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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

    „Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

    „Es gibt keine Freiheit, wenn man nicht täglich für sie kämpft“ skandieren Pussy Riot auf ihrer Europa-Tournee Riot Days. Es ist eine Art Punk-Performance, immer wieder wenden sich Pussy Riot darin gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, fordern ein Öl- und Gasembargo, alles untermauert von dokumentarischen Bildern und wummernden Elektrobeats.

    Die Tour, die am 9. Juni in Lissabon endet, begann am 12. Mai in Berlin. Erst kurz zuvor war Maria Aljochina eine spektakuläre Flucht aus Russland gelungen. Seit September 2021 war sie unter Hausarrest, der in 21 Tage Haft in einer Strafkolonie umgewandelt werden sollte. Sie habe sich als Essenslieferantin verkleidet, erzählte Aljochina mehreren Medien, so sei sie entkommen trotz Polizeibewachung. Über Belarus sei sie in die EU geflohen, allein um von dort über die Grenze weiter nach Litauen zu kommen, habe sie drei Versuche gebraucht. Als Grund für die Flucht nennt sie in verschiedenen Gesprächen vor allem die Tournee, die sie unbedingt habe machen wollen, um gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu protestieren.

    Es sind nicht nur Aktivisten wie Aljochina, sondern auch Journalisten, Menschenrechtler, aber auch IT-Experten, die Russland seit dem 24. Februar 2022 in Scharen verlassen haben. Doch nicht erst seit der russischen Invasion in die Ukraine werden unabhängige Akteure unterdrückt, die ohnehin autoritäre Entwicklung wurde über mehrere Jahre immer repressiver. Erste starke Einschnitte gab es nach den Bolotnaja Protesten 2011/12, massiv verschärfte sich das Vorgehen des Staates außerdem nochmal im vergangenen Jahr nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny: „Wer nicht Freund ist, ist Feind“, konstatierte damals die Politikanalystin Tatjana Stanowaja. Im Zusammenhang mit diesen Protesten war Aljochina im September 2021 zu einem Jahr Hausarrest verurteilt worden, angeblich habe sie gegen „Hygienevorschriften“ verstoßen. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erkannte Aljochina daraufhin als politische Gefangene an. 

    Drei Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine hat Maria Aljochina ein Interview gegeben für die YouTube-Sendung Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa). Mit der Journalistin Katerina Gordejewa, die bekannt ist für ihre tiefen und sehr persönlichen Interviews, sprach sie über ihren Weg als Aktivistin, über Zweifel, Schweigen und Angst – und darüber, wie sie selbst mit diesen Gefühlen umgeht. Das Gespräch ist auch eindrucksvolles Dokument des repressiven Systems in Russland kurz vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.

    Über das Zweifeln

    Katerina Gordejewa: Stimmt es, dass du bis zu dem Morgen der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale gezweifelt hast, ob du mitgehen sollst?
    Maria Aljochina:
    Ja, zweifeln kann ich gut. Ich denke, ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich alles durchsprechen konnte, um mir im Laufe des Gesprächs über einige Dinge klar zu werden. Nicht nur, ob es richtig war, sondern insgesamt über die Ausdruckform dessen, was ich tue.

    Du hast mit deiner Freundin, der Bassistin, gesprochen, und bist am Ende mitgegangen und sie nicht. Hätte sie mitgehen sollen? 
    Ja, das hätte sie, sie hatte mit uns geprobt.

    Aber sie ist nicht mitgegangen.
    Nein, ist sie nicht.

    Und du schon.
    Ich schon.

    Wenn wir jetzt zurückspulen würden, würdest du wieder mitgehen?
    Natürlich würde ich wieder mitgehen! Du meinst wegen …

    … wegen der Konsequenzen. War es das wert?
    Was ist „es“?

    Na, der Auftritt … die vierzig Sekunden Song, das Video. 
    Wir hätten uns besser vorbereiten sollen.

    Und fast zwei Jahre Gefängnis. War es das wert?
    Ja. Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können. Auch beim Absitzen, im Gefängnis und danach, es gibt immer etwas, das man besser machen könnte. Manches hätte man besser bleiben lassen. Aber sicher nicht unsere Aktion.

    Hättest du je gedacht, dass du dort im Westen reich und berühmt werden würdest, während du hier im Hausarrest auf einem Balkon mit Blümchen hockst und auf einen schick renovierten Spielplatz starrst?
    Ich bin ja nicht nur im Hausarrest … Ich war ja davor noch im Gefängnis. Das alles ist eine Art Zeugnis, ein lebendiges Zeugnis dessen, was hier vor sich geht. 

    Wofür hast du den Hausarrest bekommen?
    Das war ein Strafverfahren wegen eines Instagram-Posts mit dem Aufruf zu einer Solidaritätsdemo für Politgefangene, einer davon Alexej Nawalny. [Der offizielle Vorwurf lautet, dass Maria Aljochina gegen die Corona-bedingten Hygieneregeln verstoßen habe. Im September 2021 wurde sie deswegen zu einem Jahr Hausarrest verurteilt – dek]

    Welchen Status hast du gerade?
    Ich bin verurteilt.

    Derzeit bist du das einzige bekannte Mitglied von Pussy Riot, das in Russland geblieben ist, und eine der wenigen Angeklagten in den Hygieneprozessen, die nicht ausgereist sind. Warum bleibst du in Russland?
    Ich bleibe und ich lebe in Russland, weil es meine Heimat ist. Es ist meins. Eigentlich könnte man diesen tollen kleinen Zeitabschnitt zwischen Urteilsverkündung und Berufungsverfahren dafür nutzen, um abzuhauen. 

    Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können

    Aber das ist ein One-Way-Ticket. Das brauche ich nicht. Ich mag Tickets wirklich sehr, ich liebe es zu fliegen, ich steh voll auf Reisen, aber bitte in beide Richtungen. 
    Ich möchte nicht, dass mir jemand einen Arschtritt gibt und sagt: „Hau ab“. Sollen die doch selbst abhauen. [Im Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen, s.o. – dek]
     

    Vom Öko-Aktivismus zu Pussy Riot

    Wie warst du als Kind?
    Schwierig. Ich glaube, ich habe erst jetzt, im Hausarrest, bei dem ich sehr viel mit meiner Familie gesprochen habe, verstanden, wie schwer sie es eigentlich mit mir hatten.

    Deine Großmutter hat dich „der Geist des Widerstands“ genannt. Ab welchem Zeitpunkt würdest du über dich sagen, dass du alles anders gemacht hast als andere Kinder?
    Naja, ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt und … mich geweigert, etwas zu tun, solange man mir keinen Grund dafür genannt hat. 

    Wie hast du dich damals selbst gesehen?
    Ich hatte mich damals verliebt und fuhr mit dem netten Kerl per Anhalter ins Naturschutzgebiet Utrisch. Eine unvergleichliche Gegend im Süden Russlands. Wacholder- und Pistazienwälder, in denen verschiedenste Leute leben, alle möglichen Hippies, aber nicht nur Hippies. Dort haben wir eine Zeitlang gelebt, dann sind wir zurückgekommen, haben gearbeitet, irgendwann habe ich gemerkt, dass ich schwanger bin und [wusste, dass ich] das Kind behalten möchte. Ich habe ja sehr früh ein Kind bekommen, mit 18 beziehungsweise 19. 

    Ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt

    Die ersten Jahre war ich mit Philipp zu Hause, dann wurde es mir zu langweilig. Mit einem Kleinkind konnte ich mich für kein Präsenzstudium einschreiben, und ich habe nur zwei Orte in Moskau gefunden, wo man ein Fernstudium machen konnte. Irgendwann in der Mitte des Studiums habe ich im Internet gelesen, dass der Wald abgeholzt werden soll. Um da irgendeine Villa oder Datscha zu bauen. Ich habe mir zwei Adressen von Umweltschutzverbänden rausgeschrieben, WWF und Greenpeace, meinen Rucksack gepackt und bin losgefahren, um zu fragen, was ich tun kann, um das zu verhindern. 

    Bei einer Adresse hat man mich zum Teufel gejagt, bei der anderen habe ich einen tollen Menschen kennengelernt, Mischa Kreindlin, den Zuständigen für Naturschutzgebiete bei Greenpeace. Ich habe ihn gefragt, was ich tun kann. Er sagte: „Geh Unterschriften sammeln. Ich drucke dir die Formulare aus. Wenn du 5000 zusammen hast, kommst du wieder.“ Ich habe mir ein paar Leute als Verstärkung geholt und wir sind los, Unterschriften sammeln.

    Als wir damit fertig waren, habe ich gefragt: „Was kann ich noch machen?“ Es hieß: „Du kannst ein Piket machen.“ Damals durfte man noch diese Einzeldemos machen. Heute sperren sie dich wegen einem Einzelpiket für 30 Tage weg, aber damals war das noch ok.

    Zwischen „damals“ und „heute“ liegen gerade mal 15 Jahre.
    Ja. Und zwischen 2012 und 2021 liegen keine zehn, aber der Unterschied ist gigantisch. 

    Vom Öko-Aktivismus zu dem Pussy Riot-Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale ist es ein ziemlich weiter Weg.
    Wieso? Überhaupt nicht. Eine Freundin hat mich zu Pussy Riot gebracht, was damals noch die Gruppe Woina war. Sie haben mich in eine Garage eingeladen, in der sie zu der Zeit wohnten, das war so eine romantische WG der Leute von der Philosophischen Fakultät. 

    Bei Pussy Riot sah ich plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise

    Weißt du, meine Freunde, also die Leute von der Uni oder aus Lyrikgruppen, hatten so gar nichts mit den Leuten gemeinsam, die zum Beispiel zu den Pikets kamen. Das waren zwei unterschiedliche Welten, ohne jegliche Berührungspunkte. 
    Und hier sah ich jetzt plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise.


    ÜBER DIE REUE

    Stimmt es, dass man während der Ermittlungen [nach der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale 2011] von euch verlangt hat, Namen und Adressen der anderen Pussy Riot-Mitglieder zu nennen und ihr es nicht getan habt?
    Sie haben erst Nadja [Tolokonnikowa] und mich verhaftet, Katja [Samuzewitsch] ist später von selbst gekommen. Aus Solidarität. Der Schritt ging von ihr aus. 

    Und die anderen sind nicht gekommen.
    Nein. Aber jeder entscheidet selbst, ob er ins Gefängnis wandern will …

    Hat man von euch verlangt, die Namen der anderen zu nennen?
    Irgendwie schon … Was sie natürlich immer verlangen, alle Bullen, immer und überall, seit zig Jahrzehnten, ist ein Schuldeingeständnis. Das ist das Wichtigste.

    Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam

    Erst bringen sie dich in die Petrowka, danach erlassen sie einen Haftbefehl und bringen dich ins Untersuchungsgefängnis. Und wir sind in den Hungerstreik getreten, es war kalt. Von den Bettlaken bekam man dauernd einen kleinen Schlag. Dort gab es zum ersten Mal Handschellen, Gesicht zur Wand, Hände hintern Rücken, dunkle Zelle. Theoretisch gibt es natürlich ein Fenster, aber es ist völlig dicht durch diese Wimpern aus Metall. Tja, also all diese unerfreulichen Dinge. 

    Was sind Wimpern?
    Wimpern? Wie soll ich dir das erklären? Stell dir ein Fenster vor: Du hast den äußeren und den inneren Teil, außen sind solche … so eine Art Jalousien angebracht, starr sind die, aus Metall und immer geschlossen. Das sind Wimpern. 

    Was für eine nette Bezeichnung.
    Ja. Da gibt es viele nette Dinge. Dann kommt ein Polizist und fängt davon an, dass du ja ein Kind hast, erzählt von den anderen Beteiligten, von einem Schuldeingeständnis, davon, dass du nur jetzt mit Bewährung davonkommen kannst, ansonsten geht es in U-Haft und dann nie wieder raus, also entscheide dich mal. So läuft das.

    An einer sehr ergreifenden Stelle in deinem Buch heißt es: „Am Morgen schaute Philipp Wilde Schwäne im Fernsehen. ‚Ich bin bald wieder da‘, sagte ich und packte meinen Rucksack. Er war damals vier, es waren noch drei Monate bis zu seinem fünften Geburtstag. Ich sagte ‚Ich bin bald wieder da‘, zog die Tür hinter mir zu. Und kam nach zwei Jahren wieder.“ 
    Ich habe diese Stelle wieder und wieder gelesen und musste jedes Mal fast weinen. Ich verstehe nicht, was für ein Ziel du wohl hast, um diesem Ziel zwei Jahre vom Leben deines Sohnes, von vier bis sechs, zu opfern. 

    Du stellst die Frage falsch. Du stellst sie so, als hätten wir alle gewusst, dass es diese zwei Jahre werden, dass es Gefängnis wird, dass es ein Verfahren geben wird. Das wusste keine von uns. 

    Würdest du es nochmal machen, wenn du wüsstest, was dich erwartet?
    Ja. Erstens mag ich den Konjunktiv nicht besonders. Und zweitens: Entweder du bereust etwas aufrichtig oder eben nicht.

    Und du bereust es nicht?
    Nein. Tu ich nicht. Aber das ist nicht leicht.

    In den sieben Monaten U-Haft habe ich sehr viele Memoiren von sowjetischen Dissidenten gelesen, weil ich mir gedacht habe: Von wem, wenn nicht von ihnen, soll ich lernen? 

    Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam. Ich wollte gern nachlesen, was andere Menschen unter diesen Umständen gemacht haben, die vor uns dort waren. Denn das sind ja  Erfahrungen, man darf da ja nicht völlig unvorbereitet reingehen. 

    Wen hast du gelesen?
    Ehrlich gesagt habe ich Schalamow zum ersten Mal im Untersuchungsgefängnis gelesen. Es war eines der ersten Bücher, die man mir mitgebracht hatte. Damals haben wir erst angefangen zu verstehen, was Bücherübergaben sind. Ein Buch in die U-Haft zu bekommen, ist nicht so einfach, wie man meinen könnte. Denn sie lassen nichts durch, was irgendwas im Titel hat, das sie irritiert. Beispielsweise Hannah Arendts Abhandlung ging lange Zeit nicht, bloß weil darin das Wort „Revolution“ vorkam. Das konnte ich sehr lange nicht bekommen, weil sie dachten, es wäre eine Anleitung zur Revolution und keine historische Abhandlung. Sie sehen also irgendwo, vorn oder hinten drauf ein verdächtiges Wort und kassieren das Buch ein.

     

    KAMPF FÜR DIE RECHTE

    Hattest du die Idee, für deine Rechte in der Haft zu kämpfen schon in der U-Haft oder erst in der Strafkolonie?
    Heute, 2021 [das Interview wurde im November 2021 geführt – dek], leben wir verglichen mit 2012 in einer super anderen Zeit. Damals gehörten wir zu den ersten, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …

    Menschen aus der soften Realität, die plötzlich im Gefängnis gelandet sind?
    Ja, wir waren Politgefangene, deren Prozess die Leute wirklich schockiert hat. Heute, wenn Tausende hinter Gittern sind, ist so eine Aufmerksamkeit rein physisch gar nicht möglich, im Vergleich zu Zeiten, in denen nur ein paar Leute in Haft sind. 

    Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles

    Die Kommission für Menschenrechte kam zum ersten Mal in der U-Haft zu mir, als ich in der Quarantäne-Zelle war. Du kannst es dir ungefähr vorstellen: Ein Mensch ist zum ersten Mal hinter Gittern, tritt zum ersten Mal in Hungerstreik, das ganze Paket zum allerersten Mal. Man bringt dich in die Quarantäne-Zelle, um deinen Gesundheitszustand zu überprüfen. Pro forma, versteht sich. Die Polizisten wissen schon Bescheid. Was mit dir los ist. Danach wird entschieden: Entweder gehts in die allgemeine oder in die Extrazelle. 

    Mir ist aus deinem Buch in Erinnerung geblieben, der erste Hungerstreik wäre wie die erste Liebe.
    Ja, so etwas habe ich geschrieben. Die Menschenrechtler kamen zu mir, als ich das Gefängnis noch gar nicht wirklich gesehen hatte. Da haben mich bestimmte Dinge rein menschlich gewundert, wie wahrscheinlich jeden. Ich habe gezeigt, dass wir die Fenster mit Brotkügelchen abdichten, weil es so kalt ist. Da war nichts von wegen: „Ich erkläre dem System den Kampf und bin die neue Dissidentin des 21. Jahrhunderts.“ Es war einfach nur eine rein menschliche Aussage. Aber sie … das ist der große Unterschied bei den Leuten des Systems, sie fassen banale Ehrlichkeit als Kriegserklärung auf. Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles. Damit fängt es an. 

    Wenn du dann in die Strafkolonie kommst, begreifst du das Ausmaß der Rechtlosigkeit der Menschen dort, und wie viele Möglichkeiten du im Vergleich zu ihnen hast, um dich zu wehren. 

    Weißt du, wie wenige Frauen dort Anwälte haben? Höchstens fünf Prozent. 

    Oxana Darowa, deine Anwältin, wie bist du an sie gekommen?
    Oxana ist eine super Anwältin. Und ein Mensch, ohne den ich in der ersten Strafkolonie gar nichts geschafft hätte. Ich habe sie durch die Menschenrechtler gefunden, an die sich meine Mutter gewandt hatte. Ein Zufall. Sie ist klasse. Sie hatte die Idee, gegen die Kolonie vor Gericht zu ziehen.

    Du bist der erste Mensch in Russland, der einen Prozess gegen eine Strafkolonie gewonnen hat. 
    Ja. Oxana hat die den Maßnahmen angefochten, die mir auferlegt wurden, denn sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht. 

    Maßnahmen anzufechten ist eigentlich ziemlich simpler Bullshit, der in zwanzig Minuten geprüft wird. Bei uns hat es jeweils acht Stunden gedauert. Drei von vier Maßnahmen haben wir erfolgreich angefochten. Das Gericht hat sie als rechtswidrig eingestuft. 

    Sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht

    Und weil ich in Zusammenhang mit den rechtswidrig auferlegten Maßnahmen schon das Kreisgericht in Beresniki als Plattform hatte, habe ich auch über andere rechtswidrige Dinge gesprochen, die in der Kolonie passieren. Und weil Menschen diese Informationen verbreitet haben, gab es irgendwann Kontrollen. Erst auf regionaler Ebene und später offenbar auch aus Moskau. Danach haben sie mich verlegt. Und eine kleine süße Hölle für mich veranstaltet, eine Reihe höllischer Durchsuchungen.

    Und da haben sie wegen dir die anderen bestraft …
    Genau. Sie haben Schlösser an die Türen der Gruppe gehängt, in der ich war. Dadurch konnten die Frauen beispielsweise nicht mehr in die Krankenabteilung, um Medikamente zu holen. Oder sonstwohin.

     

    ÜBER DIE FRAGE: WAR ES DAS WERT?

    Hattest du den Gedanken, dass du für etwas Abstraktes kämpfst? Während reale Menschen unmittelbar in deiner Nähe deswegen leiden? Nur weil du keine Ruhe geben kannst?
    Klar. Solche Gedanken lassen sich nicht vermeiden, und falls du es versuchst, erinnern sie dich schnell daran.
    Ja. Das ist schwer. Weil manche deswegen nicht auf Bewährung rauskommen und noch ein paar Jahre sitzen müssen.

    Und ihre Kinder nicht sehen.
    Und ihre Kinder nicht sehen. Einfach nur, weil ich in ihrer Gruppe bin.

    Fragst du dich an dieser Stelle, ob es das wert war?
    Natürlich.

    Und was sagen die Frauen, die es betrifft?
    Die Frage ist falsch gestellt. Eine Frau darf ihre vorzeitige Entlassung nicht verlieren, nur weil sie mit mir in einer Gruppe ist. 

    In Beresniki hast du erreicht, dass es für jedes Stockwerk ein Telefon gibt und nicht nur eins im Straflager, wo man nur einmal im Monat telefonieren darf, richtig? Du hast erreicht, dass es Fernseher gibt.
    Naja … Ich mag nicht, wenn du sagst, ich hätte es erreicht. Es war nicht ich, wir waren es. Allein hätte ich das nie geschafft.

    Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz

    Meine Anwältin, die Leute, die aus Moskau kamen, um mich zu unterstützen und über die Prozesse zu berichten. Ein bisschen auch die regionalen Menschenrechtler, die teils mit der lokalen Verwaltung zusammenarbeiten, aber in dem Fall hatten auch sie sich eingeschaltet. 

    Und die Frauen, die keine Angst hatten, mit dir wenigstens eine zu rauchen …
    In Beresniki war das leider nur eine Person. Lena, eine junge Frau, sie hat einfach nur bestätigt, dass ich nicht lüge. In Nishni [Nowgorod] waren es schon fünf, die zu den Menschenrechtlern gegangen sind. Aber da sind die Menschenrechtler auch sehr cool. An anderen Orten weißt du, dass jemand zu dir kommt, mit dir redet und danach mit den Bullen saufen geht. Du lieferst dich nur ans Messer, du weißt, dass du etwas tust, womit du dir dein Leben sehr schwer machst, und der Pseudo-Menschenrechtler unternimmt nichts dagegen. 

    Gut, ihr habt also zusammen erreicht, dass es Fernseher, Telefone, Besuchsmöglichkeiten, Kopftücher und Lohn gab.
    Wir haben durchgesetzt, dass es Klokabinen gibt, bei denen man die Tür zumachen kann. Wir haben durchgesetzt, dass es in jeder Gruppe ein Telefon gibt, nicht nur zwei Stück im Klub mit einem Monat Wartezeit. Und es gab eine Reihe von Entlassungen.

    Und warme Kopftücher.
    Ja, die auch, ganz am Schluss. Die Kopftücher waren eigentlich das, womit alles anfing. Aber auch da hatte ich nicht vor, die Verwaltung irgendwie anzugreifen, ich hab den Menschenrechtlern einfach nur gesagt, dass wir minus 35 Grad haben und die uns irgendwelche Gazetüchlein geben. Und die Frauen bekommen keine Wolltücher, weil sie niemanden haben, der sie ihnen schicken würde. Und dass es vermutlich falsch ist, in den Ural Tücher aus Gaze zu liefern, weil wir bei minus 40 Grad draußen im Schnee zum Appell antreten müssen. Dafür musste ich in Einzelhaft. 

    Später wurdest du in eine andere Kolonie verlegt und bist dann per Amnestie freigekommen. Was ist aus den Tüchern, Telefonen und dem Lohn geworden?
    Nun ja … die Telefone kann man nicht so einfach abmontieren und wegschmeißen. Das haben sie also nicht getan. Aber ansonsten ist natürlich alles schlechter geworden. Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz. Ansonsten löst sie sich in Luft auf. 

     

    ÜBER DAS STRAFSYSTEM

    Warum hat es dich so aufgeregt, dass du amnestiert wurdest?
    Es hat mich nicht aufgeregt, aber … Amnestie, das ist … Was ist Amnestie streng genommen?

    Ein Akt der Barmherzigkeit durch den Staat.
    Eben. Ein Akt der Barmherzigkeit Putins. Also: Weil es totale Heuchelei ist, weil von einem großen „Akt der Barmherzigkeit und Begnadigung“ gesprochen wird, zwei Monate vor Ablauf unserer Haftstrafe und die sich groß auf die Fahnen schreiben, sie würde alle Frauen mit minderjährigen Kindern begnadigen, die unter Paragrafen einsitzen, die eine gewisse Schwere nicht übersteigen. Schlussendlich werden dann nur ein paar begnadigt. Außerdem weil ich diese Begnadigung nicht gebraucht hätte, ich hätte die zwei Monate schon noch irgendwie absitzen können. Weil völlig klar ist warum: Ich höre doch, was sie im Fernsehen sagen und weiß, warum sie das kurz vor den Olympischen Spielen tun. 

    Das Land, in das wir entlassen wurden, war ein völlig anderes als das, in dem man uns zuvor eingesperrt hatte – das war klar. Aber wir haben es nicht sofort verstanden. Sondern wahrscheinlich erst mit den ersten Überfällen.

    Was ist die wichtigste Erfahrung aus der Kolonie?
    Russland ist sehr unterschiedlich. Erstens. Und zweitens: Das lässt sich nicht in einem Satz sagen … Es gab einfach Dinge, mit denen ich in diesem Ausmaß vorher nie zu tun gehabt hatte: Verrat zum Beispiel.

    Verrat unter den Häftlingsfrauen?
    Ja. Natürlich. Das schockiert. Dass es kein Einzelfall ist, sondern dass es System hat, von beiden Seiten. Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren, sie zu verraten, ihr eine Rasierklinge in die Schublade zu schmuggeln, sie um ihre vorzeitige Entlassung zu bringen. Das alles bringen sie dir bei und es funktioniert.

    Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren

    Das ist ein System, das irreversible Folgen hat. Ich bin absolut überzeugt, dass ein Mensch, insbesondere im heutigen Russland, nach vier oder fünf Jahren überhaupt keine Chance mehr hat, ein neues Leben zu beginnen. Man gewöhnt sich daran, so zu leben. Er landet wieder im Gefängnis. Das gilt für 70 Prozent. Warum? Weil das System dir nur beibringt, dort zu bleiben. Man gilt als vorbestraft, findet keine Arbeit, kann nicht mehr anders leben, ist es gewohnt, dass andere für einen entscheiden, dass es ein klares Koordinatensystem gibt, in dem man, um zu überleben, bestimmte Dinge tun muss. Und ich rede gar nicht von irgendeiner Wiedereingliederung, einem normalen Job oder sonst noch was, nicht mal vom schlichten Erhalt deiner Gesundheit ist die Rede. Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen.

    Ich freu mich sehr, wenn ich Ausnahmen sehe! Das ist wirklich ein super Fest! Wow! Ich bin tatsächlich nicht als einzige zu den Menschenrechtlern gegangen, sondern noch vier andere. Aber diese vier kassieren dann solche Repressionen und niemand kriegt es mit. Sie verlieren alles. Besuchszeiten, Telefonanrufe, sie kommen in Isolationshaft, in diesen Strafbunker …

    Du gehst zum Menschenrechtler, zeigst die Quittung von deinem Lohn über 300 Rubel – und dein Leben wird für den Rest der Strafzeit zur Hölle. 

    Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben. Und unsere Gesellschaft ist patriarchal, natürlich ist das politischer Wille, unsere die sogenannte „Regierung“. Und zwar immer mehr, das wird finanziell gefördert, über das Bildungssystem vermittelt, über die Propaganda, den staatlichen Kulturbetrieb und so weiter. Dementsprechend begreift sich die Frau nicht als handelndes Subjekt. 

    Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben

    Und im Gefängnis setzt die Verdrängung ein: Das alles passiert nicht mit mir; das bin nicht ich hier im Gefängnis, es muss ein furchtbarer Irrtum sein; ich habe falsch gelebt, einen Fehler gemacht, aber die Strafe ist schnell abgesessen, egal, was ich da für einen Mist erzähle, wie oft ich die anderen Frauen denunziere, mit denen ich von einem Teller esse, wie viel Lohn ich bekomme, egal, wie weit ich hier drin gehe, ich komme sehr bald raus und dann fange ich ein neues Leben an. 

    Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen

    Und was macht die Knastverwaltung? Sie setzt auf eine weitere klassisch patriarchale Methode: Du bist doch eine Frau, du hast Kinder, willst du zu deinen Kindern? Was spielst du dich dann so auf? Wenn du so weitermachst, streichen wir dir die Telefonanrufe und Besuchszeiten. Dann siehst du deine Kinder gar nicht mehr.

     

    STIMME FÜR DIE ANGEKLAGTEN: ÜBER DIE PLATTFORM MEDIAZONA UND ÜBER DIE ZENSUR

    Du bist Mitbegründerin einer der wichtigsten russischen journalistischen Plattformen: Mediazona. Wie ist sie entstanden? Ihr habt sie ja zu dritt gegründet, du, [Nadja] Tolokonnikowa und [Pjotr] Wersilow
    Wir haben erst die Sona Prawa (dt. Zone des Rechts) gegründet, aber nach wenigen Monaten wurde uns klar, dass man nicht als Menschenrechtler aktiv sein kann, ohne zu sagen, was das ist..

    Aber hattet ihr die Idee in Haft oder erst draußen?
    Teils, teils, glaube ich. Die ganze Geschichte mit den Menschenrechten begann, als Nadja [Tolokonnikowa] und ich in die Strafkolonie kamen. Und gesehen haben, was da passiert. Denn keine von uns hätte sich das je vorstellen können. Es ist sehr leicht, im Stillen Böses zu tun, wenn es keiner mitbekommt. In einem abgeriegelten, dunklen Büro. Aber jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger. 

    Aber Mediazona wurde zum ausländischen Agenten erklärt [seit 6. März 2022 ist die Seite in Russland außerdem blockiert, zuvor forderte die Medienaufsichtsbehörde die Liquidation des Mediums wegen „Falschinformation“ über den Krieg in der Ukraine – dek]. Heute ist es das einzige Medium, das detailliert und fundiert über alle Gerichtsprozesse berichtet … Vermutlich wird es diese Möglichkeit mit dem neuen Status nicht geben oder wird sie merklich eingeschränkt werden?

    Die Möglichkeit über Gerichtsprozesse zu berichten, wurde grundsätzlich eingeschränkt, durch Manipulation, weil der Staat wegen Covid verfügt hat, dass die Verhandlungen nicht mehr öffentlich sind. Einfach so. Das ist ein gewaltiger Sprung in die Vergangenheit. Nicht-öffentliche Prozesse sind ein superkrasser Marker eines totalitären Staates.

    Jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger

    Ich kann gar nicht beschreiben, wie schlimm das ist. Deswegen sind die Probleme bei der Berichterstattung über die Prozesse sowieso schon da. Und dass sie Mediazona als ausländischen Agenten einstufen würden, war abzusehen. Für alle. 

    Ich würde lügen, würde ich sagen, dass es mich schockiert hat. Hat es nicht. Das war die logische Fortsetzung dessen, was der Staat gegenwärtig tut, leider. Ich bin zweifellos glücklich, dass wir Mediazona gegründet haben. Und dass sich in ein paar anderen Medien eine gewisse Tradition herausgebildet hat, über Häftlinge und Polizeigewalt zu berichten.

    Mit welcher Reaktion der Regierung würdest du dich wohlfühlen?
    Angenehm wäre mir, diese Regierung würde … sich schlicht verpissen. Und in den Knast wandern.
     

    ÜBER DIE ANGST

    Ich zitiere dich mal: „Angst ist eine Sache, die nicht objektgebunden ist. Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden.“ Wie übst du, deine Angst zu überwinden? 
    Eigentlich wachsen wir nur durch Überwindung. Wie sonst? Wenn du in einem Raum mit gepolsterten Wänden sitzt, wirst du wohl kaum Erfahrungen sammeln und daran wachsen. Im Prinzip hinterlässt jede Erfahrung Spuren.

    Aber die Angst ist ein grundlegender Selbsterhaltungstrieb. Wenn du leben willst, musst du ihm folgen.
    Aber … bist du es noch du selbst, wenn die Angst dein Handeln bestimmt?

    Schau mal, Mascha, du bist so klein, zierlich, jung. Glaubst du wirklich, dass es in deiner Kraft steht und in deiner Macht liegt, dieses ziemlich mächtige System zu besiegen?
    Nun, hängt davon ab, was du unter „besiegen“ verstehst. Natürlich habe ich keine Panzer und Granatwerfer, und der Fernsehturm von Ostankino gehört mir auch nicht. Das nicht. Aber ich habe ein Gewissen und den Wunsch, ich selbst zu bleiben. Mich selbst in meinem Handeln nicht zu belügen.

    Reicht das aus, um keine Angst zu haben? 
    Wie soll ich denn wissen, was ausreicht, um keine Angst zu haben. Das kann ich dir echt nicht sagen. Angst funktioniert ja nicht so, dass du plötzlich Angst vor meinetwegen Putin oder dem Gefängnis hast. Ein Mensch hat meistens Angst, weil er Angst hat, weil die Angst in seiner Seele auftaucht und beginnt an ihr zu nagen. Es ist ja nicht so, dass ich nie Angst hätte, klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend, fühle mich bescheuert, aber wichtig ist, was du tust.

    Klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend

    Nachdem ich den Text herausgeschmuggelt hatte, den ich meiner Anwältin gegeben hatte, den Text über die Strafkolonie, musste ich vor jedem weiteren Termin zu einer gynäkologische Untersuchung. Du weißt, was gynäkologische Untersuchung heißt? Du musst auf einen gynäkologischen Stuhl und jemand wühlt in deiner Vagina herum. Das ist demütigend und unangenehm. 

    Und du hast keine Angst, da noch einmal durch zu müssen?
    Nein, habe ich nicht. Ich habe keine Angst. Aber diese Situation macht mich wütend. Und natürlich, wenn du dann noch deine Tage hast und die dich schon wieder auf diesen verfickten Stuhl zwingen, die Situation insgesamt, deswegen habe ich geweint.

    Und du bist bereit, für das alles dein Leben herzugeben?
    Wir sind hier ja nicht auf dem Markt.

    Dennoch.
    Wir sind nicht auf dem Markt.

    Gib mir eine klare Antwort. Glaubst du wirklich, dass du dieses System besiegen kannst, zu deinen Lebzeiten …
    Ich glaube nicht, dass ich es allein kann. Aber wenn jeder ein bisschen was tut, dann ist es schon machbar.

    Und glaubst du daran, dass es viele solche Leute gibt?
    Ich denke, dass Menschen sich gegenseitig inspirieren können, etwas zu tun. Und dann ist alles möglich.

     

    ÜBER RUSSLANDS ZUKUNFT

    Kann Russland eine Frau als Präsidentin haben?
    O, ich glaube, das wäre supercool … Zum einen, weil wir dann faire Wahlen hätten, und zum anderen, weil das wirklich großartig wäre. Ich denke, das würde uns als Land sehr guttun. Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies. Außer vielleicht Raissa Maximowna [Gorbatschowa]. Wir kennen nicht mal die Kategorie. 

    Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies

    Sieh dir westliche Länder an. Jedes Land hat eine First Lady. Sie ist meistens eine politische Figur, aber auch eine öffentliche Person, die sich oft der Wohltätigkeit widmet. Also auch eine Art Role Model. Wir haben nicht einmal das. Wir haben ein Verbot, ein regelrechtes Tabu über, wie heißt es so schön, das „Privatleben“ des Präsidenten zu sprechen, das für keinen denkenden Menschen je ein Role Model sein könnte. 

    Mal ernsthaft. Die ehemalige First Lady [Ljudmila Putina, von der Wladimir Putin inzwischen geschieden ist – dek] wurde wie Rapunzel vor allen versteckt. Und wirklich das gesamte Land wusste von mindestens einer Geliebten. Ist das eigentlich ok für einen Typen, der sich selbst bei unzähligen Interviews als echter Mann präsentiert?

    Er ist „mit Russland verheiratet“. Wärst du gern Präsidentin von Russland?
    Ich glaube, so groß bin ich noch nicht.

    Also, wenn du dann groß bist …
    Na, wenn ich groß bin, wäre es vielleicht ganz interessant, sich auch mit der klassischen Politik zu beschäftigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte.

    Such bitte was aus: Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?
    Widersprechen die sich denn? Warum? Ich finde …

    Du kannst einen Schuldigen begnadigen oder bestrafen.
    Ich war immer der festen Überzeugung, dass ich für Gerechtigkeit kämpfe, dabei würde ich nicht sagen, dass ich kein barmherziger Mensch bin. Ich bin nicht böse.

    Wahrheit oder Sicherheit?
    Wahrheit.

    Freiheit oder Stabilität?
    Das fragst du noch? Freiheit, natürlich. Aber die sollte der Stabilität eigentlich nicht widersprechen.

    Russland oder Familie?
    Warum muss ich zwischen meinem Land und meiner Familie wählen? Wo sind wir denn? Wir haben 2021, es ist das 21. Jahrhundert, warum sollen wir zwischen unserem Land und unserer Familie wählen müssen? Was ist das für ein Scheiß? Das darf nicht sein. Die Frage ist falsch gestellt. Falsch, mag ich nicht.

    Wenn sich die Frage irgendwann stellen sollte. Wenn du wählen müsstest, ob deine Liebsten bei dir sind sind und alles gut ist, oder …
    Oder was?

    Oder du bist für Russland.
    Warum kann ich denn nicht mit meinen Liebsten für Russland sein? Die sind ja auch für Russland.

    Weil ihnen was passieren könnte.
    Das ist doch Erpressung.


    Mitte Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen – dek.
     

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  • „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    Im postapokalyptischen Moskau des Jahres 2033 fristen die Menschen ihr Leben in den Schächten der Metro, einzelne Stationen sind Staaten: kapitalistische, kommunistische, faschistische. In seiner Metro-Reihe zeichnet der russische Autor Dmitry Glukhovsky eine finstre Dystopie, die Bestseller wurden auch international zu einem Riesenerfolg. In seinem jüngsten Roman Outpost beschreibt er Russland nach einem Bürgerkrieg in naher Zukunft. Die deutsche Übersetzung stammt von den beiden dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.

    Heute gehört Glukhovsky zu den lautstärksten unabhängigen Stimmen in Russland. Er äußert sich regelmäßig zu aktuellen Fragen und gilt als ein scharfzüngiger Kritiker des Systems Putin. In der aktuellen Kollektivschuld-Debatte argumentiert er, dass nicht alle Russen Täter seien – und dass der russische Krieg gegen die Ukraine Putins Krieg sei. Meduza hat den Autor zu seinem Standpunkt interviewt, Glukhovsky hat die Fragen schriftlich beantwortet. 


    Update vom 8. Juni 2022: Unterschiedlichen Medienberichten zufolge wurde Glukhovsky in Russland zur Fahndung ausgeschrieben. Dem Bestseller-Autor wird die „Diskreditierung der russischen Armee“ vorgeworfen wegen eines Instagram-Posts vom 12. März, in dem der Beschuss von Mariupol zu sehen ist und Putin beinahe das Wort „Krieg“ in den Mund nimmt. Der entsprechende Paragraph des russischen Strafrechts sieht bis zu zehn Jahre Haft vor.  

    Pawel Merslikin: Wenn ich Sie richtig verstehe, vertreten Sie den Standpunkt, dass dieser Krieg ein Krieg Putins und nicht Russlands oder der russischen Bevölkerung ist. Warum glauben Sie, dass die Mehrheit der Russen diesen Krieg nicht unterstützt? Unterstützung kann es ja in vielen Abstufungen geben. Man kann morgens und abends Hymnen auf Putin und Schoigu singen, man kann aber auch schweigend zustimmen.

    Dmitry Glukhovsky: Wie wir bei der Sitzung des Sicherheitsrats gesehen haben, gab es nicht einmal in Putins engstem Umfeld einen Konsens zum Krieg. Die Entscheidung wurde hinter verschlossenen Türen getroffen, am Volk vorbei, das diesen Krieg nicht wollte, und sogar abseits des Großteils der politischen Klasse. Alle wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Um sich von ihrer persönlichen Verantwortung für den Krieg und die daraus resultierenden Verbrechen reinzuwaschen, haben die Entscheidungsträger danach begonnen, zuerst die ganze politische Klasse mit Blut zu beschmieren, dann die gesamte Bürokratie und schließlich, mittels TV-Propaganda, das ganze Volk.   

    Die Bevölkerung unterstützt, wie mir scheint, den Krieg aktiv zu etwa zehn Prozent – das ist ein reaktionäres, obskures Element, im Grunde faschistisch, auch wenn sie sich selber Patrioten nennen. Der Rest sucht entweder Zuflucht bei der Kriegs-Psychotherapie, um die post-covidale Depression loszuwerden, glaubt das Märchen von der Fortsetzung des Großen Vaterländischen Kriegs tatsächlich oder nickt einfach zustimmend, damit sie ver*** noch mal endlich ihre Ruhe vor den Umfragen haben. Diese Umfragen werden nämlich manchmal vom FSO durchführt, und so werden sie auch überall wahrgenommen.

    Widerstand gegen das Böse bedeutet das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit

    Im Grunde ist jedes Unterlassen von Widerstand gegen das Böse eine Unterstützung des Bösen. Nur bedeutet Widerstand gegen das Böse in der persönlichen Überlebensstrategie eines durchschnittlichen Menschen das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit. Der Gewinn hingegen ist schwammig: ein reines Gewissen.
    Ob es da nicht einfacher ist, sich zu sagen: Das ist nicht mein Bier, ich habe da keinen Einfluss drauf, so eindeutig ist es auch wieder nicht, dass die Ukrainer gut sind, überhaupt ist das alles das Werk der USA, wir wurden da reingezogen, wir hatten keine Wahl, mich geht das nichts an, und ich lebe weiter wie bisher? Und schon ist das Böse kein so großer Dorn mehr im Auge, und die kognitive Dissonanz ist ohne große Verluste überwunden.  

    Aber wenn morgen Frieden eintritt, werden alle, außer die zehn Prozent Reaktionäre, erleichtert aufatmen. Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert und den Menschen einbläut, dass nichts von ihnen abhängt und sie mit Protesten niemals irgendwas erreichen werden, außer sich Probleme einzuhandeln. 

    Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert

    Der ukrainische Maidan hat zweimal gesiegt – und das ukrainische Volk hat ein Gefühl der eigenen Macht und Rechtmäßigkeit bekommen. Bei uns sind Proteste immer niedergeschlagen worden oder von selbst im Sand verlaufen. Wir haben nicht das Gefühl, etwas verändern zu können. Wenn die Menschen gegen den Krieg protestieren und ihre Freiheit aufs Spiel setzen, dann nicht weil sie hoffen, ihn stoppen zu können, sondern weil sie sonst das Gefühl haben, Kollaborateure zu sein, die nichts unternommen haben.      

    Die Position „Das ist ausschließlich Putins Schuld, die Menschen können gar nichts dafür“ wird sehr oft von russischen Intellektuellen vertreten. Meinen Sie nicht, dass das auch eine Spritze Gegenpropaganda ist, um sich selbst zu beruhigen? Weil es viel leichter ist, in einer Welt mit einem einzigen Bösewicht zu leben als in einer mit zig Millionen – die dazu noch mit dir in einem Land leben?   

    Eben diese zig Millionen Bewohner meines Landes brauchen eine Therapie. Sie leben in Armut und Hoffnungslosigkeit, werden von ihrer Regierung täglich erniedrigt, verblödet und aufgehetzt. Ja, sie sind unglücklich und verärgert, aber eigentlich ärgern sie sich über die Regierung: Die verspricht ihnen seit 20 Jahren ein besseres Leben, selber lebt sie aber wie die Made im Speck, verprasst Milliarden für Yachten und goldene Klobürsten und überlässt die Menschen im Grunde ihrem Schicksal, sowohl in der Pest als auch im Krieg. Aber der Zorn verfehlt wegen eines Knicks im Rückgrat sein Ziel. Die emotional ungefährlichere Strategie ist es, jene zu hassen, die man ungestraft hassen darf. Im gegebenen Fall also die Ukrainer und den Westen.     

    Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären und einen Vernichtungskrieg gegen sie führen. Das Ausmaß der Verantwortung des deutschen Volkes während der totalen Mobilisierung zum Kampf oder während der Massenhysterie der 1930er Jahre ist nicht dasselbe wie der Z-Fimmel und die V-Mimikry: Gott sei Dank sind heute beides nur Sofa-Krankheiten.       

    Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären

    160.000 Soldaten und Offiziere sind am Krieg in der Ukraine beteiligt. Aber 140 Millionen Russen sind noch nicht mit ukrainischem Blut befleckt. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, die Teilnahme an diesem Krieg zu verweigern – die tatsächliche und auch die emotionale.
    Putins Staatsapparat versucht, der ganzen Welt und dem Volk weiszumachen, dass dieser Krieg ein Krieg des Volkes ist, dass alle gemeinsam dafür einstehen und alle gemeinsam diese Suppe auslöffeln müssen. Aber jeder, dem das Schicksal Russlands nicht egal ist und der ihm wünscht, die imperiale Matrix möglichst bald hinter sich zu lassen und ein gesunder, moderner Staat zu werden, bewohnt von glücklichen Menschen, sollte sich Gedanken machen, wie man die Menschen aus diesem Bann befreien kann. Sie aus dem Bann befreien, statt sie zu Unmenschen zu erklären und sie bis aufs Blut zu bekämpfen. 

    Im Interview für Radio Swoboda erzählten Sie, wie Sie bei Ausbruch des Krieges überlegt hätten, ob Sie ihn sofort öffentlich verurteilen sollen. Und diese Überlegung hätte 30 Sekunden gedauert. Worüber genau haben Sie in diesen 30 Sekunden nachgedacht? Welche potentiellen Konsequenzen haben Sie gegeneinander abgewogen?

    Ich dachte, dass ich mich genau jetzt, in diesem Moment zur endgültigen politischen Emigration verdamme. Dass ich mich der Möglichkeit beraube, in Russland zu leben, solange Putin lebt. 

    Es gibt vieles, was mich an Moskau bindet. Freunde, geliebte Menschen, meine Kindheit. Die Kultur, die Luft, die Sprache. Meine Arbeit, gesellschaftliche Stellung, Eigentum. Der Gedanke, erst an meinem Lebensabend, oder vielleicht sogar nie, nach Hause zurückzukehren, ist sehr schwer zu ertragen. 

    Auf der anderen Waagschale liegt das Gefühl, ein Feigling und Verräter zu sein, klar zu begreifen, dass du dich gerade auf die Seite des Bösen stellst. Denn einen Eroberungs- und Bruderkrieg und die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig. Erst recht, wenn du dir bewusst bist, dass die Gründe für diesen Krieg durchweg erlogen sind, und der Krieg selbst nicht nur bestialisch, sondern auch vollkommen sinnlos ist. 

    Wenn Sie kein erfolgreicher Schriftsteller wären, sondern ein ganz gewöhnlicher Bewohner einer russischen Kleinstadt mit einem Gehalt von 30.000 Rubel [400 Euro – dek], hätten Sie dann länger als 30 Sekunden überlegt?

    Schwer zu sagen. Seit ich erwachsen bin und bewusst nachdenke, habe ich versucht, mein Leben danach auszurichten, möglichst unabhängig vom Staat zu sein, um mir meine Freiheit zu bewahren – auch die Freiheit zu denken und frei zu sprechen. Die Tatsache, dass ich jetzt diese Freiheit habe und sie nutzen kann, dass ich immer noch diskutieren, den Krieg Krieg nennen und seine Beendigung fordern kann – das ist ein Ergebnis dieser Bemühungen.

    Die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig

    Aber natürlich bestimmt das Sein das Bewusstsein. Die Bewohner einer gewöhnlichen russischen Kleinstadt fordern keine Freiheit, weil ihre anderen, und zwar grundlegenden, Bedürfnisse nicht befriedigt sind: allem voran ihre Sicherheit, dann der Lebensunterhalt, ein gewisser Wohlstand, ein Leben in Menschenwürde, basale Grundrechte. 

    Wenn die Menschen sagen, dass sie sich Stabilität wünschen, dann meinen sie, dass sie Angst haben, dieses kleine bisschen zu verlieren, das sie haben. Vielleicht haben sie nicht einmal genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 

    Sie sprechen viel über Propaganda und dass sie verantwortlich ist für das Geschehen. Wie erklären Sie es sich, dass die Propaganda die Menschen davon überzeugen konnte, die Russen würden die Ukrainer von Nazis befreien? 

    Das erkläre ich damit, dass die Menschen 20 Jahre lang auf die Ukraine vorbereitet wurden. Als Putin an die Macht kam, hat er, sobald er erkannte, dass die Ukraine ein alternatives Gesellschaftsmodell bietet, Kurs auf ihre Unterwerfung und Destabilisierung genommen. Russland hat sich in alle ukrainischen Wahlen eingemischt und sehr heftig auf die Maidan-Proteste reagiert. Zudem wurde 20 Jahre lang aktiv ein Siegeskult betrieben und befördert. Die Ukrainer wurden Stück für Stück zum Feind stilisiert: mal zu einem blutrünstigen, mal zu einem erbärmlichen. Während die Russen sich über das Erbe des Sieges definierten. Der Boden war also bereitet. 

    Propaganda lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab

    Die Propaganda arbeitet nicht im Interesse des Volkes. Sie lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab, an denen die Regierung Schuld trägt. Sie beschützt die Regierung vor dem Volk. Das tut sie, indem sie Nebelkerzen von erfundenen und aufgebauschten Konflikten wirft und so die Wirklichkeit verhüllt.

    Sie arbeitet mit psychischen und emotionalen Bedürfnissen der Bevölkerung, indem sie ihr eine Psychotherapie aus der Hölle verpasst. Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei. Er ist verbittert und frustriert, also zeigt man ihm ein Objekt, auf das er seine Wut richten kann. Er verspürt Unsicherheit und Panik, also erklärt man ihm, er sei direkt von seinem Sofa aus an einer großen Mission beteiligt, die seine Entbehrungen und Leiden rechtfertigt.

    Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei

    Deswegen ist die Abhängigkeit von der Propaganda auch so groß, sie ist regelrecht eine emotionale Droge. Deswegen nehmen die Menschen diese fetten, hässlichen und selbstgefälligen Visagen, diese triefenden Lügenorakel von Perwy und Rossija auch so positiv auf, geradezu als wären es ihre TV-Verwandten aus Fahrenheit 451. Andernfalls würden Angst, Panik und Zorn von den Menschen Besitz ergreifen und sie auf die Straße treiben. Der große und ewige Krieg gegen den Westen, der Verrat durchs Brudervolk und ein Russland, das sich von den Knien erhebt und rächt – das sind die Trigger und Klischees bei dieser Therapie.

    Viele Intellektuelle, Historiker, Politologen, Soziologen sagen, der Hauptgrund für den Krieg sei sowjetisches Ressentiment. Die Menschen würden sich nach einer starken Heimat sehnen. Sie würden dem Westen zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Sogar dann, wenn sie die Sowjetunion gar nicht selbst erlebt haben. Würden Sie dem zustimmen?

    Die Konfrontation der Menschen in Russland mit dem Westen und der Ukraine kommt daher, dass sie das eigene Leben ständig mit dem Leben dort vergleichen. Aber diese Konfrontation ist nicht im Interesse der Menschen, sie haben nichts davon. Der Staat wiederum weiß, dass seine Bürger ihr unzulängliches Leben zwangsläufig mit dem „dort drüben“ vergleichen werden, solange nicht ein eiserner Vorhang das Ganze hermetisch abschließt. Und die Menschen werden sich zurecht fragen, warum ihr Lebensstandard nicht nur im Vergleich zum Westen, sondern auch zur Ukraine so niedrig ist. Warum die Bevölkerung nicht nur im Westen sondern auch in der Ukraine einen Regierungswechsel herbeiführen kann, während man bei uns schon allein durch den Gedanken daran riskiert, dass es bei dir an der Tür klingelt.

    Hier schafft die Konfrontation Abhilfe. Weil wir nicht sie sind. Weil sie Schwule haben und wir Vater-Mutter-Kind. Weil unsere Großväter gekämpft haben und sie die Nachfahren von Faschisten sind. Weil wir das Ballett und die Olympiade haben. Raketen, Raketen und noch mal Raketen. Weil alle Angst vor uns haben. Weil wir die Allergrößten sind, darum. Weil alle uns zugrunde richten und unser Öl unter sich aufteilen wollen, Abyrwalg! Weil Russland keine wirtschaftliche Supermacht ist, sondern eine militärische, weil wir die Unseren nicht im Stich lassen, ich will nichts hören, ich will nichts hören, ich will nichts hören! Überhaupt, wie kann man Ozeanien mit Ostasien vergleichen, bei uns leben richtige Menschen, und da drüben Unmenschen.

    Man muss sich die eigene Armut irgendwie erklären, das eigene Elend rechtfertigen. Nur wie? Mit der eigenen Einzigartigkeit. Die Geschmacklosigkeit, Korrumpiertheit und Unglaubwürdigkeit des heutigen Regimes kann nur durch die stilistische Unfehlbarkeit und die furchteinflößende Reputation Russlands in seiner letzten Inkarnation wettgemacht werden. Ja, wir sind Zwerge, aber wir stehen auf den Schultern von Titanen. Ganz einfach.

    In welchem Maße macht es überhaupt Sinn, die Ursachen für die aktuellen Ereignisse in der Sowjetzeit zu suchen?

    Die Wurzeln der Ereignisse liegen in der imperialistischen Vergangenheit und dem imperialistischen Wesen des russischen Staates. Haben Sie sich nie gefragt, wie das geht, dass bei einer rechtsextremen Demo in ein und derselben Kolonne Porträts von Nikolaus II. und Josef Stalin zu sehen sind? Der Erste gewissermaßen der Kerkermeister des Zweiten, der Zweite der Henker des Ersten? Das ist tatsächlich überhaupt kein Widerspruch. Als Persönlichkeit interessiert der eine wie der andere die Russen nur am Rande, ihre ursprüngliche Bedeutung für die patriotische Bewegung ist rein symbolisch. Beide symbolisieren das russische Imperium auf dem Gipfel seiner Größe, auch wenn dieses Imperium in neuem Gewand daherkommt, mit bolschewistischem Rebranding, und nicht auf Konservierung, sondern auf Modernisierung abzielt. Aber das ist für die meisten gar nicht mehr wichtig. Wichtig ist, welche Gebiete wir uns einverleibt, wen wir unterworfen haben, wen gezwungen, in der Schule Russisch zu lernen.

    Alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus Russlands imperialistischen Wesen

    Weil es in Wirklichkeit keine patriotische, sondern eine imperialistische Bewegung ist. Weil uns, im Gegensatz zu Frankreich und England, die Epoche des Postkolonialismus erst noch bevorsteht. Weil unsere Kolonien unmittelbar an das Mutterland angrenzen, mit ihm verwachsen sind, und sie zu verlieren heißt, Russland selbst zu zerreißen. Deswegen ist dieses Thema tabu, mit sieben Siegeln verschlossen, Russland kann sich nicht offen eingestehen, dass es bis zum heutigen Tage imperialistisch ist. 

    Im Gegenteil, unter der Flagge des antiimperialistischen Kampfes hat Russland den Einfluss Europas in den ehemaligen Kolonien unterwandert. Aber alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus diesem imperialistischen Wesen. Daher rührt auch die Hysterie im Hinblick auf die Ukraine und der Wunsch, sich mal Georgien, mal Kasachstan, mal Armenien unter den Nagel zu reißen.

    Die Propaganda verkauft diesen Krieg als eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges. Was denken Sie, sollte der Siegeskult der letzten 10 bis 15 Jahre die Gesellschaft auf den Krieg vorbereiten? Oder bedient sich die Regierung einfach eines bequemen Narrativs, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen?

    Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt. Gründe, stolz zu sein, hat Putins Russland den Menschen kaum gegeben: nur die Krim und die Olympiade in Sotschi. Aber der olympische Sieg entpuppte sich am Ende als Betrug, er roch nach abgestandenem Urin.
    Auch die Krim ist ein zweifelhafter Triumph: der Sieg Kains über Abel – der jüngere Bruder schwächelt, und wir rammen ihm das Messer in den Rücken.
    Davor waren die Tschetschenienkriege, eine Katastrophe mit unklarem Ausgang, davor – der Zerfall der UdSSR, davor – Afghanistan, ebenfalls ein Reinfall. Und davor gab es lange nichts, nur die Zeit der Stagnation.

    Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt

    Stolz könnte man auf Gagarins Flug sein – das wäre ein guter Grund, positiv und inspirierend, aber da kommt man nicht drumherum, einen Vergleich zur ver*** Idiotie der heutigen Leitung von Roskosmos zu ziehen und sich traurig und resigniert zu fragen, warum unsere Raketen heute nicht mehr fliegen (abgesehen von denen, die in ukrainischen Wohnhäusern einschlagen).

    Und damit hat es sich. Bleibt nur der Große Sieg. Seine Größe darf man nicht anzweifeln, sie ist heilig, geheiligt durch das Blut unserer Vorfahren: Die Opfer waren gigantisch, fast jede Familie hat jemanden verloren. Da hatte man ihn also gefunden, den Zement, der die letzte Amtsperiode Putins zusammengehalten hat. Und genauso, wie Schoigu sich Shukows Uniform überzieht, verkleidet sich auch der Staat. Er spricht und handelt immer mehr wie ein Schwerverbrecher, dabei durchlebt er natürlich eine schwere Persönlichkeitskrise: Sie wollen sich als Auserwählte und Helden fühlen, nicht als mittelmäßige Korruptionäre. In der altbekannten Pyramide der menschlichen Bedürfnisse hat unsere „Elite“ ihre Grundbedürfnisse längst gestillt, sich den Wanst mit Euromilliarden vollgeschlagen, und jetzt will sie die Herrscherin über die Meere sein.

    Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken

    Zunächst kam die Krise der Selbstachtung, als man von Europa und den USA wollte, dass sie Russland unverzüglich als ebenbürtig anerkennen. Und jetzt sind wir, original nach Abraham Maslow [und seiner Bedürfnispyramide], beim Thema Selbstverwirklichung angelangt, bei der Verwirklichung unserer wahren Bestimmung; und siehe da, die Bestimmung ist genau die, die man dem Volk zehn Jahre lang eingeflößt hat: Krieg spielen. Oh weh, leider den Großen Vaterländischen. Und diese durchgeknallten Parasiten, denen in ihrem fortgeschrittenen Alter irgendwo tief drinnen aufgegangen ist, dass sie gelangweilte Banditen sind, haben selbst den Mist geglaubt, den sie dem Volk aufgetischt haben. Dass der Große Vaterländische Krieg nie aufgehört hat, dass sie die Nachkommen der Sieger sind, dass der Faschismus sein Haupt erhebt, dass sie die Heldentaten ihrer Großväter zu Ende bringen müssen.

    Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken. Die Zyniker dachten, sie könnten im Fernsehtrog jeden Mist verfüttern. Das Problem ist, dass es bei uns keinen Intelligenztest gibt, um in die „Elite“ aufgenommen zu werden, und diese Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit den imperialen Komplexen und ebenjenem Chauvinismus.

    Die Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit imperialen Komplexen

    Deshalb hat die Elite selber dem Fernseher geglaubt. Die Zyniker wurden verblödet. Die „Eliten“ sind in eine phantastische Realität umgezogen, in der die Massen schon lebten. Noch schlimmer war, dass eine militärisch geprägte Religiosität ein Zeichen für Loyalität zu Putin wurde, und die Staatsbeamten fingen an, sich darin zu überbieten. Dennoch glaube ich, dass die Rhetorik vom Großen Vaterländischen Krieg nichts weiter ist als PR-Untermalung für eine imperiale Eroberungskampagne, der Versuch, sie reinzuwaschen und vor Kritik zu schützen, indem man ihr einen Heiligenschein aufsetzt.

    Sie halten diesen Krieg in vielerlei Hinsicht für einen Kolonialkrieg. Jetzt redet man schon offen davon, Russlands nächstes Ziel könnte Transnistrien sein. Was glauben Sie, ist Putin wirklich von der Idee einer neuen UdSSR besessen? Oder versucht er, mit diesem Krieg seine eigenen Probleme zu lösen? Länger im Amt zu bleiben? 

    Ich glaube, Putin kämpft in erster Linie gegen das Gefühl an, in der Geschichte eines großen Landes nur ein unbedeutender Mensch zu sein. Wie wir wissen, studiert er mit Begeisterung die Geschichte Russlands und muss sich natürlich mit seinen Vorgängern messen – zumal er schon länger im Amt ist als viele von ihnen. Er arbeitet daran, seinen Namen in die russische Geschichte einzuschreiben.     

    Putin, Gorbatschow, Chruschtschow, Stalin, Lenin, Nikolaus II., Alexander III., Katharina die Große, Peter der Große – und wofür stehe ich, was habe ich gemacht? Man soll mich bitte als den in Erinnerung behalten, der die Länder, die Gorbatschow verloren hat, wieder eingesammelt hat. Als jener Mann, der versucht hat, die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu korrigieren – den Zerfall der Sowjetunion!   

    Zumal das Volk, das sich nach der Ästhetik der Größe der Sowjetunion sehnt, der kommunistischen Leidenschaftlichkeit und dem sozialistischen Sozialpaket, nach zwei Jahrzehnten Idealisierung des Sowok durch das Staatsfernsehen ähnliche Träume hat.    

    Wird Russland diesen Krieg verlieren?

    Russland hat diesen Krieg schon verloren. Schweden und Finnland wollen in die NATO, die Allianz reicht nun direkt an Russlands Grenzen heran. Die USA und Europa sagen sich von russischen Energiequellen los. Wirtschaftlich hat das Land durch die Sanktionen einen schweren Schlag erlitten. 

    Putin hat Russland in Zugzwang gesetzt und damit sich selbst, denn wenn die russischen Geschichtsbücher einmal nicht mehr von den Rotenberg-Brüdern gedruckt werden, sondern von unabhängigen Verlagen, dann wird da über Putin nichts Gutes mehr drinstehen. 

    Meine große Angst ist, dass Putins Abdanken derart schwere tektonische Prozesse auslöst und unser Land erschüttert, dass die territoriale Integrität und die Existenz des ganzen Landes bedroht sein werden. Und natürlich ist das ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann.

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  • „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    Vergleiche zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland sind schon seit über zwei Jahrzehnten fester Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem System Putin. 

    Nach den jeweiligen Niederlagen im Ersten Weltkrieg respektive dem Kalten Krieg kam es in beiden Ländern zu einem Systemzusammenbruch und zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen über kollektive Identitätskrisen, Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Sie warfen ihren Landsleuten Verrat und Kollaboration mit dem Feind vor, diskreditierten Andersdenkende, sprachen anderen Völkern das Daseinsrecht ab. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Anschließend gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. Schließlich haben beide Länder einen Krieg entfacht. Die Massen – so heißt es in dem vorerst letzten Kapitel der Weimar-Vergleiche – jubelten und standen geeint hinter dem Führer respektive Leader.

    Mehr als 80 Prozent der Menschen in Russland befürworten derzeit laut Umfrageergebnissen des Lewada-Zentrums den Krieg in der Ukraine. Denis Wolkow, Direktor dieses unabhängigen Umfrageinstituts, argumentierte kürzlich auf Riddle, dass es derzeit kaum Anhaltspunkte dafür gebe, an dieser Zahl zu zweifeln.

    Der Soziologe Grigori Judin war demgegenüber schon immer skeptisch, ob Meinungsumfragen in autoritären Regimen ein Abbild öffentlicher Meinung liefern können. In einem Interview mit der Journalistin Katerina Gordejewa in ihrem Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) bringt er seine Argumente vor – und erklärt, welche Parallelen er zum Zwischenkriegs- und Hitlerdeutschland sieht.

    Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.


    Katerina Gordejewa: Betrachten wir mal die 60 bis 70 Prozent, die – je nach Umfrage – den Krieg gutheißen. Ich weiß, du magst es nicht, wenn man sich auf Umfragen bezieht, aber ich muss die Frage stellen, weil diese Zahlen derzeit überall kursieren. Auch die Propaganda stützt sich darauf. Begreifen diese 60 bis 70 Prozent die Konsequenzen nicht? Verstehen sie die Frage nicht, die man ihnen stellt? Oder was genau unterstützen sie?

    Grigori Judin: Ich rate immer dringend dazu, vorsichtig mit Umfragen zu sein – generell, aber in Russland doppelt, und unter den heutigen Umständen gleich zehnfach. In Russland ist die Beteiligung sowieso immer niedrig. Außerdem gehen die Menschen, die an den Umfragen teilnehmen, meist davon aus, dass sie direkt mit dem Staat sprechen. Und durch die gegenwärtigen Kriegshandlungen ist die Vorsicht natürlich nochmal um ein Vielfaches gestiegen, das belegen alle unabhängigen Studien, die gerade durchgeführt werden: Die Menschen antworten weniger bereitwillig, erzählen von Ängsten oder fragen sogar direkt: „Werde ich verhaftet?“ Wir haben verschiedene Instrumente, die Stimmung der Umfrageteilnehmer zu untersuchen, dadurch sehen wir, dass die Menschen, die eher verschlossen, introvertiert sind, andere Antworten geben. Umfragen belegen im Prinzip immer das, was die russische Regierung belegt haben möchte. Heute erst recht.

    Mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten

    Ich denke, dass die Zahlen am Anfang noch eine gewisse Aussagekraft hatten, aber mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten. Das liegt natürlich nicht in unserer Macht. Und es könnte alles noch schlimmer machen, aber ich würde diese Umfragen keinesfalls ernstnehmen. 

    Wenn ich in Deutschland gefragt werde: „Wie kommt es zu diesen 71 Prozent?“, erwidere ich: „Wie viel Prozent hattet ihr denn 1939, als die Spezialoperation gegen Polen begann?“ Ich sehe da keinen krassen Unterschied. Man sollte den Menschen keine idiotischen Fragen stellen und die Antworten nicht überbewerten. Aber abgesehen von allem, was ich jetzt gesagt habe, denke ich trotzdem, dass es wohl daran liegt, dass ein überragender Teil unserer Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben möchte.

    Nach dem Motto: Soll da doch ein Krieg toben, oder eine Flutkatastrophe alles überschwemmen … 

    Ja, in dem Sinne: Ich kann sowieso nichts ausrichten. Was soll ich schon machen? Mich geht das doch nichts an. In Russland kursiert gerade etwas, das ich die „Zwei-bis-drei-Monats-Theorie“ nenne. Überall hört man: Noch zwei, drei Monate, dann renkt sich alles wieder ein. Keine Ahnung, woher dieser Schwachsinn kommt, aber es ist ein Versuch, sich an die eigene Realität zu klammern. Eigentlich ist es ein Versuch, weiterhin alles zu leugnen. So funktioniert die russische Propaganda. 

    Die Propaganda erklärt dir, warum du nichts tun sollst

    Mich würde interessieren, warum die Propaganda die Menschen nicht davon überzeugen konnte, dass es Covid gibt, aber sie so leicht davon überzeugen kann, dass es in der Ukraine Faschismus gibt?

    Aus einem ganz einfachen Grund: Die Aufgabe von Propaganda ist es nicht, dich von etwas zu überzeugen oder dir einen bestimmten Standpunkt aufzudrängen, sondern dir einen Grund zu geben, nichts zu tun. Sie erklärt dir, warum du nichts tun sollst. Als erklärt wurde, dass es Covid gibt und dass man etwas unternehmen muss, da war sie machtlos, weil der Mensch nichts tun will. Jetzt wird erklärt, warum das alles eine kurze Operation ist, dass sie erfolgreich enden wird, dass es eine unmittelbare Bedrohung für Russland gibt, und dass das alles überhaupt keine echten Ukrainer betrifft. Kurzum: Alles ist gut. Alles ist gut, alles ist bald vorbei, die politische Führung hat alles im Griff. Das genügt den Leuten, um ihr normales Leben ruhig weiterzuleben. 

    Der Vorteil bei den Belarussen ist, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts

    Ich denke, das Problem im heutigen Russland ist nicht, dass die Russen massenhaft diese bestialische Aggression gegen die Ukraine gutheißen würden. Das gibt es so nicht. Es gibt einzelne militarisierte Gruppen, aber das ist etwas anderes. Das Problem liegt darin, dass die Menschen versuchen so zu tun, als würde sie das alles nichts angehen, als könnten sie einfach ihr Privatleben weiterleben, an das sie sich gewöhnt haben und das sie sich mit großer Mühe aufgebaut haben. Das dürfen wir nicht vergessen: Viele Russen machen gerade eine sehr schwere Erfahrung. Das Leben, das sie jetzt führen, haben sie sich wirklich lange, mit großem Aufwand und hohen Investitionen aufgebaut. Sie haben viele Jahre alles hineingesteckt, deswegen klammern sie sich jetzt so an diese Welt. 

    Im Großen und Ganzen ist das sogar nachvollziehbar, doch wenn man das konsequent betreibt, läuft man Gefahr, zum Instrument für alles Mögliche zu werden. Das scheint mir das Hauptproblem im gegenwärtigen Russland. Besonders deutlich wird das im Vergleich zu Belarus, denn dieser grauenhafte Krieg, in dem wir uns befinden, ist ein Krieg, in den nicht nur Russland und die Ukraine unmittelbar involviert sind, sondern natürlich auch Belarus. Aber der Vorteil bei den Belarussen ist, wenn man das so sagen kann, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts. 

    Woran liegt das? Daran, dass deren Leben schwerer und ärmer war?

    Ich denke, es liegt unter anderem einfach daran, dass es dort 2020 ein Moment der Solidarität gab, über das sehr viel gesprochen wurde, auch wenn es zu keinem entsprechenden politischen Resultat geführt hat. Aber es hat den Belarussen etwas Größeres gegeben. Deswegen verschließen sie in der gegenwärtigen Situation nicht die Augen, ziehen sich nicht in den Käfig des Privaten zurück. Ihnen ist zwar klar, dass sie wenig ausrichten können, aber sie tun nicht so, als seien sie nur Instrument und als ginge sie das alles nichts an. Das stellt, so scheint mir, einen sehr wichtigen Kontrast dar. 

    Russland wird aufs Schrecklichste verlieren

    Das war der erste Teil. Der zweite hängt, wie mir scheint, damit zusammen, richtig zu verstehen, was da gerade passiert. Es ist selbstverständlich kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Allein die Idee ist vollkommen absurd und irrsinnig. 

    Allein schon deswegen, weil Russland aufs Schrecklichste verlieren wird. Unendlich verlieren wird. Es wird in jedem Fall eine katastrophale Niederlage. Es ist kein positives Szenario denkbar. 

    Kannst du das genauer erklären?

    In jeder nur denkbaren Hinsicht wird das für Russland eine Katastrophe. Es tut weh, das zu sagen, aber Russland zerstreitet sich auf diese Art für immer mit den zwei Völkern, die ihm kulturell am nächsten stehen – mit den Ukrainern und den Belarussen. Russland verliert absolut alle engen Verbündeten und Freunde. Mit wem sollen wir denn noch befreundet sein? Wer auf diesem Planeten kommt denn noch infrage? Wir jagen uns in eine völlig sinnlose, ewige Einsamkeit, in die wir eigentlich überhaupt nicht hineingeraten wollen. Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals.

    Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals

    Was macht denn Russland in den letzten zwanzig Jahren? Es rennt der ganzen Welt hinterher und ruft: „Wir brauchen euch nicht! Wir kommen auch alleine klar!“ Das ist ein neurotisches Verhalten, das uns jetzt geradewegs in die Katastrophe führt. Ich glaube, eine Katastrophe wie diese hat es in Russland noch nie gegeben.

    Gehörst du zu den Leuten, die jetzt die Seiten der Geschichte übereinanderlegen und lauter Parallelen zum Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre in Russland sehen?

    Oj, ich sehe sehr viele Parallelen, aber nicht zur russischen Geschichte, sondern zu der deutschen.

    Ach ja?

    Ja. Wir befinden uns in einer Situation, die in vielerlei Hinsicht an die 1920er und 1930er Jahre in Deutschland erinnert. Es gibt im Wesentlichen zwei historische Folien: das Regime von Napoleon III. in Frankreich 1848 bis 1870 und das, was in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geschah. In beiden Fällen sehen wir eine abrupte Einführung eines Wahlrechts, bei dem den Massen schließlich nur die Option bleibt, einen starken Anführer zu wählen, der faktisch die Befugnisse eines Monarchen besitzt. Sprich eine demokratisch gewählte Monarchie, eine Monarchie mit der Gunst der Massen. Genauso nannte es Napoleon III. Er wurde zum Präsidenten über das ganze Volk gewählt, zum ersten französischen Präsidenten: Ich bin ein Imperator, der regelmäßig Volksabstimmungen durchführt. Und was bekomme ich dafür? Ich bekomme die Garantie, dass … 

    … alle dich lieben.

    Ja, das Volk steht hinter mir, und was mache ich damit? Ich zeige es den Eliten, ich zeige es der Bürokratie, ich zeige es dem Volk, erzähle ihm, wer die wahre Macht hat. Er erhebt sich über das ganze System.

    In Russland sitzt der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief

    Die zweite wichtige Sache ist die historische Niederlage. Daraus resultieren Ressentiment, Revanchismus, Kränkung und Zorn. So war es in Frankreich, die Leute erinnerten sich durchaus an die Napoleonischen Kriege, und sie haben wieder einen Napoleon gewählt. Die Leute wollten einen neuen Napoleon, auch wenn es nicht derselbe [Napoleon Bonapartedek] war. Das gab es natürlich auch in Deutschland mit der verbreiteten Dolchstoßlegende und der [dieser zufolge von inneren Feinden verschuldeten – dek] Niederlage im Ersten Weltkrieg. Und jetzt beobachten wir das in Russland, wo der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief sitzt, wie sich jetzt zeigt. All diese Regime hatten irgendwann ein Wirtschaftsmodell für sich gefunden, das relativ erfolgreich war.

    Du meinst, dass Russland … also die UdSSR den Kalten Krieg verloren hat?

    Ich meine das nicht nur, es wäre doch auch merkwürdig nicht zu bemerken, dass dieser Rahmen irgendwann aufgedrängt wurde. Sagen wir, das Ende des Kalten Krieges hatte ein erzieherisches Element. Es gab eine Doktrin der Modernisierung, die implizierte, dass es den einen richtigen Entwicklungsweg gibt und die Länder, die von ihm abgewichen sind, auf die Schulbank müssen, damit ihnen die Lehrer aus dem Westen erklären, wie man es machen muss. Sie wurden also belehrt. Und zwar mit ganz aufrichtigen Absichten, weil man wollte, dass sie es endlich lernen, ihren Kinderschuhen entwachsen und das Gleiche aufbauen wie alle, weil es in Wirklichkeit nur einen richtigen Weg gibt. So etwas führt in jedem Land dazu, dass man sich wie ein Minderjähriger behandelt fühlt. Und erst recht in so einem riesigen, mächtigen Land wie Russland. Das erzeugt gleich ein Gefühl der Erniedrigung.

    Was Putin dann gemacht hat, ist dieses Gefühl endlos weiter anzufachen. Es war nicht ganz unbegründet, dieses Gefühl, aber jetzt ist es eine Emotion, die ganz Russland einfach verbrennt.

    Putin hat das Gefühl der Erniedrigung endlos weiter angefacht

    In dieser Hinsicht gibt es natürlich viele Parallelen zu Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Und die plebiszitären Regime, die dort jeweils entstanden, machten jedes Mal das Gleiche: Sie zerstören die Innenpolitik. Das heißt, sie schließen schon die Idee einer Opposition aus. Die Opposition als eine Größe, die im selben Land existiert, aufrichtig das Beste für dieses Land will und sich dabei radikal von den eigenen Überzeugungen unterscheidet. Diese Idee ist ihnen grundsätzlich fern, weil das in ihren Augen die Einheit zerstört. Es kann einfach keine Opposition geben.

    Weil es keine Opposition geben kann, wird jede politische Feindschaft externalisiert, das heißt, sie wird schlichtweg zur Konfrontation von außen erklärt. Es kann keine Opposition geben, also gibt es nur Verräter und innere Feinde. Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form.

    Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form

    All diese Regime nahmen das gleiche Ende. Sie überschätzten massiv die Bedrohung von außen. Sie bildeten sich eine Gefahr ein, wo im Grunde keine war. Sie verloren die Fähigkeit, mit anderen Staaten Bündnisse einzugehen. Und sie alle arbeiteten eifrig daran, eine mächtige militärische und wirtschaftliche Allianz gegen sich zu erschaffen. Mit enormem Tempo brachten sie Länder um Länder gegen sich auf, einten Staaten mit eigentlich ganz unterschiedlichen Interessen. Und dann fuhren sie gegen eine Betonmauer, indem sie sich in desaströse Militärkampagnen mit immensen Opfern stürzten.  


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    „Die Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen stoppen“

    In einem russischen Gerichtssaal spricht ein junger Mann, ein Journalist. Im Prozess, der ihm gemacht wird, bleibt ihm das Schlusswort, um sich noch einmal zu den Vorwürfen zu äußern. Er entscheidet sich stattdessen – wie viele in Russland, die wissen, dass das Urteil zumeist schon im Vornherein feststeht – in dem Schlusswort über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. 

    Er spricht vieles offen aus, über das man in Russland aufgrund repressiver Gesetze nicht sprechen darf: Er nennt den Krieg einen Krieg, erzählt von bombardierten Krankenhäusern, von getöteten Zivilisten, eingeschlossenen Städten. 
    Der Journalist heißt Wladimir Metjolkin und er gehört zu Doxa, einer Studierendenzeitschrift in Moskau. Gemeinsam mit drei seiner Kollegen – Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch und Alla Gutnikowa (deren Schlusswort ebenfalls häufig geteilt wurde in Social Media) – hat er bereits fast ein Jahr Hausarrest und einen Gerichtsprozess hinter sich. Das Urteil soll am heutigen Dienstag, den 12. April 2022, gefällt werden. Ihnen drohen bis zu zwei Jahre Haft.


    Der Fall Doxa beginnt im Jahr 2021 – ein Jahr des Shifts in Russland, in dem der Druck gegen unabhängige Akteure und auch Medien immer stärker wurde. Das Vergehen der Doxa-Redakteure: Sie hatten in einem Video im Januar 2021 von politischem Druck an den Universitäten berichtet, hatten Drohungen thematisiert, Studierende könnten von der Uni fliegen, sofern sie es wagten, zu Unterstützerprotesten für Kremlkritiker Alexej Nawalny zu gehen, der damals nach seiner Nowitschok-Vergiftung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt war. 

    Dieses Video wurde ihnen als „verbrecherisch“ ausgelegt, als Protestaufruf mit „Gefahr für Leib und Leben“ von Minderjährigen. Dass sie seither von der russischen Justiz verfolgt werden, hat ihr Leben radikal verändert: Wer von ihnen noch an der Uni war, musste sie verlassen. Wer bereits in den Beruf eingestiegen war, hat den Job verloren. Während des Arrestes wurden pro Tag nur zwei Stunden Ausgang gewährt, begleitet von zahlreichen weiteren Verhören, wie die Doxa-Redaktion berichtete. 

    Das besagte Video beendete Doxa damals mit den Worten „Die Jugend sind wir, und wir werden gewinnen“. Während ihr Fall in den vergangenen Wochen auf das Urteil zulief, hat Russland einen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine begonnen. 

    In seinem Schlusswort vor Gericht am 1. April spricht Doxa-Redakteur Wladimir Metjolkin darüber, wie die Zukunft der Jugend in Russland aus seiner Sicht mit der des ganzen Landes und dem Krieg im Nachbarland zusammenhängt. Dabei kommt er auf den Satz von damals zurück. dekoder hat sein Schlusswort in voller Länge übersetzt:


    Update vom 12. April 2022, 16 Uhr MEZ: Wie Mediazona mitteilt, lautet das Urteil 2 Jahre Sozialstunden; 3 Jahre lang dürfen die Vier außerdem nicht als Administratoren von Internetseiten fungieren.

    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa
    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa

    „Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt, doch die Jugend sind wir – und wir werden garantiert gewinnen“, so lautete der von Alla gesprochene Schlusssatz in unserem Video, das wir vor über einem Jahr veröffentlicht haben. Wegen des Videos wurde ein Verfahren gegen uns eingeleitet, und deshalb stehen wir heute hier in diesem Gerichtssaal. Der Satz besteht aus zwei Teilen, in meiner Rede möchte ich auf beide einzeln eingehen. 

    Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt. Die Metapher des Kriegs gegen die Jugend und deren Bedeutung bedarf eigentlich keiner langen Erklärung: Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft – man hat sie uns genommen. Wenn du jung und anständig bist, dich persönlich weiterentwickeln, einen guten Abschluss und ehrliche Arbeit willst, wenn du auch nur irgendwelche Ambitionen hast, wird dir geraten, Russland zu verlassen – je eher, desto besser. 

    Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft

    Heute, ein Jahr nach Prozessbeginn, können wir voller Wut und sogar Hass sagen, dass es um diese Dinge noch viel schlechter steht. Die Staatsmacht hat im Wortsinne einen Krieg erklärt. Es geht jetzt nicht mehr um den metaphorischen Krieg gegen die Jugend, sondern um einen bestialischen, zerstörerischen Krieg gegen die Ukraine und deren friedliche Bewohner. Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben. Ich hatte es auch vergessen und dieser Tatsache nicht mehr die nötige Bedeutung beigemessen. Doch jetzt erinnern sich alle, nachdem Russland am Morgen des 24. Februar nach einer irrsinnigen nationalistischen Rede von Wladimir Putin Kiew bombardiert hat.

    Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben

    Die Staatsmacht hat Boris Romantschenko den Krieg erklärt. Dieser alte Mann hatte vier Konzentrationslager, darunter Buchenwald, überlebt. Im März 2022 ist eine russische Rakete in sein Haus in Charkiw eingeschlagen und hat ihn getötet. 
    Die Staatsmacht hat Boris Semjonow den Krieg erklärt, einem 96-jährigen Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Er trägt einen Orden für die Befreiung Prags, wo er sich jetzt wieder als Geflüchteter befindet, weil er wegen der Bombardierung zur Flucht aus der Oblast Dnipropetrowsk gezwungen war. Dort wartet er auf eine Wohnung, obwohl ihm auch in Berlin Hilfe angeboten wurde, wo er in Ruhe seinen Lebensabend verbringen könnte.

    An dieser Stelle unterbricht die Richterin Anastassija Tatarulja den Angeklagten, aber er fährt fort.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird und in dem mehr als 90 Prozent aller Gebäude zerstört wurden. Die Einwohner von Mariupol sterben, haben kein Wasser und keine Nahrung, sie beerdigen ihre Angehörigen direkt in den Innenhöfen der Wohnhäuser, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. Sehen Sie sich die Fotos an, sie sind in internationalen Medien zahlreich zu finden. 

    Die Staatsmacht hat den Frauen und Kindern den Krieg erklärt. Russland bombardiert wahllos Wohngebiete und zerstört Schulen, Krankenhäuser, Geburtskliniken. Das bestätigen Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen auf der ganzen Welt. Täglich sehen wir massenhaft Fotos und Videos aus der Ukraine, wir können diesen Krieg regelrecht online beobachten. Nur einer scheint die Kriegsberichte immer noch in Aktendeckeln vorgelegt zu bekommen.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird

    Die Staatsmacht hat sogar jenen den Krieg erklärt, die diesen Krieg mit ihren Händen für sie führen müssen. An der Front landen unter anderem Wehrdienstleistende. Sie wollen nicht kämpfen, ergeben sich, landen in Gefangenschaft und führen keine Panzerangriffe durch, manche wissen nicht mal richtig, wie man das Kriegsgerät bedient. Die Soldaten werden chaotisch an verschiedene Frontabschnitte verteilt (wobei von einer Verkürzung der Frontlinie die Rede war, wollen wir hoffen, dass es so ist), sie sterben einen schrecklichen Tod – verbrennen bei lebendigem Leib in Panzerkolonnen. 

    In den ersten Tagen des Angriffs wussten russische Soldaten nicht einmal, wo sie waren und wohin sie fuhren – das belegen viele Protokolle und Zeugenberichte. Sie wurden schlichtweg zur Schlachtbank geschickt, ohne anständige Kleidung, Verpflegung oder Deckung.

    An dieser Stelle wird Metjolkin abermals von der Richterin unterbrochen. „Ich finde, es besteht sehr wohl ein direkter Zusammenhang, deswegen fahre ich fort“, erwidert er. 

    Ich kenne aus erster Hand den Bericht einer Frau, deren wehrdienstleistender Neffe in einem sowjetischen Panzer Baujahr 1974 schläft. Wir hören Berichte von Soldaten, deren Leichname nicht überführt und anständig beerdigt werden. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern. Die ukrainische Seite würde sie abholen lassen, aber Russland schweigt.

    Leichname der russischen Soldaten werden nicht überführt. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern

    Die Staatsmacht hat den Aktivisten und Journalisten den Krieg erklärt, die offen über die Ereignisse sprechen wollen, weil es unmöglich ist, darüber zu schweigen. In einem Jahr wird man uns fragen, was wir in dieser Zeit getan haben, wie wir versucht haben, es zu verhindern. Wir werden der nächsten Generation Rede und Antwort stehen müssen. Inzwischen sind die Repressionen in vollem Gang: Es laufen über 200 administrative und einige Strafverfahren. Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur. Die Staatsmacht versucht, uns weiterhin einzuschüchtern, indem sie unter anderem auf die Wiedereinführung der Todesstrafe anspielt. Es gibt die Menschen, die nicht schweigen, aber viele sind wir nicht.

    Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur

    Jetzt zum zweiten Teil des oben genannten Satzes. Die Jugend sind wir, und wir werden garantiert gewinnen. Was bedeutet das? Ich möchte weg von der gängigen Standardinterpretation dieser Worte als Generationenkonflikt, bei dem die Jungen immer die Alten ablösen, die Alten ausgemustert werden und dadurch vermeintlich alles besser werden soll. Das würde zu kurz greifen.

    Meiner Ansicht nach geht es bei diesen Worten darum, dass sich die Zukunft nicht aufhalten lässt. Wir wissen nicht, wie sie aussehen wird, momentan ist das schwer zu sagen. Aber das Putin-Regime wird zweifellos früher enden, als es der (noch Haupt-)Akteur will. Mit seinem Versuch, lebenslang Präsident zu sein, ruiniert er das ganze Land.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte – jener „tausendjährigen Geschichte“, wie sie die Propaganda so gerne nennt. Eine Grundannahme dieses Diskurses ist die Behauptung, Russland habe immer nur gerechte und Befreiungskriege geführt.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte

    Ich will mich nicht in historischen Details verlieren – die Fotos, die nach dem 24. Februar 2022 in Kiew, Mariupol und Cherson gemacht wurden, sprechen für sich. Sie genügen, um zu begreifen, dass das Narrativ von den Russen als Befreiern hinfällig geworden ist. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen – mit Streumunition und Minenbomben. Die Russen reagieren darauf wie sie können, aber sie können wenig. Dafür reagiert die Welt umso stärker. Das Leben in Russland hat sich seit dem Beginn des Krieges rasant verschlechtert, und das wird lange so bleiben. Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung – alles ist zerstört. Alles ändert sich im Lauf der Zeit, aber jetzt gerade beschleunigt ein Einzelner mit seinen wahnwitzigen Aktionen die Veränderungen massiv.

    Das Narrativ von den Russen als Befreiern ist hinfällig geworden. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen

    Zum Thema „Entnazifizierung“: Russland hat den Buchstaben Z als ein Symbol des Kriegs gewählt, in dem viele zu Recht ein halbes Hakenkreuz erkennen. In manchen Ländern will man dieses Zeichen bereits gesetzlich mit den Nazi-Symbolen gleichsetzen. Anders kann man es auch gar nicht nennen – ein neues Hakenkreuz, ein neuer Hitlergruß. In Z-Formation werden in Russland Studenten, Schüler und sogar Kindergartenkinder aufgestellt.    

    Die russischen Propagandisten haben die gesamten acht Jahre seit 2014 über Nazis in der Ukraine gewettert: Zuerst seien sie auf dem Maidan aufgetreten und dann plötzlich an die Macht gekommen. Man hat uns Bilder von Fackelzügen gezeigt, die tatsächlich gruselig aussahen. Aber wo sind diese ukrainischen Ultrarechten jetzt? Die vereinigten Rechten haben es mit gerade mal zwei Prozent bei den letzten Wahlen nicht einmal in die Rada geschafft. Einzelne nationalistische Veteranen des Kriegs in der Ostukraine konnten sich unter Poroschenko einen Platz in der Politik oder einen Posten in den Sicherheitsbehörden verschaffen, aber von einem maßgeblichen Einfluss auf die Politik in den letzten Jahren kann nicht die Rede sein. Wolodymyr Selensky hatte bereits Kurs aufgenommen auf eine Versöhnung der ukrainischsprachigen und der russischsprachigen Bevölkerung des Landes.

    Wir brauchen eine Entnazifizierung und Dekolonialisierung Russlands

    Wir haben die ukrainischen Nationalisten schon sehr sehr weit überholt. Wir sind es, die eine Entnazifizierung und eine Dekolonialisierung Russlands brauchen. Und eine Absage an den imperialistischen Chauvinismus, an den Spott über Sprachen, Kulturen und Symbole anderer Länder und anderer Völker Russlands. Fehlende Empathie gegenüber deinen Nachbarn – das genau ist der Grund, warum Kriege beginnen. 

    Wir fahren nach Jerewan oder Tbilissi und erwarten, dass man dort Russisch mit uns spricht, erwarten einen Service wie in Moskau, erwarten, dass sich alle über uns freuen. Wir betrachten diese Orte als Scherben des großen Russland. Genau das ist imperialistisches Denken. Wie alle sehen, tut Russland seinen Nachbarländern nichts Gutes. Wir müssen viel mehr darüber reflektieren, was es heißt, Russen zu sein. Und wir müssen jetzt maximal streng mit uns selbst sein.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert, und nun hat unser Land einen Krieg entfacht, den allerschrecklichsten seiner Geschichte. Wir müssen diese Fehler beheben. Wir müssen einsehen, dass jetzt nichts wichtiger ist als die Politik. Politik, verstanden als eine Teilnahme am eigenen Leben, als Selbstbestimmung, als Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, als Sorge um das, was rundherum passiert. All das ist die Grundlage, auf der wir eine neue russische Gesellschaft aufbauen müssen. Die Flucht in die heimeligen Sphären von privaten Interessen und Konsum hat unsere autoritäre Gesellschaft in die Katastrophe geführt. Das muss aufhören und darf sich nie mehr wiederholen.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert

    Die Gemeinschaft der Aktivisten, Journalisten und Wissenschaftler, zu der ich mich zählen darf, weiß, was sie zu tun hat. Wir sind bereit, hart zu arbeiten, geduldig zu sein und zu hoffen – die Veränderungen werden kommen, aber wir müssen uns alle gemeinsam darauf vorbereiten. Und dafür müssen wir in Freiheit sein. 

    Ich möchte den letzten Satz des Videos ein bisschen korrigieren, Alla möge mir verzeihen, wir haben den Text ja, soweit ich mich erinnere, zusammen verfasst. Ich hätte ihn lieber so: Die Staatsmacht hat den friedlichen Menschen den Krieg erklärt und stellt jetzt eine massive Bedrohung dar. Aber die tatsächliche Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen garantiert stoppen.

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  • Russisch-kasachisches Win-win

    Russisch-kasachisches Win-win

    Es waren die schwersten Ausschreitungen in der jüngsten Geschichte Kasachstans: Anfang Januar wurde das zentralasiatische Land von tagelangen Protesten erschüttert. Präsident Tokajew setzte seinen Vorgänger Nursultan Nasarbajew als Chef des Sicherheitsrats ab und rief die OVKS, ein Militärbündnis unter Führung Russlands, zur Hilfe, um gegen die „ausländischen Terroristen“ einzuschreiten. Dieses Vorgehen hatte für viel Unruhe gesorgt, Befürchtungen wurden laut, dass Kasachstan damit seine „multivektorale Außenpolitik“ – gute Beziehungen zu Russland, China und den USA – aufgebe und sich zur Geisel Russlands mache.
    Die Proteste waren binnen weniger Tage niedergeschlagen, am 13. Januar begannen die OVKS-Truppen ihren Abzug, es gab 225 Todesopfer und mehr als 7000 Festnahmen – das zumindest sind die offiziellen Zahlen, Menschenrechts­organisationen gehen von deutlich mehr Opfern aus.
    Auslöser für die Demonstrationen waren die hohen Gaspreise gewesen, vor allem in der Kultur- und Wirtschafts­metropole Almaty politisierten und radikalisierten sich die Proteste schließlich, Demonstranten forderten den völligen Rückzug von Ex-Präsident Nasarbajew. 

    Zentralasien­expertin Beate Eschment, Wissenschaftliche Mitarbeiter am ZOiS, vermutet im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass die Proteste in Kasachstan durch „Kräfte aus dem riesigen Clan des Altpräsidenten Nursultan Nasarbajew“ zusätzlich angeheizt worden waren, „die ihre Felle davonschwimmen sahen“. Derzeit beobachte sie einen Ämtertausch, zahlreiche Personen mit Verbindungen zu Nasarbajew würden ausgewechselt. Zudem nehme Tokajew wirtschaftliche Reformen in Angriff. Ein Ende von Kasachstans multivektoraler Außenpolitik sieht sie nicht.

    Auf Carnegie.ru analysiert Temur Umarow, welche Interessen die kasachische und russische Führung mit dem OVKS-Einsatz jeweils verfolgten – und warum er eben nicht das Ende der kasachischen Multivektor-Politik bedeutete.

    Russische OVKS-Truppen in Kasachstan Anfang 2022 / Foto © Mil.ru CC BY 4.0
    Russische OVKS-Truppen in Kasachstan Anfang 2022 / Foto © Mil.ru CC BY 4.0

    „Kasachstans Außenpolitik wird sich grundlegend ändern“ – solche Stimmen wurden sofort laut, nachdem im Januar die OVKS mit Russland an der Spitze bei den Unruhen in Kasachstan interveniert und dem Präsidenten Kassym-Shomart Tokajew dabei geholfen hat, seine Macht nicht nur zu erhalten, sondern sogar zu festigen. Es hieß, die Landesregierung werde den Kreml für seine Unterstützung entlohnen müssen. Die Spekulationen über das Wie variierten von der Anerkennung der Krim über die Ablehnung der lateinischen Schrift bis hin zur Schließung „antirussischer“ NGOs.

    Nahezu einig war man sich allerdings, dass der Abschied von Kasachstans berühmter multivektoraler Außenpolitik nun unvermeidliche Konsequenz sei. Aber sind diese Annahmen berechtigt? 
    Auf den ersten Blick scheint die Frage nach einer „Gegenleistung“ naheliegend – immerhin hat der OVKS-Einsatz Geld gekostet, und Russland ist ein ernsthaftes Risiko eingegangen, indem es seine Soldaten in das von Unruhen erschütterte Kasachstan schickte. Hätte sich das russische Militär aktiv an der gewaltsamen Zerschlagung der Proteste beteiligen müssen, wäre das ein enormer Imageschaden für Moskau – nicht nur gegenüber den Kasachen, sondern auch der Weltgemeinschaft.

    Doch auch innenpolitisch hat Russland einiges riskiert: Wie bewertet die russische Gesellschaft den Militäreinsatz? Wie hätte es sich auf die Zustimmungswerte des Kreml ausgewirkt, wenn sich der Einsatz in die Länge gezogen oder russische Soldaten in Kasachstan umgekommen wären? Gründe genug also, um eine Gegenleistung zu fordern.

    Für Moskau waren die Unruhen in Kasachstan eine böse Neujahrsüberraschung

    Doch diese Logik vernachlässigt einen wichtigen Umstand. Das Hauptmotiv für Moskaus Entscheidung, sich in das Geschehen in Kasachstan einzumischen, war nicht der Wunsch, seinen Einfluss in Zentralasien zu vergrößern, sondern die Sorge um die eigene Sicherheit, sollte die Situation im Nachbarland endgültig außer Kontrolle geraten.  
    Für Moskau waren die Unruhen in Kasachstan eine böse Neujahrsüberraschung. In diesen Tagen sorgte man sich weniger um das Schicksal der kasachischen Regierung als um die möglichen Konsequenzen für Russland. Die russisch-kasachische Grenze ist die zweitlängste Landesgrenze der Welt, sie ist sehr schwach gesichert und stellenweise nicht einmal markiert. 
    Außerdem war es für Moskau wichtig, Kasachstan als das zu erhalten, was es immer gewesen ist – Russlands wichtiger Verbündeter, der sich zahlreichen Initiativen des Kreml anschließt, sowohl in der Verteidigungs- als auch in der Wirtschaftspolitik, die auf eine Integration des postsowjetischen Raums ausgerichtet ist. Man durfte also nicht zulassen, dass dieses freundschaftlich gesinnte Regime fällt und der Präsident seine Macht verliert.

    Viel Auswahl hatte die kasachische Regierung sowieso nicht

    Der Preis für die Aktion war nicht sehr hoch. Die aktive Phase der Friedensmission dauerte nur wenige Tage: Tokajew hatte sich am 5. Januar an die OVKS gewandt und bereits am 10. Januar den baldigen Abschluss der Aktion verkündet. Die OVKS hatte gerade mal 2500 Soldaten und 250 Militärgeräte bereitgestellt. Offiziell sicherten die Einsatzkräfte der OVKS strategisch wichtige Objekte, doch eigentlich war ihr Einsatz vor allem symbolischer Natur.

    Durchaus möglich, dass Tokajew auch allein mit der Situation fertig geworden wäre: Die kasachischen Sicherheitskräfte sind bei weitem nicht die schwächsten auf der Welt. Aber einige von ihnen hatten es (zumindest in Almaty) nicht eilig, die Befehle der Zentralregierung auszuführen, deswegen hätte sich die Krise in die Länge ziehen können. Der kasachische Präsident musste dringend beweisen, dass er neben der institutionellen Legitimität auch über reale Macht verfügt. Hilfe von Moskau anzufordern war die niedrigschwelligste Entscheidung. 

    Russland versteht besser als andere Großmächte, was in der Innenpolitik und der Führungselite Kasachstans vorgeht

    Viel Auswahl hatte die kasachische Regierung sowieso nicht. Trotz aller Gespräche über die multivektorale Politik und den wachsenden Einfluss Chinas bleibt Russland das einzige Land, das die Regierungen in der Region militärisch unterstützen kann. Zum einen, weil es eine legale Grundlage dafür hat – laut Satzung der OVKS können bei Bedrohung in einem Mitgliedstaat die anderen Länder militärische Maßnahmen ergreifen. Zum anderen, weil die kasachische Gesellschaft Russland gegenüber relativ wohlgesonnen ist. Laut einer Umfrage des Zentralasiatischen Barometers halten 81 Prozent Russland für einen befreundeten und zuverlässigen Partner. Weder die USA noch China genießen ein so großes Vertrauen. 

    Und nicht zuletzt versteht Russland besser als andere Großmächte, was in der Innenpolitik und der Führungselite Kasachstans vorgeht. Man kennt viele ihrer Vertreter persönlich, pflegt mit einigen freundschaftliche Beziehungen, spricht mit allen in der eigenen Muttersprache und teilt Werte und Überzeugungen, die noch auf das Sowjetsystem zurückgehen. Das ermöglicht Russland, innenpolitisch Einfluss zu nehmen und in Krisensituationen schnell und effektiv zu reagieren. 

    Schon jetzt hat Moskau viel gewonnen

    Moskau hat schon jetzt – ohne neue Zugeständnisse von Tokajew – durch den kurzen Kasachstan-Einsatz der OVKS viel gewonnen. Vor allem ist es Russland gelungen, ein befreundetes politisches Regime im großen Nachbarland an der Macht zu erhalten. Außerdem konnte es der ganzen Welt beweisen, dass die OVKS nicht bloß irgendein Klub ist, sondern eine wirkmächtige Organisation. Gleichzeitig wurde den anderen Regierungen in Zentralasien signalisiert, dass nur Russland die Mittel und den Willen hat, sie im Fall einer Krise vor dem Zusammenbruch zu bewahren. 

    Der letzte Punkt ist in Anbetracht der wachsenden Aktivität Chinas in der Region besonders relevant. Russland wirkt im Vergleich zu China blass. Manche glauben schon so sehr an die Übermacht Chinas, die Russland aus Zentralasien zu verdrängen vermag, dass sie die kurze Verweildauer der OVKS mit einem Einwand Chinas erklären. 

    Allerdings genießt die chinesische Regierung nicht annähernd so viel Vertrauen bei der kasachischen Elite wie der Kreml, deswegen ist es schwer vorstellbar, dass Peking solche Forderungen stellen würde. Nach Einschätzung des Sinologen Igor Denissow halten die diplomatischen, nachrichtendienstlichen und analytischen Mittel Chinas nicht Schritt mit seiner immer größer werdenden wirtschaftlichen Präsenz in Zentralasien. Darum blieb China während der jüngsten Krise in der Rolle eines unbeteiligten Beobachters.
    Natürlich wird der wirtschaftliche Einfluss Chinas auch nach den jüngsten Ereignissen weiter wachsen und allmählich auf andere Bereiche übergehen. Aber wie die Ereignisse im Januar gezeigt haben, wird Peking Moskau nicht so bald einholen, was das Verständnis der Vorgänge im Land und die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die herrschenden Eliten betrifft. 

    Tollkühne Rhetorik der Türkei

    Die Krise hat auch Kasachstans Schwächen in den Beziehungen zu anderen Partnern offengelegt, beispielsweise der Türkei. Wie Peking beobachtete auch Ankara das Geschehen aufmerksam – Erdogan, der 2016 selbst einen Umsturzversuch erlebte, bot Tokajew telefonisch Hilfe an. Der Berater des türkischen Präsidenten Ihsan Sener ging sogar so weit von einer „Okkupation“ Kasachstans durch die Einsatzkräfte der OVKS zu sprechen. 

    Doch die tollkühne Rhetorik zeugt nur von den türkischen Ambitionen in Zentralasien, die bislang weder durch eine Expertise in der Region noch durch ausreichende Verbindungen zu den lokalen Eliten oder ein Vertrauen im Volk untermauert sind. 

    Verhalten war auch die Reaktion der USA, obwohl Kasachstan als ihr wichtigster Partner in der Region gilt. Im Großen und Ganzen blieb es bei öffentlichen Erklärungen: Zunächst gab es einen Aufruf, die Gewalt zu beenden und die Menschenrechte zu achten, später folgte eine Solidarisierung mit den „verfassungsrechtlichen Institutionen Kasachstans“. Die USA interessieren sich mit jedem Jahr weniger für Zentralasien – ihr passives Verhalten während der Krise in Kasachstan ist dafür nur ein weiterer Beweis. 
    Und schließlich gibt es bei der Erwartung einer prorussischen Wende in der kasachischen Außenpolitik einen wesentlichen Haken: nämlich die Frage, welche neuen Druckmittel Russland durch seine kurze Truppenpräsenz unter dem Deckmantel der OVKS gewonnen hätte. Die Antwort lautet: gar keine.

    Es wäre nicht in Russlands Interesse gewesen, Kasachstans berühmte multivektorale Außenpolitik anzurühren

    Aus juristischer Sicht verlief alles entsprechend der Satzung der OVKS: Der Beschluss Kasachstan im Kampf gegen die „terroristische Bedrohung“ beizustehen wurde nicht vom Kreml, sondern vom Rat für kollektive Sicherheit des Bündnisses getroffen. Es sind in dieser Zeit keine überstaatlichen Einrichtungen gegründet, zwischenstaatliche Übereinkünfte getroffen oder auch nur öffentliche Versprechungen gemacht worden, die Moskau dazu berechtigt hätten, irgendetwas zu fordern. Und selbst wenn es so etwas gegeben hätte, wäre es nicht in Russlands Interesse gewesen, Kasachstans berühmte multivektorale Außenpolitik anzurühren.

    Im Gegensatz zu beispielsweise Belarus hat Kasachstan nie versucht, die Widersprüche zwischen Moskau und dem Westen gegeneinander auszuspielen, sondern sich tatsächlich bemüht, freundschaftliche Beziehungen mit beiden Seiten zu pflegen – mit Erfolg. Das Land verbindet schon seit vielen Jahren eine Partnerschaft mit Russland und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen: Fast 40 Prozent der kasachischen Exporte gehen nach Europa, während bei der Ölförderung amerikanische Firmen dominieren. 

    Mit anderen Worten: Kasachstans multivektorale Politik ist nicht bloße Rhetorik, sondern fußt auf diversifizierten Wirtschaftsbeziehungen. Von der Aufrechterhaltung dieser Politik hängt der materielle Wohlstand des Landes in vielerlei Hinsicht ab. Nähme man also an, Moskau wollte dieses Gleichgewicht zu seinen Gunsten stören, müsste es mit den wirtschaftlichen Konsequenzen eines solchen Schrittes rechnen.

    Kasachstan ist reich genug, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben

    Warum sollte Russland eigenhändig die durch die jüngsten Ereignisse ohnehin angeschlagene wirtschaftliche Lage in einem Land verschlimmern wollen, in dem gerade erst Massenproteste wegen Preisanstiegen und sozialer Ungerechtigkeit stattgefunden haben? Die politische Krise und die ausländischen Truppen haben die Investoren auch so schon verunsichert, was nicht folgenlos bleiben wird. In dieser Situation eine Distanzierung vom Westen zu fordern, würde nur weitere Probleme für alle Beteiligten nach sich ziehen. Zudem würde eine hypothetische Verdrängung des Westens aus Kasachstan nicht zwingend dazu führen, dass Russland diese Leerstelle füllt. Vermutlich würde Moskau sogar nur China dazu verhelfen, zu einer noch einflussreicheren Macht in Zentralasien zu werden.

    Viel wahrscheinlicher ist es also, dass Russland sich nicht zu solchen Manövern hinreißen lässt, um neue Zugeständnisse von Kasachstan zu bekommen. Auch wenn die beiden Länder wie schon zuvor nicht ohne kleinere Streitigkeiten auskommen werden – beispielsweise über den Stellenwert der russischen Sprache.
    Kasachstan ist reich genug, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben. Viele haben die Signale bereits bemerkt, die Tokajew durch die Besetzung der Ämter sendet: Minister für Information und gesellschaftliche Entwicklung wurde Askar Umarow, der für seine russophoben Statements bekannt ist. Gleichzeitig wurde mit Roman Skljar nach zwei Jahrzehnten erstmals wieder ein ethnischer Russe für den Posten des stellvertretenden Premiers ernannt. Ein solches Gleichgewicht soll zeigen, dass der außenpolitische Kurs des Landes unverändert bleibt – das Bündnis mit Russland ist stärker als je zuvor, aber es stellt die Souveränität Kasachstans nicht infrage. 

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  • Undiplomatische Diplomatie

    Undiplomatische Diplomatie

    Das russische Säbelrasseln an der Grenze zur Ukraine hat sich längst zu einer euro-atlantischen Sicherheitsfrage ausgewachsen. In den letzten Tagen hat US-Präsident Biden sowohl mit Russlands Präsident Putin wie auch mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky telefoniert. Von Russland forderte Biden Deeskalation, dem ukrainischen Präsidenten versicherte er, dass die USA im Fall eines russischen Angriffs der Ukraine „entschlossen“ reagieren würden. 
    Unterdessen drohte der Kreml im Fall von Sanktionen mit dem vollständigen Abbruch der Beziehungen. Moskau dementiert Angriffspläne und wirft vielmehr der NATO und der Ukraine Provokationen vor. In einem Mitte Dezember veröffentlichten Abkommensentwurf forderte Moskau, dass die NATO von einer Osterweiterung absehe, Waffen aus der Region abziehe und Manöver dort beende.

    Diese Forderungen Russlands analysiert Alexander Baunow, Chefredakteur von Carnegie, in einem Facebook-Post – und auch, wie mit solcher „undiplomatischen Diplomatie“ am besten umzugehen sei.

    1. Nicht nur großes Geld, sondern auch Diplomatie liebt die Stille. Das russische Außenministerium hat Washington per Internet ein Abkommen zur Unterzeichnung geschickt. Das ist ungewöhnlich.

    2. In diesem Abkommen sind nötige Zugeständnisse der Gegenseite aufgelistet, aber keine, die Russland einzugehen bereit wäre. Dabei liegt der Unterschied zwischen Diplomatie und militärischen Siegen gerade darin, dass alle Zugeständnisse machen.

    3. Bis auf wenige Ausnahmen braucht Diplomatie Zeit. Fristen setzt man nur dann, wenn man Taten folgen lassen möchte. Und enge Fristen mit harten Konditionen nur dann, wenn man es gleich doppelt möchte. Oder wenn man sicher ist, dass die gegnerische Seite keine Wahl hat. 

    Das neue Abkommen bemängelt keine Einzelheiten, sondern das gesamte Agieren des Westens

    4. Neben den ungewöhnlich direkten und übertriebenen/unerfüllbaren Forderungen in dem von Moskau vorgelegten Entwurf, steht darin auch noch alles, womit Russland unzufrieden ist und was es ändern möchte.

    5. In den vergangenen Jahren versuchte Russland immer wieder, über einzelne Punkte der westlichen Politik zu verhandeln, die Moskau missfielen: NATO-Osterweiterung, Militärstützpunkte, Austritt aus dem ABM-Vertrag und demzufolge Stationierung einer Raketenabwehr in Osteuropa, Unterstützung von Regierungswechseln und so weiter. Das neue Abkommen bemängelt keine Einzelheiten, sondern das gesamte Agieren des Westens und fordert, es als Ganzes zu ändern.

    6. Diese Forderungen sind für das Russland, das wir seit dem Ende der 1980er Jahre kennen, unmöglich, unerfüllbar, überhöht … Für ein Zeitalter der Konfrontation von Supermächten sind sie jedoch durchaus denkbar.

    7. Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln? Wladimir Putin verweist immer nachdrücklicher auf die Ergebnisse seiner Regierungszeit, der sogenannten Putinära, für die russische Geschichte. In dieser Gesamtschau ist nicht nur der Status Quo der Ukraine, sondern auch der auf der Weltbühne nicht hinnehmbar. 

    Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln?

    8. Wir stecken in einer globalen Perspektive fest, in der das postsowjetische Russland eines Gorbatschow und Jelzin als Norm gilt, Putins Russland hingegen als Abweichung, als Anomalie. Doch Putin ist schon länger an der Macht als Gorbatschow und Jelzin zusammen, und wird es (auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2024) vielleicht noch länger bleiben.

    9. Der schlichte Vergleich der historischen Zeiträume (sogar ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung, der Modernisierung des Militärs und so weiter) erlaubt ihm, seine Regierungszeit als Norm und jene seiner Vorgänger als kurze Abweichung in der Geschichte Russlands zu betrachten, als eine Seite im Geschichtsbuch, die es möglichst schnell umzublättern gilt. 

    10. Innerhalb dieses Koordinatensystems sind die Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre nicht unumkehrbar. Neben den oben genannten Forderungen enthält der Entwurf für das Abkommen erstmals eine öffentliche Forderung der russischen Regierung, die gesamten Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre neu zu bewerten, nicht nur bestimmte Details.

    Revision der gegenwärtigen Ordnung

    11. Die neuesten Aktionen zielen darauf ab, der Welt mit allen Mitteln zu demonstrieren und ihr klarzumachen, dass Russland die gegenwärtige Weltordnung nicht als Norm betrachtet. Und ehe man es sich versieht, kann man dann – nach einigen Jahren nicht öffentlicher Gespräche, die ganz öffentlich mit überhöhten Forderungen eingeläutet wurden – zur Revision der gegenwärtigen Ordnung schreiten. Das wäre noch die glimpflichste Entwicklung der Ereignisse.  

    12. Das Abkommen, das man dem Westen zur Unterzeichnung vorlegt, wurde aufs Geratewohl erstellt. So eine Diplomatie ist nur zu bemühen, wenn man den diplomatischen Rahmen möglichst bald verlassen möchte, quasi: Wir haben es versucht, alle haben es gesehen (maximale Öffentlichkeit), wir haben die diplomatischen Mittel ausgeschöpft, nun schreiten wir zur Tat. Kampfhandlungen wären die härteste Fortsetzung dieser undiplomatischen Diplomatie. Der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow hat bereits erklärt, dass Russland mit der Reaktion des Westens auf seine Vorschläge unzufrieden sei.

    13. Dennoch könnte das alles auch eine Diplomatie in Zeiten einer neuen Direktheit darstellen, neuer Formen und kategorischer Gesten. Das Antwort-Repertoire des Westens ist nicht allzu groß. Es gibt die Wahl zwischen dem Furchtbaren für alle und dem wenig Überzeugenden. Beides möchte man nicht. Deshalb bemüht man sich, das von Russland in ungewohnter Manier begonnene Gespräch vorerst nicht durch eine harsche Antwort abbrechen zu lassen. Denn die harsche Antwort könnte genau das sein, worauf Russland aus ist.

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  • „Sie wollen mich einfach zum Schweigen bringen“

    „Sie wollen mich einfach zum Schweigen bringen“

    Folter und Gewalt in Russlands Gefängnissen sind ein offenes Geheimnis – immer wieder drangen Augenzeugenberichte darüber an die Öffentlichkeit. Auch Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, weist seit Jahren darauf hin, dass das russische Gefängniswesen systematisch darauf ausgerichtet sei, Menschen zu brechen. Dem ehemaligen Häftling Sergej Saweljew ist es nun gelungen, ein großes Archiv an Daten, die Foltervideos aus russischen Gefängnissen enthalten, aus dem Knast zu schmuggeln. Das Material zeugt von einem systematischen Folternetzwerk in mehreren russischen Gefängnissen. Saweljew wandte sich damit an den Menschenrechtler Wladimir Ossetschkin, der einzelne Videos auf seiner Plattform Gulagu.net veröffentlichte, benannt nach dem stalinistischen Lagersystem
    Die explizite Gewalt auf den Videos erschütterte viele. Doch obwohl sich auch Russlands Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa erschüttert zeigte und Sergej Saweljew für seinen Mut lobte, wurde der Ex-Häftling zur Fahndung ausgeschrieben und Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er ersucht derzeit politisches Asyl in Frankreich. 

    Meduza hat Sergej Saweljew interviewt und mit ihm darüber gesprochen, inwiefern er selbst Opfer von Gefängnisfolter wurde, wie er an das Material kam – und warum die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

    Andrej Sarafimow/Meduza: Sagen Sie ein paar Worte über sich. Wie alt sind Sie, und wo kommen Sie her?

    Sergej Saweljew: Ich bin 31. Ich bin aus Belarus, geboren wurde ich in Minsk. Dort habe ich auch den Großteil meines Lebens verbracht. 

    Warum haben Sie sich nach der Veröffentlichung der Foltervideos dafür entschieden, Ihre Identität preiszugeben?

    Dem Geheimdienst ist meine Identität sowieso bekannt. Nur die Öffentlichkeit wusste nicht, wer ich bin. Der Geheimdienst hatte mich längst ausfindig gemacht, also machte es keinen Sinn mehr [meinen Namen geheim zu halten]. Das genaue Datum weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie seit einigen Monaten wissen, wer ich bin. 

    Wie würden Sie beschreiben, was auf den Videos zu sehen ist?

    Die „Aktivisten“ – so nennt man die anderen Häftlinge im Tuberkulose-Gefängniskrankenhaus OTB-1 in Saratow – können sich jeden Mithäftling vornehmen, den die Leitung rauspickt. Dann bringen sie ihn in die Folterkammer und foltern ihn auf jede erdenkliche Weise. Angefangen bei banalen Schlägen und Erniedrigungen bis hin zu krassen Formen sexueller Gewalt. Sie können einem Menschen antun, was sie wollen.

    Wer entscheidet, welcher Häftling gefoltert wird?

    Verschiedene Leute in leitenden Positionen in und außerhalb der jeweiligen Einrichtung. Ich bin mir sicher, dass die Spuren noch viel höher führen: bis hin zu den Leitern des FSIN [Strafvollzugsbehörde] und des FSB. 

    Sie können einem Menschen antun, was sie wollen

    Manche Entscheidungen wurden wahrscheinlich auch vor Ort getroffen. Aber in den meisten Fällen kamen die Anweisungen von oben.

    Wofür brauchen die FSIN-Beamten die Folter? Was sind deren Ziele?

    Die Ziele können sehr unterschiedlich sein. Angefangen bei banaler Bestrafung wegen Verstößen oder Ungehorsam bis hin zu Erpressung. Manchmal setzen sie Folter ein, um das Opfer später zu Falschaussagen gegen jemand anderen zu zwingen.

    Auch Rache auf Bestellung von oben ist nicht ausgeschlossen.

    Und werden die Ziele mittels Folter erreicht?

    Das Ganze passiert ja nicht seit einem Jahr, es hat System in den Behörden, also sind sie [die FSIN-Beamten] mit den Ergebnissen offenbar zufrieden.

    Sie sagten, Sie hätten den Großteil Ihres Lebens in Minsk verbracht. Wann und wie sind Sie nach Russland gekommen?

    Das war 2013. Ein Bekannter hat mir einen Job angeboten. So bin ich in der Oblast Krasnodar gelandet und bin dort nicht mehr weggekommen. Ich wurde von Spezialeinheiten festgenommen, genauer gesagt vom FSB. Man beschuldigte mich, einen Drogendeal vorzubereiten.

    Es geht darum, den Widerstand, den Willen zu brechen. Darum, einem Menschen zu zeigen, dass er keinerlei Rechte hat

    Bei der Festnahme habe ich zum ersten Mal Gewalt durch die Silowiki erlebt. Das hat natürlich Spuren fürs ganze Leben hinterlassen. Ich bin noch nie derart brutal, derart heftig und derart krass zusammengeschlagen worden. Die Schläge dauerten den ganzen Tag. Zehn Leute haben auf mich eingeprügelt. Alle maskiert und mit Waffen.

    Wollten sie ein Geständnis erzwingen?

    Es geht eher darum, den Widerstand, den Willen zu brechen. Darum, einem Menschen zu zeigen, dass er keinerlei Rechte hat. „Wir machen alles, was wir wollen, und uns wird nichts passieren“.

    Wie kam es, dass Sie vom FSB festgenommen wurden?

    Ehrlich gesagt, drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Sache von Vorneherein geplant war. Zu dieser Zeit [Saweljew wurde 2013 verhaftet – Anm. Meduza] war ja eigentlich die Drogenfahndung für solche Delikte zuständig, und doch hat der FSB die Angelegenheit übernommen. Das gibt mir zu denken.

    Was ist im Untersuchungsgefängnis passiert?

    In den ersten zwei Monaten wurde ich ungefähr einmal die Woche verprügelt. Das diente jetzt nicht mehr dazu, ein Geständnis aus mir rauszuprügeln, sondern damit ich die Protokolle unterschreibe, die sie zusammenstellen, ich leistete gar nicht groß Widerstand. [Das haben sie gemacht] damit ich nicht gegen die Ermittler aufmucke und nicht gegen den Strom schwimme. Als die Ermittlungen abgeschlossen waren, wurden die Akten dem Gericht übergeben und ich wurde ins Untersuchungsgefängnis Nr. 3 in Noworossisk verlegt. 

    Wie unterschied sich das vom vorherigen Untersuchungsgefängnis des FSB?

    Der Verwaltung dort war alles egal, die haben sich um gar nichts gekümmert. Ich war mit genau den Dingen konfrontiert, von denen ich schon unzählige Male gehört hatte: Ein russisches Untersuchungsgefängnis bedeutet null Hygiene, überfüllte Zellen, keine Sanitäranlagen. Absolut menschenunwürdige Verhältnisse. Wir waren mit 26 Leuten in einer Zelle für 12. Geschlafen haben wir dann abwechselnd, in zwei oder sogar drei Schichten. Die Rohre sind undicht, der Betonboden platzt auf, der Putz bröckelt von der Decke, es gibt riesige Kakerlaken.

    Ein russisches Untersuchungsgefängnis bedeutet null Hygiene, überfüllte Zellen, keine Sanitäranlagen

    Der Gerichtsprozess dauerte fast anderthalb Jahre und hatte eher was von einer Vorlesung. Ich wurde einfach zum Gericht gebracht und durfte mir dort die Geschichte [die Verfahrensdetails] anhören, die die FSB-Ermittler aufgeschrieben hatten. Seite für Seite. Und dann wurde die Sitzung vertagt, weil die Ermittler nämlich sehr viel geschrieben hatten. Fast ein ganzes Buch. Eine richtige Lesung war das.

    Am Ende stand das Urteil [neun Jahre Straflager]. Nach der Urteilsverkündung wurde ich in die Oblast Saratow verlegt, wo ich die Haftstrafe verbüßen sollte. Als erstes kam ich in die Besserungsarbeitskolonie IK-10 und blieb dort ungefähr ein halbes Jahr.

    Nach der Verlegung dorthin kamen wir in Quarantäne. Am ersten Abend wurden wir heftig geschlagen – sowohl von Mithäftlingen, den sogenannten Aktivisten, als auch von den Beamten.

    Wie kamen Sie dann ins OTB-1?

    Nach einem Lungenröntgen wurde mir gesagt, es gebe Auffälligkeiten, die abgeklärt werden müssten. Verdacht auf Tuberkulose. Dafür müsste ich in ein Spezialkrankenhaus, ins OTB-1 eben. So sind die Regeln – ob man will oder nicht, man muss hin. Unter dem Vorwand können sie jeden Häftling aus jeder beliebigen Haftanstalt verlegen. Man kann die Verlegung [ins Krankenhaus] nicht verweigern.

    Über das OTB-1 wissen natürlich alle Bescheid. Jeder weiß, was für ein furchtbarer Ort das ist und dass man besser nicht krank werden sollte. Ich weiß von Fällen, bei denen sich Leute aus Protest aufgeschlitzt [die Pulsadern aufgeschnitten] haben: „Ich weiß, was die da drin mit mir machen, da fahre ich nicht hin.“

    Jeder weiß, was für ein furchtbarer Ort das Gefängniskrankenhaus ist und dass man besser nicht krank werden sollte

    Als mir gesagt wurde, dass ich ins OTB muss, fühlte ich Angst und Ausweglosigkeit. Allerdings wurde ich bei der Ankunft im OTB nicht geschlagen. 

    Ein paar Tage nachdem festgestellt wurde, dass ich gesund war, kam jemand von der Sicherheitsabteilung zu mir. Er sagte, sie hätten eine Stelle frei und suchten jemanden, der Grundkenntnisse im Umgang mit Computern hat. Word, Excel, Photoshop – solche Sachen. Das konnte ich. Also fing ich am dritten oder vierten Tag an, in der Sicherheitsabteilung vom Krankenhaus zu arbeiten. Und ein Posten in der Sicherheitsabteilung ist nicht irgendwas, so jemanden schlägt und foltert man nicht. Das ist keine schlechte Position.

    Wann bekamen Sie zum ersten Mal Folterszenen zu Gesicht?

    Die ersten zwei Jahre hatte ich keinen Zugang zu solchen Dingen. Man hat mich überprüft und genau beobachtet: Mit wem ich Umgang habe, was ich mache. Alle möglichen Leute haben mich getestet, ob ich Geheimnisse für mich behalten kann. Erst später, als ich mir ein gewisses Vertrauen verdient hatte … 

    Solche Aufnahmen entstehen nicht zufällig. Es wird alles vorbereitet. Das [die Folter] sind geplante Aktionen. [Die Videos] drehen nicht die Mitarbeiter. Erst gibt es einen Befehl von der Krankenhausleitung oder von der Leitung der Sicherheitsabteilung: „Heute kommt Häftling soundso zu dir, gib ihm eine aufgeladene Kamera mit leerem Speicher. Später zeigst du mir, was er gefilmt hat.“ 

    Solche Aufnahmen entstehen nicht zufällig. Es wird alles vorbereitet

    Der Häftling kommt, ich gebe ihm die Kamera. Er geht zum Spezialeinsatz [Folter], kommt zurück, gibt mir die Kamera wieder. Ich ziehe die Files auf den PC, überprüfe, ob sich alle öffnen lassen, und gebe sie der Verwaltung. Danach wird mir gesagt, was ich damit machen soll. Entweder: „Zieh sie mir auf nen Stick“ oder: „Lösch alles, damit nichts auf dem Computer bleibt“. 

    Gehörten die Geräte den Mitarbeitern?

    Die Kameras waren alle erfasst, die gehören zum Bestand der Sicherheitsabteilung. Die Anzahl ist so ausgelegt, dass es genug für alle Mitarbeiter und noch ein paar in Reserve gibt. Ich musste also keinen Mitarbeitern hinterherrennen, um einem Aktivisten eine Kamera zu geben. Es war immer eine gewisse Zahl vorhanden, über die ich frei verfügen konnte. 

    Warum mussten die FSIN-Beamten überhaupt einen Häftling einstellen, der dann auch noch Zugang zu solchen sensiblen Daten hatte?

    Wahrscheinlich wollten sie das selbst nicht anschauen, und irgendwer musste es tun. Wenigstens überprüfen, ob sich die Files öffnen lassen. Überhaupt wird ein Großteil der Arbeit an Häftlinge übertragen, das ist nichts Besonderes. Aus Faulheit, Unprofessionalität, Selbstgefälligkeit. 

    Ein Teil der Videos wurde auf USB-Sticks weitergegeben. Welche Videos gingen an die Leute „oben“?

    Ich muss dazusagen, dass nichts auf den PCs bleiben durfte. Diese Dinge waren grundsätzlich nicht dazu gedacht, dass man sie in den Behörden aufbewahrt. 

    Überhaupt wird ein Großteil der Arbeit an Häftlinge übertragen, das ist nichts Besonderes. Aus Faulheit, Unprofessionalität, Selbstgefälligkeit

    Was nach oben weitergegeben wurde, kam auf einen Stick und wurde weggebracht – als Bestätigung, dass die Spezialmaßnahmen durchgeführt worden waren. Als Material für spätere Erpressung. Als Garantie, dass ein Mensch tut, was man von ihm verlangt. 

    Wie genau haben Sie das Archiv herausgeschmuggelt? Auf einem Datenträger?

    Ja. Ich habe in den letzten Jahren [die gesamten Informationen] kopiert, vervielfältigt, gesammelt und versteckt. Dort [im Straflager] gab es kein Internet oder andere Möglichkeiten, Daten zu übermitteln. Dafür gab es nur einen einzigen Weg [auf Datenträgern]. Und davon gab es genug, die kamen überall zum Einsatz. Bei meiner Freilassung war die größte Herausforderung, sie rauszuschmuggeln. 

    In dem Archiv sind auch Videos aus anderen Regionen. Da ist die Rede von den Oblasten Wladimir, Saratow, Irkutsk. Wo kommen diese Videos her?

    Die FSIN-Behörden müssen zusammenarbeiten und Informationen austauschen, zumindest bei den Akten. Dafür braucht es ein lokales Netzwerk. Wenn man an einer Stelle Zugang zum Netzwerk der Behörde hat, kommt man auch in die anderen rein. 

    Wie funktioniert das Netzwerk, aus dem Sie die Videos der anderen Regionen hatten? Das hieße ja, dass andere Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung die Videos nicht gelöscht haben?

    Sieht so aus. Ich möchte die technischen Abläufe ungern offenlegen. Denn gerade machen ja viele Leute in den Straflagern genau das, was ich gemacht habe. Wenn ich jetzt alles erzähle, könnten die Geheimdienste ihnen den Weg versperren. Ich muss die Prozesse und Algorithmen für die Leute offenhalten, die sich dafür entschieden haben, mir auf diesem Weg zu folgen.

    Glauben Sie nicht, dass die Wege längst bekannt sind? 

    Soweit ich weiß, ist der FSIN eine sehr schwerfällige Maschine. Vor allem was die technische Entwicklung betrifft. Deswegen werden sie einige Zeit brauchen, um die Abläufe zu verstehen und zu unterbinden. Ich schätze, wir haben noch ein bisschen Zeit. 

    Sie sprachen von Misshandlungen im Untersuchungsgefängnis, im Straflager und im Krankenhaus. Wurden diese Einrichtungen nicht wenigstens einmal von einer Kommission zur Überwachung der Rechte von Gefangenen aufgesucht? 

    Doch, natürlich, mehrfach. Die kommen ständig – Überwachungskommissionen, die Staatsanwaltschaft.

    Aber das ist alles Show. Sie werden von Mitarbeitern der Haftanstalt herumgeführt, von irgendwem von oben. Die Lagermitarbeiter zeigen ihnen, was sie ihnen zeigen wollen. „Schauen Sie, unsere renovierte Banja!“ – „Ja, toll! Es sind großartige Verhältnisse!“, sagen dann angeheuerte Häftlinge, denen man später Fragen stellt, um ein Häkchen im Bericht zu machen: „15 Personen wurden befragt. Keine Beschwerden über die Verhältnisse. Alles toll und super.“

    Hat sich nie jemand bei der Kommission über Folter beschwert?

    Soweit ich weiß, nicht. Es gab nie eine Untersuchung oder irgendein Verfahren. Nicht dass ich wüsste. 

    Hatten Sie Zweifel, ob Sie die Videos aus dem Archiv veröffentlichen sollen?

    Nein, hatte ich nicht. Ich habe im Februar 2021 Kontakt zu Wladimir Ossetschkin [dem Gründer von Gulagu.net] aufgenommen. Wir haben uns geschrieben. Zu dem Zeitpunkt wusste ich schon, dass er einer der führenden Menschenrechtler ist, die keine Angst haben, die Wahrheit zu sagen, und nicht von Politikern oder Silowiki abhängen. Er hatte über Folter und Machtmissbrauch berichtet, und das schonungslos und effektiv. 

    Haben Sie sofort beschlossen, Russland zu verlassen?

    Nach meiner Freilassung bin ich einfach nach Hause [nach Belarus] gefahren. Das ging problemlos, ich bin erstmal bei Verwandten untergekommen, habe allen Papierkram erledigt und mir einen Job gesucht. Ich habe ein ganz normales Leben geführt, und eben auch mit Gulagu.net zusammengearbeitet. Wenn ich mich nicht irre, kamen im März die ersten Veröffentlichungen, die auf meinen Materialien basierten. 

    Was passierte danach? Soweit ich weiß, hatten Sie am Flughafen in Sankt Petersburg eine Begegnung mit gewissen „Mitarbeitern“.

    Ich bin am 24. September 2021 von Minsk nach Nowosibirsk geflogen, um Freunde zu besuchen. Es gab einen Zwischenstopp in Pulkowo. Dort wurde ich am Schalter von Polizisten und einigen Leuten in zivil aufgehalten. Sie haben mich in ein Büro gebracht und mehrere Stunden verhört. 

    Haben sie sich vorgestellt?

    Natürlich nicht. Sie haben sofort gesagt, sie wüssten über alles Bescheid: dass ich Material an Gulagu.net liefere. Sie meinten, das wäre mindestens Verrat von Staatsgeheimnissen. „Du wanderst in den Knast und ein Jahr später erhängst du dich da drin, weil du den FSIN in Verruf gebracht hast“.

    Gab es das Angebot, zu kooperieren?

    Ja, es hieß, wenn ich kooperieren würde, könnten die Dinge anders laufen. Zwei Möglichkeiten. Die erste: Ich kooperiere, gebe ihnen das gesamte Archiv, arbeite mit ihnen zusammen gegen Ossetschkin und gehe für vier Jahre wegen Verrat von Staatsgeheimnissen in den Knast. Oder: Ich versuche unterzutauchen, Beschwerde einzureichen und werde wegen Spionage verurteilt – da liegen die Haftstrafen dann schon bei zehn bis 20 Jahren.  

    Sie haben ein Protokoll erstellt, in dem ich quasi gegen Ossetschkin aussage. Sie wollten sein Projekt [Gulagu.net] unbedingt diskreditieren und seine Arbeit in Verruf bringen. Ich musste unterschreiben. Sie sollten ja glauben, dass ich kooperiere. 

    Der FSIN wollte auch das ganze Archiv von Ihnen. Wann war das?

    Das war auch da, in Pulkowo. Das interessierte sie am meisten. Es interessierte sie überhaupt nicht, was in dem Archiv enthalten war, welche furchtbaren Aufnahmen, wie viele Menschen brutal gefoltert wurden, wer die Befehle erteilt, wer gefoltert hat. Das Einzige, was die wollten, war den Datenfluss zu unterbinden. Und mir das Maul zu stopfen.

    Haben Sie ihnen irgendwelche Daten überlassen?

    Ich wurde sehr gründlich durchsucht, sie wollten meinen Laptop, USB-Sticks, Festplatten. Aber ich hatte das Archiv nicht bei mir.

    Russia Today berichtete mit Verweis auf eine Quelle beim Geheimdienst, Sie hätten das Archiv für 2000 Dollar an Menschenrechtler verkauft, das Geld sei über Yandex.Money geflossen. Stimmt das?

    Ehrlich gesagt, hätte das passieren können, hätte ich Yandex.Money. Ich weiß nicht, wie die auf Yandex.Money kommen. Selbstverständlich habe ich die Daten nicht verkauft. Aber materielle Hilfe [von Menschenrechtlern] gab es. Ich habe viele Jahre im Gefängnis verbracht und eine kolossale Datenmenge gesammelt, das alles musste systematisiert und archiviert werden. Als ich das Land verlassen musste, gab es Überweisungen, um die Ausreise zu organisieren.

    Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie in Frankreich angekommen sind?

    Als ich in Frankreich war und mich an die Behörden gewandt hatte, konnte ich endlich aufatmen und mich beruhigen, mich ein bisschen regenerieren. Die Flucht war natürlich schwer für mich. 

    Seit heute [das Interview fand am 23. Oktober 2021 statt] ist bekannt, dass Sie zur Fahndung ausgeschrieben wurden.

    Das ist keine große Überraschung, vielmehr … ist es traurig. Es ist traurig, dass sie immer noch versuchen, mich zum Schweigen zu bringen, anstatt grobe Menschenrechtsverstöße aufzuklären, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und die Energie in Untersuchungen und Ermittlungen zu stecken. Aber egal welche Anklage sie gegen mich erfinden – die russische Gesellschaft und die Weltöffentlichkeit wissen, worum es in Wirklichkeit geht.

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  • Wer auf dem Tiger reitet

    Wer auf dem Tiger reitet

    In Belarus wütet weiter die vierte Corona-Welle. Während der Staat in den vergangenen Wochen proaktiver auf die Herausforderungen der Pandemie zu reagieren schien und beispielsweise erstmals eine Maskenpflicht verfügte, forderte Alexander Lukaschenko bei einer Tagung zur aktuellen Covid-Lage, keinen Druck auf die Menschen auszuüben, Schutzmasken tragen zu müssen oder sich impfen zu lassen. Prompt wurde die Maskenpflicht wieder abgeschafft

    In einem Text für das Online-Medium Naviny.by analysiert der Journalist Alexander Klaskowski die widersprüchlichen Aussagen und Entscheidungen von staatlicher Seite und hinterfragt generell den Schlingerkurs der Autoritäten in Bezug auf die Pandemie im Land. Zudem geht er der Frage nach, in welchem Zusammenhang das Misstrauen der Bevölkerung bei der Impfbereitschaft mit dem Protestwillen und der Kritik der Belarussen an den Machthabern stehen könnte. Schließlich kam es kürzlich wieder mal zu einer Rochade in den Strukturen der Silowiki, als Lukaschenko zwölf Posten neu besetzte. Für Klaskowski möglicherweise ein Zeichen dafür, dass sich die Machthaber doch nicht so siegesgewiss fühlen, wie es das harte Vorgehen gegen Proteste, Widerstand, Medien und NGOs glauben machen könnte.

    Obwohl die vierte Welle noch heftiger ist als die zuvor, kam Lukaschenko nicht einmal auf der Corona-Konferenz am 19. Oktober ohne Seitenhiebe auf die Feinde aus, die niemals schlafen. Um so mehr, da er schon am Vortag ihre Bedeutung betont hatte, als er, wie sein Pressesprecher bekanntgab, „Personalentscheidungen im System der staatlichen Sicherheit“ getroffen hatte (es spricht Bände, dass die ernannten Personen anonym bleiben).

    Als am 19. Oktober die Rede auf den Westen kam, verkündete Lukaschenko: „Unsere Protestler werden von denen permanent mit Geld und sonstwas angetrieben, von wegen: Kommt, macht Belarus nieder, stürzen wir die Machthaber bei diesen Anti-Corona-Veranstaltungen.“

    Am 18. Oktober, dem Tag der Personalentscheidungen, rief der Führer des politischen Regimes allen ins Gedächtnis, dass „die Situation immer noch angespannt ist und wir uns nicht zurücklehnen dürfen.“

    „Sie wissen besser als alle anderen“, sagte Lukaschenko zu den Leuten mit Schulterklappen, deren Gesichter im TV-Bericht verpixelt wurden, „dass sich an den Plänen des Gegners durch den missglückten Umsturzversuch nichts geändert hat. Der kollektive Westen mischt sich auch weiterhin in die inneren Angelegenheiten unseres Landes ein und zielt auf einen Machtwechsel.“

    Lukaschenko enthüllte zudem die konkreten Pläne der Feinde: „Als ein mögliches Datum für den nächsten Revolutionsversuch (Tag X, wie es heißt) ziehen sie die Zeit des Verfassungsreferendums in Betracht.“

    Versuch mal, vom Tiger abzusteigen

    Der Führer des politischen Regimes schlug zwar bezeichnenderweise mehr als einmal selber vor, ein neues Kapitel aufzuschlagen, und versicherte, die Proteste seien zuverlässig niedergeschlagen. Dennoch mahnte er seine Untergebenen immer wieder, nicht nachzulassen, denn der Feind schlafe nicht und spinne neue Intrigen. 

    Die Regierungsspitze glaubt also selbst nicht an den zweifellosen und endgültigen Sieg über die „Protestheinis“. Dabei scheint doch alles unterdrückt: Von den Regierungsgegnern werden die einen eingesperrt, die anderen aus dem Land gedrängt, und die, die noch da sind, sitzen mucksmäuschenstill und bauen darauf, dass man sie vergisst. 

    Und trotzdem ist da diese innere Unruhe. Man kann mit Schlagstöcken auf Leute einprügeln (wovon die Sicherheitskräfte im vergangenen Jahr auch reichlich Gebrauch machten), man kann sie einschüchtern, aber die kritischen Gedanken kann man aus ihnen nicht rausprügeln. Menschen, die den Sturz der Regierung und faire Wahlen wollen, beißen die Zähne zusammen und warten auf die nächste Stunde, in der es die Chance gibt, dass sich die Situation grundlegend verändert.

    Kein Wunder, dass die unabhängige Meinungsforschung im Land mundtot gemacht wurde. Denn sie könnte womöglich zeigen, dass die vermeintlich einstimmige Unterstützung des Volkes für den Machthaber (und die angeblich mickrige Minderheit der Weißrotweißen, die eigentlich gar keine Menschen sind, wenn man es genau nimmt) nichts als ein Mythos der Propaganda darstellen.

    Deswegen traute sich die Regierung auch nach den niedergeknüppelten Protesten nicht, die Lokalwahlen und das Verfassungsreferendum gleichzeitig durchzuführen, wie es eigentlich geplant war. Als scheinheilige Begründung für einen Aufschub der Wahlen um fast zwei Jahre, auf den Herbst 2023, musste ein Gesetz zum einen Wahltag herhalten. Zu diesem Zweck haben die Parlamentarier sogar extra (ohne viel Aufsehen) eine Verfassungsänderung vorgenommen, und natürlich stellte das Verfassungsgericht in der Vertagung der Wahlen keine Verletzung der Wählerrechte fest. 

    Und doch ist die Führungsriege offenbar beunruhigt. Dabei halten unabhängige Experten Massenproteste während des Referendums, das für Ende Februar angesetzt ist, für unwahrscheinlich. Das derzeitige Regime, das jegliche Moral längst über Bord geworfen hat, hätte keinerlei Hemmungen, jeden zu zerschmettern, der es wagt, nur einen Fuß auf die Straße zu setzen. An Brutalität und Hass würde es ihnen in den kommenden Monaten sicher nicht mangeln.

    Dabei scheint es unter den Regierungsgegnern gar keinen Plan zu geben, wie man beim Referendum vorgehen soll. Eine alternative „Volksverfassung“ würde die Regierung gar nicht erst zur Wahl stellen. An einem Boykott sind die Leute schon einmal gescheitert, und Boykotts haben in den belarussischen Verhältnissen sowieso noch nie funktioniert.

    Soll man die Stimmzettel beschädigen, fotografieren und auf einer online-Plattform sammeln, um eine parallele Auszählung zu machen? Die Regierung scheut vor nichts zurück, sie könnte sogar so weit gehen, Wahlkabinen ohne Vorhänge einzuführen.  („Ich fotografier dich hier gleich“, sagt dann ein Polizist mit Nachdruck.) Die alternative Plattform würde sicherlich gesperrt und die parallele Auszählung sowieso als Lüge diffamiert.

    Kurz gesagt, Lukaschenko scheint über den Tag X mehr zu wissen als die Leute, die ihn loswerden wollen. Und obwohl das alles nur Phobien sind, werden sie dazu führen, dass die Daumenschrauben nochmal angezogen und der letzte Rest an Kritik bis hin zum Referendum ausgemerzt werden. 

    Anschließend wird die Regierungsspitze eventuell darüber nachdenken, wie sie mit dem Westen umgehen soll. Aber dieselben Phobien werden sie auch hier daran hindern, auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen. 

    Es ist ein Teufelskreis: Die Regierung hat sich in permanente Repressionen manövriert, und je brutaler die Repressionen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass selbst homöopathische Lockerungen Prozesse in Gang setzen, die für die Regierung verheerend wären. Ganz wie in dem chinesischen Sprichwort: Wer auf dem Tiger reitet, kann schlecht absteigen.

    Der Versuch, das Image eines Corona-Leugners loszuwerden

    Bei der Corona-Konferenz räumte Lukaschenko ein, die Pandemie hätte bei der letzten Präsidentschaftswahl das politische Verhalten der Belarussen beeinflusst: „Der wichtigste Trigger war Covid. Hat dazu noch jemand Fragen?“ Aber „bei der aktuellen Welle beginnt grad politische Erpressung und eine Instrumentalisierung [der Pandemie gegen die Regierung]“.

    Man muss hinzufügen, dass die Regierung im vergangenen Jahr selbst für die Unzufriedenheit der Menschen sorgte, auch derer, die eigentlich unpolitisch waren. Alle wissen noch, wer den Leuten geraten hatte, das Virus mit Banja, Wodka, Traktorfahren und Streicheln weißer Zicklein zu bekämpfen, und wer behauptet hat, die Verstorbenen seien selbst schuld: Der eine war zu dick, der andere hat sich auf der Straße rumgetrieben (wobei die Menschen zur Arbeit gehen mussten, weil es keinen Lockdown gab). 

    Bei der Konferenz am 19. Oktober versuchte Lukaschenko nun, das Image des Corona-Leugners, das sich als unvorteilhaft erwiesen hat, loszuwerden. Er wies den Gesundheitsminister und weitere Beamte an, strenge Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und insbesondere alter Menschen zu ergreifen, versprach etwas Geld aus dem Fonds des Präsidenten beizusteuern, „um unsere Ärzte zu unterstützen und reichlich Medikamente und sonstiges Material einzukaufen“. 

    Gleichzeitig trugen die meisten Konferenzteilnehmer keine Masken („Maulkörbe“, wie der Machthaber sie mal bezeichnet hat). Obendrein rügte Lukaschenko seine Untergebenen, die vorgehabt hatten, Maskenverweigerer zu verfolgen: „Wer gibt euch denn das Recht, Geldstrafen zu verhängen? Wo, in welchem Gesetz steht, dass ihr Menschen zu Geldstrafen verdonnern dürft?“

    Er empörte sich darüber, dass Menschen „schon mit Gewalt, mit dem Knie auf der Brust, zur Impfung gezwungen werden“. Eine maßlose Übertreibung. Zudem war das Knie auf der Brust wohl eher ein typisches Bild von den Protesten, die niedergeknüppelt wurden.

    Die Menschen glauben der Regierung einfach nicht

    Kurzum, der strenge Machthaber demonstrierte plötzlich einen untypischen Hauch von Menschlichkeit und Liberalismus (die ihm auch in anderen politischen Kernfragen nicht schaden würden): „Keinerlei Druck auf die Menschen. Wenn ich mitbekomme, dass Menschen aus Einkaufszentren, U-Bahnen oder Bussen rausgeschmissen werden, gibt’s Ärger. Dann wird es ein politisches Problem.“

    Der Innenminister Iwan Kurbakow musste rhetorische Fragen über sich ergehen lassen: „Haben Sie nichts Besseres zu tun? Warum verstoßen Sie gegen Gesetze? So ein Gesetz haben wir nicht. Wem spielen Sie da in die Hände?“

    Wobei Lukaschenko im Herbst letzten Jahres selbst noch den Staatsanwälten erklärt hatte: Wenn es Proteste zu unterdrücken gilt, „sind Gesetze zweitrangig“. Diesen Freifahrtschein haben die Spezialeinheiten dann auch kräftig ausgenutzt. Man will sich gar nicht vorstellen, welch heilloses Chaos nun in den Köpfen unter den Polizeimützen tobt (und den Hüten der Beamten in zivil). Denn eigentlich schien die Linie ja klar zu sein: Je härter, desto besser. Und plötzlich verkündet der Chef, man solle nicht übertreiben und behutsam mit den Menschen umgehen. 

    Aber Lukaschenko hat natürlich immer die potenzielle Bedrohung seiner Macht im Auge. Er betonte, dass Feinde aus dem Ausland versuchten, das Land zu destabilisieren, indem sie Fakes und Gerüchte über die Situation in Belarus verbreiten.

    Aber das Problem ist nicht, dass die Feinde sich so ins Zeug legen, sondern dass die Bürger ihrer Regierung nicht glauben: Zu oft haben sie diese bei, milde gesagt, Schwindeleien ertappt. Glaubt man den sozialen Netzwerken und Alltagsdebatten, halten viele die offiziellen Corona-Zahlen für stark untertrieben.

    Im Grunde genommen brachte auch das Misstrauen an offiziellen Zahlen, den Wahlergebnissen, die Menschen im August letzten Jahres auf die Straße. Und wie hat die Regierung das Vertrauen wieder „gestärkt“? Mit Schlagstöcken und Gefängnis.

    Darum wird jetzt auch keine Konferenz – mit noch so besorgten Gesichtern ohne Masken – einen plötzlichen Vertrauenszuwachs und ein positives Verhältnis zur Obrigkeit bewirken. 
     

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  • Das Echo nach dem Schuss

    Das Echo nach dem Schuss

    Bei einer Wohnungsdurchsuchung in Minsk durch eine Einheit des belarussischen KGB wurden am 28. September zwei Menschen getötet. Andrej Selzer, Mitarbeiter eines IT-Unternehmens, erschoss mit einem Gewehr einen der Geheimdienstler. Beim darauf folgenden Schusswechsel wurde auch Selzer selbst getötet. Die obskure Durchsuchung, die offizielle Stellen damit begründeten, dass Selzer angeblich zu einer terroristischen Vereinigung gehört haben soll, löste in den sozialen Medien Wut und Trauer aus und wirft viele Fragen auf. 

    Nach der Schießerei wurden bis zum heutigen Tag über 100 Personen festgenommen, viele angeblich, weil sie in den sozialen Medien kritische Kommentare in Bezug auf den KGB und die Wohnungsdurchsuchung hinterlassen hatten. Auch wurde die Webseite des belarussischen Ablegers der russischen Zeitung Komsomolskaja Prawda (KP) geblockt, die Einschätzungen zur Schießerei von einer ehemaligen Mitschülerin Selzers in einem Artikel veröffentlicht hatte. Dann wurde der Autor und KP-Journalist Gennadi Mosheiko festgenommen. Am 5. Oktober gab die Zentrale des Blattes in Moskau bekannt, die Redaktion für die belarussische Ausgabe in Minsk zu schließen. Zur selben Zeit setzten die belarussischen Behörden die Schließung von weiteren Organisationen fort, so wurde auch die letzte im Land verbliebene Menschenrechtsorganisation Zvyano aufgelöst. Insgesamt beläuft sich die Zahl der liquidierten NGOs damit auf 275. Ales Bjaljazki, Träger des Alternativen Nobelpreises und Gründer der ebenfalls liquidierten Menschenrechtsorganisation Wjasna, der sich bereits seit Juli in Untersuchungshaft befindet, soll der Steuerhinterziehung im großen Stil angeklagt werden. Ihm drohen bis zu sieben Jahre Haft. 

    Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in einem Text für das belarussische Medium Naviny.by die neuerlichen Vorgänge in Belarus und fragt sich, welche Strategie die Machthaber in Bezug auf die fortwährende Krise im Land verfolgen.

    Manche hatten schon die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die Aussetzung des Verfassungsreferendums prophezeit, andere vertraten die Meinung, dass der Mord an dem KGB-Mitarbeiter flächendeckende Säuberungen nach sich ziehen sollte – dazu äußerte sich Lukaschenko folgendermaßen: „Hört mal zu, wir sind doch nicht so dumm, unter den gegenwärtigen Umständen flächendeckend vorzugehen. Wenn wir flächendeckend vorgehen (und das können wir), könnten unschuldige Menschen zu Schaden kommen.“
    Dann fügte er noch hinzu, sie würden „gezielt und präzise mithilfe der Geheimdienste und anderer Abteilungen des Innenministeriums und so weiter gegen diverse Leute, diverse Organisationen und verschiedene Varianten vorgehen“.

    Plötzlich ist da ein Schatten des IS

    Derweil wirft das Video von dem Vorfall in der Uliza Jakubowskaja immer mehr Fragen auf. Insbesondere, warum die Beamten keine bei solchen Einsätzen üblichen kugelsicheren Westen und sonstige Ausrüstung trugen. Laut Lukaschenko sollten die Menschen nicht beunruhigt werden, weil sie auf Beamte in voller Montur nicht gut reagieren.

    Übrigens tragen mit lautem Gebrüll eingetretene Türen auch nicht gerade zur Beruhigung der Bevölkerung bei (sind aber, o weh, im heutigen Belarus leider fast Alltag). Viele fragen sich bloß noch, wann und unter welchem Vorwand man bei ihnen gewaltsam eindringen wird. Solch massive Repressionen wie in den letzten anderthalb Jahren hat es in Belarus wohl seit der Stalinzeit nicht gegeben. Wobei man es damals vorzog, die Leute im Stillen zu verhaften.

    Bislang haben im Zusammenhang mit dem tragischen Vorfall in der Uliza Jakubowskaja vor allem die Menschen etwas abbekommen, die gewagt hatten, für die Regierung unzulässige Kommentare zu den Ereignissen zu posten. Der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow, der auch die Inneren Polizeieinheiten befehligt, erklärte sogar, die Verfasser von negativen Kommentaren über den Tod des Beamten „gehören physisch vernichtet und sonst nichts“.

    Menschenrechtler sprechen von 83 Personen, die am 29. und 30. September festgenommen wurden. Lukaschenko erklärte gar, dass „schon mehrere Hundert einsitzen“. Vielleicht übertreibt er, vielleicht wissen die Menschenrechtler aber auch noch nicht alles. 

    Von den prominenten Regierungsgegnern wurde der sich derzeit im Ausland aufhaltende Waleri Zepkalo, mit Aufmerksamkeit bedacht. Gegen ihn wurde wegen seines Kommentars zur Schießerei in Minsk ein weiteres Verfahren eingeleitet – nach Paragraph 361 Strafgesetzbuch Absatz 3 (Anstiftung zu Handlungen, die die nationale Sicherheit von Belarus gefährden). Lukaschenko, der es sonst vermeidet, die Namen seiner Gegner auszusprechen, erklärte diesmal, „wenn diese Mistkerle wie Zepkalo und Konsorten glauben, wir könnten ihnen im Ausland nichts anhaben, dann haben sie sich geirrt“.

    Zudem behauptet Lukaschenko, es gäbe Verbindungen zwischen dem Schützen und dem Netzwerk Rabotschy ruch, dessen Arbeit mittlerweile unterbunden ist, wie der KGB kürzlich berichtete. Lukaschenko zufolge sei es nämlich „eine einfache IS-Zelle nach europäischer Provenienz auf dem Gebiet von Belarus“.

    Das Stichwort hier lautet „IS“, wobei die Festgenommenen sicher keine radikalen Islamisten sind. Man benutzt es als psychologisches Schreckgespenst für den Westen, wo der IS und Terrorismus als das absolut Böse gelten. 
    Für das Inland setzt man eher auf das Narrativ, die Opposition hätte sich radikalisiert und der Westen führe einen hybriden Krieg gegen Belarus. Außerdem sollen alle eingeschüchtert werden, die sich angewöhnt haben, die Regierung online, in den sozialen Netzwerken zu kritisieren.

    Bleibt die Frage, ob die breite Masse die offizielle Version glaubt. Das Vertrauen zur Regierung ist ja grundsätzlich nicht groß. Zumal Lukaschenko obendrein erklärte, Rabotschy ruch hätte mit den amerikanischen Geheimdiensten in Verbindung gestanden, „allem voran mit dem FBI“ – das sich bekanntermaßen mit Ermittlungen im Inland befasst.

    Zivilgesellschaft ohne Nicht-Regierungsorganisiationen

    Alles in allem versucht die Regierung offenbar, die Situation in der Gesellschaft mit den üblichen polizeilichen und bürokratischen Mitteln (nach ihren Maßstäben) zu normalisieren. Was die bürokratischen Mittel angeht, spricht Lukaschenkos Vorschlag Bände, gesetzlich festzulegen, wer künftig im Land zur Zivilgesellschaft gehört.

    „Es ist an der Zeit, ein Gesetz zu verabschieden und festzuschreiben, dass zu unserer Zivilgesellschaft keine NGOs, NPOs und sonstiger Scheiß gehören. Sondern dass wir gemeinnützige Organisationen haben. Und gleich festschreiben, welche. Dass wir Gewerkschaften haben und die BRJU [Belarussische Republikanische Junge Union]. Dass wir Veteranen- und Frauenvereine haben.“

    Eigentlich sind NPO und NGO ja völlig neutrale Abkürzungen. Aber für die belarussische Führung sind es offenbar mittlerweile Schimpfwörter geworden. 

    Die Idee einer Zivilgesellschaft, die aus regierungsfreundlichen Organisationen besteht, äußert Lukaschenko nicht zum ersten Mal. Aber plötzlich gibt es ein pikantes Detail: Bei derselben Sitzung gibt er in einem Anflug von Ehrlichkeit zu: „Die Zusammenarbeit mit den gemeinnützigen Organisationen ist komplett gescheitert. Vor allem mit solchen wie der Jungen Union und der Belaja Rus.“

    Und diese gescheiterten ideologischen Projekte sollen jetzt also per Gesetz zu den Grundpfeilern der Zivilgesellschaft erklärt werden. Gleichzeitig wurden funktionierende, eigenständige Organisationen fast vollständig zerschlagen. So zum Beispiel hat der Oberste Gerichtshof am 30. September das belarussische Helsinki-Komitee (BHK) aufgelöst. 

    Doch der Leiter des Komitees, Oleg Gulak, gab bekannt, dass das BHK seine Arbeit auch ohne staatliche Zulassung fortsetzen wird: „Immer vorwärts.“ So oder so ähnlich äußerten sich auch die Leiter der anderen Organisationen, die von den Säuberungen betroffen sind.

    Offenbar versucht die Regierung, durch solchen juristischen Schnickschnack die Autorität der BRJU, der Belaja Rus und so weiter zu stärken. Das sind allesamt Organisationen, die auf administrativem Wege erschaffen wurden und deren Hauptaufgabe darin besteht, Sprachrohr der Regierung zu sein und die Loyalität der Massen zu gewährleisten. Als könnte ein normativer Akt den kritisch denkenden Bürger dazu bringen, die Augen vor der Regierungsnähe dieser Organisationen zu verschließen. 

    Der Regierung scheint nicht klar zu sein, dass sich eine echte Zivilgesellschaft von unten herausbildet und von der Reife ihrer Bürger abhängt. Die Ereignisse des letzten Jahres haben gezeigt, dass ein Großteil der Belarussen diese Reife hat, horizontale Verbindungen zu knüpfen und sich zu organisieren. Die offizielle Auflösung bestimmter Organisationen wird diese Fähigkeiten und Bestrebungen nicht vernichten. 

    Wahrscheinlich ist das der Regierung durchaus klar; sie tut es einfach, um ihre Gegner leichter verfolgen zu können.

    Die große Frage: Wer verleiht dem Oberst seine Schulterklappen?

    Insgesamt ist klar, dass die Regierung es immer noch darauf anlegt; gesellschaftliche Probleme durch rohe Gewalt und Einschüchterung zu lösen. Doch zufällig zeigte Lukaschenko jetzt Interesse an der ideologischen Ausrichtung der Kader. Man scheint sich also zusätzlich auch über eine subtile Beeinflussung der Menschen Gedanken zu machen.

    Davon zeugen auch die Äußerungen von regierungsfreundlichen Experten, die vorschlagen, den weniger radikalen Teil der Opposition in „konstruktive“ Projekte wie den runden Tisch von Juri Woskressenski zu integrieren. Lukaschenko regte seine Untergebenen dazu an, Diskussionsplattformen für Studenten zu gründen. 

    Wie geeignet jedoch ist dieses, nach spezifischen Kriterien – allem voran regimetreue – ausgesuchte Personal zur subtilen Arbeit mit dem Geist der Bürger? Dadurch, dass man den Gewerkschaftsbund FBP und die BRJU zur Basis der Zivilgesellschaft erklärt, wird ihre Arbeit noch nicht weniger staatsnah.
    Das politische System ernsthaft zu modernisieren und das Gesellschaftsmodell zu transformieren, hat Lukaschenko definitiv nicht vor. Heute ist ihm rausgerutscht: „Hätte man die Machtbefugnisse zur rechten Zeit neu verteilt, bräuchte man heute über die Verfassung vielleicht gar nicht reden.“

    Diese Bemerkung bestätigt die Meinung vieler Beobachter, dass Lukaschenko die Verfassungsreform nicht gerade unter den Nägeln brennt und er es vorzöge, nur ein paar kosmetische Änderungen vorzunehmen. Und was die Verteilung der Macht betrifft, ist Lukaschenkos Aussage vom 28. September bei der Versammlung der Verfassungskommission bezeichnend: „Heute stellt sich dann die Frage, ob ich als Staatsoberhaupt den Rang des Oberst verleihen oder mich auf die Generäle beschränken soll.“

    Das sind die kolossalen Änderungen, die uns erwarten: das Recht, einem Oberst die Schulterklappen zu verleihen, könnte an den Verteidigungsminister übergehen. Die Neuerungen in den anderen Bereichen werden wahrscheinlich ähnlich radikal.

    Wir brauchen also nicht darauf zu hoffen, dass solch eine Systemtransformation die Spannungen in der Gesellschaft auflöst.

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    Grenzverschiebungen

    „Wir werden niemanden aufhalten“, sagte Alexander Lukaschenko Anfang Juli bei einem Treffen seiner Regierung in Minsk. Damit meinte der langjährige Autokrat Flüchtlinge vorwiegend aus dem Irak, aus Syrien oder Afghanistan, die versuchen, über Belarus in die EU zu gelangen. Tatsächlich sind seit Anfang des Jahres fast 4000 Flüchtlinge nach Litauen gelangt, täglich werden es mehr. Sie laufen durch die Wälder und Moorgebiete, die Belarus und Litauen auf einer Länge von 680 Kilometer voneinander trennen – es sind im Übrigen Fluchtwege, die zum Teil auch Belarussen nutzen, die aus politischen Gründen ins Nachbarland flüchten.

    In den vergangenen Tagen demonstrierten mehrere hundert Litauer in Vilnius gegen einen Plan der EU-Kommission, die Migranten in einem Camp im Grenzort Dieveniškės unterzubringen. Auch im Grenzort Rudninkai protestierten Menschen gegen ein bereits errichtetes Zeltlager. Das kleine Litauen steht unter hohem politischen Druck. Das drei Millionen Einwohner-Land hatte bereits Anfang Juli den Notstand ausgerufen. Über 30 Soldaten der EU-Grenzbehörde Frontex wurden nach Litauen geschickt, um die dortigen Grenzbehörden zu unterstützen, auch bei der besseren Sicherung der Grenze zu Belarus. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis beschuldigte Lukaschenko, die Flüchtlinge als „hybride Waffen gegen die EU“ zu benutzen – sozusagen als Strafe für die Sanktionen, die die EU am 21. Juni gegen die belarussischen Machthaber beschloss. Auch Politiker der belarussischen Opposition wie beispielsweise Pawel Latuschko warfen Lukaschenko vor, die Migranten gezielt in Richtung EU zu schleusen. Die litauische Regierung gehört zu den schärfsten Kritikerinnen Lukaschenkos. Anfang Juli hatte Litauen der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich mit ihrem Team in Vilnius aufhält, einen offiziellen Status zuerkannt, worauf es zu einer diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern kam.

    Aus welchen Ländern kommen die Flüchtlinge? Was sind ihre Beweggründe zu fliehen? Wer organisiert ihre Flucht vor Ort und in Belarus? Wie gelangen sie über die Grenzen? Das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich in einer aufwändigen Reportage und Recherche mit diesen Fragen.

    Bagdad und Minsk verbindet ein recht belebter Luftweg. Bis vor Kurzem flog diese Strecke nur die Iraqi Airways – ein- bis zweimal pro Woche, je nach Saison; jetzt fliegt sie mittwochs und freitags. Doch seit dem 10. Mai hat sich die Zahl der Flüge zwischen der irakischen und der belarussischen Hauptstadt verdoppelt. Denn auch Fly Baghdad fliegt jetzt die Strecke – montags und donnerstags. [Inzwischen fliegt Iraqi Airways nach Informationen von Zerkalo.io (ehemals tut.by) vier Mal pro Woche von Bagdad nach Minsk, im August gibt es außerdem weitere Verbindungen von Sulaimaniyya, Basra und Erbil nach Minsk – dek].
    Seit Frühling 2021 preisen irakische Reisebüros massenhaft Urlaub in Minsk an. Die Kosten solcher Pakete variieren zwischen 560 und 950 Dollar. Im Preis inbegriffen sind Flugtickets, Visum, Versicherung, Unterbringung im Hotel und mehrere geführte Touren. 

    Die irakische Reiseagentur Jood Land wirbt für Reisen nach Belarus / Foto © Screenshot Reform.by
    Die irakische Reiseagentur Jood Land wirbt für Reisen nach Belarus / Foto © Screenshot Reform.by

    Solche Pauschalreisen aus dem Irak nach Belarus sind in den letzten Monaten deutlich billiger geworden. Das erwähnte im Gespräch mit Reform.by auch Jelena K. – eine Belarussin, die im irakischen Kurdistan lebt und mit einem Einheimischen verheiratet ist. 

    Lange Zeit plante das Paar eine Reise in Jelenas Heimat, konnte sich diese aber nicht leisten. Laut Jelena hätte noch im letzten Jahr ein Ticket nach Belarus und zurück mit Umsteigen in Istanbul rund 850 Dollar gekostet. Eine Pauschalreise wäre auf etwa 1000 Dollar pro Person gekommen. Jetzt, sagt Jelena, kann man Reisen nach Belarus ab 500 Dollar pro Person finden.

    Im August 2020 bot die irakische Reiseagentur Jood Land achttägige Touren nach Belarus an, von denen die billigste 949 Dollar kostete. Reform.by hat die Agentur kontaktiert und nach dem aktuellen Preis gefragt. Die Antwort: Eine achttägige Reise mit Unterbringung im Doppelzimmer kostet für eine Person 570 Dollar. In der Agentur betonte man, dass es jetzt viel mehr Iraker als früher gebe, die Belarus besuchen wollen.  

    Ich habe mein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen

    Angesichts der Preise für Pauschalreisen ist es nur logisch, dass viele Iraker sich für Belarus interessieren. Das beweisen auch die Facebook-Kommentare zu Werbungen von Reisebüros. Wir haben einige Iraker kontaktiert, die in FB-Kommentaren nach den Kosten für Belarus-Reisen fragten. 
    Gleich der erste junge Mann aus Bagdad erklärt: Er habe eine Werbung gesehen, von den vier Angeboten habe ihm Belarus am besten gefallen, daher wolle er hinfahren – nur als Tourist, zur Erholung. In Belarus sei er noch nie gewesen, und er kenne auch niemanden, der schon mal dort war. Doch schon ein paar Minuten später fragt er: „Wissen Sie überhaupt, wie es im Irak zugeht? Kennen Sie sich vielleicht mit Migration in die EU aus? Wenn ich nach Belarus fahre und dort heiraten würde, könnte ich dann legal im Land bleiben?“
      
    Wie uns der Iraker Amin (Name geändert) erzählt, wurde Alexander Lukaschenkos Verlautbarung, Belarus werde Flüchtlingen, die in die EU wollen, keine Steine mehr in den Weg legen, mehrere Tage hintereinander im irakischen Fernsehen gesendet. Und überhaupt würden die irakischen Medien Nachrichten zum Thema Migration viel Aufmerksamkeit schenken und jetzt oft über Belarus berichten. Daher würden viele Iraker, die permanent auf der Suche nach Möglichkeiten seien, das Land zu verlassen, diese Chance sofort nutzen.

    Für Migranten sei Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen

    Amins Karte / © Reform.by 
    Amins Karte / © Reform.by 

    Amin ist 25. Der junge Mann sagt, er habe sein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen, er nennt den Irak die Hölle auf Erden. Als er im Fernsehen von Belarus erfahren habe, hätten er und seine Freunde beschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen. Er sagt, für Migranten sei eine Reise nach Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen.   
    „Schlepper kassieren meistens ein paar tausend Dollar für eine Lkw-Fahrt in ein europäisches Land“, sagt Amin.
    Er meint, nach Lukaschenkos Worten sei im Irak die Nachfrage nach Belarus-Reisen deutlich gestiegen. Er selbst und vier seiner Freunde haben im Reisebüro Al Qimma Travel and Tourism für 700 Dollar pro Person gebucht. Im Preis inkludiert sind PCR-Test, Visum, Unterkunft und mehrere Ausflüge. Ein Visum für zehn Tage bekam Amin gleich auf dem Nationalen Flughafen in Minsk ausgestellt.     

    Noch vor seiner Ankunft in Belarus erzählt uns Amin: Seine Freunde und er verfolgen Meldungen über Festnahmen illegal Reisender an der litauischen Grenze und markieren die jeweiligen Orte auf einer Karte. Den Grenzübertritt planen die jungen Männer in der Region Grodno – weil dieses Gebiet auf Satellitenkarten bewaldet aussehe. Außerdem suchen sie Informationen darüber, mit welchen Transportmitteln sie bis zur Grenze kommen und wo sie litauische SIM-Karten kaufen können. Amin und seine Freunde entscheiden sich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis Lida zu fahren und von dort mit dem Taxi zur Grenze. 

    Mit dem Taxi bis zur Grenze

    Zuerst hatte die Gruppe vor, etwa drei Tage in Minsk zu bleiben, aber als sie am 10. Juli ankommen, wollen sie lieber keine Zeit verlieren und am selben Tag noch bis zur Grenze fahren. Dann passiert etwas Kurioses, das illustriert, wie illegale Einwanderer in Belarus – wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen – absolut auf sich gestellt und ohne jegliche Organisation und Hilfe agieren. Die Jungs verlassen das Hotel und gehen zur nächsten Bushaltestelle, wo Amin dem Journalisten, mit dem er Kontakt hat, ein Foto des Fahrplans schickt und fragt: „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“
    Im Endeffekt fahren sie mit dem Taxi. Wahrscheinlich sind sie über der Grenze, als unser Kontakt zu Amin abreißt. Soweit wir wissen, werden den Leuten in den Auffanglagern während der Quarantäne die Handys abgenommen und nur zu bestimmten Zeiten ausgehändigt.

    „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ / Foto © Reform.by
    „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ / Foto © Reform.by


    Die Fluchtbewegung nach Litauen besteht nicht nur aus Irakern. Mansur (Name geändert) ist ein 23-jähriger Syrer, er hat in der Türkei einen Uni-Abschluss als Energieingenieur gemacht. Jetzt wird er zur Armee einberufen und hat beschlossen, das Land zu verlassen.  
      
    „Von Migration über Belarus habe ich in der Zeitung gelesen, in Syrien liest man aufmerksam alle Nachrichten zum Thema Migration. Ich habe von der Situation in Belarus und von Lukaschenkos Aussage über Einwanderer gehört, daher wollte ich die Chance nutzen“, erzählt der junge Mann. 
    Da Mansur in der Türkei studiert hat, hat er eine doppelte Staatsbürgerschaft: die syrische und die türkische. Türkische Staatsbürger haben das Recht, sich bis zu 30 Tage ohne Visum in Belarus aufzuhalten. Daher braucht Mansur kein Visum zu beantragen.

    Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken

    Dreiländereck Polen, Litauen, Belarus / © Reform.by
    Dreiländereck Polen, Litauen, Belarus / © Reform.by

    „Vom Flughafen fuhr ich mit dem Bus nach Minsk und ging zum Bahnhof, wo ich dem Schalterbeamten auf meinem Handy den Satz ‚Ich möchte ein Ticket Minsk–Grodno kaufen‘ auf Russisch zeigte. So fuhr ich nach Grodno. Auf der Karte hatte ich gesehen, dass es in der Nähe der polnischen und der litauischen Grenze liegt, daher wollte ich sofort in diese Stadt. Hier wohne ich bis auf Weiteres in einem Hotel im Zentrum und tüftle mir eine Route aus. Ich überlege, wo ich am besten hingehe, sehe mir diesen Ort an“, Mansur zeigt uns einen Screenshot. 

    „Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken. Aber ich muss erst herausfinden, wie ich zur Grenze komme, wie das hier mit dem Taxi ist“, erzählt Mansur weiter.
    Der junge Mann gibt zu, große Angst vor der belarussischen Miliz zu haben. Das letzte Mal haben wir am 7. Juli mit Mansur gesprochen, seitdem war er nicht mehr telefonisch erreichbar und nicht mehr online.

    Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor

    Wie wir von unseren Gesprächspartnern wissen, haben Migranten, die durch unser Land flüchten, generell große Angst vor Begegnungen mit der Miliz: Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor. Sollte es dennoch passieren, wollen sie sich als Studenten der Universität Grodno ausgeben. Ihrer Meinung nach klingt das glaubwürdig und kann sie vor Festnahmen bewahren. 

    Keiner der Migranten erzählt uns (obwohl sie recht gesprächig sind), dass sie in Belarus Anweisungen bekommen hätten, wo sie hinfahren und was sie dort sagen sollen, schon gar nicht von Grenzbeamten. Daraus schließen wir, dass sie vor allem untereinander ihre Erfahrungen weitergeben. Sie verkehren in unzähligen Social-Media-Gruppen und Telegram-Chats für Flüchtlinge – in der Regel geschlossenen, in die man schwer reinkommt, aber uns ist es gelungen. 

    Hast du es geschafft – dann hilf dem Nächsten

    Samir, der eine solche Community gegründet hat, erzählt uns, dass solche Gruppen in erster Linie dazu da sind, Informationen über möglichst ungefährliche Transitrouten nach Europa zu teilen. Mit dem Ziel, dass sich möglichst wenige Leute dem Risiko aussetzen, in Booten das Meer zu überqueren oder sich in mit Menschen vollgestopften Lastwagen über den halben Kontinent karren zu lassen und dafür noch Unsummen hinzublättern. 
    Jetzt entstehen spezielle Gruppen, in denen es darum geht, wie man über Belarus nach Europa gelangt. 

    Tausende Dollar für Europa?

    Samid (Name geändert) ist Kurde. Er will über Belarus nach Polen, um dann nach Deutschland weiterzureisen. Von ihm haben wir die Kontaktdaten eines kurdischen Schleppers bekommen, der die Leute von Litauen nach Deutschland bringt.

    „Sie bringen die Leute von Litauen nach Deutschland, pro Person kostet das 85.000 US-Dollar. Außerdem haben sie noch jemanden an der Grenze, der den Weg erklärt, vielleicht ein Einwohner Litauens“, erzählt Samid.

    Laut Samid sind in dem Preis ein Visum und andere Dokumente enthalten, die für die Einreise nach Belarus und den Transit zur Grenze nötig sind. An der Grenze werde den Leuten erklärt, wohin sie gehen müssen. Nach dem Grenzübertritt würden sie in Litauen von jemandem empfangen und nach Deutschland gebracht. 

    Samids Bericht ist die einzige uns vorliegende Quelle, die sich mit den Informationen überschneidet, die sich mittlerweile vielfach in den Medien finden: Dass viele Migranten bis zu 15.000 Dollar bezahlen würden, um über Belarus nach Litauen zu gelangen. In den Chats von irakischen Migranten haben wir diese Informationen nicht gefunden, und auch von unseren Interviewpartnern, die überwiegend aus dem Irak stammen, wurden sie nicht bestätigt.

    Interessant ist, dass in den vergangenen Jahren illegal reisende Migranten (auch aus dem Irak) Belarus gemieden und sogar davor gewarnt haben, über dieses Land in die EU einzureisen, weil die Grenze zu streng bewacht werde.

    Wir haben einen Post von 2017 gefunden, in dem Iraker darüber diskutieren, warum es gefährlich sei, die belarussische Grenze zu passieren. In den Kommentaren schrieb ein Syrer namens Hatim, Belarus sei als ein Staat bekannt, in dem jeder verhaftet würde, man solle diese Variante lieber nicht in Betracht ziehen.

    Eine offene Grenze

    Warum gilt der belarussische Korridor also jetzt als eine nahezu sichere Möglichkeit, in die EU zu gelangen? Das liegt nicht nur an den gesunkenen Preisen für Flüge und touristische Reisen. Aus den Berichten aller unserer Interviewpartner geht klar hervor, dass sich das Verhalten der Grenzbeamten grundlegend geändert hat. Das sagen nicht nur Migranten, sondern auch Belarussen. Diese Angaben wurden uns außerdem von zwei Grenzbeamten bestätigt, die bereit waren, anonym mit uns zu sprechen.

    Ein anonymer Informant von Reform.by, der an einem Grenzkontrollpunkt arbeitet, erzählt von der gegenwärtigen Situation an der belarussisch-litauischen Grenze:

    „Derzeit passieren ziemlich erstaunliche Dinge. Früher wurde man dafür belohnt, wenn man einen Zigarettenschmuggler erwischt hat, jetzt ist das nicht gern gesehen. Und was die Illegalen angeht, die Grenzbeamten verhaften zwar welche, doch neuerdings gibt es den Befehl von oben, dass die Beamten ihre Patrouillen nach einem festen Plan durchführen sollen, so dass gewisse Fenster entstehen, durch die die Illegalen hindurchkönnen. Es gibt keinen konkreten Befehl, aber wenn du zum Beispiel deinen Vorgesetzten sagst, die rechte Flanke der Grenzzone ist nicht abgedeckt, heißt es, das sei nicht weiter schlimm, und keiner unternimmt etwas.“

    Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration geöffnet sind

    „Früher hat ein Grenzbeamter einen Illegalen festgenommen und dafür 200 Rubel [knapp 70 Euro – dek] Prämie bekommen, aber wenn ein Grenzbeamter heute trotz allem noch jemanden festnimmt, bekommt er gar nichts mehr. Kollegen, die neulich Gruppen von je 14 und fünf Irakern festgenommen haben, haben gerade mal 20 Rubel bekommen.

    Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration jetzt geöffnet sind. Sogar die festgenommenen Illegalen bekommen jetzt nur eine kleine Geldstrafe und werden wieder freigelassen. Früher wurde ein Protokoll erstellt, Anklage erhoben, sie wurden in spezielle Abschiebelager gebracht. Das Ergebnis ist ein starker Beamtenschwund, viele verlängern ihre Verträge nicht.“

    Roman (Name geändert) ist Grenzbeamter an der belarussisch-litauischen Grenze in der Oblast Grodno. Auch er bestätigt die Informationen über den Beamtenschwund im Grenzdienst.

    Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen

    „Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen, sie nur festzunehmen, wenn sie extrem dreist werden, quasi direkt über den Grenzkontrollpunkt marschieren. Normalen Grenzbeamten gefällt das natürlich gar nicht, sie versuchen trotzdem, die Gesetzesbrecher festzunehmen. Dann gibt es einen Stempel, ein Protokoll, eine Geldstrafe und die Illegalen werden mit ihren Sachen in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Wobei sie oft nur einen Rucksack dabeihaben oder gar keine Sachen, keine Ahnung, wo sie die lassen.

    Übrigens werden statt Grenzbeamten derzeit OSAM (Spezialeinheiten der Grenztruppen) auf Grenzpatrouille geschickt – schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen.“

     

    Belarussische Grenzschützer bei der Arbeit / Symbolbild © gpk.gov.by

    Auch Belarussen bemerken an der Grenze Gruppen von Migranten. Anfang Juli posten viele Anwohner der Grenzregion in Telegram-Kanälen, dass sie immer wieder Busse zur Grenze und wieder zurückfahren sehen und dass die Beamten keine Passkontrollen bei den Nichteinheimischen mehr durchführen.

    Wir sprechen außerdem mit einem Belarussen, der Ende Juli ins Ausland geflohen ist, um einer politisch motivierten Gefängnisstrafe zu entgehen. Zunächst hat er knapp eine Woche in der Nähe von Lida gewohnt und auf den richtigen Moment gewartet. Er sagt, er hätte von Einheimischen gehört, dass sie oft Kleinbusse mit zugezogenen Vorhängen sehen – ihrer Meinung nach werden darin Migranten transportiert. Unser Interviewpartner hat auch selbst einen solchen Bus gesehen.

    Schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen

    Unmittelbar hatte er nur beim Grenzübertritt mit Migranten zu tun. Er berichtet, er und seine Begleiter hätten kurz vor der Grenze, unweit der Stelle, an der sie das Land verlassen wollten, ein militärisches Zeltlager mit Grenzbeamten gesehen. „Als würden sie auf jemanden warten, oder sich abseits halten, um nicht zu stören“, sagte er. Deswegen entschieden er und seine Begleiter sich, nicht an dieser Stelle, sondern direkt, wo sie waren, über die Grenze zu gehen. Sie mussten also durch den Sumpf fliehen, überquerten die Grenze und trafen dort auf litauische Grenzbeamte. Eine Viertelstunde später kam auf demselben Weg eine Gruppe von Migranten: knapp zwölf arabisch aussehende Menschen. Sie erklärten den Grenzbeamten, sie wären Studenten der Universität Grodno, wurden verhaftet und in ein Lager gebracht.

    Außerdem wissen wir von einem Mann, der Anfang Juli nach einer Festnahme durch Sicherheitskräfte aus Belarus geflohen ist. Er berichtet, ein befreundeter Grenzbeamter hätte ihm zu einem Grenzübertritt in der Oblast Grodno geraten, denn „dort achtet gerade keiner auf die Grenze“. Tatsächlich konnte unser Interviewpartner die Grenze bei Lida problemlos überqueren. Er sagt auch, er habe an dem Grenzabschnitt noch vier arabisch aussehende „Kollegen“ gesehen, die auf der belarussischen Seite ebenfalls nicht aufgehalten worden seien.

    Migranten als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten

    Alena Tschechowitsch ist Juristin bei Human Constanta, einer öffentlichen Beratungsstelle für Migranten und staatenlose Menschen. Sie kommentiert für Reform.by die Situation aus Sicht des Migrationsrechts. Tschechowitsch ist der Meinung, dass Migranten, die die politische Situation in Belarus nutzen wollen, in einer sehr gefährlichen Lage sind:

    „Nach polnischem und litauischem Recht können die Migranten, die in diesen Ländern Asylanträge stellen, nicht abgeschoben werden, bevor über diese Anträge entschieden wurde. Diese Gesetze gelten für alle Asylsuchenden, unabhängig davon, ob sie legal oder illegal ins Land gekommen sind. Wenn die Migranten nicht nachweisen können, dass ihnen im Herkunftsland Gefahr droht, wird ihnen das Asyl verweigert, dann können Polen oder Litauen sie nach ihren jeweiligen internen Verfahren abschieben. In der gegenwärtigen Situation, also angesichts der hohen Zahl von Ankommenden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass die litauischen und polnischen Behörden die Anträge auf Asyl und einen Flüchtlingsstatus unbegründet ablehnen. 

    Zudem hat das litauische Parlament die gestiegene Fluchtbewegung über die belarussische Grenze als hybride Kriegsführung bezeichnet. Das Parlament fordert, die Migranten aus Drittstaaten, die illegal über die litauische Grenze einreisen und keine Papiere haben – ausgenommen sind Frauen mit Kindern, behinderte Menschen und Kinder unter 16 – , als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Wenn die litauische Regierung diesem Gesetzesentwurf zustimmt, könnten sich hunderte Menschen in einer sehr gefährlichen Lage wiederfinden, ohne den ihnen zustehenden Schutz.“

    Am 21. Juli wurde der Gesetzesentwurf vom litauischen Präsidenten unterzeichnet.

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