die uns aufgedrängt wird und die mit jedem Jahr lauter erklingt), sondern der Blick der Opfer, die man gezwungen hatte, sich selbst für Verräter und nicht für Opfer zu halten.

    Das war nicht die übliche Stimme der Sieger

    Dank der „Ostarbeiter“ habe ich zum ersten Mal ganz klar verstanden und gespürt, dass der Krieg keine unendliche Reihe von Schlachten und Siegen ist, sondern eine einzige riesige Tragödie, die Millionen Menschenleben zerrüttet und zerstört hat.

    Nach der Lektüre all dieser Briefe und Erinnerungen kam mir die erschreckende Erkenntnis, wer die „Ostarbeiter“ eigentlich waren: Es waren überwiegend junge Frauen zwischen 17 und 18 Jahren, meistens aus Dörfern. Frauen, die möglicherweise diese Dörfer noch nie verlassen hatten, keine Großstädte kannten, noch nie Zug gefahren waren, wohl kaum je fotografiert worden sind. Und diesen jungen Frauen steht nun bevor, ins Hinterland des Feindes verschleppt zu werden und die Bomben zu produzieren, die auf ihre Heimatdörfer niedergehen würden. Sie würden sich inmitten der Faschisten wiederfinden, in der Fremde, ohne jegliche Sprachkenntnisse. Ihr erstes Foto wird also das Bild für den Ausweis (im Orig. dt. – Anm. d. Übers.) mit einer Kennziffer auf der Brust. Obendrein werden sie in Deutschland keinerlei Information darüber erhalten, was an der Front passiert, ob ihre Angehörigen noch leben, und vor allem, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren werden. Das scheint mir einzigartig in der Geschichte zu sein, und ich warte nur darauf, dass ein Psychologe oder Volkskundler sich dieses Themas annimmt und ein Buch darüber schreibt.

    „Die Fotografie wurde von der Haushälterin des Fabrikleiters in der Silvesternacht 1942/43 gemacht.“
    Maria S., mit 19 verschleppt. Arbeitete in einer Fabrik in Rummelsburg / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr.  201032

    Fast alle Mädchen haben selbsthergestelltes Rouge auf den Wangen. Im Archiv von Memorial International gibt es Dutzende von Geschichten über die Herstellung von Kosmetika aus improvisierten Materialien. 

    Alle jungen Frauen sind festlich gekleidet, einige von ihnen tragen Schmuck. Sie hatten kaum Möglichkeiten, ihre winzigen Gehälter auszugeben. Kleidung war teuer (obwohl es Ausnahmen gab – einige „Ostarbeiterinnen“ erwähnten den Kauf von Pullovern, die „den Juden abgenommen“ worden waren). So war billiger Schmuck die einzige Mode, die den Mädchen im Teenageralter zur Verfügung stand. Kleider wurden für gestellte Fotos ausgeliehen. 

    In der Beschreibung zum Foto erwähnt Maria, dass die Haushälterin ihnen Kuchen zur Neujahrsfeier geschenkt hatte. Die durchschnittliche Verpflegung der Zwangsarbeiter bestand aus Steckrübensuppe zweimal am Tag und 200 Gramm Brot mit verschiedenen Beimischungen. Den meisten dokumentierten Erinnerungen ist gemeinsam, dass die Menschen ständig Hunger hatten und Kartoffelschalen aus Küchenabfällen gestohlen haben. (Irina Schtscherbakowa)

    Nikolaj Kirejew

    1942 mit 16 Jahren aus der Oblast Orlow verschleppt. Arbeitete in Rüstungsfabriken in Berlin. Kam später, nach einem misslungenen Fluchtversuch, ins Konzentrationslager.

    „[…] [An Wochentagen] mussten wir um fünf aufstehen, dann gabs Kawa, wie die Polen sagten. Kawa heißt Kaffee. Die Schüssel hast du immer bei dir – das war die wichtigste Ausrüstung, für den Fall, dass dir jemand wo was einschenkt. […] Und einen Laib Brot. […] Ein gewöhnliches, wenn du es anfasst, ist es, als wäre es aus Sägespänen, die zusammengepresst wurden. Nichts als Späne. Du isst es, und es scheint zu schmecken. Das war morgens. Sozusagen unser Frühstück. Ein Brot für fünf Leute […]. So groß wie ein Borodinski-Brot, oder sogar noch kleiner […]. Mittag gab es aus Kübeln. Sie nannten es Kohlrabi. Das gab es ständig. Kohlrabi ist sowas wie sehr fester Kohl. […] Zum Abendessen gab es gar nichts. Es gab nur zwei Arten von Mahlzeiten am Tag. Nein, manchmal gab es [zum Abendessen] Mehlsuppe. Also einfach nur aus Mehl. Sonst nichts, kein Fett. 

    Manchmal, an großen Feiertagen, gab es etwas … An Hitlers Geburtstag, am 20. April, war ich [im Spandauer Zwangsarbeitslager] in der Rauchstraße. Zur Feier des Tages gab man uns ein Stückchen Margarine, so groß wie eine Streichholzschachtel. Danach gab es … – davon hatten sie offenbar zu viele – Frösche. Die Frösche gingen sehr gut. Frösche gab es oft an Feiertagen. Die Schenkel und den Rumpf mit irgendeiner Marinade. Das war ein hervorragendes Essen. Ich habe immer versucht, einen zweiten und dritten Nachschlag zu bekommen, weil ich sie sehr gern aß. Das Hungergefühl verschwand nie. […] Dann gab es noch so rote Stiele. Manchmal so dick wie ein Arm. Was das für Stiele waren, weiß ich nicht. Aber die waren süß, mit solchen langen Fäden. Das war ein hervorragendes Essen. Aber vielleicht erschien mir das damals auch nur so […].“ (Quelle)

    Wassili G., mit 16 verschleppt (auf dem Bild mit blauem Kugelschreiber gekennzeichnet). Neujahrsfeier. Ort unbekannt, Jahr nicht angegeben / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 158013

    Auf diesem gestellten Foto sind fast alle sitzenden Männer dem Fotografen zugewandt, die Menschen im Vordergrund schauen ins Objektiv, einer von ihnen isst. Während der Feiertage wurden in Kantinen oder anderen Gemeinschaftsräumen fast überall geschmückte Weihnachtsbäume aufgestellt – auch für Propagandafotos. 

    Abgekratzte Stellen sind charakteristisch für viele Fotos von ehemaligen „Ostarbeitern“. In der Regel wurden einzelne Motive nach dem Krieg entfernt, um die kompromittierenden Fotos nicht im Familienarchiv aufzubewahren. Dies betraf meistens Nazi-Symbole oder Aufnäher mit der Aufschrift „OST“. Nicht unüblich war es auch, Hitler-Portraits auf Fotos zu entfernen (in diesem Fall oben links). (Irina Schtscherbakowa)

    Galina Schalankowa 

    1942 mit 17 aus der Oblast Sumskaja (Ukraine) verschleppt. Arbeitete im Lager an einer Chemiefabrik bei Wittenberg (Sachsen-Anhalt). 
    „In diesem Lager wurden alle, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, sofort geschlagen und so weiter. […] Als ich mir also die zwei Finger abgehackt hatte, um nicht an der Maschine arbeiten zu müssen, wurde ich ins Labor versetzt, als Putzfrau. Da haben sie [die anderen Arbeiterinnen] gesagt: ‚Galja, bring doch einen Viertelliter Alkohol mit, bitte doch deine Chefin. Und dann feiern wir Neujahr.‘ Wenn sie mich drum bitten, kann ich doch nicht nein sagen, es sind ja meine Freundinnen. Ich hatte einen Mantel, […] im Rockschoß [vom Mantel habe] ich den Viertelliter versteckt.

    Und dann – nicht alle werden am Kontrollpunkt durchgelassen, [es heißt]: du, du und du, raus zur Kontrolle. Auch ich war eine von denen [die überprüft werden sollten]. […] Eine Frau hat mich durchsucht. […] Ich sagte: ‚Schnaps.‘ Und sie: ‚Hm, ein Viertelliter. Wozu hast du den genommen?‘ ‚Um Neujahr zu feiern‘, sage ich. ‚Die Chefin hat ihn mir gegeben, ich habe ihn nicht gestohlen. Ich habe sie gefragt. Frau Kulta, ich sehe sie noch heute vor mir. Ich hatte zu ihr gesagt: ‚Gib uns einen Viertelliter Alkohol, dann können wir es wenigstens feiern, das neue Jahr.‘

    Also wurden wir zur Seite genommen. Da waren noch ein paar junge Männer, die mit irgendwas erwischt worden waren. Das wars, Hände hoch. Man brachte uns zur Gestapo. Und damit wir nicht mit leeren Händen liefen, bekamen alle irgendetwas zum Tragen, einen Stuhl, eine Kiste, einen Baumstamm. Damit auch alle sehen, dass du etwas angestellt hast, und damit du dich gleichzeitig nützlich machst. Wir kamen […] in den Verhörraum, dort wurde alles aufgeschrieben, wer, was, warum. Und dann ging es weiter zur Gestapo, dorthin, in die Baracke, in diese Baracke kamen wir […] unter die Pritschen. Wir waren drei junge Frauen. Die Männer kamen natürlich woanders hin. Drei Tage ohne Essen und Trinken. Wir waren froh, dass sie uns nicht mit den Schlagstöcken geprügelt haben. […] Das wars. […] Sie können sich vorstellen, was für einen Hunger wir hatten.“ (Quelle)

    Maria S., mit 23 Jahren verschleppt. Neujahr. Erlangen, Jahreszahl fehlt / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 1256

    Dieses Foto zeigt, wie Propagandabilder aufgenommen wurden: Der Fotograf verwendet zwei Scheinwerfer, die auf das Zentrum der Aufnahme gerichtet sind. Dort steht eine gut gekleidete junge Frau mit einem „OST“-Kennzeichen. Sie lächelt in die Kamera und nimmt einen Teller Suppe aus den Händen einer ebenso gut gekleideten Köchin entgegen. Viele „Ostarbeiter“ berichten darüber, dass sie gezwungen worden sind, für Fotos zu lächeln. Die Gesichter von Personen, die nicht von Anleuchtgeräten angestrahlt werden, haben einen auffallend anderen Ausdruck als die Gesichter derjenigen, die im Propagandabild sind. (Irina Schtscherbakowa)

    Irina Schtscherbakowa, Koordinatorin der Bildungsprojekte von Memorial, Historikerin, Mitverfasserin des Buchs Für immer gezeichnet

    In Deutschland gab es viele verschiedene Lager: Arbeitslager, Straflager für Kriegsgefangene und Konzentrationslager (die härtesten von allen). Die Stellung der „Ostarbeiter“ war ein klein wenig besser als jene der KZ-Häftlinge. Allerdings hing alles davon ab, wo sie lebten und arbeiteten: War es ein großes Lager, das zu einer Rüstungsfabrik gehörte, brauchten sie eine Genehmigung, um in die Stadt gehen zu dürfen. War es ein Haushalt, den sie besorgten, durften sie ruhig rausgehen, um Aufgaben zu erledigen (beispielsweise die Kinder von der Schule abzuholen). Aber sie durften nicht alle öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, sondern nur bestimmte Strecken damit fahren. Bis 1944 mussten sie das Kennzeichen „OST“ tragen: Wurden sie ohne angetroffen, wurden sie bestraft.

    Im Großen und Ganzen behandelte man sie wie unbezahlte Arbeitskräfte. Der Lohn, den sie für ihre Arbeit bekamen, war so mickrig, dass sie höchstens eine Flasche Limonade dafür hätten kaufen können. 

    Natürlich gab es auch Deutsche, die Mitleid mit den „Ostarbeitern“ hatten und ihnen heimlich Stullen in der Fabrik daließen. Doch ein engerer Kontakt war durch die deutschen Gesetze strengstens untersagt. Freundschaftliche und erst recht Liebesbeziehungen wurden verfolgt. Bestraft wurden vor allem die „Ostarbeiter“, aber manchmal trafen die Strafen auch Deutsche – insbesondere bei Liebesbeziehungen, denn diese galten als ein Verstoß gegen die Rassengesetze.

    Nach dem Kriegsende sollten die „Ostarbeiter“ gemäß dem Abkommen von Jalta durch die Alliierten an die sowjetische Regierung ausgeliefert werden. Aber schon bald unterbreiteten die Amerikaner den „Ostarbeitern“ das Angebot, nicht in die sowjetische Besatzungszone zu gehen. Viele nahmen das Angebot an und blieben in den Lagern, die nun der amerikanischen Besatzungsmacht unterstanden. Diejenigen, die aber zurückkehrten, mussten eine Filtration durchlaufen. Wenn ihnen außer der Verschleppung nach Deutschland nichts vorgeworfen wurde, bekamen sie eine Bescheinigung. Damit konnten sie per Militärtransport in die Heimat zurückkehren. Einige – nicht sehr viele – wurden zu Zwangsarbeit und in die Arbeitsarmee geschickt. Mehrere Jahre mussten sie am Wiederaufbau von Zechen und Elektrizitätswerken mitarbeiten. 

    Der Vermerk, für die Deutschen gearbeitet zu haben, war ein Makel in den persönlichen Akten der Menschen. Ehemalige „Ostarbeiter“ durften nicht in den Großstädten (Moskau, Leningrad, Kiew) leben, keine höhere Bildungsanstalt besuchen, nicht dem Komsomol oder der Partei beitreten.
    Ein kleiner Prozentsatz der „Ostarbeiter“ wurde verhaftet und noch zwei Jahre nach der Rückkehr repressiert. Nach Stalins Tod besserte sich die Lage ein wenig, trotzdem fühlten sich die ehemaligen „Ostarbeiter“ als Menschen zweiter Klasse. Ihnen wurde zwar nicht vorgeworfen, das Vaterland verraten zu haben – andernfalls wären mehr als zwei Millionen zurückgekehrte Menschen in sowjetischen Lagern gelandet. Doch im Alltag hing immerzu der Verdacht über ihnen, sie hätten für den Feind gearbeitet.

    Da sich die „Ostarbeiter“ ausgestoßen und stigmatisiert fühlten, verheimlichten viele nach Möglichkeit ihre Biografie. Über sie und ihr Schicksal wurde nicht geschrieben. Dies änderte sich erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Damals begann die deutsche Regierung mit den Entschädigungsleistungen. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

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  • Sputnik V und die Werte des Westens

    Sputnik V und die Werte des Westens

    Propagandistische Finte Moskaus oder ein ganz normaler Impfstoff: Sputnik V sorgt besonders im Westen immer wieder für neue Diskussionen. Nachdem bekannt wurde, dass auch Deutschland einen bilateralen Vertrag für den Ankauf des russischen Impfstoffs aushandeln will, gewinnt das Thema an zusätzlicher Brisanz. 

    Rund 50 Staaten verimpfen Sputnik V bereits. In der EU befindet sich das Vakzin seit Anfang März in einem beschleunigten Prüfungsverfahren der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Laut dem Fachmagazin The Lancet verfügt der Impfstoff über eine hohe Wirksamkeit, allerdings bestehen weiterhin Zweifel und Unklarheiten bezüglich möglicher Nebenwirkungen. EMA-Mitarbeiter beklagen dabei mangelnde Transparenz und Kooperation des Herstellers.

    Auch wenn die Zulassung schnell über die Bühne gehen sollte, werde Sputnik V in der EU kaum eine Rolle spielen können. Das hatte zuletzt EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bekräftigt: Bis entsprechende Produktionskapazitäten aufgebaut sind, dürften die bisherigen vertraglichen Hersteller schon genug Vakzin geliefert haben.

    In der politisierten Impfstoffdebatte kann Russland gegenüber dem Westen derzeit punkten, argumentiert Alexander Baunow. Russland, so der Chefredakteur von Carnegie.ru, sei durchaus erfolgreich dabei, „die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit kollidieren zu lassen“. Im Runet wurde sein zuspitzendes Meinungsstück kontrovers diskutiert: Kritiker bemängeln unter anderem ein zu rosiges Bild der Corona-Situation in Russland, wo die Übersterblichkeit aktuell so hoch ist wie in kaum einem anderen Land auf der Welt. Andere halten Baunow zugute, dass er dem Westen durchaus den Spiegel vorhalte. 

    Die neuen Wellen der Pandemie unterscheiden sich stark von der ersten. Die Menschen horten keine Lebensmittel, Seife oder Toilettenpapier mehr. Niemand beschwert sich darüber, dass Masken oder Desinfektionsmittel fehlen. Der anfängliche Mangel ist längst behoben: Weder gewöhnliche Bürger noch Ärzte müssen, wie wir es in Reportagen sahen, improvisierte Masken nähen oder waschen, um sie wiederzuverwenden.

    Nur Moskauer mit besonders selektiver Wahrnehmung behaupten noch, die Regierung und die Stadtverwaltung drangsaliere die Bürger mit Polizeikontrollen und mit Verboten für Reisen ins Ausland. Wie ein exotisches Märchen klingen anderswo auf der Welt die Berichte über das Land, in dem man zu Konzerten und ins Theater gehen, auf die Datscha, in die Berge oder ins Ausland fahren kann. Genau wie die Erzählungen über die Großstadt, in der sich Impfwillige unabhängig von Geschlecht, Alter und ihrer Staatsangehörigkeit in Einkaufszentren impfen lassen können.

    Genau diese Gerüchte aus Moskau werden zu einem politischen Problem – in einer Zeit, in der man nicht nur Gebiete und Armeen, sondern auch Fernsehsender, Twitter-Accounts und Impfstoffe in Kategorien von Freund und Feind unterteilt. 

    In den ersten Monaten der Pandemie waren strenge Maßnahmen und außerordentliche finanzielle Hilfen ein Symbol für verantwortungsvolles Handeln und Fürsorge einer Regierung für ihre Bürger. In dieser Phase gewannen die disziplinierten und wohlhabenden westlichen Gesellschaften, die über ein hohes Maß an Vertrauen zueinander und zu ihrer Regierung verfügen.

    Neues Symbol der Fürsorge ab der zweiten Welle: der Impfstoff

    Doch in und nach der zweiten Welle wurde die Impfung und eine ausreichende Versorgung mit Impfstoff, also die Fähigkeit, mit den minimal notwendigen Beschränkungen auf die Pandemie zu reagieren, zu einem solchen Symbol von Fürsorge.

    Auch wenn Russland nicht beweisen konnte, dass es mit der Pandemie besser fertig wurde, konnten Europa und die USA auch nicht das Gegenteil beweisen. Das aber wäre ausgesprochen wichtig gewesen, weil die Demokratie auf dem Prinzip der Überlegenheit gründet, wegen der man ihr nacheifern soll. Der russische Autoritarismus hingegen will als ebenbürtig gelten, und das erfordert nicht unbedingt Nachahmung. 

    Das wird besonders deutlich an der Haltung zu den Impfstoffen des jeweils anderen. Für Russland ist es wichtig, dass sein Impfstoff gleichrangig zu den westlichen zugelassen wird, damit der Westen und insbesondere Drittländer ihn ohne diplomatische Schwierigkeiten nutzen können. Für den Westen ist es notwendig, dass seine und im Idealfall auch Drittländer die westlichen Impfstoffe, nicht aber Sputnik V nutzen. Am Umgang mit dem Impfstoff offenbart sich: Im Konflikt des Westens mit Russland haben wir einen klaren Fall vom Kampf um Überlegenheit gegen den Kampf um Gleichheit.

    Westen versus Russland – Kampf um Überlegenheit versus Kampf um Gleichheit

    Während der Westen gewinnen muss, genügt Russland ein Gleichstand, um die Partie für sich zu entscheiden. Unter diesen Vorzeichen könnte die Zulassung von Sputnik V ein fragiles Gleichgewicht stören. 

    Es ist für den Westen schon ein ernsthaftes Problem, dass sich Sputnik V von einer „propagandistischen Finte Moskaus“ in einen gleichrangigen Impfstoff verwandelt hat. Denn ein Argument für die Überlegenheit von Demokratien besteht darin, dass sie – im Unterschied zu Autokratien – ihre Bürger nicht belügen und die Lügen der Diktatoren entlarven. Würde Sputnik V zugelassen, wäre es ein Eingeständnis, dass Putin die Wahrheit gesagt hat, seine Gegner ihn aber der Lüge bezichtigten. Und das wäre eine für viele nicht zulässige Normalisierung der Verhältnisse.

    Hatte es Putin aus politischen Überlegungen sehr eilig zu erklären, Russland habe einen Impfstoff entwickelt, so hatten es die westlichen Sprecher genau so eilig, diese Aussage als Propaganda abzutun – damit manövrierten sie sich in eine schwierige Lage. Man kann Putin nach wie vor einen Fehlstart vorwerfen. Die Verkündung der Zulassung des weltweit ersten Impfstoffes, als noch nicht alle Studien abgeschlossen waren, war überstürzt. Aber ihm einen Fehl-Finish vorzuwerfen, ist ohne jeden Sinn und Zweck.

    Insgesamt kein unfaires Rennen bei der Impfstoffentwicklung

    Das erschüttert das stabile Konstrukt, jede unbequeme Information aus Russland könne als Lüge deklariert werden. Außerdem sät es Zweifel bei den Bürgern der Demokratien. Mit einer Zulassung von Sputnik V für den Westen würden die Staats- und Regierungschefs quasi für Putin und gegen sich selbst arbeiten. Wobei die Impfgeschwindigkeit in den westlichen Ländern jene in Russland sowohl in absoluten Zahlen als auch prozentual übersteigt. Sogar in der EU (die hinter den USA und Großbritannien liegt) waren Mitte März etwa zehn Prozent der Bevölkerung geimpft – in Russland knapp fünf Prozent. Doch in Europa wird nach Altersgruppen geimpft, während sich in Russland jeder sofort impfen lassen kann, der es möchte. Das erzeugt zusätzlich den Eindruck, Sputnik V wäre in ausreichender Menge vorhanden, während in Europa ein Mangel herrscht.

    Der gemächliche Impfprozess in Russland findet vor dem Hintergrund sinkender Fallzahlen statt, während in vielen europäischen Ländern die Ansteckungen steigen. In Moskau wird sogar in Einkaufszentren und Theatern geimpft, wohingegen die europäischen Länder darüber klagen, dass nicht einmal für die Risikogruppen genügend Impfstoff zur Verfügung stehe. 

    In Russland herrscht Impfstoffüberfluss, in Europa Mangel und Rückstand

    Die Möglichkeit der Impfung für alle erzeugt den Eindruck von Überfluss und Erfolg, gemessen am europäischen Mangel und Impfrückstand. Russland für eine Lüge zu kritisieren, ist schwieriger geworden. Nachdem sich die Kritik an Sputnik V als unberechtigt erwiesen hat, glauben westliche Bürger ihren Repräsentanten nicht mehr vorbehaltlos, wenn sie Russland der Lüge bezichtigen.

    Ein politisches Problem für den Westen ist auch, dass Russland seinen Impfstoff Drittländern anbieten möchte, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Damit wird es zu einem ernsthaften Konkurrenten auf einem Feld, auf dem sich der Westen stillschweigend als Sieger wähnte: auf dem Feld der Werte – des menschlichen Lebens, des Humanismus und des Wohlwollens von Privilegierten gegenüber weniger Privilegierten.

    Ein Beweis für die Überlegenheit der Demokratie ist die Tatsache, dass eine Demokratie das Leben ihrer Bürger nicht für politische Zwecke gefährdet. Brüssel, das zu Beginn der Pandemie zaghaft agiert und zugelassen hatte, dass Europa im Kampf gegen das Virus in nationale Fronten zerfällt, gewann in der Phase der Impfungen die Führung zurück. Die europäischen Länder haben sich darauf geeinigt, dass gemeinsame Organe in Brüssel für den Einkauf und die Verteilung des Impfstoffes zuständig sein sollen. Diese Entscheidung wurde getroffen, um Konkurrenz zu vermeiden, denn je größer der Absatzmarkt, desto bessere Preise können bei den Verhandlungen mit den Herstellerfirmen ausgehandelt werden. Die westlichen Regierungen haben alle Urheber- und Marktrechte bei den Entwicklerfirmen belassen. Das gilt als eine Art Gerechtigkeit: Wer in die rettenden Präparate investiert, soll profitieren. Das führt aber auch dazu, dass während einer Pandemie tausende geheime Verhandlungen geführt und hunderte undurchsichtige Verträge mit willkürlichen Preisen abgeschlossen werden.

    Weder die Preise noch die weltweite Verteilung des Impfstoffes haben etwas mit den Ideen des Humanismus, der Gleichheit und der Unterstützung von historisch benachteiligten Ländern zu tun. Zwar hat die EU Maßnahmen ergriffen, um nicht intern zu konkurrieren, aber das gilt nicht für den Rest der Welt. Da konkurrieren die Reichsten mit den Armen, und erwartungsgemäß gewinnen die Reichen.

    Erwartungsgemäß gewinnen die Reichen

    Derzeit bestehen weltweit Verträge für etwa zehn Milliarden Dosen verschiedener Impfstoffe. Das würde genügen, um fast die gesamte Weltbevölkerung zu impfen, aber die Dosen sind ungleich verteilt. Führend sind bei der Zahl der Verträge und Einkäufe die USA; bei den Einkäufen pro Kopf liegt Kanada vorn, das Verträge für Impfdosen abgeschlossen hat, mit denen es seine Bevölkerung sechsmal impfen könnte. In Kanada hat die Epidemie relativ gefährliche Ausmaße erreicht, aber auch Australien, wo es nach der weltweiten Definition keine Epidemie gibt, hat seine Bürger zu 247 Prozent mit Impfdosen versorgt. Eine hohe vertraglich vereinbarte Versorgung sehen wir auch in der EU mit mehr als 200 Prozent und in Großbritannien mit mehr als 400 Prozent. Doch Europa gehört zu den am stärksten von der Pandemie Betroffenen. 

    Nicht mit Impfstoff versorgt sind erwartungsgemäß arme Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und sogar des Balkans (beispielsweise der Kosovo und Bosnien). 

    Ein großes Chaos herrscht bei den Preisen. Die EU zahlt für eine Portion AstraZeneca 3,5 US-Dollar, Südafrika 5,25 US-Dollar und das für die Hersteller unattraktive Uganda 8 US-Dollar. Die Initiative COVAX, die von der WHO mitentwickelt wurde, um durch Sammelkäufe die armen Länder zu versorgen, kommt ins Stocken und greift nicht: Noch reicht es nicht mal für die Reichen. 

    Entscheidung für den Westen zahlt sich nicht aus

    Besonders schwierig ist die Lage für die Nachbarstaaten der EU und Russlands, die sich für die westliche Variante entschieden haben: die Ukraine, Georgien, Moldawien. Sie schließen einen Kauf und die Produktion des russischen Impfstoffs aus Prinzip aus. Doch wegen der harten Konkurrenz innerhalb der EU-Länder bekommen sie auch keinen westlichen Impfstoff. Ihre Entscheidung für den Westen wurde also in dieser brisanten Frage nicht gewürdigt.

    Diese fehlende Würdigung kann zu einer Politisierung der Impfstoffzulassungen und zu Problemen bei Einreisebestimmungen führen: Wird Sputnik V nämlich für die EU zugelassen, stehen die ehemaligen Sowjetstaaten, die sich für den Westen entschieden, aber keinen Impfstoff erhalten haben, vor der Situation, dass die mit Sputnik V geimpften Russen noch vor ihnen nach Europa reisen können. 

    Das gilt es zu vermeiden, deswegen sind die Nachrichten über die Zulassung des russischen Impfstoffes für Europa auch so widersprüchlich. Einerseits wird er diskutiert, andererseits, so verkünden hohe EU-Funktionäre, brauche die EU ihn nicht. Man könnte versuchen, die Zulassung von Sputnik V zu verzögern, bis ein wesentlicher Teil der Bevölkerung der verbündeten Länder mit westlichen Impfstoffen geimpft ist. So wäre eine Zulassung von Sputnik V durch Brüssel kein Eingeständnis der Schwäche und kein Verrat an den Verbündeten in der Eindämmungspolitik gegen Russland. Doch einige Länder der EU wehren sich gegen diese Verzögerung, weil sie nicht genügend westlichen Impfstoff erhalten und außerdem Einbußen durch das Ausbleiben der russischen Touristen haben. 

    Sputnik V könnte westlichen Regierungen in ihrer Abwehrpolitik schaden

    Wegen bevorstehender Wahlkämpfe kann es sich kaum eine westliche Regierung erlauben, Impfstoff an ärmere Länder abzugeben, solange die eigene Wählerschaft nicht geimpft und der Lockdown nicht aufgehoben ist. Die russische (und auch die chinesische) Regierung dagegen bleiben verschont vor kompetitiven Wahlen und können den Impfstoff Drittländern anbieten, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Diese ist obendrein nicht zu Hause eingesperrt und hat es deswegen gar nicht eilig, sich impfen zu lassen. Der Westen kann das als einen unfairen Wettbewerbsvorteil betrachten. 

    In den Augen derjeniger, die den Westen und seine Verbündeten vor russischer Einmischung bewahren wollen, wäre schon die Zulassung des russischen Impfstoffs eine Schwächung der Abwehrbereitschaft. Die Dankbarkeit für die durch Sputnik V geretteten Leben und Unternehmen könnte sich schlecht auf die Abwehrbereitschaft auswirken. Alles zusammen erklärt, warum die westlichen Regierungen, die ihre Vorrangstellung hochhalten, und Russlands Nachbarn, die sich als Grenzland der westlichen Kultur begreifen, einen normalen Umgang mit dem russischen Impfstoff ablehnen.

    Der Westen hat nicht nur den Anspruch, Reichtum und Effizienz zu demonstrieren, sondern auch einen Anspruch auf die globale Verantwortung. Die Ambitionen, faire Regeln für die Welt aufzustellen, werden dadurch untermauert, dass das menschliche Leben in westlichen Demokratien mehr wert ist als in allen anderen Gesellschaften.

    Der Impfprozess und die Politisierung des feindlichen Impfstoffes zeigen, dass es in erster Linie um das Leben der Bürger der Demokratien selbst geht. Ja, westliche Wissenschaftler haben den Großteil des Impfstoffs entwickelt und westliche Unternehmen produzieren ihn. Der Verpflichtung, diesen Impfstoff mit Ärmeren zu teilen, kommen sie bislang eher symbolisch nach. Es gibt keinerlei Versuche, künstliche Gleichberechtigung zu konstruieren, Quoten oder eine positive Diskriminierung einzuführen: Setzen Sie erst sich eine Maske auf. Danach helfen Sie dem Kind.

    Weltweiter Pathos von Gleichberechtigung wird aufgeweicht

    Black Lives Matter ist de facto nur auf die privilegierten Gesellschaften wie die USA und Europa begrenzt – und das weicht das Pathos der weltweiten Kampagne für Gleichberechtigung etwas auf. Die erklärten und die tatsächlichen Ziele werden noch viel widersprüchlicher, wenn wir erfahren, dass das Gesundheitsministerium der USA es als Erfolg verbucht, Brasilien daran gehindert zu haben, den russischen Impfstoff einzukaufen – als Abwehr gegen den schädlichen Einfluss von Russland, Kuba und Venezuela. Es wirkt ganz so, als würden westliche Regierungen die linke Kritik an kapitalistischen Staaten bewusst bestätigen, derzufolge sie nur bestünden, um die Interessen von Großkonzernen zu vertreten.

    Moskaus Strategie besteht nicht zum ersten Mal darin, ein Bündnis zu erzwingen, das nicht auf gemeinsamen Werten gründet, sondern gegen einen gemeinsamen Feind gerichtet ist – sei es der Terrorismus, die Piraten vor Somalia, der sogenannte Islamische Staat oder das Coronavirus. 

    Momentan gelingt es Russland durchaus, die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit miteinander kollidieren zu lassen. Indem westliche Demokratien ihr Handeln ausschließlich danach ausrichten, nicht in die Falle eines Bündnisses mit autoritären Staaten zu geraten, verlieren sie genau die Werte aus dem Blick, die sie diesen Staaten vor Augen halten. Das deutet auf den Verlust jener Überlegenheit hin, die sie eigentlich festigen wollen, indem sie den russischen Impfstoff nicht zulassen.

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  • Sanktionen – bitte nicht zu viel erwarten!

    Sanktionen – bitte nicht zu viel erwarten!

    Der inhaftierte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny soll seine rund zweieinhalbjährige Haftstrafe laut Medienberichten in der „Besserungskolonie Nummer 2“ (IK-2) der Strafvollzugsbehörde von Wladimir absitzen. Auf Papier sind die Haftbedingungen dieser Anstalt „mit allgemeinem Strafvollzug“ weniger hart als in anderen Lagern. Anwälte von Insassen beschreiben IK-2 jedoch als ein Straflager, das auf die „totale Vernichtung des Menschen“ ausgelegt sei.

    Dass die Wahl gerade auf diese Haftanstalt rund 100 Kilometer östlich von Moskau fiel – das bewertet Kirill Rogow als persönliche Rache des russischen Präsidenten. In seinem Blog auf Echo Moskwy schreibt der Politologe, dass Nawalnys Verlegung in die berüchtigte „Folterkolonie“ nicht nur deshalb möglich war, weil es im Land keinen breiten Protest gegen die Verurteilung gab. „Es war auch das Ergebnis der diplomatisch beschämenden Mission von Josep Borrell und der EU als Ganzes.“ 

    Die EU wendet voraussichtlich heute erstmals ihr neues Sanktionsregime für Menschenrechte an. Dabei sollen einzelne Silowiki wegen Vorgehens gegen Nawalny mit Vermögenssperren und Einreiseverboten bestraft werden. 
    Ähnlich wie Rogow kritisieren einige Liberale und Oppositionelle die neuen EU-Sanktionen als zahnlos. Fjodor Krascheninnikow – der gemeinsam mit Nawalnys Wahlkampfleiter Leonid Wolkow ein Buch geschrieben hat – sieht das etwas anders: Auf Republic erklärt der Politologe die grundsätzliche Logik von Sanktionen und deren (ambivalente) Folgen.  

    Die Bekanntgabe des EU-Sanktionspakets hat für große Enttäuschung unter den Regimekritikern gesorgt. Diese hatten sich selbst erfolgreich davon überzeugt, es könne westliche Sanktionen geben, die alle Probleme Russlands auf einen Schlag lösen. Und die außerdem Wladimir Wladimirowitsch, wenn schon nicht zum Weinen und zum Rücktritt, dann doch zumindest zur Freilassung Alexej Anatoljewitsch Nawalnys bringen würden und außerdem dazu, mit den ganzen Repressionen aufzuhören. 

    Keine Frage, die europäischen Sanktionen hätten deutlich schärfer ausfallen und einen größeren Kreis von Personen treffen können, die an der Tyrannei beteiligt sind. Aber ist das Ergebnis wirklich so schlecht? Oder steckt hinter den zaghaften Sanktionen vielleicht doch mehr als nur die Feigheit europäischer Politiker? 

    Die Sanktionen – aus den unterschiedlichen Gräben heraus betrachtet

    Die Sichtweise, die sich wohl am leichtesten nachvollziehen lässt, ist die der russischen Bürger, die mit dem gegenwärtigen Putin-Regime nicht einverstanden sind.

    Für sie wird immer deutlicher, dass Sanktionen nur sinnvoll sind, wenn sie sich gegen konkrete Personen richten, die vom bestehenden System profitieren – am besten gegen diejenigen, die dem unabsetzbaren Leader besonders nahestehen. Denn die „sektoralen Sanktionen“ treffen die russische Wirtschaft. Den daraus resultierenden Schaden gibt die gegenwärtige Elite gekonnt an die einfachen Bürger weiter: Sie sind es, die leiden, während die Eliten ihre Verluste kompensieren, das sollte jedem klar sein. Auch ein Aus der unseligen Pipeline Nord Stream 2 wäre schlimmstenfalls eine psychologische Niederlage und würde niemandem aus Putins Umfeld tatsächlich das Leben schwer machen; und falls doch, finden sich für die Geschädigten andere oder gänzlich neue lukrative Projekte.

    Ein Aus der unseligen Pipeline Nord Stream 2 wäre schlimmstenfalls eine psychologische Niederlage

    Manche meinen immer noch, dass eine allmähliche Verschlechterung des Lebensstandards die Bürger zu der Einsicht bringt, dass sich politisch etwas ändern muss. Diese Theorie mag überzeugend klingen, erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als eine Abwandlung der berühmten Theorie vom Kühlschrank, der den Fernseher besiegt.  

    Zeit, sich von ihr zu verabschieden.

    Erstens: Nichts ist gut an der Vorstellung, dass es allen zunehmend schlechter geht. Die Propaganda lässt sich die Wortfolge „Sanktionen gegen Russland“ nicht umsonst auf der Zunge zergehen, und erklärt damit, wer da genau Russland und jedem seiner Bürger schadet. Man muss schon sehr fanatisch oder zynisch sein, um allen, einschließlich sich selbst, den Abstieg in die Armut zu wünschen. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass Putin nicht ewig ist. Wenn die Wirtschaft bei seinem Abgang am Boden liegt, schadet das weniger ihm als uns – und zwar für viele Jahre.

    Nichts ist gut an der Vorstellung, dass es allen zunehmend schlechter geht

    Zweitens: Wenn sich der Lebensstandard zunehmend verschlechtert, beschleunigt das nicht den Anstieg der oppositionellen Gesinnung. Die Menschen würden sich vielmehr an die neuen Lebensumstände gewöhnen und nur immer mehr Kraft darauf verwenden, ihre alltäglichen und finanziellen Sorgen zu bewältigen. Folglich bliebe für politische Aktivität wenig Zeit, und auch die Risikobereitschaft würde nicht gerade größer. 

    Außerdem: Je ärmer der Durchschnittsbürger, desto weniger bedarf es, um ihn mit Almosen zu kaufen oder mit einem Jobverlust einzuschüchtern, sollte er an Protesten teilnehmen oder sich anderweitig ungebührlich verhalten.

    Wenn Wirtschaftssanktionen also eine schnelle und sichtbare Wirkung haben sollen, müssen sie extrem hart sein.

    Was könnte das sein? Außer dem Ausschluss aus dem SWIFT-System fällt einem wenig ein. Die Folge wäre eine Zerstörung oder zumindest eine schwerwiegende Schädigung des Bankensystems. Diese Maßnahme ist derzeit kaum denkbar – und das ist auch gut so. 

    Die Sichtweise des Westens

    Wie sehen die westlichen Staats- und Regierungschefs die Situation, und warum sind sie, gelinde gesagt, so vorsichtig?

    Erstens: Sie möchten sich nicht selbst schaden. Die konfrontative Rhetorik der russischen Regierung, die in letzter Zeit immer häufiger erklingt, hat eine ziemlich klare Botschaft: Als Krieg betrachtet der Kreml nicht nur die gute alte Überschreitung einer territorialen Grenze durch eine feindliche Armee, sondern alles, was erheblichen Schaden anrichtet. Das kann man natürlich für einen Bluff halten, aber wer möchte schon das Risiko auf sich nehmen, sich in solch heiklen Fragen zu irren? Jeder Staats- und Regierungschef eines demokratischen Landes ist sich darüber im Klaren, dass er keinen Dank ernten wird, wenn seine wirtschaftspolitische Entscheidung zu einem militärischen Konflikt mit Russland führt, noch dazu ist völlig unklar, wie das alles ausgehen würde. 
    Der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System könnte im Kreml durchaus als eine solche Kriegshandlung gedeutet werden, mit allen erwartbaren Konsequenzen. Genau darauf spielt der Kreml unentwegt an. Und genau deswegen wird es in nächster Zukunft auch keinen Ausschluss geben.

    Als Krieg betrachtet der Kreml alles, was erheblichen Schaden anrichtet

    Zweitens: In der Vorstellung von westlichen Staats- und Regierungschefs sieht die Welt ganz anders aus, als wir oder unsere Regierung sie sehen. Ihnen fällt es schwer, zu glauben, dass ein Regierungschef im 21. Jahrhundert sein Land in die Armut und Isolation treiben könnte, nur um seine Macht zu erhalten. Einfacher ist es, sich tröstende Theorien auszudenken, dass alles nicht so schlimm sei oder man im Kreml schon zur Vernunft kommen und sagen werde, dass das alles nur ein Witz gewesen sei, oder dass die Sache sich irgendwie von allein klärt. 
    Sich selbst erheblich zu schaden, nur um jemand anderen zu verärgern – das ist im Westen kein gängiges Verhaltensmuster. Genau das tut die russische Regierung aber und dies hat obendrein einen demoralisierenden Effekt: Was sollen Sanktionen bringen, wenn eine Regierung den eigenen Bürgern mit Gegensanktionen sogar mehr schadet? 

    In der Vorstellung von westlichen Staats- und Regierungschefs sieht die Welt ganz anders aus, als wir oder unsere Regierung sie sehen

    Drittens: Die in westlicher Rechtstradition erzogenen Staats- und Regierungschefs Europas und der USA können nicht so einfach zustimmen, dass Milliardäre aus dem Umkreis des russischen Präsidenten oder gar ihre Familienmitglieder mit Sanktionen belegt werden, nur weil sie Putin nahestehen. Denn das gilt es juristisch erst einmal nachzuweisen. 

    Und leider ist das auch richtig so: Denn heute wird einer wegen einer vermeintlichen Nähe zu Putin mit Sanktionen belegt, morgen ein weiterer, weil er irgendjemand anderem nahesteht – ohne Beweise im westlichen Sinne des Wortes. Das kann ziemlich ausufern, dieses Kapitel hat Europa bereits hinter sich und möchte es nicht wiederholen. Man braucht also Beweise, und die wird es früher oder später zweifellos geben.

    Viertens: Es kann durchaus sein, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs die verhängten Sanktionen als hart empfinden. Um den Unterschied in der Herangehensweise zu verstehen, sollten wir uns ein Beispiel aus einem anderen Bereich ansehen: Aus Sicht eines Durchschnittsrussen verbüßt der Massenmörder Breivik seine Gefängnisstrafe unter so komfortablen Bedingungen, dass so mancher unserer Landsleute gar nicht versteht, worin denn eigentlich die Strafe liegt. In Norwegen dagegen, und nicht nur dort, sieht man den Sinn einer Gefängnisstrafe nicht in der täglichen Demütigung – durch schlechte Lebensbedingungen oder durch die Schikane der Wärter und Mitinsassen –, sondern im Freiheitsentzug und der Isolation von der Gesellschaft. Aus Sicht der norwegischen Gesellschaft wurde Breivik also hart bestraft: Ihm wurde die Freiheit entzogen. 

    Es kann durchaus sein, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs die verhängten Sanktionen als hart empfinden

    Genauso ist es mit den Sanktionen: Aus ihrer Sicht haben die europäischen Politiker etwas sehr Gravierendes getan. Genauso wie unsere Regierung und Propaganda davon ausgeht, dass es im Rest der Welt ungefähr so zugeht wie in Russland, nur dass alle anderen mehr heucheln, so geht man auch in Europa naiverweise davon aus, dass Russland in etwa wie ein gewöhnliches europäisches Land ist, nur dass es merkwürdigerweise „in Richtung Autoritarismus driftet“, wie Josep Borell es ausdrückte. Man kann ihn und viele andere verstehen: Es fällt ihnen schon schwer einzuräumen, dass Russland in den 2020er Jahren „in Richtung Autoritarismus driftet“, wie sollen sie da akzeptieren, dass wir den Autoritarismus längst hinter uns gelassen haben und rasend schnell auf ganz andere „ismen“ zusteuern?

    Die Sichtweise des Kreml

    Die Bekanntgabe von personenbezogenen Sanktionen gegen einige Silowiki beunruhigt wohl kaum jemanden im Kreml.

    In Europa mag ein Justizminister oder Chef des Sicherheitsdienstes in erster Linie eine souveräne Person mit einem Privatleben und eigenen Interessen sein. In Russland aber sind das austauschbare Beamte, deren Hauptqualifikation in ihrem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit besteht. Menschen, die sich weigern könnten, eine Anordnung von oben auszuführen oder bei der leisesten Andeutung, ihren Ruf und ihre Zukunft zu opfern, gibt es im russischen Beamtentum gar nicht: Sie wurden schon auf den untersten Stufen der Karriereleiter ausgesiebt. 

    Fraglich ist auch, ob die Silowiki, die mit den Sanktionen belegt wurden, überhaupt noch Konten oder Immobilien in Europa haben – ich vermute, nein. Aber selbst wenn sie solche verlieren sollten, würde der Schaden zweifelsohne kompensiert – aus dem Staatsbudget versteht sich, also auf Ihre und auf meine Kosten.

    Bedeutet das, dass man im Kreml unbesorgt ist und tatsächlich findet, es sei alles halb so wild? Ungeachtet der zur Schau getragenen Prahlerei wird man wohl anerkennen müssen, dass die verhängten Sanktionen für Putin und sein Umfeld durchaus unangenehm werden dürften – weniger durch ihre aktuellen, als durch langfristige und fundamentale Konsequenzen.

    Man muss wohl anerkennen, dass die verhängten Sanktionen für Putin und sein Umfeld durchaus unangenehm werden dürften

    Erstens: Es kann ihnen nicht gleichgültig sein, dass die russische Opposition zu einem eigenständigen Akteur auf der internationalen Bühne avanciert ist. Noch nie hat jemand so vehement und wirkungsvoll das Recht Putins und der offiziellen Regierungsvertreter infrage gestellt, Russland im Ausland zu repräsentieren. Nicht nur, dass das Schicksal eines russischen Oppositionsführers zu einem festen Punkt auf der Tagesordnung westlicher Politiker geworden ist, seine Mitstreiter sind auch noch unmittelbar an der Gestaltung der europäischen Sanktionspolitik beteiligt. Wir alle beobachten eine verblüffende Situation: Nawalnys Mitstreiter treffen sich in Brüssel mit den führenden europäischen Diplomaten, während der russische Außenminister und seine Sprecherin offenbar zu innenpolitischen Propagandisten umgeschult wurden, keinen besonders guten obendrein. 

    Zweitens ist das derzeit nur die erste Anwendung des neuen Sanktionsmechanismus, der von der EU entwickelt und beschlossen wurde, um bei Menschenrechtsverstößen gegen die Verantwortlichen vorzugehen. Einmal in Gang gesetzt, wird dieser Mechanismus nun permanent wirken. Angesichts dessen, wie unserer Regierung mit Menschenrechten umgeht, ist eine Erweiterung der Sanktionsliste also nur eine Frage der Zeit. Weitere gezielte Bemühungen der Opposition sowie ihre Zusammenarbeit mit der europäischen politischen Gemeinschaft und Expertenkommissionen dürften im Kreml Unbehagen verursachen. 

    Früher oder später werden die Sanktionen also unweigerlich sowohl Einzelpersonen als auch breitere Personengruppen treffen, die vom gegenwärtigen Regime profitieren – genau wie Nawalny es ursprünglich gefordert hat.

    Doch ganz gleich, ob sich die westlichen Sanktionen gegen Einzelpersonen oder gegen einen bestimmten Wirtschaftssektor richten, sie allein werden nichts ändern. Das sollten wir nicht vergessen. Im besten Fall können sie als eine äußere Ergänzung wirken zu dem Druck von innen, den wir, die russischen Bürger, auf das politische System ausüben.
     

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  • Schöne, heile Wirtschaft

    Schöne, heile Wirtschaft

    Gestern [am 17. Februar] begann in Minsk der Prozess gegen Viktor Babariko, der 2020 als Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen antreten wollte. Der populäre Gegenspieler Alexander Lukaschenkos wurde bereits im Vorfeld des 9. August 2020 festgenommen. Dem ehemaligen Chef der Belgazprombank werden Korruption und Geldwäsche vorgeworfen. Kritiker werten den Prozess als politisch motiviert. 

    Bereits vor zwei Wochen waren zahlreiche Bankiers und Geschäftsleute in Belarus festgenommen worden. Möglicherweise zielen die Machthaber mit Repressionen nun auch auf den privatwirtschaftlichen Sektor des Landes. 

    In Belarus ist die ausgeprägte Staatswirtschaft ein bedeutendes Herrschafts- und Kontrollinstrument für den Machtapparat Lukaschenkos, wie der bekannte Ökonom Roland Götz in seiner Gnose zum Thema erklärt. Tiefgreifende Reformen der Staatsunternehmen sind also kaum denkbar, was auf der Allbelarussischen Volksversammlung, die am 11. und 12. Februar 2021 in Minsk stattfand, einmal mehr bestätigt wurde. Premierminister Roman Golowtschenko erteilte umfassenden Reformvorhaben eine Absage.

    Dass die weitgehend unrentable Staatswirtschaft aber eine Last für die Weiterentwicklung der ohnehin dauerkriselnden belarussischen Wirtschaft ist, konstatieren Experten seit vielen Jahren. So beispielsweise auch die Analyse des IPM Research Center und des Zentrums für ökonomische Forschung BEROC aus dem Herbst 2020. 

    Jеkaterina Bornukowa, akademische Direktorin des BEROC, seziert in einer aktuellen Analyse für das belarussische Medium Onliner.by, die offiziellen Wirtschaftsprognosen. Und sie fragt sich, woher die belarussischen Autoritäten ihren Optimismus hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung nehmen. 

    Das angebrochene und das vergangene Jahr sehen wirtschaftlich bei Gott nicht rosig aus. Die ganze Welt hat schon zu spüren bekommen, wie die Einkommen sinken und die Arbeitslosigkeit wächst. Oft ist zu hören, dass die Folgen der Pandemie mehr als ein Jahr zu spüren sein werden. Laut Prognosen des IWF wird das weltweite Wirtschaftswachstum kontinuierlich sinken: Von 5,2 Prozent in der Erholungsphase des Jahres 2021 auf 3,5 Prozent in 2025. 

    Schon zum wiederholten Mal macht die belarussische Regierung in diesem Chor allgemeinen Trübsinns und Pessimismus eine Ausnahme. Kurz: Zum Jahr 2025 ist ein Einkommenszuwachs von 20 Prozent geplant, das Bruttoinlandsprodukt soll um 21,5 Prozent steigen, die Arbeitsproduktivität in der Industrie um den Faktor 1,3.

    Das soll jetzt kein motivierendes Mantra sein, um das Übel der an vielen Krankheiten leidenden belarussischen Wirtschaft schönzureden, sondern es sind ernsthafte Prognosen, die auf höchster Ebene erstellt wurden. Deswegen sehen wir uns einmal genauer an, was sich hinter diesen Zahlen verbirgt und wie derart beeindruckende Werte erreicht werden sollen.

    Unternehmen kommen nicht nach Belarus, sie verlassen das Land

    Gehen wir die wesentlichen Punkte einmal durch: In den vergangenen fünf Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt in Belarus um 3,5 Prozent. Ich möchte das noch einmal unterstreichen: nicht im letzten Jahr, sondern in den letzten fünf Jahren zusammen. Natürlich waren es nicht die glücklichsten für die belarussische Wirtschaft, am Anfang stand das Krisenjahr 2016, am Ende das krisengezeichnete 2020. Aber wer garantiert denn, dass es in Zukunft besser wird? Derzeit gibt es wenig Anlass für Optimismus, weder auf weltwirtschaftlicher noch auf belarussischer Ebene. Doch unsere Regierung prognostiziert bis 2025 mutig ein Wachstum des BIP von 21,5 Prozent.

    Schauen wir uns die Jahre einzeln an: Dieses Jahr soll das Wachstum des BIP bescheidene 1,8 Prozent betragen, was unter gewissen Umständen möglich ist; denn diese prognostizierte Wachstumsbeschleunigung ist geringer als der weltweite Durchschnitt und niedriger als im benachbarten Russland. Für 2022 erwartet man schon ein Wachstum von 2,9 Prozent, und für 2023 von 3,8 Prozent (Nochmal: Das ist so viel, wie wir in den Jahren 2016 bis 2020 geschafft hatten.) 2023 soll das Wachstum sogar bei 5,4 Prozent liegen und 2025 bei ganzen 6 Prozent. 

    Die Minsker Traktorenwerke MTS gehören zu den Aushängeschildern der belarussischen Staatswirtschaft / Foto © Creative Commons CC BY-SA 4.0
    Die Minsker Traktorenwerke MTS gehören zu den Aushängeschildern der belarussischen Staatswirtschaft / Foto © Creative Commons CC BY-SA 4.0

    Völlig unrealistisch sind diese Prognosen nicht – man könnte sie erzielen, doch nur unter der Voraussetzung von tiefgreifenden Strukturreformen. Wir alle kennen die Länder, in denen die Wirtschaft solche überbordenden Sprünge macht. Ich wäre stolz, würde auch Belarus dazugehören. Aber ich bin mir dessen bewusst, dass es dafür Veränderungen braucht, die seit Jahrzehnten fällig sind. Man muss das Fundament für solche hochgesteckten Ziele sofort, schon heute legen. Aber bislang deutet nichts auf Absichten in dieser Richtung hin. 

    Der nächste Punkt: Das real verfügbare Einkommen der Bevölkerung soll um 20 Prozent steigen. Dieser Wert lässt sich nicht isoliert betrachten. Er hängt unmittelbar vom Wachstum des BIP ab. Dementsprechend lässt auch er sich nur erzielen, wenn zuvor grundlegende Veränderungen stattfinden, für die es keinerlei Anzeichen gibt. Der Wachstumswert für das Einkommen der Bevölkerung in dieser Höhe ist also sehr hypothetisch. 

    Was haben wir noch? In den letzten fünf Jahren sind die Investitionen in Anlagevermögen um 8,6 Prozent gesunken, wobei die Regierung plant, dass sie bis 2025 um 22 Prozent ansteigen. 

    Was rechtfertigt derartige Annahmen eines Investitionswachstums, während wir beobachten, wie das Land aufgrund der politischen Krise, der Wirtschaftssanktionen und der Nichteinhaltung von Verpflichtungen gegenüber der wirtschaftlichen Akteure an Attraktivität für Investoren verliert? Die Privatwirtschaft investiert schon heute weniger, und die Prognosen für die nächste Zukunft fallen pessimistisch aus. Unternehmen kommen nicht nach Belarus, sondern verlassen massenhaft das Land. 

    Die Abwanderung der Arbeitskräfte wird weiter zunehmen

    Man könnte natürlich annehmen, dass das Wachstum durch staatliche Investitionen zustande kommen soll, die dementsprechend vermutlich in den Staatssektor fließen würden. Aber das hatten wir schon mehrfach: Solche Investitionen sind nicht effizient, sie führen zu finanziellen Problemen in den Unternehmen, die sich dann später im allgemeinen Wirtschaftszustand des Landes, in Inflation und Währungsverlust niederschlagen. 

    Die nächste lautstarke Prognose: Die Arbeitsproduktivität in der Industrie soll um den Faktor 1,3 ansteigen. Das wäre tatsächlich leicht zu erzielen, man müsste nur die Arbeitsstellen in den Staatsunternehmen streichen, die unwirtschaftlich sind. Sogar wenn nur die unwirtschaftlichen Unternehmen aufgelöst würden, stiege die durchschnittliche Arbeitsproduktivität im Land schon beträchtlich. Aber offensichtlich sind derlei Maßnahmen nicht vorgesehen. Es bleibt also unklar, wie die Ergebnisse ohne einen Richtungswechsel erzielt werden sollen.

    Der nächste Punkt: Zum Jahr 2025 soll die Arbeitslosigkeit bei höchstens 4,2 Prozent liegen. Wenn wir die Krise überwinden und uns keine neue „einfangen“, ist das realistisch. Die Arbeitgeber können ihre Angestellten ohne weiteres entlassen, deswegen haben sie auch keine Hemmungen jemanden zu beschäftigen. Das gewährleistet einen flexiblen Arbeitsmarkt, senkt aber das Niveau der sozialen Sicherheit der Angestellten. Sogar während der Krise lag die höchste Arbeitslosenquote bei 7 Prozent. Hinzu kommt die Abwanderung von Fachkräften ins Ausland, die nach der Pandemie wahrscheinlich weiter zunehmen wird. Die Rechnung ist also denkbar einfach: Es wird immer mehr freie Stellen und weniger Bewerber geben – wie sollte die Arbeitslosigkeit da steigen?

    Zeit für rhetorische Fragen: Woher kommen solche Prognosen? Wozu braucht man sie? Ich versuche sachlich zu antworten. Als Richtwert, den man anstrebt, ist eine Prognose sinnvoll und vernünftig. Ohne Planung geht es nicht. Aber zum Erfolg gehört ein zweiter Faktor: die Fähigkeit, exakt zu kalkulieren, was für die Umsetzung notwendig ist. Aber am wichtigsten ist ein dritter Faktor: der Wille, das Geplante umzusetzen. 

    Kein Wachstum ohne tiefgreifende Reformen

    Unsere Regierung versteht sich zwar auf Optimismus und hohe Ziele, oft gelingt sogar die Wahl der notwendigen Mittel, doch bei der Umsetzung hapert es. 

    In den letzten fünf Jahren gab es viele Pläne, richtige und kluge Entwürfe, doch umgesetzt wurde so gut wie nichts. Reformen in den Staatsunternehmen waren geplant, doch es geschah nichts. Es war die Rede von einer Abkehr von staatlichen Krediten, doch sie nahmen im letzten Jahr sogar noch zu. Die Reduzierung von Subventionen in der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft waren geplant, doch sie bestehen nach wie vor. Deswegen gehe ich davon aus, dass die Regierung auch heute genau weiß: Ohne eine Lösung der politischen Krise und tiefgreifende Reformen im Staatssektor wird es kein Wachstum geben. Doch dazu findet sich in dem Programm kein Wort. 

    Zusammengefasst: Ich habe große Zweifel, dass sich ohne grundlegende Veränderungen auch nur ein Teil der prognostizierten Zahlen erzielen lässt. Das Traurigste ist, dass wir das Rezept für umfassende und wirksame Veränderungen all die Jahre direkt vor uns hatten. Aber es wird sich wohl kaum etwas ändern, solange man die für Belarus typische faule Ausrede ernst nimmt, dass die Rezepte für eine Gesundung der Wirtschaft, die in vielen anderen Ländern erfolgreich zur Anwendung kamen, für uns nicht gelten, weil sie unserem „einzigartigen“ Weg und den „Besonderheiten“ unserer Region nicht gerecht werden. Worin diese Einzigartigkeit und Besonderheit bestehen, weiß keiner so genau. Warum? Weil es sie nicht gibt. 

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  • 2021 – Jahr des Kampfes

    2021 – Jahr des Kampfes

     „Durchgedrehter Drucker 2.0“ – so haben zahlreiche unabhängige Medien in Russland Ende 2020 die Staatsduma bezeichnet, nachdem sie wieder wie am laufenden Band eine Reihe repressiver Gesetze ausgespuckt hat. Die Bandbreite reicht von weiterer Einschränkung der Versammlungsfreiheit über weitere Restriktionen für NGOs bis hin zur Verschärfung des sogenannten Agentengesetzes

    In diese Atmosphäre platzte am gestrigen Mittwoch, 13. Januar, die Nachricht von Alexej Nawalny: Der Oppositionspolitiker kündigte an, am kommenden Sonntag nach Russland zurückzukehren. Nach einer Nowitschok-Vergiftung befindet sich Nawalny seit Ende August in Deutschland. Nun hat er sich ein Ticket gebucht und fliegt zurück mit der Fluggesellschaft Pobeda, deutsch: Sieg. 

    Solchen metaphorischen Optimismus kann Wladislaw Inosemzew nicht teilen. Für den Wirtschaftswissenschaftler ist die Überführung der mutmaßlichen Gift-Attentäter zwar das Ereignis des Jahres 2020, weil sie dem Kreml einen empfindlichen Schlag verpasst hat. In The Insider argumentiert Inosemzew, dass dies aber nur ein trügerischer Sieg gewesen sei. Und dass 2021 mit einer vernichtenden Niederlage der Opposition enden wird.

    Anfang 2021 stehen die Dinge ziemlich klar. Die russische Gesellschaft gliedert sich in drei Teile: Der erste sind die Dissidenten – Menschen mit einem modernen/europäischen Weltbild, die grundlegende humanistische Werte teilen, Gewalt und Rechtlosigkeit ablehnen und gegen die Einschränkung ihrer politischen Freiräume protestieren. 
    Momentan zeichnen sie sich einerseits durch ihre hohe Gesetzestreue aus (niemand ruft zum gewaltsamen Sturz der Regierung auf, ja nicht einmal zu nicht genehmigten Protestaktionen), andererseits durch ihr Vertrauen in die „virtuellen“ Kampfmittel (Postings, Videos, Likes, Aktivität in den Sozialen Netzwerken). Das verbindet sie mit den Dissidenten der 1970er Jahre. Die hatten von der Sowjetmacht gefordert, sich an die von ihr erlassenen Gesetze zu halten; allerdings ist offenkundig, dass solche Forderungen derzeit gar nicht aktuell sein können, da die gegenwärtige Regierung die Gesetze nach Lust und Laune ändert.

    Der zweite Teil der Gesellschaft, das sind die Machthaber, die übergeschnappt sind vor lauter Befugnissen, Reichtum und Gesetzlosigkeit. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Einzelnen und sein engstes Umfeld. Das Land ist längst von einer großen Gruppe von Personen privatisiert worden, die es als ihr Eigentum betrachtet und nicht beabsichtigt, sich von diesem „Besitz“ zu trennen. Die Regierung stützt sich auf Massen von Menschen, die unfähig sind, etwas zu erschaffen, aber „ihren“ Teil des allgemeinen Reichtums einfordern, dafür, dass sie die Gesellschaft in Schach halten. Ein vergleichbares Ausmaß sehen wir im benachbarten Belarus, in Russland könnte es allerdings noch größer werden, bedenkt man, wie viel Vermögen von dieser mächtigen Gruppe kontrolliert wird.

    Ungeachtet des Spotts der Dissidenten und der Vorhersagen eines baldigen Zusammenbruchs hat die russische Machtriege im vergangenen Jahr viel erreicht: Sie hat die wesentlichen, formalen Hürden beseitigt und sich einen unbegrenzten Machterhalt gesichert, die Bürgerrechte signifikant eingeschränkt (wobei bis dato, so möchte ich Sie erinnern, eine Großzahl der kürzlich und vor längerer Zeit verabschiedeten Gesetze noch nicht einmal zur Anwendung kam), sie hat ihr Kapital in Sicherheit gebracht und musste keine Proteste der Bürger wegen der verschlechterten Wirtschaftssituation erdulden.

    Das einfache Volk: vor allem damit beschäftigt, zu überleben

    „Die Dissidenten“ und „die Macht“ sind zwei widerstreitende soziale Minderheiten. Die dritte Gruppe übersteigt sie in der Zahl beträchtlich – es ist das einfache Volk: Menschen, die vor allem damit beschäftigt sind, zu überleben (wir sprechen hier nicht zwangsläufig von Armut, denn das Überleben stellt in unserem Land nicht bloß für Arbeiter und Rentner eine Herausforderung dar, sondern auch für die meisten Unternehmer: Der angestrebte Lebensstandard kann unterschiedlich hoch sein, aber die Handlungstaktik ist stets dieselbe). 
    Dieser Teil der Gesellschaft nimmt selten am politischen Kampf teil – das war übrigens schon immer und überall so. Mit den wenigen Ausnahmen, wenn es darum ging, sich von einer Regierung zu befreien, die dem Volk im Kern fremd war (wie in den baltischen Staaten, als sie das kommunistische Regime stürzten), oder wenn die Regierung einem schlichten und nachvollziehbaren Ziel grundlegend im Wege stand (wie der Annäherung der Ukraine an Europa). Aber wenn es weder eine von außen oktroyierte Macht noch eine attraktive, greifbare Alternative gibt, ist eine Mobilisierung dieser Gruppe äußerst unwahrscheinlich.

    Zuckerbrot und Peitsche

    Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sich die Machthaber dieser Tatsache bewusster als die Dissidenten. Sie urteilen nach den mickrigen Teilnehmerzahlen bei den Straßenprotesten, während die Dissidenten falsche Vorstellungen entwickeln aufgrund der Klicks auf YouTube, die von einer bequemen Couch oder einem warmen Bett aus gesetzt wurden. Daher wird der Kreml die Bevölkerung wohl in einem bescheidenen Ausmaß unterstützen (er weiß, dass die Ressourcen für viele Jahre ausreichen müssen und man dem Volk einmal zugesicherte Sozialleistungen nicht wieder entziehen kann) – gleichzeitig wird er mit maximaler Härte gegen dissidentische Bestrebungen vorgehen, um sie im Keim zu ersticken. 

    2021 wird in meinen Augen ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht. Und dieser wird leider nicht mit der Flucht entlarvter Staatsbeamter, einem Verbot des FSB, Amtsenthebungen der Silowiki und einer Auslieferung von Putin nach Den Haag enden, sondern mit einer kolossalen Niederlage der Dissidenten – weil die Daumenschrauben angezogen werden, ein wesentlich konservativeres Parlament zusammengesetzt, die Zensur verschärft und die Zahl der Auswanderer rapide zunehmen wird. Es fällt mir nicht leicht, diese Prognose zu machen, aber ich sehe keinen Anlass für eine andere. Durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ist fast ausgeschlossen, dass die Eliten zurückrudern oder es zu einer internen Spaltung kommt. 

    2021 wird ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht

    Die russische Politik steuert seit 1993 geradewegs auf 2021 zu – nun plötzlich eine Wende nach „links“ oder „rechts“ zu erwarten, ist gelinde gesagt naiv. Die Dissidenten wurden ja nicht nur aus den Machtstrukturen verdrängt, sondern in vielen Fällen auch aus dem Land. 

    Offen ist die wichtige Frage, ob die russische Jugend, die in einem Zeitalter der totalen Kommerzialisierung großgeworden ist, die damit einhergehenden Wertvorstellungen auch im philosophischen und nicht nur im finanziellen Sinne teilt. Der Machtblock, seine fehlende Bereitschaft, Fehler einzugestehen, zurückzurudern und die absolute Unmöglichkeit, seine unzähligen Regionalfürsten in eine moderne Gesellschaft zu integrieren – das alles deutet auf einen Krieg hin, bei dem es nicht ums Leben, sondern um den Tod geht. 

    Unter diesen Umständen kann 2021 ein Jahr werden, in dem die Machthaber – nachdem die Gesellschaft die pandemische Erstarrung überwunden hat – über die Unzufriedenen das ganze in den letzten Jahren akkumulierte Arsenal an Maßnahmen schütten. Das Urteil gegen Julia Galjamina, die Nötigung der FBK-Aktivisten zum Wehrdienst auf Nowaja Semlja, die Geldstrafen und tagelangen Haftstrafen wirken dagegen geradezu niedlich. Zum Einsatz kommen dann das Gesetz gegen ausländische Agenten, Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Haftstrafen wegen Verleumdung und Beleidigung staatlicher Amtsträger und vieles mehr. Bedenkt man, wie viele rechtswidrige Urteile in den letzten Jahren gesprochen wurden, ohne dass eine Welle des öffentlichen Protests folgte, wird schnell klar, wie einfach es für die Regierung sein wird, den Druck auf die Dissidenten zu erhöhen.

    Keine Revolutionen

    Große Veränderungen fanden in Russland im 20. Jahrhundert nur in zwei Situationen statt. 

    Einmal begannen sie, als innerhalb der Machtelite ein Bewusstsein dafür entstanden war, dass Veränderungen notwendig waren, woraufhin sich eine legale Opposition herausbildete. Zur Februarrevolution von 1917 war es gekommen nach den ersten Duma-Wahlen, nach Einführung der Pressefreiheit und der Bildung verschiedener politischer Parteien. Zum Sommer von 1991 führte die Verkündung von Perestroika und Glasnost, die Durchführung demokratischer Wahlen 1989 und die Entstehung verschiedener „Plattformen“ innerhalb der KPdSU. Es lief stets unterschiedlich ab – doch die großen politischen Veränderungen waren stets „Revolutionen von oben“ und nichts anderes. Heute lässt sich „oben“ nichts Vergleichbares beobachten, im Gegenteil: Menschen, die einmal an die Macht gekommen sind, rücken trotz ziemlich unterschiedlicher Ansichten immer näher um den Herrscher zusammen.

    Außerdem gibt es die bekannte bolschewistische Praxis des „Widerstandsrechts“, doch diese ist heute aus zweierlei Gründen nicht anwendbar: Zum einen war die zweite Revolution von 1917 die Fortführung der „Wirren“ von 1905 bis 1907, und in der jüngsten Geschichte Russlands ist nichts Vergleichbares zu beobachten. Zum anderen – und das ist sogar wichtiger – hat sich beim Volk im Laufe des letzten Jahrhunderts eine Ablehnung von Massengewalt herausgebildet, deswegen ist es sinnlos, die Mittelschicht in den Großstädten auf die Barrikaden zu rufen. 
    Außerdem muss uns sehr bewusst sein, dass die Menschen heute über ein nie dagewesenes Ausmaß an Freiheit jenseits der Politik verfügen (man kann den Fernseher ausschalten, sich nur noch mit Gleichgesinnten treffen, Geld verdienen und notfalls sogar das Land verlassen), deswegen wird der politische Druck nicht als wesentlich empfunden und zieht keine Massenproteste nach sich. 

    Leere Portemonnaies trennen die Leute

    Relevant ist auch die spezifische Wirtschaftssituation. Manchmal stoße ich in Zeitungen oder Blogs auf die These, die wirtschaftlichen Probleme würden das Fass zum Überlaufen bringen (dort wird dann an die leeren Regale in der Sowjetzeit erinnert, die den endgültigen Zusammenbruch des Systems herbeigeführt haben, und man glaubt, heute würde die Armut dasselbe bewirken). Das ist illusorisch. Sowohl Anfang 1917 als auch Ende der 1990er waren die Geschäfte leer – und das war ein Beweis für den Bankrott des Systems. Doch 2020 bersten die Geschäfte vor Waren, und die Unfähigkeit, diese zu erwerben, beweist nichts als die Zahlungsunfähigkeit des Einzelnen. Leere Geschäfte verbinden die Menschen untereinander, leere Portemonnaies trennen sie. Aus genau diesem Grund gab es die letzten Proteste mit linken Losungen im postsowjetischen Raum in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. 

    Keine Chance, die herrschende Clique loszuwerden

    Ich kann verstehen, wenn meine Position viele aufrichtige und mutige Menschen ärgert, die nicht schweigen, sondern für die Freiheit der Russen kämpfen, dafür, dass sich Russland in eine demokratische, europäische Richtung entwickelt. 
    Ich kann verstehen, dass sie in jedem diskreditierenden Fehltritt der Regierung, in jeder Entlarvung Putins, in jedem Sanktionspaket gegen seine Mittäter die Funken für Veränderungen sehen wollen. 
    Und doch bleibe ich bei meinem Standpunkt, den ich vor fünf, und auch schon vor zehn Jahren hatte, nämlich, dass es keinerlei Chancen gibt, die herrschende Clique loszuwerden – weder 2021 noch in den darauffolgenden Jahren. 
    Was immer wir hinter bestimmten Ereignissen zu sehen glaubten, die letzten zwanzig Jahre standen unmissverständlich im Zeichen eines Abrutschens in den Autoritarismus. Das Licht am Ende des Tunnels, das kurz in der Bloßstellung Putins durch Nawalny aufleuchtete, kann auch die Sonne von Austerlitz gewesen sein, die nach einem weiteren Sieg des kleinwüchsigen Diktators bald wieder über dem Schlachtfeld erstrahlt. 

    Vor sechs Jahren schrieb ich, dass die wirtschaftliche Stagnation und die politischen Probleme das Regime nicht zerstören werden, dass dieses erst abgelöst wird, wenn es für die Mächtigen nicht mehr profitabel genug ist, Russland zu beherrschen. Leider ist unser Land immer noch zu reich, um dies in naher Zukunft zu erwarten …

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