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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Oden an die Hunde von Schuwalow

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Kein Hundeleben, das die Corgis des russischen Vize-Premiers Igor Schuwalow führen: Der Fonds für Korruptionsbekämpfung des Oppositionsführers Alexej Nawalny ermittelte unlängst, dass sie im Privatjet zu internationalen Hundeausstellungen geflogen wurden. Olga Schuwalowa, die Frau des führenden Politikers, widersprach den Vorwürfen nicht und merkte nur an, die Corgis würden auf den Schauen „die Ehre Russlands verteidigen“.

    Erst im Juli war Schuwalow außerdem vorgeworfen worden, eine ganze Etage mit Wohnungen mitten im Zentrum Moskaus aufgekauft zu haben. Woher der Reichtum des Politikers genau kommt, der vor seiner Politikkarriere ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen sein soll, bleibt offen.

    Warum, so fragt der Historiker und Journalist Sergej Medwedew auf slon.ru, regen sich nur so wenige in Russland darüber auf? Und er geht sogar noch weiter: Nicht nur, dass sich keiner darüber aufrege – im Grunde legitimiere der Protz erst die Macht.

    Das Corgi-Paar von Igor Schuwalow fliegt im Privatjet von Hundeschau zu Hundeschau – Foto © krpress.ru
    Das Corgi-Paar von Igor Schuwalow fliegt im Privatjet von Hundeschau zu Hundeschau – Foto © krpress.ru

     

    „Was blickst du so finster, Bruder“, fragte Kirila Petrowitsch, „gefällt dir etwa mein Hundezwinger nicht?“ – „Doch“, antwortete Dubrowski barsch, „der Zwinger ist herrlich, Ihre Leute werden wohl kaum ein so schönes Leben haben wie Ihre Hunde.“  (Alexander Puschkin, Dubrowski)


    Wenn es Igor Iwanowitsch Schuwalow nicht gäbe, würde es sich lohnen, ihn zu erfinden: mit dem adelig klingenden Namen und dem Schloss in Österreich, dem Londoner Apartment im ehemaligen Gebäude des MI6-Geheimdienstes in Whitehall und dem Familiensitz in Saretschje, wo auch Suslows Parteien-Datscha steht. Mit dem Rolls-Royce für 40 Millionen Rubel und einem eigenen Stockwerk in einem Wolkenkratzer am Kotelnitscheskaja-Ufer. Mit all diesen Dingen aus der Kategorie „Wirkt albern, aber die Leute kaufen es“ und der Bereitschaft, für Putin „auch mal zurückzustecken“. Und nun auch noch mit dem Corgi-Paar, das mit dem Businessjet von Hundeschau zu Hundeschau geflogen wird.

    Er ist eine richtige Pelewin-Figur. Der Cargo-Kult auf zwei Beinen. Ein Destillat vom postsowjetischen Transit.

    Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde

    Da helfen auch keine Anwaltsvergangenheit und kein Teflonlächeln. Keine treuherzigen Erklärungen im Stil von „Alles hart erarbeitet“ und „Alles rechtmäßig versteuert“. Und keine Ehegattin, die ganz einfältig erläutert, die Corgis flögen, um die Ehre Russlands zu verteidigen. Und noch nicht einmal Margarita Simonjan, die auf Echo noch unmissverständlicher verkündet: „Ich denke, nur reiche Leute sollten Beamte werden, nur … ein Mensch, der sehr viel Geld verdient und sich im Business bewiesen hat. Bis 40, und mit 45 dann ein richtiger Kerl ist – also Boote, Flugzeuge, Brillanten und Pelze kauft …“ Wahrlich, wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.

    Manchmal scheint es, als sei das Projekt Schuwalow eine PR-Provokation. Eine Bombe gegen das bestehende Regime. Eine moderne russische Marie Antoinette samt ihrem „Sollen sie doch Kuchen essen“. Ein Katalysator für Revolution und Volkszorn.

    „Er macht es, weil er ’ s kann“

    Aber die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus. Von Revolution ist keine Spur, und statt Zorn gibt es nur Schmunzeln und Internethumor. Alle enthüllenden Posts von Nawalny versinken im Treibsand der russischen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die zynisch ist, anämisch und anomisch, und die Gewalt und Macht wesentlich höher schätzt als Recht und Moral.

    Meme und Karikaturen über Schuwalows Hunde posten und teilen stets dieselben Hunderttausend facebook-Nutzer. Der Rest des Landes betrachtet es mit Gleichgültigkeit und folgt der unumstößlichen Volksweisheit: „Er macht es, weil er´s kann.“

    Wie der Politologe Wladimir Gelman feststellt, steht dies in fundamentalem Widerspruch zur spätsowjetischen Kampagne für den „Kampf gegen Privilegien“. Eine der wichtigsten Losungen der Perestroika. Als die Publizisten dazu aufriefen, zu den leninschen Normen der Partei-Bescheidenheit zurückzukehren, und als man sich im Volk Apokryphen darüber erzählte, wie Jelzin, als er schon Erster Sekretär im Moskauer Stadtkomitee der KPdSU war, mit dem Trolleybus zur Arbeit fuhr.

    Warum reagiert die Gesellschaft nicht?

    Wo ist das alles hin? Warum reagiert die Gesellschaft weder auf Nachrichten über Korruption noch auf den provokanten Konsum der Staatsdiener?

    Gelman spricht von Ermüdung und Apathie: Mit der Peitsche kommt man gegen das Beil nicht an. „Die Erfahrung vom erfolglosen Kampf gegen Privilegien in der Epoche der Perestroika und die nachfolgenden Ereignisse, in denen der russischen Öffentlichkeit – mit wenigen Ausnahmen – die Rolle von Statisten zukam, haben die Russen davon überzeugt, dass eine Auflehnung gegen eine Obrigkeit, die über die Stränge schlägt, sinnlos, wenn nicht sogar gefährlich ist.“

    Auf der anderen Seite gibt es einen gemeinhin anerkannten Gesellschaftsvertrag, der da heißt Alle klauen. Die Nachrichten über Korruption, der verschwenderische Konsum und provokante Luxus der Wirtschaftselite fungieren als Ablassbrief für ebensolches Verhalten quer durch alle Gesellschaftsschichten: Der Blick nach oben verschafft den Menschen das moralische Recht Steuern zu hinterziehen, Schmiergelder zu zahlen oder anzunehmen und über die eigenen Verhältnisse zu leben.

    „Alle klauen“ – so heißt der Gesellschaftsvertrag

    Das Beispiel der Obrigkeit erzeugt eine „Alles-ist-erlaubt“-Atmosphäre in der Gesellschaft: Wenn die Hunde des Vize-Premiers mit Privatjets fliegen, warum darf die gesamte Führungsriege der Wolgograder Region dann nicht in die Toskana fliegen, um den Geburtstag des Gouverneurs Boschenow zu feiern? Wenn ein Wagen mit Blaulicht die durchgezogene Mittellinie durchkreuzen darf, warum kann ein gewöhnliches Auto dann nicht den Stau auf dem Seitenstreifen umfahren?

    Macht fußt auf der Behauptung des eigenen Status, nicht auf Wahlen

    Aber neben der traditionellen Kungelei über die verschiedenen sozialen Schichten hinweg gibt es auch noch eine tieferliegende, strukturelle Ursache, warum Schuwalows zur Schau gestellter Reichtum das Regime nicht diskreditiert, sondern sogar legitimiert: Macht fußt in Russland nicht auf Wahlen, sondern auf Gewalt und auf der Behauptung des eigenen Status. Sprich darauf, wie effektiv jemand durch Gewalt- und Symbolwirkung den Diskurs beherrscht. Für die Legitimation der Macht braucht es den Überfluss: öffentliche Prügelstrafen, demonstrativen Luxus und die Verachtung von Gesetz und moralischen Normen. Genau so funktioniert auch die Macht eines Kirila Petrowitsch Trojekurow in der patriarchalen Welt von Dubrowski.

    So betrachtet sind diese ganzen Darstellungen von Reichtum – Putins Schlösser, die Uhr des Patriarchen, der Autokorso der Absolventen der FSB-Akademie mit den Mercedes-Geländewagen, die Bentley-Festzüge in Tschetschenien, Schuwalows Hunde oder die Löwen in Kadyrows Privatzoo – allesamt Attribute patriarchaler Macht. Und gewichtige Argumente in der Ständehierarchie, gegen die wiederum nur wieder dieselben Hunderttausend facebook-Nutzer und ein paar engagierte Städter aufbegehren. Der Großteil der Bevölkerung nimmt sie schweigend hin, als unvermeidliche, herrschaftliche Kapriolen, die man zuweilen sogar sozial gutheißt.

    Ein Geschenk von Soros, das wäre kompromittierend

    Die Corgis im Business-Jet haben also keine kompromittierende Symbolwirkung. Im Gegenteil: Sie bestätigen nur das Recht auf Macht, die Kastenzugehörigkeit. Etwas anderes wäre es natürlich, wenn die Hunde nicht Toscha und Cäsarewitsch hießen, sondern Maidan und Bandera. Oder wenn Schuwalow sie von Soros geschenkt bekommen hätte. Oder wenn sie weiße Bänder an ihrem Halsband tragen würden. Das wäre kompromittierendes Material! Aber der Besitz von Anwesen und Konten im Ausland und die herrschaftlichen Allüren, kurzum der Euter, den man bei den modernen russischen Koreikos jederzeit fühlen kann, gilt unter den Bedingungen des jetzigen Regimes als Zeichen von Loyalität und Zugehörigkeit zum System.

    Eine katastrophale Kluft in der Gesellschaft

    Die aktuelle Evolutionsstufe der russischen Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Herrschaftsschicht das einfache Volk nun endgültig vom Hals geschafft hat. Sie kümmert sich nicht länger um ein schickliches Image. Im Gegenteil: Sie erhebt ihre Privilegien und Launen sogar zur Norm.

    Herrschaftliche Megaprojekte – angefangen bei den Olympischen Spielen und der Fußball-WM bis hin zu Hochgeschwindigkeitszügen und den Maßnahmen zur Erhöhung des Komforts in Moskau – bei gleichzeitiger Zerstörung der sozialen Infrastruktur, die Verachtung für die Not der Menschen, die immer wieder in den Äußerungen von hohen Beamten und Abgeordneten durchklingt: All das zeugt vom endgültigen Verlust der sozialen Solidarität und von der katastrophalen Kluft, die sich in der russischen Gesellschaft auftut. Eine der wesentlichen Folgen der Putinschen Konterreformen.

    Dienstadel wie zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen

    Während der letzten hundert Jahre, seit 1917, hat sich Russland bemüht, eine moderne Gesellschaft zu errichten. Sie sollte auf Prinzipien der Solidarität, der politischen Gleichheit und auf einem Gesellschaftsvertrag gründen (auch wenn das in vielerlei Hinsicht nur proklamierte Ziele blieben, denn auch in der UdSSR herrschten Statusprivilegien und eine berufliche Ständeordnung). Aber im 21. Jahrhundert setzte eine vernichtende De-Modernisierung ein – und zwar der Macht, der Gesellschaft, der Ökonomie und des kollektiven Bewusstseins.

    Alles in allem entfernt sich Russland von der modernen Bürokratie und vom Oligarchen-Staat aus Zeiten des Frühkapitalismus. Und es steuert auf eine feudale, aristokratische Regierung zu. Auf die Schaffung eines Dienstadels wie zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen, dem Urvater der russischen Staatsmacht. Sein neuestes Denkmal wird am 3. August in Orlow enthüllt.

    Igor Schuwalow setzt mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend – Foto © Wikipedia unter CC BY 3.0
    Igor Schuwalow setzt mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend – Foto © Wikipedia unter CC BY 3.0

    Auch Igor Schuwalow setzt hierbei mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend, wenn auch im britischen Stil – von den königlichen Corgis bis zum Anwesen in der Whitehall Street.

    Es wird neue Gesetze brauchen: vererbbare Titel und Rechte

    Verfolgt man diese Abstiegslinie auf den Stufen der Geschichte weiter, müssten wir vom Dienst- bald zum Erbadel kommen. Nicht ohne Grund bezeichnete der Politologe Jewgeni Mintschenko die 2010er Jahre schon 2012 als einen „dynastischen Abschnitt“ im Evolutionssystem. Charakteristisch ist für diesen Abschnitt das Streben der Elite, eine Erbschaftsaristokratie zu errichten. Sie soll ermöglichen, den erworbenen Besitz an die Sprösslinge weiterzugeben. Allein das Erbrecht kann die Elite vor erneuten Umverteilungen bewahren, die bei einem Machtwechsel in Russland unvermeidlich wären. Und in Zeiten von Krieg, Terror und Sanktionen Stabilität und Nachfolgerschaft gewährleisten.

    Dafür wird es neue Gesetze brauchen: vererbbare Titel und Rechte, einen rechtlichen Sonderstatus für Adelige, Immunität, Garantien der Unantastbarkeit von Privatleben und Besitz (wie das funktioniert, zeigte bereits die Verurteilung der Ökologen Jewgeni Witischko und Surena Gasarjan wegen einer Aufschrift am Zaun der Datscha des Gouverneurs Alexander Tkatschow). Und es braucht Informationsschutz für Eintragungen von Aristokraten in Grundbüchern, damit Ermittlungen wie „Tschaika“ oder „Anwesen auf der Kotelnitscheskaja“ nicht mehr vorkommen.

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Dass es auch für die Haustiere der Herrschaften einen Sonderstatus braucht, versteht sich von selbst. Konnte doch Mitte des Jahrhunderts ein Bauer, der die Hand gegen den Hund eines Adeligen erhebt, zum Tode verurteilt werden. Und weil Sergej Jessenin einst ein anrührendes Gedicht für den Hund von Katschalow schrieb, werden die zeitgenössischen Dichter wohl Oden an die Hunde von Schuwalow verfassen müssen. Denn sie verteidigen in der Tat die Ehre Russlands. Sie sind Russlands Symbole und Role Models. Sie sind das Beispiel für prestigeträchtigen Konsum und eben jenen Erfolg, über den die fachkundige Margarita Simonjan zu urteilen weiß.

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  • Russlands neue Revoluzzer?

    Russlands neue Revoluzzer?

    Protest-Starre in Russland? Nach den heftigen Bolotnaja-Protesten 2011/12 hat der Kreml zahlreiche Aktivisten verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Außerdem wurde zuletzt eine Reihe von Anti-Terror-Gesetzen verabschiedet, die unter anderem auch die Internetzensur weiter ausbauen. Blogger – gemeint sind damit auch Social-Media-User mit mehr als 3000 Lesern am Tag – dürfen beispielsweise andere Personen nicht „in Misskredit” bringen.

    Der Petersburger Politologe Michail Komin kritisiert auf dem russischen Wirtschaftsportal forbes.ru die Anti-Protest-Maßnahmen des Kreml: Nicht nur, dass das Unruhepotential derzeit weder von Social-Media-Nutzern noch von Bolotnaja-Anhängern, sondern von anderen sozialen Gruppen ausgehe. Die größte Gefahr für den Kreml liege sowieso ganz woanders.

    Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage zu sozioökonomischen und politischen Spannungen in Russlands Regionen hat bestätigt, was längst spürbar war: In den vergangenen Monaten ist die Unzufriedenheit der Bürger mit ihrer Situation bedeutend gewachsen.

    Auch wenn die Soziologen eine leichte Abnahme in der Protestbereitschaft feststellen: Es bleibt doch der Eindruck, dass die russische Gesellschaft in einer „aggressiven Reglosigkeit“ verharrt – einem Zustand, in dem der Ärger über das Verhalten des Vorgesetzten, der lokalen und der föderalen Machthaber enorm groß ist, aber der Punkt, an dem sich die aufgestaute Aggression am Umfeld entlädt, noch nicht erreicht ist.

    Aber dieses „noch nicht“ kann nicht ewig anhalten. Die Probleme, die den gesellschaftlichen Ärger verursachen, haben institutionellen Charakter, doch die herrschende Elite ist offenbar nicht in der Lage, dies zu erkennen.

    Kreml kämpft mit alten Waffen

    Die Maßnahmen-Strategie des Kreml, Proteste einzudämmen, hat sich seit dem Bolotnaja-Platz faktisch nicht verändert – ungeachtet dessen, dass sich die sozialpolitische Landschaft nach der Krimeuphorie gewandelt und sich der Lebensstandard seit dem Ende der 1990er dramatisch verschlechtert hat. Man bleibt dabei, politische Anführer zu verfolgen oder ihnen Verfolgung anzudrohen, jeden, dessen Meinung vom offiziellen Diskurs abweicht, als Verräter abzustempeln und vor den Wahlen innere Säuberungen zu imitieren sowie jeglichen Protest zum Zwergenaufstand zu erklären.

    Aber alle diese Maßnahmen des Kreml haben ausgesprochen wenig mit den tatsächlich wachsenden Spannungen im Land zu tun. Der potentielle Protest, der die Legitimität der Elite unterminieren könnte, geht weniger von den Anhängern der Bolotnaja-Bewegung oder den aktiven Facebook-Nutzern aus. Er kommt vielmehr von ganz anderen sozialen Gruppen, deren Forderungen die Regierung wohl kaum erfüllen kann.

    Die erste und wohl offensichtlichste Quelle des neuen Protestes: Einzelne Berufsgruppen in den großen Städten, die durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage mobilisiert werden. Wir konnten bereits beobachten, dass der Kreml keinerlei Vorstellung davon hat, wie er auf Streiks der Ärzte und der Devisenkreditnehmer oder auf die Protestaktionen der Fernfahrer reagieren soll.

    Im Grunde genommen kann man diese Streiks natürlich kaum als Protest bezeichnen. Der Großteil von ihnen steht im Zusammenhang mit nicht gezahlten Löhnen und ist vielmehr ein kollektiver Appell an die Vorgesetzten „die Sache zu klären“. Doch die Zahl der Proteste von Berufsgruppen steigt im Verhältnis zum Vorjahr an. In der ersten Hälfte von 2016 gab es russlandweit in unterschiedlichen Städten bereits mehr als 150 solcher Aktionen.

    Katastrophale Kluft zwischen Elite und „Putin-Mehrheit“

    Auch die lauten Skandale wie Medwedews Ausspruch „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, der schon jetzt zum meistzitierten politischen Mem des Jahres avanciert ist, stärken nicht gerade den Glauben der Russen an den paternalistischen Versorgungsstaat. Dasselbe gilt für das zweite Mem des vergangenen Monats – den Hohn des Vizepremiers Schuwalow über die 20-Quadratmeter-Wohnungen der Russen.

    Das alles sind Lakmustests der katastrophalen Kluft zwischen dem, wie die Elite das Leben der einfachen Menschen wahrnimmt und dem, welche Art von Maßnahmen diese einfachen Menschen aus der „Putin-Mehrheit“ derzeit von der Elite erwarten.

    Im Laufe der Geschichte wurden die Bürger in Situationen, in denen ihnen das Ausmaß dieser Kluft bewusst wurde, häufig von einer „aggressiv schweigenden“ zu einer „aggressiv rebellierenden“ Mehrheit, das heißt, sie dienten als Auslöser für revolutionäre Umwälzungen. Die Unaufmerksamkeit des Zaren gegenüber dem Volk am Blutsonntag oder die Versuche der kommunistischen Partei, die Atomkatastrophe in Tschernobyl zu vertuschen, sind nur zwei von vielen Beispielen.

    Zudem sind Arbeitsproteste für jedes autoritäre Regime aus zweierlei Gründen schwer zu verkraften: Erstens ist es kaum möglich, sie einfach vom Tisch zu wischen, sie zu ignorieren und sie den Machenschaften von westlichen Agenten oder der Fünften Kolonne aus dem Inneren zuzuschreiben. Denn die Probleme sind dem Bewusstsein der Massen zu verständlich und zu nah. Das ursprünglich Apolitische des Protestes ist seine Kraft. Sollten einmal Rufe nach einem Machtwechsel folgen, so klingen sie weitaus aufrichtiger, wenn die Regierung es bis dahin nicht vermochte, den grundlegend ökonomischen Forderungen der Protestierenden nachzukommen. Erinnern wir uns daran, dass der Sargnagel für das Sowjetregime Bergarbeiter waren, die mit ihren Helmen gegen die Steine am Roten Platz schlugen. Gorbatschow wusste einfach nicht, wie er auf sie reagieren sollte.

    Zweitens belegen aktuelle Studien, dass spontan entstandene Strukturen in Gesellschaften mit geschlossenem sozialen Kapital (zu ihnen gehört auch das autoritäre Russland) über ein höheres Mobilisierungspotential verfügen. Innerhalb solcher Strukturen entschließen sich Individuen nämlich nicht über die Netzwerke bestehender Organisationen für eine Teilnahme an Protesthandlungen, sondern über lockere soziale Bindungen, wie einem gemeinsamen Arbeitsplatz oder gemeinsamer Nachbarschaft.

    Die Spontaneität solcher Proteste lässt den Teilnehmern offenbar nicht genug Zeit, um an mögliche Risiken und Repressionen zu denken. Zusätzlich erhöht das Gemeinschaftsgefühl die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand kollektiven Handlungen anschließt. In ihrem Erscheinungsbild ähneln diese Proteste den berühmten russischen „Volksversammlungen“.

    Nichtstun und den Bogen überspannen

    Die zweite große soziodemographische Gruppe, die sich als Quelle des Protests erweisen könnte, falls grundlegende Veränderungen in sozialpolitischen Institutionen ausbleiben, ist die neue Generation von selbstgenügsamen Russen in den Nicht-Hauptstädten.

    Laut soziologischen Studien ist die Zahl der Menschen, die sich und ihre Familie selbst versorgen können und nicht auf staatliche Hilfe angewiesen sind, in Russland auf 44 Prozent gestiegen. Zudem ist der Trend erkennbar, dass ihre Zahl in Städten, die weniger als eine Million Einwohner haben, häufig sogar 50 Prozent übersteigt.  

    Dort, wo das Niveau der staatlichen Leistungen niedriger ist als in der Hauptstadt, die Lohn- und Gehaltsangleichung gering ausfällt und die Qualifikation der Beamten nur für Verwunderung sorgt, bleibt nichts anderes, als sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen. Denjenigen, denen das einigermaßen gelingt, wird schnell klar, dass der Staat nur zwei Dinge wirklich gut kann: Nichtstun und den Bogen überspannen.

    Die wachsende Ungleichheit und die nicht funktionierenden sozialen Fahrstühle, die allzu oft von den Kindern der herrschenden Elite besetzt sind – das alles trägt dazu bei, dass der Ärger zunimmt und auch das Gefühl, die „Herrschaftsriege“ mische sich zu sehr ins Privatleben ein. Es ist durchaus möglich, dass sich diese soziale Schicht in fünf bis zehn Jahren vollends zu dem entwickelt, was in der Revolutionstheorie als „überflüssiger Mensch“ bekannt ist. Sprich zu einer Generation, der es nicht gelingt, im Leben einen Platz zu finden, der ihrer Bildung und Erfahrung angemessenen wäre, und einen signifikanten Fortschritt in ihrer sozialen und materiellen Situation zu erzielen.  

    Der Glaube an die eigene Kraft wird diesen Gemeinschaften helfen, die mit kollektiven Handlungen verbundenen Mühen zu meistern. Auch kann das Ausbleiben von sichtlichen Verbesserungen in der staatlichen Politik sowie die fortschreitende ökonomische und soziale Abwertung der Regionen zu jenem starken Antrieb werden, der sie auf die Barrikaden treibt.
    Wenn sie sich dann beispielsweise mit den neuen Gesichtern der russischen Arbeiterproteste, den neuen „Bergarbeitern“, auf dem Roten Platz vereinten, könnten aus dieser explosiven Mischung durchaus revolutionäre Umwälzungen folgen.

    Die neuen Anhänger des Russischen Frühlings

    Ein weiterer Herd beim Anwachsen politischer Spannungen könnten die neuen Anhänger des Russischen Frühlings werden: Junge Männer, die von den Kämpfen im Südosten der Ukraine zurückgekehrt sind, weil es ihnen nicht gelungen ist, dort nach dem Krieg Fuß zu fassen.

    Gut ausgebildet und geübt im Umgang mit der Waffe werden sie in Russland keinen Platz finden, bedenkt man die allmähliche Zurücknahme der aggressiven Rhetorik und die Kehrtwende in Richtung einer Zusammenarbeit mit dem Westen. Dann bleiben ihnen zwei Möglichkeiten: Entweder sie setzen ihre militärische Laufbahn in einer Privateinheit wie der TschWK Wagner fort, oder – was weitaus wahrscheinlicher ist – sie versuchen ihr angesammeltes symbolisches und soziales Kapital in der Heimat zu verwenden. Zum Einsatz kommen diese Inhalte und sozialen Gruppen bereits beim Helden des Russischen Frühlings Igor Strelkow, indem er mal das Komitee des 25. Januar, mal die neue Allrussische nationale Bewegung gründet.

    Wenn es ihnen nicht gelingt, sich in das System der politischen Macht einzufügen, werden sie, enttäuscht und frustriert über die faktische Aufgabe des Projekts Noworossija, ihre Loyalität gegenüber dem Kreml gewiss nicht beibehalten. Sie werden sich alternativen Machtzentren zuwenden. Sicherlich würde es ihnen schwerfallen, die beiden oben genannten „revolutionär gefährlichen“ sozialen Gruppen zu verstehen und sich mit ihnen zu vereinen. Dafür liegen die Beweggründe für den Protest und die jeweilige Weltsicht zu weit auseinander. Doch gesetzt den Fall, das System würde mit den sozialen Spannungen nicht mehr fertig, ist es durchaus vorstellbar, dass Menschen mit der Erfahrung militärischer Mobilmachung diese Situation ausnutzen, um unter Losungen der Bewahrung von Ordnung und Einheit des Landes eigene lokale Kontrollzonen zu errichten.

    Betrachtet man das Manifest von Strelkow, so propagiert er keine Machtergreifung sondern eine „Übernahme“ der Staatsmacht, wenn die Krisensituation erreicht ist. Das beschriebene Szenario gilt unter den Anhänger der ANB [Allrussische Nationale Bewegung] als eine durchaus realistische Strategie.

    Das Hauptproblem liegt woanders

    Das Hauptproblem für die Stabilität des russischen Regimes allerdings besteht nicht so sehr in den wachsenden sozialen Gruppen, die zu neuen Quellen des Protestes werden können. Und noch nicht einmal darin, dass der Kreml die Gefahr, die von ihnen ausgeht, übersieht. Es besteht vielmehr darin, dass die politischen Institutionen (insbesondere in den Regionen) degradieren, zunehmend primitiver werden und von Jahr zu Jahr weniger fähig sind, dem wachsenden Widerspruch auf friedliche Weise zu begegnen.

    Die sich verschlechternde sozialpolitische Lage einerseits und das zunehmende Unvermögen, sich an diese anzupassen, andererseits: Derart entgegengesetzte Tendenzen können zu einer sozialen Explosion führen.

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  • Einer wird gewinnen

    Einer wird gewinnen

    Auf den schwarzen Freitag folgte ein schwarzer Montag für russische Sportfans: Erst hatte der Leichtathletik-Weltverband IAAF die Doping-Sperre für russische Leichtathleten auf unbestimmte Zeit verlängert, und somit auch über den Zeitraum von Olympia. Und dann flog am Montag darauf auch noch die Sbornaja aus der Fußball-EM. Bei vielen Fans wuchs mit der Enttäuschung auch die Empörung.

    Schon das IAAF-Urteil hatte zu heftigen Debatten geführt, unter anderem darüber, inwiefern der Westen den Sport als politische Waffe missbrauche. Die Verquickung zwischen Sport und Politik wurde in russischen Medien auch dann diskutiert, wenn es um Hooligans ging: Sind das „Vollpfosten“ oder „Patrioten“? Und hat der Kreml seine Hand im Spiel? dekoder bildet die Medien-Debatten hier ab.

    Nachdem das Internationale Olympische Komitee die Sperre für Leichtathleten zumindest durchlässiger gemacht hatte (jeder geprüfte, „saubere“ Sportler darf bei Olympia unter russischer Flagge starten), empfanden viele Erleichterung.

    gazeta.ru nimmt die emotionale Achterbahnfahrt der vergangenen Tage zum Anlass, das Verhältnis zwischen Sport und Politik sowie den vermeintlichen Zwang zum Siegen einmal genauer zu beleuchten.

    „Im russischen Sport gilt 'Alles oder nichts, Sieg oder Tod'“ – Foto © Piotr Drabik/Flickr
    „Im russischen Sport gilt ‚Alles oder nichts, Sieg oder Tod’“ – Foto © Piotr Drabik/Flickr

    Die Fans können zufrieden sein: Unsere Mannschaft fährt nach Rio! Nur die Sportfunktionäre haben wieder Grund zur Sorge. Hätte man unsere Mannschaft disqualifiziert, wären sie fein raus – schuld wäre wie üblich die Weltverschwörung. Jetzt werden sie die möglichen Niederlagen irgendwie erklären müssen. Wahrscheinlich ebenfalls mit der Weltverschwörung: Die haben das psychologische Klima bei uns zerstört. Und gesiegt wird ihnen allen zum Trotz, den Feinden und Neidern Russlands und des Sportministeriums.

    Sport – eine „Klammer“ der russischen Identität

    Der Sport ist in Russland schon seit geraumer Zeit eine der „geistigen Klammern“ der modernen nationalen Identität.

    Hinter der fanatischen Liebe unserer Bürger zu Sportevents, die regelmäßig in Diskussionen über das Schicksal der Heimat und der Welt im staatlichen Fernsehen und in den sozialen Netzwerken münden, verbirgt sich offenbar eine wichtige Besonderheit der nationalen Identität: Wir sind eine Nation, die daran gewöhnt ist, zu siegen, für die das ganz normal ist.

    In den 2000er Jahren haben wir diesen Blick auf uns selbst enorm kultiviert,  haben uns schnell daran gewöhnt, Gegner zu besiegen und Feinde zu bezwingen. Allerdings ohne dabei uns selbst oder die Umstände zu bewältigen, wie schon in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten. Früher nahmen wir für den Sieg jeden Preis in Kauf, nun sind wir berechnender geworden, und eigentlich ist es auch gar nicht so teuer: Im Sport geschieht es in der Regel mithilfe von eingekauften Stars aus dem Ausland, im Krieg rasant und ohne große Opfer, in der Wirtschaft mit Bodenschätzen – ausbuddeln und dann verkaufen.

    Und tatsächlich schien es, als hätten wir gelernt „viel bester zu gewinnen“. Vor allem zwei Mal: 2008, als wir der Reihe nach die Eishockey-Weltmeisterschaft, den Eurovision Song Contest, den UEFA-Pokal, die Niederländer und einen Monat später beinahe Tbilissi abgeräumt haben. Und 2014, als wir Olympia ausgerichtet und gewonnen, und dann noch die Krim angegliedert haben.  

    Sport und Politik, Brot und Spiele

    Diese Ereignisse stehen nicht zufällig in einer Reihe. Sport und Politik hängen im Dritten Rom heute genauso eng zusammen wie im ersten – aus dessen Geschichte die Wendung „Brot und Spiele“ zu uns kam – und im zweiten, in Konstantinopel, wo die politische Zuordnung hunderte Jahre lang von den Favoriten beim Pferderennen abhing.

    Doch die heftigen Diskussionen um Sportwettkämpfe offenbaren etwas, das womöglich sogar tiefer geht als die Gier nach dem Sieg. Der Glaube an ein Wunder ist zum Massenphänomen geworden: als simple Lösung (oder Erklärung), als etwas, womit sich komplizierte Probleme ein für allemal lösen (oder zumindest erklären) lassen. Er verbindet die Apologeten der amtierenden Regierung – die im Erfolg der russischen Athleten einen Beweis dafür sehen, dass sich Russland von den Knien erhebt – mit ihren unversöhnlichen Kritikern, die die Niederlagen im Sport als einen Beweis dafür auslegen, dass das System an allen Ecken und Enden verfault.

    So suchen und finden beispielsweise russische Sportfunktionäre in den internationalen Ermittlungen des Doping-Skandals Spuren einer Weltverschwörung. Ganz so, als wäre alles wunderbar, wenn es da nicht die versteckten und offensichtlichen Feinde Russlands gäbe. Wie aus Eimern würden dann Goldmedaillen auf uns niederregnen.

    Alles oder nichts, Sieg oder Tod

    Es gibt ein universelles Mittel, um sich im heutigen Russland aus der Verantwortung zu ziehen: die eigenen Fehler und die Unprofessionalität, ja sogar den offensichtlichen Missbrauch mit der Sorge um das eigene Land zu begründen. Mit einem „Wir haben‘s ja nur gut gemeint“, aber dann haben sich die Feinde eingemischt …

    Das Entscheidende, woran wir uns einfach nicht gewöhnen können, ist, dass man nicht immer und überall gewinnen kann. Noch nicht einmal dann, wenn man mit all den feindlich Gesinnten fertig werden würde und ein perfektes Trainingssystem entwickelt hätte. Warum das nicht funktioniert, sagen wir mal im Fußball, darüber gibt es dutzende ernsthafter wissenschaftlicher Arbeiten. Beim Eishockey besteht die Antwort aus einem einzigen Wort: Kanada. Die Konkurrenz ist einfach viel zu stark, und es gibt unweigerlich mehr Besiegte als Sieger.

    Sowohl im Sport als auch in der Politik wird zu stark verabsolutiert: Alles oder nichts, Sieg oder Tod, völlig am Boden oder hoch hinaus. Vielleicht ist es an der Zeit endlich zu lernen, nachsichtiger zu sein mit dem Ergebnis und strenger mit der Art und Weise, auf die es erreicht wird? Die simple Wahrheit „Dabei sein ist alles“ hat nicht an Aktualität verloren. Weder im Sport noch in der Kultur noch im Leben überhaupt.

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    „Das jetzige Regime ist todgeweiht“

    Im Frühjahr und Sommer 2014 sah man Igor Girkin (genannt Strelkow, „der Schütze“) nahezu täglich im russischen Fernsehen: Der ehemalige FSB-Mitarbeiter aus Moskau war, wie er selber angibt, maßgeblich an der Operation zur Angliederung der Krim beteiligt. Im Mai 2014 wurde er dann Verteidigungsminister der Donezker Volksrepublik und führte in Slawjansk persönlich die pro-russischen Separatisten an. Mit seinem Rücktritt noch im August desselben Jahres verschwand er wieder von den Fernsehbildschirmen. Er lebt seitdem in Moskau, wo er die Bewegung Noworossija leitet. Außerdem ist er Vorsitzender der Allrussischen Nationalen Bewegung, deren Ziel die „Wiedergeburt Russlands als russischer Nationalstaat“ ist, wie es in einer kürzlich veröffentlichten Deklaration heißt.

    Im Interview mit Znak spricht der überzeugte Nationalist über die von ihm angestrebte Vereinigung Russlands mit der Ukraine und Belarus, über das dreckige Geschäft der Politik und potentielle Spione in Putins Umfeld.

     

    „Ich sehe eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten“ – Ex-Separatistenführer Igor Girkin. Foto © Dom kobb/Wikipedia
    „Ich sehe eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten“ – Ex-Separatistenführer Igor Girkin. Foto © Dom kobb/Wikipedia

    Die Bewegung Noworossija hat ihr Quartier in ein paar kleinen Zimmern unweit der Metrostation Taganskaja. Renoviert wurde lange nicht mehr, man muss aufpassen, wo man hintritt. Beim Eintreten verrät der Geruch: Hier ist der Lebensraum einer Katze.  Während des ganzen Interview schläft ein riesiger roter Kater, genannt der „Grimmige“, auf Strelkows Tisch. An der Wand hängt ein Kalender mit einem Portrait von Nikolaus II., ein ebensolches steht auf Strelkows Tisch.

    Neulich haben Sie eine Deklaration veröffentlicht. Ich würde gern zunächst nachvollziehen, wer die Verfasser dieser Deklaration sind. Außerdem enthält sie doch offensichtliche Widersprüche. Einerseits ist darin die Rede von europäischen Werten, von einer Annäherung an die Staaten der Ersten Welt, andererseits von der Notwendigkeit, die Ukraine und Belarus zurückzubekommen. Meiner Meinung nach lässt sich das nicht miteinander vereinbaren.

    Erstens ist die Deklaration ein Gemeinschaftswerk. Ich war an der Redaktion beteiligt und habe den einen oder anderen Absatz selbst geschrieben. Aber ich streite nicht ab, dass der Grundtext von Vertretern des nationalistischen Flügels stammt.

    Allerdings ist es eine Deklaration, es sind nicht die Zehn Gebote, die in Stein gemeißelt sind. Ein Arbeitspapier. Es kann sich verändern, wenn ein Wechsel der realpolitischen Zustände es erfordert. Sie müssen zugeben, dass alle demokratischen oder rechtlichen Normen nur gelten können, wenn sich der Staat oder die Gesellschaft in einem einigermaßen ruhigen Zustand befinden. In einer schweren Krise sind sie nicht nur wirkungslos, sie können sogar zu einem beschleunigten Zerfall von Staat und Gesellschaft beitragen.

    Derzeit stellt die Deklaration, schlicht gesagt, eine Sammlung unserer Wünsche dar – das, was wir im Idealfall gern sehen würden, wenn der Übergang aus der jetzigen Situation ohne herausragende Erschütterungen vonstattengeht.

    Ich verstehe trotzdem nicht ganz, möchten Sie eine Wiedervereinigung mit der Ukraine und Belarus oder möchten Sie Demokratie?

    Ich lese Ihnen mal den Wortlaut vor: „Wir treten ein für die Vereinigung der Russischen Föderation mit der Ukraine und Belarus sowie weiteren russischen Gebieten zu einem gesamtrussischen Staat, für die Umwandlung des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion in eine bedingungslos russische Einflusszone.“

    Gut möglich, dass die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht

    Nun sagen Sie mir mal, wo steht da was von Krieg? Ich kann mir vorstellen, dass sich jemand, der diesen Satz liest, Strelkow vorstellt, den Überfall auf Slawjansk, die Geschehnisse auf der Krim, die fünf Kriege, die ich auf dem Buckel habe und davon ausgeht, dass dieser Strelkow definitiv eine Art Wehrmacht errichten und in die Ukraine, Belarus oder sonst wo einfallen wird. Aber wo steht das in der Deklaration?

    Gut möglich, dass unsere politischen Gegner, die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht.

    Wie stellen Sie sich diese Vereinigung denn ohne Blutvergießen vor?

    Ich sage es Ihnen nochmal, die Deklaration ist eine Reihe von Wünschen. Das, was wir anstreben. Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man zum Beispiel gar nicht Krieg führen. Mit besonnener Politik und unter der Voraussetzung, dass man Belarus nicht als ein mögliches Objekt der Plünderung betrachtet, wäre eine Vereinigung denke ich gut möglich, und zwar ohne jeden Krieg und ohne Blutvergießen.

    Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man keinen Krieg führen. Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage

    Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage. Der Krieg ist schon im Gange, da können wir nicht mehr raus. Jetzt müssen wir diesen Krieg gewinnen, denn im Fall einer Niederlage verlieren wir nicht nur in der Ukraine, sondern überall. Da bleibe ich bei meiner Meinung.

    Das Dilemma wurde alternativlos mit der Angliederung der Krim. Dieser Schritt war richtig, aber ich möchte hier nicht seine Richtigkeit, sondern seine Bedeutung betonen. Seitdem gibt es keine anderen Möglichkeiten der Befriedung mehr: Entweder muss man die Junta zerschlagen oder vor ihr kapitulieren.

    Und dennoch, wenn wir Ihrem Szenario folgen, dann kann doch von einer weiteren Annäherung an die „Erste Welt“, von der Sie in der Deklaration sprechen, gar keine Rede sein. Es werden nur weitere Sanktionen folgen.

    Ich war nie Jurist, meine Grundausbildung sind die fünfmonatigen Seminare an der Akademie des russischen FSB, wo ich im Kampf gegen den Untergrund und in der Organisation der Arbeit mit dem Untergrund ausgebildet wurde.

    Trotzdem, wenn es um so ernsthafte Dinge wie eine Deklaration geht, muss man sie wörtlich lesen und nichts erfinden. Wir sind dafür, Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus der sogenannten Ersten Welt für Russland zu gewinnen. Da steht nichts davon, dass wir eine Freundschaft mit der gesamten Ersten Welt auf allen Ebenen und zu ihren Bedingungen wollen.

    Nein, wir sind für die Errichtung eines souveränen, freien und – so komisch das aus meinem Mund auch klingen mag – eines Rechtsstaates in Russland. Wenn das erreicht ist, kommen wir ganz von selbst auf ein Level mit den Ländern der Ersten Welt.

    In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – ‚klauen, verkaufen, ins Ausland bringen‘

    Außerdem sind wir jetzt in wirtschaftlicher Hinsicht wunderbar in das System der Ersten Welt eingebunden. Nämlich auf der Ebene vom Rohstoffanhängsel, der Pipeline, durch die man alle unsere Ressourcen aus uns rauspumpt. Und im Gegenzug bekommen wir finanzielle Mittel, die dann ebenfalls außer Landes geschafft werden. In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – „klauen, verkaufen, ins Ausland bringen“.

    Sie haben von einem möglichen Machtwechsel in Russland gesprochen. Wollen Sie um die Macht kämpfen? Haben Sie vor, für die Duma zu kandidieren?

    Nein. Die Politik reizt mich überhaupt nicht. Sie interessiert mich nicht. Ich weiß nur zu gut, was Politik bedeutet. Als ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter weiß ich das ganz genau: Es ist eine schmutzige Sache, bei der jeder lügt. Lügen ist mir ein Gräuel.

    Warum haben Sie sich dann auf die Politik eingelassen?

    Aus demselben Grund, warum ich auf die Krim gefahren bin und später nach Slawjansk. Ich habe schon lange keinen Gefallen mehr am Krieg. Wie schon Napoleon sagte: Für den Krieg braucht man ein bestimmtes Alter. Ein Mann über vierzig, erst recht wenn er den Krieg kennt, will nicht mehr kämpfen. Er hat viel gesehen und weiß genau, dass es daran nichts Romantisches gibt. Das Erlebte lastet auf einem, und das Risiko reizt einen auch nicht mehr – im Krieg jedoch ist das Risiko unvermeidbar.

    Aber ich habe meine Pflicht erfüllt. Für die Krim habe ich nichts bekommen, noch nicht einmal ein Dankeschön. Dasselbe habe ich in Slawjansk getan. Wenn man mich nicht buchstäblich dazu gezwungen hätte, die Maske abzunehmen (wie und warum ist eine andere Geschichte), würdet ihr immer noch glauben, dass der Oberst Strelkow ein cooler Hauptmann des GRU mit superbreiten Schultern ist, der mit links Flugzeuge von Himmel holt und mit einem Schuss ganze Panzerkolonnen abfackelt.

    Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten

    Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. In Kriegszeiten kann ich sie ergreifen – das ist überhaupt kein Problem. Ich habe kein Interesse an diesen ganzen Spielchen mit Wahlen, Umfragewerten und der Notwendigkeit, sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen und dafür zu lügen.

    Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten. Weil es das Schicksal nun mal so wollte, dass ich eine gewisse Popularität, eine gewisse Bekanntheit erlangt habe, habe ich kein Recht, sie nicht zu nutzen, quasi mein Pfund zu vergraben wie in dem berühmten Gleichnis.

    Sie wollen also friedlich um die Macht kämpfen?

    Wir werden nicht auf friedliche Weise um die Macht kämpfen, im Augenblick werden wir überhaupt nicht um die Macht kämpfen.

    Und was haben Sie dann vor?

    Wir haben schon lange gesagt, dass das jetzige Regime todgeweiht ist, es verschlingt sich selbst. Vor unseren Augen passiert die Selbstzerstörung eines Regimes, das sich nicht verändern will. Es zerfällt auf der Ebene der Wirtschaft, der Politik, sogar auf der Ebene der Machtvertikale, weil diese zersplittert.

    Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe

    Unsere Aufgabe ist es nicht, dieses Regime zu stürzen. Allein deswegen nicht, weil man am Beispiel der Ukraine sieht, wozu so ein Umsturz führt. Unsere Aufgabe ist es, in dem Moment, in dem das Regime zu bröckeln beginnt, die nötige Kraft aufzubringen, um das Land zu erhalten.

    Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe und die Errichtung einer neuen politischen Zukunft.

    Also darum, in der Krisensituation die Macht zu übernehmen?

    Ja, in gewisser Weise schon. Eine andere Möglichkeit an die Macht zu kommen, gibt es derzeit einfach nicht. Jeder Mensch, der in unserem Land lebt und kein pathologischer Heuchler oder Pateimitglied von Einiges Russland ist, begreift, dass die Wahlen einfach nur Fiktion und Betrug sind, und das seit Anfang der 90er.

    Sie wissen doch, dass man in unserem Land Nationalisten für gewöhnlich einfach wegsperrt. Haben Sie keine Angst, dass Sie und Ihre Mitstreiter sich plötzlich im Gefängnis wiederfinden?

    Habe ich nicht. Nicht weil ich glaube, dass man mich nicht einbuchten könnte, sondern weil ich einfach keine Angst davor habe, das ist alles. Wissen Sie, das ist der Unterschied zwischen mir und einem Nawalny: Nawalny war sein Leben lang Politiker, hat Geld verdient, für ihn hat der persönliche Komfort sehr großen Wert. Ich mag Komfort auch gern. Ich bin kein Eremit oder Mönch, ich trinke gern ein ordentliches Glas Bier, hab nichts gegen ein gutes Essen und reise gern. Aber ich war in meinem Leben auch in solchen Situationen, die Alexej Nawalny nicht mal vom Hörensagen kennt.

    Ich kann mir vorstellen, was mit mir passieren könnte, wenn ich ins Gefängnis oder in U-Haft komme. Glauben Sie mir, ich kenne schlimmere Situationen.
    Vielleicht wirkte es nach außen anders, aber als ich in Slawjansk war, wurde mir klar: Das Hauptquartier ist mein Leben. Wobei die Chancen zu überleben wesentlich schlechter stehen, als die Chancen zu siegen. Ich bin kein derart zurückgebliebener Abenteurer, um unerschütterlich an den Sieg zu glauben. Mir war klar, dass die Chancen nicht sehr hoch sind und dass wir im Großen und Ganzen ins Ungewisse steuern, dass man uns vielleicht helfen würde, vielleicht aber auch nicht. Im Endeffekt hat man uns halb geholfen.

    Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante

    Mir war auch klar, dass die Chancen da lebend rauszukommen für mich persönlich etwa eins zu zehn standen. Ich bin nicht wegen des Ruhms dahin gegangen. Mir ist die Öffentlichkeit bis heute unangenehm, ich mag es nicht, wenn man mich auf der Straße wiedererkennt und ein Autogramm von mir will…

    Geben Sie dann ein Autogramm?

    Inzwischen hat man mich ein bisschen vergessen, und ich kann endlich wieder mit der Metro fahren. Manch einer schaut mich jetzt genauer an und versucht das Gesicht zuzuordnen, aber von den Fernsehbildschirmen bin ich verschwunden. An den Namen Strelkow erinnert man sich vielleicht noch, aber nicht mehr an das Aussehen.

    Aber, um wieder zu ihrer Frage zurückzukommen: Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Außerdem denke ich nicht, dass man mich einbuchten würde, ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante.

    Früher haben Sie gesagt, dass Sie Wladimir Putin unterstützen. Hat sich Ihr Verhältnis zu ihm geändert?

    Sehen Sie den Schrank da in der Ecke? Hinter dem steht ein Porträt von Wladimir Putin, verstaubt. Früher hing es mal an der Wand. Es hing da bis zum Beginn des Syrien-Abenteuers.

    Putin verhält sich wie ein defätistischer Kapitulant

    Aber es hing da nicht, weil ich ein großer Putin-Anhänger bin und ihn für den besten Anführer im Land halte, sondern weil während des Kriegs die Hoffnung bestand, dass er sich wie ein Oberbefehlshaber verhalten würde, und nicht wie ein defätistischer Kapitulant. Ich war bereit, ihn als Oberbefehlshaber anzuerkennen. Aber jetzt bewegt sich Putin eins zu eins auf dem Weg von Milošević. Wenn er diesen Weg wieder verlässt, wenn wir wieder den Putin von 2014 vor uns haben und ein paar Bedingungen erfüllt sind, dann kann es gut sein, dass ich ihn wieder unterstütze.

    Welche Bedingungen?

    Als Putin 2014 den innen- und außenpolitischen Kurs scharf gewechselt hat, hätte er gleichzeitig die Kader austauschen müssen. Jegor Proswirnin kritisiert mich furchtbar dafür, aber das ist ein Zitat von Stalin, das einfach jedem im Gedächtnis ist: „Die Kader entscheiden alles!“ Wenn man die wichtigste und nützlichste Sache einem Halunken und Gauner anvertraut, wird er sicher etwas klauen, verschusseln, verkaufen.

    Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus seinem Umfeld zusammengestellt, aus Judo- und Hinterhof-Kumpels. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.

    Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus Judo- und Hinterhof-Kumpels zusammengestellt. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.

    Ich war fest davon überzeugt, dass ein Prozess der Kadererneuerung einsetzen würde, dass er mit Blick auf die neuen Aufgaben eine handlungsfähige Truppe zusammenstellen würde. Denn es ist doch unmöglich dem Westen auch nur im Politischen Paroli zu bieten, wenn die Kinder des Außenministers in Großbritannien studieren, wenn die eigenen Kinder in den Niederlanden leben, wenn Exfrau und Kinder vom Hauptzuständigen für die Ukraine in London leben. Man kann den Feind nicht bekämpfen, wenn man unter den ausführenden Kräften potentielle Spione hat. Wobei ich glaube, dass ein paar davon nicht nur potentiell sind.

    Aber das ist nicht geschehen. Später, als wir in die Konfrontation mit dem Westen getreten sind, hätten wir ein Gleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft schaffen müssen. Wenn man außenpolitische Souveränität will, braucht man wirtschaftliche Souveränität. Eine Pipeline kann nicht unabhängig sein. Man hätte entweder eine Umgestaltung der Wirtschaft beginnen müssen oder zu einer Politik zurückkehren müssen, die mit der Wirtschaft übereinstimmt.

    Denn bei uns laufen ja Politik und Wirtschaft in verschiedene Richtungen, deswegen laufen wir im Endeffekt nirgendwo hin, sondern treten auf der Stelle und verlieren auf beiden Linien.

    Aber man spricht doch von Importsubstitution?

    Die können sagen, was sie wollen. Aber dass beispielsweise Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline.

    Ich habe letztens eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten und eine Pipeline an die Tafel gemalt, über die Erdöl von Russland in den Westen fließt. Dort wird es dann verkauft und ein Teil des Geldes fließt wieder zurück – um dann sofort wieder in den Westen zurückzugelangen. Aber die Pipeline verfügt über eine gewisse Durchlässigkeit. Sagen wir, es werden 100 % Ressourcen gewonnen, aber nicht alles davon erreicht den Westen, denn eine Pipeline trägt eine gewisse Bürde. Das sind Atomwaffen, Armee, Flotte, Wissenschaft, Kultur, Sozialleistungen, Rentner und der Staatsapparat. Diese Bürde verschlingt etwa 50 % von dem, was in den Westen gelangen könnte.

    Dass Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline

    Deswegen hat der Westen ein Interesse daran, dass sich diese Bürde verringert, und auch Kudrin ist dafür, diese Bürde zu beseitigen. Nur sind das Sie und ich, das ist unsere Souveränität, unsere Unabhängigkeit, unsere Armee, das gehört uns. Derjenige, der seine eigene Armee nicht ernähren will, ernährt die fremde.

    Haben Sie mal in Betracht gezogen, der Gesamtrussischen Nationalen Front beizutreten, um Putin bei der Durchführung von Reformen zu unterstützen?

    Wenn Sie in einen Misthaufen kriechen, dann ist Ihnen doch klar, dass Sie sich schmutzig machen werden, oder? Das geht gar nicht anders. Mich widert das an, ich sehe diese ganzen Leute und mir ist klar, dass man ihnen jede beliebige Angelegenheit aufdrücken könnte. Gestern waren sie noch Kommunisten, bis 1991, dann wurden sie alle Liberale und Demokraten, später treue Staatsanhänger und Patrioten.

    Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die

    Aber ich bin kein Fähnchen im Wind und möchte mit solchen Leuten auch nicht in einem Boot sitzen. Sie können nichts außer klauen und sich den Machthabern anpassen. Wenn morgen bei uns Hitler an die Macht käme, wären sie sofort alle in der NSDAP, wenn morgen die Amerikaner bei uns landen würden, würden sie die mit Freudentränen empfangen. Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die.

    Ich versuche mit aller Kraft [meine Ansichten] zu vermitteln. Ich habe eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten, danach hat man mich überall verboten. Sogar in der Provinz. Überall gehen Anrufe meiner ehemaligen Kollegen ein und es heißt „geht nicht“. Dafür reicht die mit Feigheit und Loyalität durchtränkte Machtvertikale noch. Eine mächtige Blockade wurde um mich errichtet, selbst Erwähnungen sind verboten.

    Sogar als Herr Posner über die „Deklaration der Faschisten“ sprach, hat er nur Proswirin und Krylow erwähnt, aber nicht Strelkow. Man solle den berümten Mann vergessen, danach kann man dann irgendwas mit ihm anstellen. Nur fehlt ihnen die Zeit dafür, sie haben Zeitnot [orig. Dt.– dek]. Sie bräuchten etwa fünf Jahre.

    Und die haben sie nicht?

    Nein. Sie haben maximal zwei. Sie betreiben gerade eine Politik à la Trischkas Kaftan: Ist ein Teil löchrig geworden, schneiden sie woanders etwas weg und flicken es damit. Aber der Rock wird immer knapper, überall nur Löcher. Zwei Kriege, in denen wir zur Hälfte drin, zur Hälfte draußen sind.

    Den einen hätten wir im Handumdrehen gewinnen können, haben aber Schiss bekommen. In den zweiten sind wir eingestiegen und haben bald kapiert, dass wir den nicht gewinnen können, aber ein Bein hängt immer noch in der Falle. Unser Kontingent wächst beständig, die gesamte syrische Armee von Assad wird von uns versorgt. Es gibt keine strukturellen Reformen oder wenigstens die Einsicht, dass sie vonnöten wären. Nun hat man Kudrin aus dem Ärmel gezogen – vielleicht kann der ja Wunder bewirken? Aber das ist unmöglich.

    Lassen Sie uns nochmal zum Anfang unseres Gesprächs zurückkehren. Angenommen, Sie schaffen es, die Macht zu übernehmen, wenn das Land zu bröckeln beginnt. Was machen Sie dann mit ihren politischen Gegnern? Beispielsweise mit den Liberalen?

    Sie hätten wohl gern, dass ich Ihnen Balsam auf die Seele gieße? Sie werden natürlich alle an der Kremlmauer hängen – die Kommunisten, die Liberalen, die Jedinaja-Rossija-Parteigänger. Kleiner Scherz. Ich muss Sie enttäuschen. Das wird es aus einem einfachen Grund nicht geben: Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe.

    Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe

    Ich habe zu allen Nationen ein gutes Verhältnis, nur liebe ich die eigene am meisten. Wir müssen die Chance auf eine Zukunft haben, nicht zu humanistischen Gleichmachern  werden – ich bin grundsätzlich gegen Gleichmacherei. Ich denke, dass es ohne Unterschiede keine Entwicklung geben kann. Ich bin für die Entwicklung jeder einzelnen nationalen Kultur, aber dabei für die Einheit von Russland. Ich möchte darauf hinaus, dass das russische Volk sehr geschwächt ist, und jeder Mensch ist wertvoll.

    Natürlich ist beispielsweise Anatoli Borissowitsch Tschubais für mich nicht wertvoll, und andere Menschen von seiner Art sind für mich auch nicht wertvoll. Aber gegenüber den gewöhnlichen liberalen Weißbändchenträgern habe ich keine feindlichen Gefühle. Ich denke, wenn wir es schaffen, einen normalen Staat zu errichten, werden sie ihren Platz darin finden. Dann mögen sie in Gottes Namen glücklich und reich werden und viele Kinder kriegen.

    Lassen Sie uns zum Abschluss noch einmal über den Donbass sprechen. Vor dem Hintergrund der letzten Erklärung von Lawrow zum Verbleiben des Donbass in der Ukraine und unserer Nichtanerkennung des Donbass – bereuen Sie überhaupt nicht, was Sie getan haben?

    Nein, das tue ich nicht. Erstens ist es dumm, etwas zu bereuen, was schon getan ist. Man kann begangene Sünden bereuen als Christ, aber etwas zu bereuen, das ich aus Aufrichtigkeit getan habe, ist sinnlos.

    Ich bin davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun

    Ich bin nicht für Geld, Reichtum oder Ruhm dahin gegangen. Ich bin dahin gegangen, um der ansässigen russischen Bevölkerung zu helfen und habe das nach meinen Kräften und Möglichkeiten getan. Vielleicht habe ich nicht genug geholfen, vielleicht hätte ich mehr tun können. Aber im Großen und Ganzen bin ich davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun.

    Ich bin davon überzeugt, dass Kiew eine russische Stadt ist, und dass Russland ohne Kiew nicht Russland ist, sondern die Russische Föderation. Und die Russische Föderation ist nicht Russland, leider.

     

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  • Unterschiedliche Frequenzen

    Unterschiedliche Frequenzen

    Putin, so soll es Kanzlerin Angela Merkel kurz nach dem russischen Eingreifen auf der Krim gesagt haben, lebe „in einer anderen Welt“. Die Debatte, wie ein Dialog mit Russland zu führen ist, ob er überhaupt geführt werden kann, schwelt seitdem und spaltet zumal die deutsche Öffentlichkeit in die Lager vermeintlicher „Russland-Versteher“ und „Russland-Basher“.

    Auf Slon.ru greift Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow die Dialog-Frage nun von russischer Seite auf: Russland will mit dem Westen reden, es muss mit dem Westen reden. Erste Signale würden auch schon gesendet. Doch vor allem einen wichtigen Punkt gelte es vorab zu klären.

    Verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande – Russland und der Westen. Foto © kremlin.ru
    Verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande – Russland und der Westen. Foto © kremlin.ru

    Schon seit mehr als zwei Jahren haben Russland und der Westen Kommunikationsprobleme. Beide Seiten senden sich immerzu verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande. Die Empfangsgeräte laufen auf unterschiedlichen Frequenzen, die Entschlüsselungscodes sind verlorengegangen, man befindet sich in parallelen Informations-Universen.

    In der Anfangsphase der Konfrontation ging es noch darum, Unterschiede in der Herangehensweise zu markieren und gegenseitige Vorwürfe zu verschärfen. Es gab gar keine Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden. Heute dagegen zeigt sich auf beiden Seiten der Wunsch nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse der Entfremdung. Jetzt muss man herausfinden aus dem Lost in Translation, damit die Kommunikation irgendwie wieder im gleichen Signalsystem stattfinden kann.

    Die Vergangenheit ruhen lassen

    Moskau hat in den letzten drei Monaten seine Rhetorik ein wenig korrigiert und sendet dem Westen unzweideutige Signale: Man sei bereit, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen in Bereichen, wo die Interessen übereinstimmen – insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung und bei der Lösung des Syrienkonfliktes. Im April gab Wladimir Putin beim Direkten Draht zu verstehen, dass Russland keine weiteren außenpolitischen Abenteuer plane, und lobte Barack Obama dafür, dass dieser seine außenpolitischen Fehler in Libyen eingestehe.

    Der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew und seine Stellvertreter geben keine Interviews mehr mit Verschwörungstheorien, dass das amerikanische Außenministerium insgeheim plane, Russland Sibirien abspenstig zu machen. Im Gegenteil: Kürzlich fand eine Konferenz des russischen Verteidigungsministeriums zu internationalen Sicherheitsfragen statt, auf der Patruschew, der Leiter des FSB Bortnikow, Verteidigungsminister Schoigu und der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Gerassimow die Zusammenarbeit Russlands mit den USA bei der Bekämpfung des IS in Syrien als ein Beispiel anführten für das mögliche und notwendige russisch-amerikanische Zusammenwirken auch in anderen Bereichen. De facto gab man so zu verstehen, dass Moskau an einer baldigen vollständigen Wiederherstellung der Zusammenarbeit mit Washington interessiert sei.

    Als ersten bedeutenden Schritt hierfür sieht Moskau den Beginn der in Genf beschlossenen Kooperation: Russische und amerikanische Militärs werden bei der Überwachung der Waffenruhe und beim Trennen der kämpfenden Parteien in Syrien zusammenarbeiten. Und gerade eine solche direkte militärische Zusammenarbeit, die nach der Krim von den Amerikanern aufgekündigt worden war, hat die russische Seite nachdrücklich verfolgt. Warum, versteht sich von selbst: Sie ist ein Signal, dass Krim und Donbass der Vergangenheit angehören.

    Vom Bestreben des Kreml, „den Ton in der Kommunikation mit der Außenwelt zu ändern“ zeugt auch das symbolträchtige Konzert von Gergijew und Roldugin: in den Ruinen des de facto von Russland befreiten Palmyra.

    Doch sobald es um die inhaltliche Seite der Botschaft an die Welt geht, kommt es zu schweren Ausfällen in der Kommunikationsstrategie Moskaus: Der Sinn der Mitteilung erreicht seinen Adressaten nicht.

    Schwammige Ziele

    Moskau versucht, eine klare Formulierung seiner politischen Ziele zu vermeiden. Sicher ist nur, dass Russlands Hauptinteresse nicht in „Kriegstänzen“ in Syrien und nicht in der „Rettung von Soldat Assad“ liegt. Dies ist nur ein Werkzeug, das ausgetauscht und in etwas wirklich Wichtiges umgewandelt werden muss, etwas, wovon die Zukunft des Landes und der Machthaber abhängt.

    Das soll offensichtlich eine Formel für ein neues, stabiles Sicherheitsgleichgewicht in Europa sein. Und gleichzeitig ein neues Paradigma der Beziehungen mit dem Westen, das einerseits Konfrontation und Wettrüsten ausschließt, andererseits jegliche Einflussnahme auf die russische Innenpolitik und die politische Einstellung der Bürger verhindert.

    Darum ist aus dem russischen Außenministerium auch zu vernehmen, dass es in den Beziehungen mit dem Westen kein business as usual geben könne, wobei man auch angebliche Forderungen des Westens im Sinn hat, „dass wir allen etwas schulden würden, und vor allem so werden müssten wie sie“, beispielsweise in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe.

    Den Westen interessiert vor allem, dass Russland  bestehende Staatsgrenzen respektiert

    In Wirklichkeit interessiert den Westen nur, dass Russland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt, das heißt vor allem, dass es bestehende Staatsgrenzen respektiert. Russland seinerseits möchte eine Form der Zusammenarbeit mit dem Westen, die keine weitere Annäherung oder gegenseitige Integration vorsieht. Genauer gesagt eine Form, die eine Integration Russlands in Europa ausschließt, aber „eine Integration des Westens in Russland“ zulässt, sprich die Übernahme des russischen Systems „traditioneller Werte“.

    Wenn das ein Aufruf zu einem „neuen ideologischen Kampf“, zu russischem Messianismus und russischer Einzigartigkeit sein soll, dann ist es dumm. Wenn es die legitime Forderung nach „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ sein soll, warum wird sie dann auf so eine verdrehte Art formuliert?

    Das neue Jalta ist gestrichen

    Ein weiteres schlecht artikuliertes Ziel der russischen Politik ist, den Westen zu nötigen, russische Lösungswege wichtiger regionaler Probleme zu akzeptieren. Gemeint ist hier offenbar, dass es unzulässig sei, wenn der Westen beim Sturz diktatorischer Regime einseitig eingreife oder auch die Opposition während der sogenannten Farbrevolutionen durch Waffen unterstütze.

    Bei der Konferenz des Verteidigungsministeriums gaben die russischen Sprecher zu verstehen, dass die russisch-amerikanische Zusammenarbeit bei der globalen Sicherheit nur dann erfolgreich sein kann, wenn Washington die russischen Rezepte der Konfliktregulierung, also die russischen Bedingungen der Zusammenarbeit, annimmt. Alle anderen Bedingungen werden von Vornherein als „antirussisch“ oder gar „russophob“ abgelehnt.

    PATHETISCHE RHETORIK VS. PRAGMATISCHE ÜBEREINKÜNFTE

    Sicherlich ist dieses Ziel Moskaus nicht völlig unrealistisch. In letzter Zeit hat sich die Herangehensweise des Westens, und vor allem der USA, in Syrien, Libyen und Ägypten sichtlich der russischen angenähert. Doch daraus irgendwelche langfristigen Abmachungen oder Tauschgeschäfte bei anderen Themen zu machen, ist nahezu unmöglich. Hier folgt der Westen einer einfachen Logik: Warum sollte man Russland für etwas bezahlen, das es aus Eigeninteresse tut?

    Deswegen war der „Abtausch“ der Ukraine gegen Syrien seit jeher nicht besonders realistisch. Und die ungeschickten und provokanten Erklärungen aus Moskau, die westlichen Länder würden internationale Terroristen unterstützen und sie zur Destabilisierung unerwünschter Regime benutzen, lassen jegliche Lust auf einen vertrauensvollen Dialog vergehen. Hier muss man sich entscheiden, ob man sich in pathetischer Rhetorik übt, die auf das innere Auditorium abzielt, oder ob man pragmatische Übereinkünfte erreichen möchte.

    Russlands wichtigstes strategisches Ziel ist es letztlich, eine Erweiterung der NATO und der EU zu verhindern, insbesondere wenn diese Erweiterung Staaten der ehemaligen Sowjetunion betrifft. Aber nicht nur – wie die Warnschüsse in Richtung Schweden, Finnland und Montenegro gezeigt haben.

    In seiner Rede bei der Militärparade am Tag des Sieges erklärte Wladimir Putin, man sei bereit, an der Erschaffung eines „modernen blockfreien Systems der internationalen Sicherheit“ zu arbeiten. Auch zuvor erklangen die Thesen vom Übergang zur „blockfreien Sicherheitsarchitektur“ und vom Prinzip der „unteilbaren Sicherheit“ mehrfach in den Reden und Interviews von Sergej Lawrow.

    DAS JALTA-PRINZIP

    Aber es bleibt völlig unklar: Was genau wollte Moskau in diese Richtung vorschlagen, abgesehen von der totgeborenen Idee eines Vertrages über europäische Sicherheit? Natürlich kann es nicht um die freiwillige Auflösung der NATO oder der EU gehen. „Die NATO ist Realität“, gestand Sergej Lawrow ein. Aber Moskau hätte gern, dass sie bleibt, wo sie ist, und sich niemals mehr irgendwohin bewegt. Dasselbe gilt für die Erweiterung der EU.

    Es gibt nur ein Problem dabei, diese Auffassung in einem internationalen Abkommen zu kodifizieren: Weder die NATO noch die EU oder Russland können für andere Staaten entscheiden, wie sie für ihre Sicherheit sorgen und wo sie sich wirtschaftlich integrieren. Das wäre das Jalta-Prinzip, und darauf lässt sich keiner mehr ein. Das hat man anscheinend auch in Moskau begriffen und aufgehört, vom „neuen Jalta“ zu sprechen, das die Resultate des Kalten Krieges neu festlegen würde.   

    Die Lehre vom Zerfall der Sowjetunion

    Es versteht sich von selbst, dass unabhängige Staaten frei über ihre Neutralität entscheiden dürfen. Andere Staaten und ihre militärischen Bündnisse müssen diese dann respektieren. So lautet das Prinzip des Vertrags von Wien 1955 und der Schlussakte von Helsinki. Doch das setzt hundertprozentige Garantien von Russland voraus. Und deren Glaubwürdigkeit liegt seit der Eingliederung der Krim fast bei Null.

    Für den Westen besteht überhaupt keine Notwendigkeit, irgendetwas zu unterzeichnen, dass man von einer Erweiterung absehe – alle Entscheidungen diesbezüglich wurden längst getroffen. Keine einzige der postsowjetischen Republiken hat ernsthafte Perspektiven auf eine NATO-Mitgliedschaft (die geplante Erweiterung bezieht sich nur auf die Balkanstaaten).

    Wenn Russland also irgendwelche verpflichtenden Übereinkünfte möchte, die die militärische Aktivität der NATO oder die Expansion der EU regeln, dann muss es dafür in Verhandlungen treten und eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen machen. Und wie die aussehen sollten ist, insbesondere im militärischen Bereich, längst bekannt.

    Verhandlungen würden die Diskussion um die Ukraine wieder neu aufrollen

    Doch neuen ernsthaften Verhandlungen mit dem Westen weicht Russland geflissentlich aus. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Verhandlungen setzen voraus, dass man sich auf eine gemeinsame Verständnisebene eines Problems und seiner Ursachen begibt, dass man Bedenken und Vorbehalte der anderen Partei berücksichtigt und das eigene Verhalten entsprechend an ausgehandelte Kompromisse anpasst. Das würde unweigerlich zurück zur Diskussion führen, weshalb sich Russland im Jahr 2014 in die Ereignisse in der Ukraine eingemischt hat, und darüber, welche Verantwortung es für die Eingliederung der Krim trägt. Genau das versucht Moskau mit allen Mitteln zu vermeiden.

    Verhandlungen über Rüstungskontrolle oder Kompromisse betrachtet der Kreml als einen Rückfall in Gorbatschows „neues außenpolitisches Denken“, das angeblich zur „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ geführt hatte. Dieser Logik folgend wären Verhandlungen über eine Normalisierung und Erneuerung der Zusammenarbeit – zum Preis einer notwendigen Korrektur des eigenen Vorgehens, etwa im Donbass – gleichbedeutend mit dem Weg in den Abgrund.

    Stattdessen inszeniert man ein Theaterstück über die alleinige Schuld des Westens an der bestehenden Krise, über die von Gott weiß woher aufgetauchten Sanktionen und über die Verlagerung von NATO-Militärstruktur in Richtung russischer Grenze. Gleichzeitig werden scharfe, an Fouls grenzende Aktionen gegen Kriegsschiffe und Flugzeuge der Nato unternommen. Sie sollen der NATO die Unzufriedenheit Russlands signalisieren und sie dazu bewegen, quasi ganz von selbst Russlands Bedingungen und Bedenken anzuerkennen.

    Moskau setzt auf Unberechenbarkeit, um die eigene Position zu stärken

    Moskau riskiert die Eskalation: Mittels der Demonstration seiner Unberechenbarkeit und mittels jäher Entscheidungen über ein militärisches Eingreifen möchte es seine zukünftige Verhandlungsposition stärken. Es möchte das Gefeilsche mit dem Westen quasi in einer Zeit der Post-Ukraine beginnen, dabei aber die Ukraine selbst ausklammern, liege doch die „Ursache für die Krise im Agieren von Kiew“ – das also seine Position anzupassen habe, und zwar durch Erfüllen der Bedingungen von Minsk-2.

    Die Machtkomponente „Unberechenbarkeit in der Außenpolitik macht beim Westen allerdings nicht den nötigen Eindruck. Der sieht in Moskaus „pubertärem Verhalten“ viel eher eine Methode, Schwäche und Unsicherheit zu kaschieren. „Den Troll füttern“ möchte keiner. Im Westen gibt es zurzeit eine lebhafte Diskussion darüber, wie man mit Russland am besten kommunizieren soll.

    Man ist sich dessen bewusst, was Putin möchte: Nämlich, dass der Westen Russland in Ruhe lässt und sich nicht in innere Angelegenheiten einmischt. Aber gleichzeitig soll er – und zwar verpflichtend – bei allen Fragen Rücksprache halten, die Russlands Interessen betreffen.

    Man weiß dort auch, dass nur eine Person in der Russischen Föderation den Inhalt dieser Interessen bestimmt, und man ist bereit mit ihr zu verhandeln. Das Problem besteht offenbar darin, dass Moskau inhaltlich nicht vorbereitet ist auf ein konstruktives Gespräch – wir wissen nicht genau, was wir wollen – und in der psychologisch motivierten Angst, sich auf Verhandlungen einzulassen. Die versteht man als Zeichen der Schwäche.

    Doch früher oder später wird man mit dem Westen Gespräche über die Regeln des Zusammenlebens führen müssen. Die Lehre aus der Sowjetunion besteht darin, es zu tun, bevor es zu spät ist.

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  • „Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“

    „Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“

    Alexander Bastrykin, Chef des einflussreichen Ermittlungskomitees und ein enger Vertrauter Wladimir Putins, hat Anfang der Woche heftige Debatten ausgelöst.

    In einem Artikel im – politisch weitgehend unabhängigen – Kommersant-Wlast erklärt Bastrykin, Russland sei Opfer eines hybriden Krieges des Westens, und schlägt radikale Gegenmaßnahmen vor: Umfangreiche Gesetzesverschärfungen, die zugleich auch den Terrorismus und extremistische Bedrohungen im Inneren Russlands eindämmen sollen. Viele Kommentatoren halten Bastrykins Lagebeschreibung für fragwürdig und merken an, dass die meisten dieser Gesetze kaum verfassungskonform wären und verheerende Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit hätten.

    Wir veröffentlichen den Text aus doppeltem Grund:

    Zum einen wird an ihm deutlich, wie der Begriff des hybriden Krieges derzeit von beiden Seiten verwendet wird, und zwar fast vollkommen spiegelbildlich – der Westen klagt Russland der hybriden Kriegsführung an, Russland seinerseits den Westen. (Über die Problematik des Begriffes „hybrider Krieg“ mehr in diesen Artikeln von Kofman, Galeotti, Siegert).

    Zum anderen gewährt der Text aber auch einen seltenen Einblick in die Vorstellungswelt eines Silowik, also eines Vertreters des staatlichen Machtapparats: Er malt die These des von allen Seiten bedrohten Russlands in grellen Farben aus und stellt Lösungsvorschläge in den Raum, die in ihrer Repressivität bisher ohnegleichen sind.

    Bastrykins Artikel hat in den vergangenen Tagen hohe Wellen geschlagen: Unabhängige Medien nehmen genauso auf ihn Bezug wie regierungsnahe Quellen, in den sozialen Netzwerken wird der Text heiß diskutiert. Die Fragen stehen im Raum: Steht der Text wirklich beispielhaft für Ideen der russischen Machtelite? Ist er gar eine programmatische Ansage, die in reale Politik umgesetzt werden soll? Oder handelt es sich eher um die – vielleicht bewusst überzeichnete – Darstellung einer persönlichen Meinung? Unsere Presseschau widmet sich ganz diesem Thema und fasst die Reaktionen mit übersetzten Original-Ausschnitten zusammen.

    Im Jahr 2015 gab es in der Russischen Föderation negative Entwicklungen in Bezug auf extremistische und terroristische Verbrechen.

    Es wurden 1329 Straftaten mit extremistischem Hintergrund registriert, das sind 28,5 % mehr als im Vorjahr (1043). In 56 Föderationssubjekten ist die Zahl von Straftaten dieser Art nachweislich gestiegen. Dieser Anstieg lässt sich sowohl auf äußere (geopolitische) als auch auf innenpolitische Faktoren zurückführen.

    Seit etwa zehn Jahren befindet sich Russland, wie viele andere Staaten auch, in einem sogenannten hybriden Krieg. Dieser Krieg wird auf verschiedenen Ebenen geführt – auf politischer, ökonomischer, medialer sowie auf juristischer Ebene. Wobei er in den vergangenen Jahren eine neue Qualität erreicht hat, nämlich die einer direkten Konfrontation.

    Zu den Mitteln ökonomischer Einflussnahme zählen vor allem Handels- und Finanzsanktionen, Dumpingschlachten auf dem Ölmarkt und Währungskriege. Solche Maßnahmen führten zu einer scharfen Abwertung des Rubels, zu sinkenden Realeinkommen in der Bevölkerung, einem Einbruch der industriellen Produktion und zur wirtschaftlichen Rezession.

    Leider werden das internationale Recht und die darauf gründende Justiz immer öfter zum Instrument dieses Krieges.

    Die USA haben durch ihre Unterstützung von radikal-islamistischen und anderen radikalen ideologischen Strömungen die Lage im Nahen Osten vollständig destabilisiert

    Markante Beispiele dafür sind die Entscheidungen im Fall YUKOS1, die Entscheidung im Mordfall des FSB-Offiziers Litwinenko, der Abschlussbericht des niederländischen Sicherheitsrates zum Absturz des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 sowie die Prüfung durch den amerikanischen Geheimdienst, ob die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften an Russland und Katar 2018 und 2022 rechtmäßig war – um nur einige zu nennen.

    Aber die verheerendste Wirkung hat der Informationskrieg. Die USA haben durch ihre Unterstützung von radikal-islamistischen und anderen radikalen ideologischen Strömungen die Lage im Nahen Osten vollständig destabilisiert. Die Auswirkungen von künstlich herbeigeführten Aufständen, Revolutionen und Krisen in dieser Region bekommt Europa derzeit zu spüren. Es wurde von Flüchtlingsmassen überrannt, die einem grundlegend anderen soziokulturellen Hintergrund entstammen und die ansässige Bevölkerung verdrängen.

    Folgen dieser Politik sind außerdem terroristische Vereinigungen wie der Islamische Staat, die Al-Nusra-Front, Al-Qaida und andere Organisationen, die am bewaffneten Konflikt in Syrien beteiligt sind. Personellen Nachschub werben diese Organisationen weltweit an, auch in Russland. Mehr als tausend russische Staatsbürger sind nach Syrien in den bewaffneten Kampf gezogen.

    Ein bewährtes Mittel im Informationskrieg ist die bis zur Radikalisierung reichende Manipulation einer Ideologie, mit der sich eine bestimmte soziale Gruppe identifiziert. Es ist offensichtlich: Das religiöse, ethnokulturelle und konfessionelle Wertesystem ist jene Schicht des gesellschaftlichen Daseins, die die Wesensmerkmale jeder Nation (jedes Volkes) und ähnlicher sozialer Gruppen bestimmt – es dient der Selbstidentifikation. Viele dieser Wertvorstellungen wurden über Jahrhunderte von Generation zu Generation entwickelt, bewahrt und tradiert. Deswegen möchte auch keine Nation auf ihre Identität verzichten. Sie ist wohl die einzige wertebasierte Gemeinsamkeit, die sie mit der Waffe in der Hand zu verteidigen bereit ist, bis zum bitteren Ende, wie man so sagt.

    Im vollen Bewusstsein darüber, welch zerstörerische Kraft Konflikte entfalten, die auf Hass zwischen Nationen (oder Ethnien) gründen, haben die USA gezielt auf den Faktor Information gesetzt. Aus heutiger Sicht wird Folgendes klar: Die Unterminierung und Sabotage des ideologischen Fundaments der UdSSR, das gegründet war auf dem Prinzip der Brüderlichkeit der Völker, wurde ebenfalls von außen veranlasst und basierte darauf, Zwist zwischen den Nationen (der UdSSR) zu schüren.

    Heute ist völlig offensichtlich, dass die Konfrontationen in den 90er Jahren bereits Elemente eines beginnenden, damals noch verdeckten Informationskrieges waren

    Es ist kein Zufall, dass Anfang der 90er Jahre praktisch zeitgleich so viele zwischenethnische Konflikte hochkochen: um Bergkarabach, um Transnistrien, zwischen Georgien und Abchasien, zwischen Osseten und Inguschen.

    Zur selben Zeit gibt es die ersten Massendemonstrationen von nationalistisch gesinnten Bürgern in Kiew. Zusätzlich wurde das Staatssystem durch antisowjetische Propaganda unterminiert sowie durch die Finanzierung der politischen Opposition in Litauen, Lettland, Estland, Georgien und weiteren Ländern.

    Natürlich wurden diese Ereignisse damals von der jeweiligen Bevölkerung als lokale Konflikte aufgefasst. Doch heute ist völlig offensichtlich, dass all diese Konfrontationen Elemente eines beginnenden, damals noch verdeckten Informationskrieges waren.

    Es besteht kein Zweifel, dass diese informationsideologischen „Waffen“ auch weiterhin zur Anwendung kommen werden. Davon zeugen die gestiegenen Ausgaben im US-amerikanischen Staatshaushalt für Programme zur sogenannten Stärkung demokratischer Institutionen in an Russland grenzenden und zentralasiatischen Staaten. Der wahre Zweck dieser Mittel geht aus ihrer Bezeichnung im Haushalt hervor: „Gegenmaßnahmen gegen die russische Aggression durch Public Diplomacy und Hilfsprogramme sowie Schaffung einer stabilen Regierung in Europa.“2

    Laut Haushaltsplan sind 2017 etwa 4,3 Milliarden Dollar für solche Ausgaben vorgesehen. Davon fließt etwa eine Milliarde in Programme der sogenannten Korruptionsbekämpfung und in die Förderung der demokratischen Gesellschaften in Russlands Nachbarstaaten.

    Es ist höchste Zeit, diesem Informationskrieg einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Es braucht eine harte, adäquate und symmetrische Antwort

    Schon früher hatten sich verschiedenste öffentliche Organisationen Finanzmittel aus diesen Programmen zu eigen gemacht – unter dem Deckmantel der Förderung von Bildung, der Entwicklung der Zivilgesellschaft oder anderer scheinbar guter Absichten. Dadurch wurden im Ergebnis antirussische Stimmungen in den an unser Land grenzenden Staaten angeheizt, eine proamerikanische und prowestliche, nicht-systemische Opposition in Russland herausgebildet und interkonfessioneller wie politischer Extremismus in unserem Land verbreitet.

    Die aktuellen Ereignisse in Bergkarabach zeugen vom wiederholten Versuch jener russlandfeindlichen Kräfte, den Frieden zwischen dem armenischen und dem aserbaidschanischen Volk ins Wanken zu bringen und einen weiteren Kriegsherd an der Grenze Russlands zu schaffen.

    Ich denke, es ist höchste Zeit, diesem Informationskrieg einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Es braucht eine harte, adäquate und symmetrische Antwort. Insbesondere in Anbetracht der bevorstehenden Wahlen und des möglichen Risikos, dass weitere Kräfte aktiviert werden, um die politische Lage zu destabilisieren. Schluss mit dem Spiel der Scheindemokratie, bei dem man pseudoliberalen Werten folgt! Denn Demokratie oder Volksherrschaft ist nichts anderes als die Macht des Volkes selbst, die in seinem eigenen Interesse umgesetzt wird. Das Mittel zur Verwirklichung dieser Interessen liegt im Allgemeinwohl und nicht in der absoluten Freiheit und Willkür einiger weniger Mitglieder der Gesellschaft.

    Am Wichtigsten ist es, ein Konzept für eine ideologische Staatspolitik zu entwickeln. Grundelement sollte dabei die nationale Idee sein, sie allein vermag das multinationale russische Volk zu einen

    Zur Bekämpfung von Extremismus können folgende Maßnahmen vorgeschlagen werden:

    Am Wichtigsten ist es, ein Konzept für eine ideologische Staatspolitik zu entwickeln. Grundelement sollte dabei die nationale Idee sein, sie allein vermag das multinationale russische Volk zu einen. Dieses Konzept sollte konkrete lang- und mittelfristige Maßnahmen vorsehen, die die ideologische Bildung und Erziehung unserer heranwachsenden Generation betreffen. Gerade die bewusste Widerstandsfähigkeit gegenüber radikalen religiösen und anderen Ideologien würde jenes Fundament schwächen, auf dem die derzeitigen extremistischen Ideologien gedeihen. Mit einem derartigen Schutz wäre auch die großzügigste Finanzierung einer Destabilisierung der Lage in Russland wirkungslos.

    Außerdem muss unbedingt beachtet werden, dass terroristische Gruppierungen gerade Jugendliche als eine Art natürliche Reserve ansehen. Daher müssen wir unbedingt die Initiative ergreifen und die jungen Menschen aus dieser Risikogruppe einbeziehen, um Gegenmaßnahmen zum bewaffneten Extremismus zu erarbeiten und umzusetzen.

    Es wäre sinnvoll, mit Hilfe von Aufsichts- und Kontrollorganen eine breitangelegte und detaillierte verfassungsrechtliche Überprüfung aller religiösen, nationalkulturellen und Jugendorganisationen vorzunehmen, bei denen Anlass zum Verdacht besteht, dass sie verbotene extremistische Tätigkeiten ausüben.

    Ausgehend von den im Nordkaukasus gesammelten Erfahrungen, muss eine konkrete und höchst zielgerichtete Präventionsarbeit mit Vertretern aus informellen Jugendvereinigungen organisiert werden. Ziel des Ganzen ist es, durch spezielle Maßnahmen an Informationen über negative Entwicklungen unter Jugendlichen heranzukommen sowie Ideologen und Führer radikaler Organisationen zu ermitteln, die versuchen, junge Menschen in extremistische Aktivitäten hineinzuziehen.

    Unterstützenswert sind auch positive Erfahrungen wie die in der Republik Inguschetien. Hier ist ein militärpatriotischer Verein gegründet worden: Er bringt Kinder von Ermittlungsbehörden-Mitarbeitern, die im Dienst ums Lebens gekommen sind, in Kontakt mit Kindern ehemaliger Mitglieder bewaffneter Untergrundorganisationen. Dies ermöglicht ihnen eine Annäherung und schafft eine Atmosphäre gegenseitigen Verständnisses.

    Wir müssen festlegen, in welchem Maß in Russland das globale Netzwerk des Internets zensiert werden soll. In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen anderer Staaten interessant, die sich den USA und deren Verbündeten entgegenstellen

    Das hier vorgeschlagene Konzept betrachtet es als angebracht, festzulegen, in welchem Maß in Russland das globale Netzwerk des Internets zensiert werden soll. Dieses Problem verursacht ja derzeit hitzige Debatten dadurch, dass es die Verteidiger der Informationsfreiheit  auf den Plan gerufen hat.

    In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen anderer Staaten interessant, die sich den USA und deren Verbündeten entgegenstellen. Angesichts des beispiellosen medialen Drucks sind sie dazu übergegangen, die ausländische Presse einzuschränken, um den nationalen Informationsraum zu schützen. So hat beispielsweise das chinesische Ministerium für Industrie und Informatik zum 10. März 2016 ein Verbot von elektronischen Medien eingeführt, die vollständig oder teilweise im Besitz von im Ausland lebenden Personen sind. Solche Medien können keine Informationen mehr im Internet verbreiten, sondern bestenfalls im Printbereich. Chinesische Medien dürfen von nun an nur noch mit ausländischen Online-Medien zusammenarbeiten, wenn sie dafür eine Erlaubnis des entsprechenden Ministeriums haben. Die Leitung nationaler Medien ist chinesischen Staatsbürgern vorbehalten. Voraussetzung ist dabei, dass sich die Server von Online-Medien in der Volksrepublik befinden.

    Es ist durchaus vorstellbar, diese Erfahrungen in vernünftigem Maße auch in Russland umzusetzen.

    Internet-Provider müssen im notwendigen Umfang einheitliche Datenschutzregeln für Kunden und User ausarbeiten – für den Fall, dass derartige Auskünfte bei der Untersuchung von Gesetzesübertretungen im Bereich der IT-Sicherheit angefordert werden.

    An öffentlichen Orten mit Zugang zum World Wide Web (Bibliotheken, Schulen und andere Bildungseinrichtungen) müssen Webfilter eingebaut werden, die Websites mit extremistischen Inhalten blockieren.

    Migrationsbewegungen müssen besonders aufmerksam verfolgt werden. Gerade Migranten werden oft rekrutiert und radikalisiert

    Außerdem wäre es angebracht, ein außergerichtliches (administratives) Verfahren einzuführen, demzufolge extremistische Materialien auf eine landesweite Liste gesetzt werden. Auch müssen Domain-Namen von Websites blockiert werden können, wenn sie extremistische und radikal-nationalistische Informationen verbreiten. Falls sie den Extremismusvorwurf für nicht gerechtfertigt halten, können Informationseigner sich an die zuständigen staatlichen Organe wenden und vor Gericht ihre Unschuld beweisen.

    Mitunter rekrutieren Terrororganisationen ihren Nachwuchs im Netz. Um diese rechtswidrigen Handlungen bekämpfen zu können, muss das Spektrum strafrechtlicher Maßnahmen erweitert werden. Hierfür ist zu prüfen, wie der Besitz, die Sammlung oder das Herunterladen solchen Materials strafrechtlich zu ahnden ist.

    Migrationsbewegungen müssen besonders aufmerksam verfolgt werden. Gerade Migranten werden oft rekrutiert und radikalisiert. Viele von ihnen befinden sich trotz abgelaufener Aufenthaltserlaubnis in Russland und verschwinden so aus dem Blickfeld der Ermittlungsbehörden. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Fragen des Aufenthalts ausländischer Staatsbürger und Staatenloser auf dem Gebiet der Russischen Föderation regeln, müssen unbedingt überprüft werden. Basierend auf den Ergebnissen müssen Ergänzungen zur Verbesserung der Gesetzeslage erfolgen.

    Spezielle Charakteristika  extremistischer Tätigkeit haben sich im Föderationskreis Krim herausgebildet. Dort wird versucht, eine antirussische Stimmung zu schaffen

    Spezielle Charakteristika extremistischer Tätigkeit haben sich im Föderationskreis Krim herausgebildet. Dort wird versucht, eine antirussische Stimmung zu schaffen, indem Informationen über geschichtliche Tatsachen verfälscht und aktuelle Geschehnisse verzerrt dargestellt werden. So wird versucht, die Ergebnisse des Referendums über den Beitritt der Krim zu Russland in Zweifel zu ziehen. Dabei ist dieser Akt rechtlicher Willensbekundung der gesamten Krim-Bevölkerung zu einem unveräußerlichen Teil des russländischen Konstitutionalismus geworden. Im Hinblick auf den Rang, den dieser Akt in der Wertehierarchie von Staat und Gesellschaft in Russland einnimmt, muss ihm zweifellos besonderer rechtlicher Schutz zuteilwerden. Dazu gehören auch strafrechtliche Mittel.

    Hier ist anzumerken, dass es völlig üblich ist, das Leugnen oder die Verfälschung historischer Ereignisse, die von besonderer Bedeutung für den Staat und die Gesellschaft sind, unter Strafe zu stellen. So ist zum Beispiel in vielen Ländern der Welt, darunter auch in Russland, das Verbreiten faschistischer Propaganda strafbar. In Frankreich und auch in einer Reihe anderer Staaten steht mittlerweile das Leugnen des Völkermords an den Armeniern unter Strafe. In Israel steht das Leugnen des Holocaust unter Strafe.

    In Anbetracht dieser Ausführungen scheint es notwendig, den im föderalen Gesetz „Zur Bekämpfung extremistischer Tätigkeiten“ definierten Extremismusbegriff so zu erweitern, dass er auch ein Phänomen wie das Leugnen der Ergebnisse eines landesweiten Referendums umfasst. Auch die gezielte Verfälschung der Geschichte unseres Staates muss entschieden unterbunden werden. In diesem Zusammenhang könnte auch Artikel 280 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (öffentliches Anstiften zu extremistischen Handlungen) erweitert werden. Und zwar um ein Definitionsmerkmal, das ein Anstiften zu extremistischen Handlungen auch dann erkennt, wenn es in Zusammenhang mit verfälschten Informationen zu geschichtlichen Tatsachen und Ereignissen steht.

    Außerdem muss die Sozialgesetzgebung dahingehend überprüft werden, ob nahe Angehörige von Personen, die in irgendeiner Weise an Terrorismus beteiligt sind, im Fall des Todes der sie versorgenden Person Renten oder andere finanzielle Leistungen erhalten sollen. Eine Person, die sich zur Ausführung derartiger Verbrechen entschließt, muss sich darüber im Klaren sein, dass sie im Fall ihres Todes nicht nur in einem namenlosen Grab beerdigt wird, sondern dass sie damit auch ihre nahen Angehörigen um die finanzielle staatliche Unterstützung bringt.

    Eine weitere Möglichkeit des effektiven Kampfes gegen Extremismus, Terrorismus und andere kriminelle Gefahren stellt die strafrechtliche Konfiszierung von Eigentum dar.

    Entsprechende Gesetzesvorschläge sind bekanntlich in Vorbereitung und müssen schnellstmöglich verabschiedet werden. Leider hat sich dieser Prozess unnötig verzögert.

    Genauso wichtig ist es, das Rechtssystem für die internationale Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden und anderen staatlichen Organen auszubauen, denen die Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus obliegt.


    1.Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte das Den Haager Bezirksgericht die vom Schiedsgericht verfügte Strafzahlung von 50 Milliarden Dollar an ehemalige YUKOS-Aktionäre noch nicht aufgehoben. Dieses Urteil ist erst am 20. April gefallen. Eine weitere Runde in diesem Rechtsstreit ist zu erwarten.
    2. gemeint ist der Punkt: Countering Russian aggression through public diplomacy and foreign assistance programs, and building the resilience of governments and economies in Europe, Eurasia, and Central Asia in http://www.state.gov/r/pa/prs/ps/2016/02/252213.htm

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