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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Vom Osten lernen

    Vom Osten lernen

    Schwere Rezession, hohe Inflationsrate und eine starke Abwertung des Rubels: Die russische Wirtschaft ist auf Talfahrt. Russland, das über knapp 17 Prozent der weltweiten Gas- und 5,5 Prozent der Ölreserven verfügt, ist zu stark abhängig von Rohstoffexporten und zeigt strukturelle Schwächen. Seit dem Krieg in der Ukraine tun außerdem die westlichen Sanktionen ihr Übriges.

    Dabei hatte Putin, gemeinsam mit dem damaligen Wirtschaftsminister Alexej Kudrin, vor knapp einem Jahrzehnt vorgesorgt: Staatsfonds, gespeist aus Einnahmen der Energieexporte, wurden eingerichtet. Hintergrund war damals auch die Angst, durch stetige Verschuldung immer weiter in die Abhängigkeit von Oligarchen und globalen Investoren zu geraten. Nun gibt es bereits den Ministeriumsvorschlag, an diese Reserven zu gehen und einen der Fonds im kommenden Jahr aufzulösen.

    In dieser Situation rät Wirtschaftsexperte Wladislaw Inosemzew in seinem Artikel auf dem unabhängigen Portal snob.ru, von China zu lernen: In den 1980er und vor allem 1990er Jahren hatte die sozialistische Volksrepublik den privatwirtschaftlichen Sektor freigegeben und den staatlichen strikt von ihm getrennt. So wurden die Weichen für einen gewaltigen Entwicklungssprung gestellt.

    Trotz der unermüdlichen Erklärungen russischer Beamter bleibt die wirtschaftliche Situation in Russland äußerst angespannt: Eine Rückkehr zum Wachstum ist bislang nicht absehbar; sogar die erfolgreichsten Unternehmer bezeichnen das Business-Klima als „äußerst feindlich“; Wirtschaftsreformen werden zumindest dieses Jahr nicht mehr in Gang gebracht; die Spannungen zwischen Russland und der übrigen Welt nehmen nicht ab. Das Haushaltsjahr wird mit einem Defizit abgeschlossen, und die bestehenden Rücklagen werden in anderthalb bis zwei Jahren erschöpft sein, vorausgesetzt, die Rohstoffpreise fallen nicht wieder.

    Keine Lösung in Sicht – und so vergeht die Zeit

    Es ist allgemein bekannt, dass heute zwei Gruppen von Ökonomen um den Einfluss auf den Präsidenten konkurrieren. Die einen setzen auf Liberalisierung, die anderen wollen die Rolle des Staates stärken, unter anderem durch zusätzliche Geldemission.

    In einigen Fragen ähneln sich die Positionen der Kontrahenten, doch es gibt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Der Präsident schwankt, da ihm klar ist, dass beide Varianten erhebliche Risiken bergen. Und so vergeht die Zeit.

    Seit dem Beginn der Krise 2008 – für das Putinsche System in gewisser Hinsicht der erste Warnschuss – sind zehn Jahre vergangen. Aber seitdem ist das Land praktisch auf der Stelle geblieben, insbesondere, wenn man seine „Errungenschaften“ mit dem vergleicht, was in China und Singapur, in Dubai und Riad erreicht worden ist.

    In einer solchen Situation kann man, denke ich, auch einmal sehr ungewöhnliche Vorschläge machen. Einer davon läuft auf etwas hinaus, das sicherlich umgehend mit der Bezeichnung „wirtschaftliche Opritschnina“ versehen würde: die formelle Aufteilung der Volkswirtschaft in einen staatlichen und einen privaten Sektor.

    Trennung der Wirtschaft in einen staatlichen und einen privaten Sektor – „staatliche Opritschnina“?

    Eine kurze Beschreibung dieses Vorschlags sollte meines Erachtens so beginnen: Es ist gar nicht einmal der übermäßig große staatliche Anteil an den Aktiva, der ein ernsthaftes Problem für Russland darstellt, sondern die Verschwommenheit der Grenzen dieses staatlichen Sektors. Dies führt dazu, dass sich die Interessen der Unternehmen und des Staates ständig überkreuzen. Und der Schutz der Staatsinteressen läuft darauf hinaus, dass die Unternehmer in die Enge getrieben werden. Dabei erzielt die Regierung den Großteil der Einnahmen weder durch die mittelständischen oder kleinen Unternehmen noch durch die Besteuerung von Bürgern, sondern aus der Tätigkeit der Großunternehmen oder aus Steuern auf Export und Import. Deswegen besteht der Vorschlag im Wesentlichen darin, die Großunternehmen weiter zusammenzuführen (obwohl man hier einwenden könnte – geht es noch weiter?) und den Druck auf private Unternehmen zu mindern.

    Großunternehmen konsolidieren, Druck auf private Unternehmen mindern

    Was ist damit gemeint? Nehmen wir einige Großunternehmen wie Rosneft, Gazprom, Bashneft, Transneft, die russische Eisenbahn RZhD, Aeroflot, VTB und Sberbank, Rostechnologii und einige andere: Die ersten beiden haben 2015 jeweils über 2 Billionen Rubel [etwa 30 Milliarden Euro] an Steuern und anderen Abgaben in den Staatshaushalt eingezahlt, was insgesamt circa ein Drittel der Staatseinnahmen ausmachte. Alle großen Staatsunternehmen zusammen sichern dem Staatshaushalt über die Hälfte seiner Gesamteinnahmen. Dabei wirtschaften einige von ihnen, sagen wir, nicht besonders effizient. Gazprom etwa hat nach Untersuchungen von Experten innerhalb von sechs Jahren über 2,4 Billionen Rubel [nach heutigem Kurs etwa 35 Milliarden Euro] sinnlos vergeudet. Gleichzeitig sind die Selbstkosten für Produktion und Leistungen des Unternehmens gestiegen und einige Märkte verlorengegangen.

    Der Börsenwert aller „volkseigenen Betriebe“ ist in den vergangenen acht Jahren um mehr als das Fünffache von einer Billion auf unter 200 Milliarden US-Dollar gefallen.

    Der Staat sollte lieber mit dem wirtschaften, was er schon hat, anstatt aus privaten Unternehmen die letzte Kopeke herauszuquetschen, Steuern und Abgaben zu erhöhen, unzählige Inspektionen durchzuführen und so im Endeffekt Unternehmen und Arbeitsplätze zu vernichten.

    Giganten wie Gazprom: cash machines für den Staatshaushalt

    Heute wird im Kreml die Frage diskutiert, ob man einen Teil der Aktien von Staatsunternehmen veräußern sollte, um das Haushaltsdefizit zu decken. Ein anderer Weg wäre besser:

    Die staatlichen Aktienkontrollpakete müssten in einen nationalen Investmentfonds überführt werden. In der Art, wie er gerade in Saudi-Arabien geschaffen wird, oder wie es ihn bereits in Singapur oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt. Dieser Fonds sollte sich vorrangig um das Füllen der Staatskasse und um die Effizienzsteigerung staatlicher Unternehmen kümmern und nicht in Fußballclubs, nie in Betrieb gehende Pipelines und Flugzeuge für Manager „investieren“.

    Der Aufsichtsrat, gerne unter dem Vorsitz von Präsident Putin, sollte ausschließlich aus internationalen Profis bestehen, die bislang keine Verbindung zum russischen Business hatten. Schließlich sollte die Leitung aller Unternehmen der Holding erfolgreichen internationalen Managern anvertraut werden, um somit die kommerzielle Tätigkeit dieser Firmen komplett zu entpolitisieren.

    Heute ist es schwer zu verstehen, was Gazprom oder RZhD eigentlich sind. Sind es Sponsoren von großen sportlichen und außenpolitischen Aktionen? Oder Unternehmen, deren Aufgabe in der Steigerung von Core Results besteht? Das Reformziel sollte darin bestehen, diese Giganten in eine Art Cash Machines für den Staathaushalt zu verwandeln.

    Das Gas sollte nicht „nach Osten umgelenkt werden, sondern dorthin verkauft, wo es am meisten Geld bringt; Ölunternehmen sollten keine Schiffswerften bauen, sondern die Förderung flexibel und gleichmäßig steigern; von Zimmern voller Pelzmäntel ganz zu schweigen.

    Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Finanzpläne von russischen Staatsunternehmen die Pläne ähnlicher Unternehmen im Ausland um einiges übersteigen, könnten die Kosten mindestens um ein Drittel gesenkt, die Einnahmen spürbar gesteigert und eine Menge unnötiger Ausgaben gestrichen werden.

    Innerhalb von drei bis fünf Jahren wäre es denkbar, dass sich die Einnahmen aus Steuern, Abgaben und insbesondere Dividenden von 10 bis 15 Staatsunternehmen verdoppeln.

    Mindestens genauso wichtig erscheint ein weiteres Ziel: Die Kapitalausstattung des gesamten nationalen Investmentfonds um das Zwei- bis Dreifache zu steigern und 20 bis 25 Prozent seiner Aktien an ausländische Großinvestoren zu verkaufen.

    Anders ausgedrückt, es ist an der Zeit, einen wirklich staatsmäßigen (und nicht verwaltungsmäßigen) Ansatz für den Umgang mit dem staatlichen Großeigentum zu finden. Das kann dazu führen, dass die Steuereinnahmen dank einer solchen Opritschnina auf mindestens zehn Billionen Rubel [etwa 140 Milliarden Euro] jährlich steigen und somit zwei Drittel des Staatshaushaltes ausmachen. Darüber hinaus würde die Kapitalausstattung der staatlichen Aktiva um 150 bis 250 Milliarden US-Dollar wachsen, was einem Jahreswert an Haushaltseinnahmen entspricht.

    Russland braucht eine stabile, autarke Wirtschaft

    Das Hauptziel besteht nicht nur in der Lösung aktueller Probleme. „Oberstleutnant Putin zu retten“ vor dem unausweichlichen Zusammenbruch des Wirtschaftssystems kann nur dann gelingen, wenn das Land in 10 bis 15 Jahren (und dieser Horizont entspricht meiner Meinung nach seinen Plänen, was seine Regierungszeit angeht), wenn nämlich die weltweite Nachfrage nach fossilen Energieressourcen und anderen Rohstoffen aus Russland rapide fallen wird, über eine stabile, autarke Wirtschaft ohne oligarchischen Einfluss verfügt. Hiermit würde die vorgeschlagene Strategie das wiederholen, was bei der ersten Etappe der chinesischen Reformen von 1980–1990 geleistet worden ist.

    Die russische Führung verfügt über eine stabile Steuerquelle und kann im Falle eines Ölpreisverfalls flexibel reagieren, indem sie den Währungskurs anpasst. Dadurch könnte sie außerhalb des staatlichen Sektors eine maximale Liberalisierung der wirtschaftlichen Tätigkeit zulassen.

    Anders ausgedrückt: Man sollte sich nicht darauf konzentrieren, die existierenden russischen Unternehmen gewinnbringend zu verkaufen, sondern darauf, dass in Russland tausende neue gegründet werden.

    Die Steuerlast für private Unternehmen sollte gesenkt werden, damit dort Raum für neue Arbeitsplätze entstehen kann. So können auch  Arbeitskräfte aufgenommen werden, wenn diese von Staatsbetrieben freigestellt werden.

    Es ist doch ein Unding, dass Gazprom, verglichen mit Shell, nur ein Drittel des Gewinns bringt, dabei aber drei Mal mehr Personal beschäftigt! Oder RZhD, die zwölf Mal mehr Personal beschäftigt als die vergleichbare kanadische Eisenbahn!

    Russland als große Offshore-Zone

    Die Entwicklung des privaten Sektors wird an die Effizienzsteigerung des staatlichen gekoppelt sein. Mehr noch, eine längerfristige Steuerbefreiung sollte Russland für eine gewisse Zeit in eine große Offshore-Zone verwandeln, in die sowohl ausländische als auch einheimische Unternehmen gerne investieren. Dabei sollten sie wissen, dass in 10 bis 15 Jahren, wenn sich das goldene Zeitalter der große Konzerne dem Ende zuneigen wird, die Steuern wieder erhöht werden.

    Indem sie einen effizienten staatlichen Sektor als Stütze schafft, könnte die russische Staatsführung das Land für Investoren attraktiv machen – und weltweit ist der staatliche Sektor durchaus effektiv, wenn der Staat zwar formell Eigentümer ist, die Unternehmen sich aber nach Marktgesetzen entwickeln können.

    Innerhalb dieser 10 bis 15 Jahre könnten unabhängige Investoren, denen sinnlose Kämpfe mit Silowiki erspart blieben, die Grundlage für eine Wirtschaft schaffen, die später die hauptsächliche Steuerlast übernehmen würde – selbstverständlich in kleinen Schritten und sehr vorsichtig.

    Die Erfahrung Chinas als Vorbild

    Ich wiederhole: Die Erfahrung Chinas hat gezeigt, dass die politische Führung zwar die Großunternehmen komplett kontrollieren, gleichzeitig aber eine vorrangige Entwicklung des privaten Sektors erlauben kann. Unabhängig davon, wie erfolgreich sich dieser entwickelt, wird er keineswegs die von oben verordnete „Stabilität“ in Gefahr bringen.

    Russland hat offensichtlich nicht vor, zu einem europäischen Land zu werden, nicht einmal in wirtschaftlicher Hinsicht. Das ist traurig, aber nicht katastrophal. Asien liefert eine Menge beeindruckender Beispiele, wie ein Staat, angefangen mit China bis hin zu Saudi-Arabien, sich vernünftigerweise für die Strategie entscheidet, Wirtschaft und Politik voneinander zu trennen, was mehrheitlich zu beeindruckenden Ergebnissen führt.

    Ich bin überzeugt, dass wir endlich damit beginnen müssen, von anderen zu lernen – wenn schon nicht vom Westen, dann zumindest vom Osten. Denn meiner Meinung nach vermag kein ideologisches Projekt in Reinform, weder eine neue liberale Revolution noch die Rückkehr zur Planwirtschaft, das heutige Regime noch zu retten.

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  • Die Anzapf-Könige

    Die Anzapf-Könige

    „Alle klauen“ war eine geflügelte Redewendung zu Sowjetzeiten. Was das illegale Anzapfen oder Verlegen von Strom-, Gas- und Wasserleitungen angeht, könnte dieser Spruch noch heute gelten. Aber ganz so streng sieht das eigentlich keiner, könnte man meinen, wenn man Maria Schers Artikel auf Kommersant-Dengi liest:

    Auf ihrer Recherche durch ganz Russland surft sie durch Ratgeber-Foren für Gasklau-Anfänger, staunt mit den Fachleuten über die technische Finesse der illegalen Leitungsinstallateure und Haushaltsgas-Tankstellen-Besitzer und ärgert sich mit den Versorgern am meisten über die, die ihren Anschluss legal gemeldet haben und mit den Rechnungen im Rückstand sind.

    Ein lehrreicher Text, kleine Bastelanleitung inklusive.

    Illustration - Julia Gukova
    Illustration – Julia Gukova

    Am Abend des 15. März versiegte in über 700 Häusern der Ortschaft Plechanowo in der Region Tula plötzlich das Gas. Die am folgenden Morgen angerückten Handwerker stellten fest, dass das an mehreren Dutzend Stellen angezapfte Gasleitungssystem zusammengebrochen war – durch eine Leitung war Wasser in das System gelangt.

    Die ortsansässigen Roma, von denen mehr als 3000 in der Ortschaft leben, sind die hauptsächlichen Urheber der illegalen Leitungen. Sie begannen daraufhin, die Gasarbeiter mit Steinen und Müll zu bewerfen, die Reparaturwerkzeuge zu zerstören und Reifen zu verbrennen. Frauen in farbigen Tüchern stürzten sich auf die angerückten Polizeibeamten, alte Roma-Frauen und Kinderhorden schlugen mit Brettern wütend auf die Spezialeinheiten ein und wollten diese daran hindern, die illegalen Leitungen zu entfernen.

    Um die Gasarbeiter zu schützen und den Roma-Aufstand niederzuschlagen, brauchte es mehr als 500 Polizeibeamte. Die Gasversorgung wurde wiederhergestellt, jedoch sind 290 Häuser nach wie vor unbeheizt, für ihre Bewohner wurden Notunterkünfte organisiert.

    Der halbe Ort dockt sich an illegale Leitungen an

    Über die Roma beschweren sich die Einheimischen schon lange: Sie würden nicht arbeiten, hätten in Plechanowo über die letzten 50 Jahre hinter einer hohen Mauer eine Enklave errichtet, aus der heraus mit Drogen gehandelt werde. Während der Klärung des Aufruhrs fand man bei den Roma über 150 illegal selbstgebaute Häuser, die per Gesetz gar nicht an das Versorgungssystem angeschlossen werden dürfen.

    Es hat allerdings den Anschein, dass in Plechanowo auch dem Nicht-Roma-Anteil der Bevölkerung die kostenlose Gasnutzung nicht fremd ist. „Die Roma klauen andauernd Gas, und dann dockt sich der halbe Ort an deren illegale Leitungen an. Als in einer Siedlung im Gebiet Uljanowsk die Roma ihr Lager aufgeschlagen und illegale Leitungen verlegt haben, hat die ganze Straße sie angezapft“, erzählt der Experte des Fonds für Sozialforschung Chamowniki Alexander Pawlow.

    In Plechanowo wurden die illegalen Leitungen im Endeffekt entfernt und Blindstopfen eingebaut. Sie werden aber nicht lange halten. Von der meuternden Menge wurden gerade mal vier Personen festgenommen und kamen mit einer Strafe von 500 Rubel [circa 6 Euro] davon.

    Der Fall der Plechanowo-Roma ist bloß ein Beispiel für den in Russland weitverbreiteten massiven Gasklau. Laut dem Pressedienst der Gazprom Meshregiongas wurden 2015 15.000 Fälle von Erdgasdiebstahl aufgedeckt. „97,4 Prozent der illegalen Gasanzapfungen fallen auf die Bevölkerung“, erklärt man dort. Laut Quellen von Kommersant-Dengi beträgt der Gesamtumfang der Verluste durch illegale Gasentnahmen 3,4 Milliarden Rubel [circa 44 Millionen Euro].
    Um das Ausmaß zu verdeutlichen: Der Jahresertrag aus dem Gasverkauf der Gazprom-Gruppe auf dem russischen Markt betrug im Jahr 2014 789 Milliarden Rubel [circa 10 Milliarden Euro]. Davon entfallen 23 Prozent auf die privaten Haushalte, das sind knapp über 183 Milliarden Rubel [circa 2,4 Milliarden Euro]. Fast 2 Prozent der Gaslieferungen an die privaten Haushalte werden geklaut.

    Viele Russen sind wahre Fachleute in der Kunst des Gasklaus

    66 Prozent der aufgedeckten Diebstahls-Fälle durch Privatpersonen geschahen im Nordkaukasus. Dort hat sich unterdessen sogar die europäische Mode verbreitet, Autos auf Methangas umzurüsten. Methangas-Tankstellen sind russlandweit kaum zu finden, im Kaukasus so gut wie gar nicht. Dort aber, berichtet Alexander Pawlow, spiele die Privat-Garage mit Druckminderer und Gewebeschlauch oft die Rolle einer Tankstelle. So gelangt das Gas aus der Hausleitung in die Autogasflasche.

    Das Verlegen illegaler Gasleitungen mit Schweißgerät und Bohrer, das Anzapfen von Hauptrohren und den Leitungen der Nachbarn – viele Russen sind wahre Fachleute in der Kunst des Gasklaus geworden. Und den Anfängern sind zahlreiche Foren und Ratschlagseiten im Internet stets zu Diensten: „Drehen Sie das Gas ab, indem Sie das Hauptventil schließen. Überprüfen Sie mit einem Streichholz, ob Gas ausströmt. Nachdem Sie die Verbindungsstelle geschweißt haben, tragen Sie eine dicke Schicht Bauschaum auf: Wenn Bläschen aufquellen und platzen, bedeutet das, dass Sie schlecht geschweißt haben. Drehen sie das Gas wieder ab und schweißen sie noch einmal.“

    „Nicht selten endet ein solches Unterfangen mit dem Tod oder Verletzungen der Hobby-Gasarbeiter“, berichtet die Gazprom Meshregiongas. „Menschen, die sich eigenmächtig an Gasversorgungsnetze anschließen, ignorieren jegliche Unfallschutzmaßnahmen, was oft zu Explosionen, Bränden und Kohlendioxidvergiftungen führt.“

    Demnach steigt jährlich die Zahl der Unfälle, die mit dem Verlegen illegaler Gasleitungen zusammenhängen. So ereigneten sich im vergangenen Jahr in den fünf nordkaukasischen Republiken (Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Nordossetien-Alanien, Karatschai-Tscherkessien und Dagestan) 70 Unfälle, 118 Menschen erlitten Verletzungen unterschiedlicher Schwergrade, 30 kamen ums Leben.

    Den Zechpreller zu finden ist nicht einmal Fachleuten möglich

    Oft bieten Gasarbeiter selber an, illegal Gasleitungen anzuzapfen. Dann einigen sich die Hausbesitzer mit ihnen auf eine bestimmte Summe, bezahlen brav weiter, um Fragen und Prüfungen zu vermeiden, und irgendwann dann wird der Zähler zurückgedreht, indem man ihn für eine gewisse Zeit ausbaut. So zeigt er im Endeffekt einen viel geringeren Verbrauch an.

    Auch beim Verlegen der Rohre wird versucht, die Kosten zu minimieren: Da tun sich fünf oder sechs Häuser zusammen, schließen sich aber nur über einen gemeinsamen Strang an und rechnen die Entfernung zum Anschlusspunkt klein. In den Unterlagen heißt es dann, es werden 20 Meter Rohr verlegt, faktisch sind es ein Kilometer oder sogar mehr.

    Den Zechpreller zu finden ist nach der Aufdeckung des Diebstahls nicht einmal den Fachleuten möglich, wie zum Beispiel im Wohngebiet Krasny Chimik in der Stadt Gus-Chrustalny. „Die Arbeit war so filigran ausgeführt, dass die Gasfacharbeiter erst beim dritten Versuch die Anschlussstelle für die illegalen Leitungen gefunden haben. Die Öffnung und die flexible Zuleitung, die in die Erde führte, waren sorgfältig in einem Stahlständer der Niederdruckgasleitung versteckt“, berichtet der Pressedienst von Gazprom Meshregiongas des Gebietes Wladimir.

    Stromklau funktioniert über Lampenfassungen im Hausflur

    Noch größere Ausmaße hat in Russland der Stromklau – das Anzapfen von Strom gelingt viel einfacher als das von Gas. Das kann über Verlängerungskabel geschehen, die an Lampenfassungen im Hausflur angeschlossen werden, oder über zwei einfache sechs Meter lange Stangen, die an elektrische Fernleitungen angelegt werden.

    Die einfachste Variante bestehe darin, berichtet ein erfahrener Elektriker anonym der Kommersant-Dengi, sich vom gemeinsamen Nullleiter abzukoppeln. Dafür braucht man nur die Leitungen, die vom Strommast ins Haus zum Zähler führen: Nullleiter und Phase. Den Nulleiter trennt man ab, erdet ihn neu und schließt die Verbraucher dann so an, dass der Stromkreis nicht über den Strommast, sondern über die eigene Erde geschlossen wird. So bekommt der Zähler nichts mit.

    Verbreitet sind auch Manipulationen am Zähler, bei denen zunächst die Plombe entfernt und dann in eine der Zuleitungen ein kleiner Magnetschalter gelötet wird. Dieser enthält Reed-Kontakte, dünne Metallplättchen, die sich bei Magnetisierung voneinander abstoßen, aber einen Kontakt herstellen, wenn kein Magnetfeld anliegt. Direkt neben dem Zähler wird dann ein Sicherungsautomat eingebaut. Wenn der eingeschaltet ist, erzeugt er ein Magnetfeld, nur dann läuft der Strom über den Zähler. Man schaltet einfach gelegentlich den Zähler an – für den Fall einer Kontrolle –, lässt ihn aber sonst aus, um seinen eigentlichen Verbrauch zu verbergen. Fachleute, die Zähler auf diese Art manipulieren, verdienen für so eine Installation 30.000 Rubel [circa 400 Euro] – und das in ländlichen Gebieten Mittelrussland.

    „Es werden auch Gesetzeslücken ausgenutzt, um den offiziell abgerechneten Stromverbrauch zu senken“, erzählt der Anwalt Alexej Gordejtschik, Geschäftsführer der Kanzlei Gordejtschik und Partner. „Dafür existieren sogar empirische Daten über die Anzahl an LED-Lampen, die am Stromkreis angeschlossen werden können, ohne dass ihr Verbrauch durch gesetzlich zugelassenen Zähler erfasst wird.“

    Die universelle und am weitesten verbreitete einigermaßen ehrliche Reduzierung des abzurechnenden Stromverbrauchs besteht für der Bevölkerung darin, komplett auf Zähler zu verzichten und nach einem Durchschnittswert abzurechnen.

    Ölpipelines sind Goldadern

    Eine echte Goldader für Fachleute illegaler Leitungen sind Ölpipelines, mittels derer sie nicht bloß sparen, sondern sich ein ziemlich sorgenfreies Leben finanzieren können. Von der Ölpipeline Drushba im mittleren Wolgagebiet führen einige Dutzend illegaler Leitungen weg. Das geklaute Öl wird dann in sogenannten Samowaren destilliert und in seine Fraktionen getrennt. Diesel und Benzin werden dann gleich an Tankstellen verkauft. An der Fernstraße M5 zwischen Kusnezk und Toljatti sind mehrere namenlose Tankstellen zu finden, die „selbstgebranntes“ Benzin verkaufen. In den Gebieten, durch die die Pipelines führen, ernähren sich ganze Dörfer, ja Bezirke, vom Öl.

    Illegale Leitungen verärgern auch die Wasserwerke, erzählt man uns im Pressedienst der Moskauer Wasserwerke: „Den größten Schaden erleiden wir durch den direkten Wasserklau. Zudem gehen die eigenmächtigen Anschlüsse an das zentrale Kaltwasser-System mit Verstößen gegen die Bauvorschriften einher, was große Wasserverluste nach sich zieht.“

    In Tomsk sind im November 2015 mehr als 40 Häuser wegen eine Havarie ohne Wasser geblieben, nachdem ein selbsternannter Wasserinstallateur am Werk war.  Beim Verlegen der Leitung hatte es gröbste Verstöße gegeben: der Wasserleitungsschacht fehlte und das Absperrventil war von schlechter Qualität.

    Obwohl Wasserleitungen seltener angezapft werden als andere – in Großstädten ist es technisch schwer –, geschieht das im privaten Sektor vorwiegend dort, wo die Versorgungsleitungen alt sind, aus den 1980er Jahren und der Zeit davor.

    Keine wirksamen Mechanismen im Kampf gegen Zechpreller und Anzapfer

    Während die Bastler aus dem Volk immer neue Arten erfinden, die Bezahlung zu umgehen, haben die kommunalen Versorgungsdienste darauf keine Antwort – es gibt in Russland einfach keine wirksamen Mechanismen im Kampf gegen Zechpreller und Anzapfer, und es ist schier unmöglich, die Urheber der meisten illegalen Leitungen aufzuspüren.

    Im Nordkaukasus sind die Bedingungen für den Gasklau wie von Gott geschaffen: Es gibt  eine große Anzahl illegaler Bauten, in vielen Dörfern gibt es schlicht keine Adressen, aber die Hauptsache ist die Nähe zur Ferngasleitung, über die der Gastransit nach Europa erfolgt.

    Noch viel komplizierter sei es, das illegale Anzapfen von Stromleitungen zu entdecken, und erst recht, den Schaden zu beziffern, unterstreicht Oleg Jakowitsch, Generaldirektor von Schtarkenergostroj.

    Erschwerend kommt hinzu, dass Verluste durch illegale Leitungen, verglichen mit dem allgemeinen Transitvolumen, unwesentlich sind: Für Öl und Gas schwanken die Verluste zum Beispiel zwischen vier und sechs Prozent. Wären sie höher, würden sie dennoch keine reale Bedrohung für die Gasfirmen darstellen, ist Alexander Pawlow überzeugt.

    „Die Gasvertriebsunternehmen bekommen das Gas nahezu kostenlos und erwirtschaften den Gewinn durch die Zahlungen der Bevölkerung. Sie sind nur an einem interessiert: das Gasverteilungsnetz auszudehnen, damit regionale und kommunale Haushalte für den Anschluss neuer Ortschaften zahlen.“

    Jenseits der Klauerei macht sowohl den Gas- als auch den Stromunternehmen ein ganz anders Problem zu schaffen: Die Abnehmer zahlen nicht für legal bezogene Ressourcen.

    So betrugen die Gesamtaußenstände für Wärmeenergie am 1. Februar 2016 201,4 Milliarden Rubel [circa 2,6 Milliarden Euro], berichtet die stellvertretende Direktorin der Abteilung für Außenbeziehungen und strategische Entwicklung des Verbandes der Energieerzeuger Natalja Chishnaja.

    Riesige Rückstände bei zahlenden Abnehmern

    Seit Jahresbeginn ist der Rückstand um 31,5 Milliarden [circa 410 Millionen Euro] gewachsen, der Schuldenabbau beträgt nur 2,9 Prozent, wobei ein Großteil der Schuldner juristische Personen, insbesondere Industrieunternehmen sind, die Geld für fast 20 Prozent der verbrauchten Wärme schulden. Laut Chishnaja, sieht es bei den Schulden für Strom nicht besser aus: Ende 2015 betrugen die Gesamtaußenstände auf dem Großhandelsmarkt 75 Milliarden Rubel  [circa 980 Millionen Euro] – unter Berücksichtigung der Schulden für Abtretungsrechte, was um 6 Milliarden Rubel  [circa 78 Millionen Euro] mehr ist, als im Vorjahr.

    „Auch wenn es paradox klingt, Verluste durch illegale Leitungen und Schuldenrückstände sind oft vorteilhaft für Ressourcenerzeuger“, urteilt der Experte Sergej Belolipezki. „Ressourcenerzeuger melden den zuständigen Ausschüssen Außenstände, plus Ausgaben und Kosten, die sie zu tragen haben, berichten, wie schlecht es ihnen geht, nur um die nächste Tariferhöhung durchzudrücken.“

    Die Sanktionen für Diebe sind unbedeutend, zumal es überhaupt selten soweit kommt. „Etwa 50 Prozent der Anzeigen werden gar nicht geprüft, in weniger als 1 Prozent der Fälle sind Strafverfahren eröffnet worden, meistens kommt es zu einem Ordnungswidrigkeitsverfahren, das mit einer Geldbuße endet. Dies führt keineswegs dazu, den illegalen Gasverbrauch zu mindern, denn für den Schuldigen lohnt es sich eher, die Geldbuße als das real verbrauchte Gas zu bezahlen“, berichtet der Pressedienst der Gazprom Meshregiongas.

    Die Unternehmensvertretung in Orenburg bestätigt folgende Statistik: Im Zeitraum von Januar bis September 2015 hat das Gasunternehmen insgesamt 134 Anzeigen bei der Polizei gegen illegale Leitungsverleger erstattet. 121 Personen sollten ordnungsrechtlich und nur 13 strafrechtlich belangt werden. Nur eine Person konnte unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden, und auch die kam mit einer Bewährungsstrafe von 10 Monaten davon.

    „Wir brauchen keinen weiteren Verwaltungs-Trichter, der alles verschlingt, sondern einen freien Markt“

    Im Strafgesetzbuch existiert gar kein Artikel über das Anzapfen von Leitungen, daher wird in allen Fällen, in denen ein großer Schaden entstanden ist, Artikel 158 (Diebstahl) angewendet. Ein entsprechender Artikel ist ebenfalls im Verwaltungsgesetzbuch zu finden, die Geldbuße beträgt 10.000 bis 15.000 Rubel [circa 130 bis circa 200 Euro], und das unter Berücksichtigung der Erhöhung seit diesem Jahr (früher betrug sie 3.000 bis 4.000 Rubel [circa 40 bis 50 Euro].

    „Angesichts dieser Probleme bestehen wir darauf, dass die Rechtschutzorgane verstärkt Rechtsverletzungen in der Gasversorgung aufdecken“, fordert man bei Gazprom Meshregiongas.

    „Wir brauchen keinen weiteren Verwaltungs- und Kommandotrichter, von dem wir immer weiter eingesogen werden, sondern einen freien Markt, einen selbstregulierenden Mechanismus mit Feedbackfunktion, damit es dem Erzeuger zu Ohren kommt, wenn der Verbraucher nicht mehr in der Lage ist zu zahlen und es zum Diebstahl kommt. Wir rollen immer weiter in Richtung Sozialismus, wo alles allen gehört und somit keinem“, findet Sergej Belolipezki.

    Solange es weder einen normalen Markt noch Kontrolle gibt, kann man alles Mögliche verschärfen und verbieten. In den sozialen Medien hat neulich eine Erklärung der russischen Behörde für Veterinärwesen und Pflanzenschutz Rosselchoznadzor für Begeisterung gesorgt: Das Sammeln von Trockenholz sowie durch Wind und Sturm abgefallene Äste werde als Diebstahl geahndet. Schon klar, es muss erst saftige Haftstrafen für das Einsammeln von Reisig setzen, bevor die Leute auf solche Verbote hören.

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  • Chinesisch für Anfänger

    Chinesisch für Anfänger

    Russland ist zum Westen auf Distanz gegangen – nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2012 bereitete Putin eine „Wende nach Osten“ vor, um „chinesischen Wind in den Segeln der russischen Wirtschaft einzufangen”. Doch China reagiert weniger enthusiastisch, als man erwartet hatte.

    Das erste Jahr der „Wende gen Osten“ ist um, und kaum jemand lässt ein gutes Haar daran. Nach Meinung der meisten von Kommersant-Wlast befragten Politiker und Unternehmer ist das Projekt gescheitert, sogar einige Beamte sind der gleichen Meinung. Das ist zwar nur eine subjektive Wahrnehmung (im Vorfeld waren keine Erfolgskriterien festgelegt worden), aber deswegen nicht weniger bemerkenswert.

    Vor dem Hintergrund der eindeutigen politischen Erfolge wirkt das vielleicht seltsam: Schließlich haben Wladimir Putin und Xi Jinping im Mai 2015 eine Kooperation zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und dem Wirtschaftsgürtel entlang der Seidenstraße vereinbart, und beide Staatsführer besuchten die jeweiligen Militärparaden in Moskau und Peking am 9. Mai und 3. September.

    Obwohl keiner offiziell eine Wende nach Osten verkündet hat, ist die Aufmerksamkeit russischer Beamter gegenüber China stark gewachsen.

    Auch die traditionelle Zusammenarbeit im Militärbereich hat sich positiv entwickelt: China war der erste ausländische Käufer von S-400 Luftabwehrsystemen und Kampfjets des Typs SU-35. Und das Unterwasserkabel für die vom Stromnetz getrennte Krim wurde auch in China hergestellt, bei Jiangsu Hengtong. Was also ist hier schiefgegangen?

    Putin richtet 2012 Kurs auf Osten

    Der Grundstein für die Wende wurde bereits 2012 im Vorfeld des APEC-Gipfeltreffens in Wladiwostok gelegt. Ein halbes Jahr zuvor, im Februar 2012, hatte Putin im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen einen Artikel veröffentlicht und darin bemerkt, Russland habe nun „die Chance, chinesischen Wind in den Segeln der russischen Wirtschaft einzufangen“. Drei Monate später wurde offiziell das Ministerium für Ostentwicklung eröffnet, zu dessen Aufgaben die Anwerbung von asiatischen Geldern zählte, insbesondere von chinesischen. Die Zusammenarbeit zwischen den Ländern entwickelte sich jedoch ziemlich schwach, abgesehen vom Energiesektor (Rosneft-Verträge von 2013 und 2014). Russische Unternehmer und Beamte waren misstrauisch gegenüber ihren chinesischen Partnern. Die Verhandlungen mit ihnen nutzten sie in erster Linie als Druckmittel gegenüber den Europäern in Energiepreisfragen.

    Die Reaktion der Chinesen auf unsere plötzliche Aufmerksamkeit war eher zurückhaltend und kühl.

    Alles änderte sich nach der Einführung der westlichen Sanktionen gegenüber Russland nach der Angliederung der Krim. „Obwohl keiner offiziell eine Wende gen Osten verkündet hat und der erste Vize-Premier Igor Schuwalow diese im Juni 2015 sogar bestritt“, erinnert sich für Kommersant-Wlast der Leiter des Asien-Programms des Carnegie-Zentrums in Moskau Alexander Gabujew, „ist die Aufmerksamkeit russischer Beamter gegenüber China spürbar gewachsen.“

    Zum „asiatischen Davos“ in Bo’ao im April 2014 reiste zum ersten Mal eine riesige russische Delegation an, unter der Leitung des Vize-Premiers Arkadi Dworkowitsch. Gazprom und CNPC, die sich zehn Jahre lang nicht über Gaslieferungen nach China einigen konnten, unterschrieben im Schnellverfahren einen Vertrag mit einer Laufzeit von 30 Jahren über die Lieferung von 38 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich, der auch den Bau der Pipeline Sila Sibiri umfasst. Ein Jahr später, am 8. Mai 2015, wurde er um einen Vertrag über den Bau eines zweiten Pipelinestranges und am 3. September um ein Memorandum über einen dritten Pipelinestrang ergänzt.

    Obwohl diese Vereinbarungen eine starke politische Komponente hatten sowie ernsthafte Fragen bezüglich ihrer Wirtschaftlichkeit aufwarfen, vermittelten sie das Gefühl einer wachsenden Kooperation und der Bereitschaft Chinas, langfristig in Russland zu investieren. Dies wiederum schaffte die angenehme Illusion, dass im Fall der Fälle Peking aktiv an der finanziellen Unterstützung Russlands interessiert bleiben würde, und sei es nur, um die investierten Mittel nicht zu verlieren.

    China findet wenig Anreize, in Russland zu investieren

    Aber schon Ende 2015 hat sich durch unbarmherzige Zahlen das ganze Pathos der unzerstörbaren russisch-chinesischen Freundschaft in den Augen von Experten in Luft aufgelöst. Zwar gab es Vereinbarungen über eine ganze Reihe von Großprojekten in der Maschinenbau- und Energiebranche, durch den Rubelverfall konnte man aber keinen Nutzen aus diesen Erfolgen ziehen. Der Rückgang des Handelsvolumens mit China wird 2015 circa 30 Prozent betragen.

    Chinesische Investoren machten sich nicht einmal den Preisverfall für russische Aktiva zunutze. Gerade mal 0,7 Prozent (794 Millionen US-Dollar von 116 Milliarden) aller chinesischen Auslandsinvestitionen wurden in Russland getätigt. Die Öllieferungen nach China sind zwar um 30 Prozent gestiegen, jedoch sanken aufgrund des Rubelverfalls die daraus resultierenden Einnahmen im gleichen Maße. Die Flüssiggaslieferungen fielen von Januar bis September 2015 um 51,3 Prozent, was im Geldäquivalent einem Rückgang von 71,5 Prozent entspricht. Und was den Bau des zweiten Pipelinestranges betrifft, so dringen in regelmäßigen Abständen beunruhigende Nachrichten über Verzögerungen und merkwürdige Kapriolen der chinesischen Partner durch und lassen um das Schicksal des Projekts bangen.

    Auch die Versuche russischer Staatsunternehmen, versiegte Kreditströme aus Europa durch chinesische zu ersetzen, blieben erfolglos. Chinesische Banken wissen ihre guten Beziehungen zu amerikanischen Kollegen zu schätzen (mit Ausnahme der ExIm Bank und China Development Bank, chinesischen Entsprechungen der russischen staatlichen Wneschekonombank VEB und VTB-Bank, bei deren Handeln politische Motivationen eine Rolle spielen). Sie schlossen sich faktisch den anti-russischen Sanktionen an und setzten alles daran, um Kreditvergaben herumzukommen.

    Projekte, bei denen die russische Seite nur ihr geistiges Eigentum anbietet, rufen bei den Chinesen meistens keinen Enthusiasmus hervor.

    Außerdem wurden, wie Kommersant-Wlast vom Geschäftsführer des Russland-ACEAN Business-Rates Viktor Tarussin erfuhr, viele Russen gezwungen, ihre Konten bei chinesischen Banken zu schließen und die Mittel zu anderen Banken zu transferieren. Und Gazprom verkündete, enttäuscht von den asiatischen Kollegen, am 9. Dezember, der alljährliche Investorentag, der 2015 in Singapur und Hong Kong stattgefunden hatte, würde nach London und New York zurückverlegt. Als Grund dafür nannte Gazprom Interfax „die Unentschlossenheit und den Konservativismus der asiatischen Investoren“.

    China hat kaum Gründe, aktiv in Russland zu investieren. Peking lässt sich meist von harter Wirtschaftslogik leiten und investiert normalerweise entweder in die Staaten der Ersten Welt, die in der Lage sind, Technologien oder Management-Knowhow zur Verfügung zu stellen (USA) oder Dritte-Welt-Staaten, die sich vergleichsweise billig und ohne arbeitsrechtliche Sperenzchen von Ressourcen und Anbauflächen trennen (Sudan, Simbabwe). Russland gehört weder zur ersten noch zur zweiten Kategorie.

    Im Ranking zur Geschäftsfreundlichkeit, dem Doing Business-Index, bei dem Russland im Oktober auf Platz 51 gestiegen ist, liegt China im Umfeld von Singapur (Platz 1), Hong Kong (Platz 5), Südkorea (Platz 4), Taiwan (Platz 11) und Malaysia (Platz 18). Im Global Opportunity-Index, der die Investitionsattraktivität eines Staates misst, belegt Russland den 81. Platz, Singapur den 1., Hong Kong den 2., Malaysia den 10., Südkorea den 28. und Japan den 17. Wenn es um Rechtstaatlichkeit geht, rutscht Russland sogar auf Platz 119 und landet damit in der Nachbarschaft von Nigeria und Mosambik.

    Russland hat die chinesischen Bedürfnisse falsch eingeschätzt

    Durch all die politischen Vereinbarungen und die pompösen gegenseitigen Freundschaftserklärungen entstand sowohl bei russischen Unternehmern als auch bei der Staatsbürokratie der Eindruck, nun würden die chinesischen Firmen von oben Anweisung bekommen, mit Russland Verträge unter dem Marktwert abzuschließen. Dies ist nicht geschehen.

    „Ich denke, Russland hat zu emotional auf die Verkündung der Wende gen Osten reagiert. Die Reaktion der Chinesen auf unsere plötzliche Aufmerksamkeit war dann eher zurückhaltend und kühl“, so Irina Sorokina, geschäftsführende Leiterin der Russisch-chinesischen Kammer zur Förderung des Handels in der Maschinenbau- und Innovationsindustrie. „Wir haben eine Investitionsflut aus China erwartet, aber dort zögert man lieber erst einmal und wiegt alles sehr sorgfältig ab.“

    Wo die Europäer meinen, es sei bereits eine Entscheidung getroffen, sehen die Chinesen bloß eine Grundlage für Verhandlungen.

    Ihrer Meinung nach ist für chinesische Unternehmer – egal bei welchem Projekt – die Rentabilität ihrer Investitionen am wichtigsten. Außerdem schätzen sie die Bereitschaft der Partner, auch finanziell einzusteigen, doch dazu sind russische Unternehmer oft nicht bereit. „Projekte, bei denen die russische Seite nur ihr geistiges Eigentum anbietet und von den Partnern Geld als Anteil für das gemeinsame Unternehmen verlangt, rufen bei den Chinesen meistens keinen Enthusiasmus hervor“, ergänzt Irina Sorokina.

    Wegen der Probleme bei der Wende nach Osten entstand in der russischen Staatsführung offensichtlich der Wunsch, die Situation zu verbessern. „Die Regierung hat versucht, gezielt Expertise aufzubauen“, sagt Alexander Gabujew. „Also wurde ein Ausschuss für die Förderung der Wirtschaftsinteressen in der Asien-Pazifik-Region gegründet. Ansonsten haben die unter dem ersten Vize-Premier Igor Schuwalow im Vorjahr eingeführten Gremien ihre Arbeit fortgesetzt.“ Nach Meinung von Experten reichen diese Bemühungen jedoch nicht für grundlegende Veränderungen.

    Es gibt einzelne Erfolgsbeispiele

    Gelingt der Zugang zu den chinesischen Partnern, sind die Ergebnisse oft interessant. Maxim Sokow, Generaldirektor des Metall-, Bergbau- und Energiekonzerns En+, ist überzeugt, dass es zwar nicht einfach sei, sich an die Eigentümlichkeiten des chinesischen Geschäftsgebarens zu gewöhnen, aber durchaus möglich. „Man muss bedenken, dass man mit China nicht von heut auf morgen Geschäftsbeziehungen aufbauen kann. Du musst mit den Menschen zunächst große Mengen Tee trinken und viele Worte des Respekts äußern, doch dann geht alles ziemlich schnell“, so Sokow im Gespräch mit Wlast. „Das russische Sprichwort ‘Wer langsam einspannt, der fährt schnell’ hat in China eine Entsprechung.“ Wo die Europäer meinen, es sei bereits eine Entscheidung getroffen, sehen die Chinesen bloß eine Grundlage für den nächsten Verhandlungsschritt, so Sokow.

    Im Jahr 2015 gab es eine Vereinbarung über die Gründung eines Zentrums für Datenverarbeitung. Beteiligt waren die Konzerne En+ und Lanit, die Regierung der Region Irkutsk sowie die chinesischen Unternehmen Huawei und Centrin Data Systems. Schon im Sommer 2016 soll das Rechenzentrum in Betrieb gehen. Es wird Informationen chinesischer Firmen auf von Huawei gelieferten Anlagen verarbeiten.

    Im Gegensatz zur teilweise „politischen“ Pipeline Sila Sibiri steht dieses Projekt auf rein kommerziellen Füßen und hat somit gute Aussichten auf Erfolg. Das ökonomische Kalkül ist einfach: kaltes sibirisches Klima (Server brauchen ständige Kühlung) plus billiger Strom aus sibirischen Wasserkraftwerken (hierauf entfallen 60 Prozent der Selbstkosten des Zentrums) plus der unendliche chinesische Markt, der nach immer mehr Rechenkapazität verlangt.

    Ob Russland und China sich wirklich wirtschaftlich aufeinander zubewegen, ist offen

    Das wichtigste Ergebnis des Jahres ist, dass russische Beamte und Unternehmer Asien für sich entdeckt haben und und nun beginnen, sich für die landesspezifischen Businessregeln zu interessieren. „Der Osten wurde ein Thema in Strategiesitzungen großer Unternehmen, und nicht nur in Staatsbetrieben. Wobei die Überlegungen dort bisher noch nicht sehr qualifiziert sind“, so die Beobachtungen von Dimitri Ontojew, dem Leiter des Labors für regionale Studien im Institut für Schwellenländer an der Skolkowo School of Management in Moskau. „Das Hauptproblem ist: Der Markt ist voll. Westliche Unternehmen haben sich schon vor 40 Jahren Richtung Osten gewandt, daher sind russische Firmen jetzt gezwungen, ziemlich entschieden mit den Ellbogen zu arbeiten, worauf sie nicht vorbereitet waren.“

    Das Hauptproblem ist: Der Markt ist voll. Westliche Unternehmen haben sich schon vor 40 Jahren Richtung Osten gewandt.

    Das Jahr 2016 hat vielversprechend begonnen: Am 18. Januar lud die russische Delegation im Asia Society Hong Kong Center in Hong Kong zu einer Veranstaltung ein namens Russlands Platz im Wirtschaftsmodell der Asien-Pazifik-Region – neue Möglichkeiten für Wachstum und Investitionen. Vize-Premier Arkadi Dworkowitsch und der Magnat Viktor Wexelberg versuchten, die Teilnehmer aus einflussreichen asiatischen Wirtschaftskreisen zu überzeugen, dass sich Investitionen in Russland lohnen.

    Das Auditorium reagierte zugänglich. Aber mit einer Antwort, die er auf eine Frage des Moderators Ronnie Chan gab, plauderte Arkadi Dworkowitsch zufällig das wichtigste russische Staatsgeheimnis aus: das Fehlen einer langfristigen Planung. „Wie sehen Sie Russland in 10 bis 20 Jahren?“, fragte Ronnie Chan und fügte hinzu, dass Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping auf diese Frage wohl wie aus der Pistole geschossen antworten würde. Arkadi Dworkowitsch sagte: „Als einen normalen Staat.“ Um dann zu präzisieren: „Stark und offen für die Weltgemeinschaft.” Ob diese Antwort die asiatischen Investoren zufrieden gestellt hat, sehen wir dann an den Ergebnissen des Jahres 2016.

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  • „Ich habe sie im Genick getroffen“

    „Ich habe sie im Genick getroffen“

    Um den 20. Februar 2014 eskalierten die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Was genau damals geschehen ist, bleibt bis heute in Vielem unklar und gibt Anlass zu Spekulationen, die unversöhnlich aufeinanderprallen. So wird die Verantwortung für die Gewalt und die Opfer oft ausschließlich auf der Seite der Regierungskräfte oder der Demonstranten verortet, obwohl die Realität wesentlich komplizierter ist.

    Kurz vor dem  Jahrestag der Ereignisse hat 2016 im russisch- wie ukrainischsprachigen Internet ein Interview mit einem Maidan-Aktivisten für Aufruhr gesorgt, der berichtet, wie er am 20. Februar 2014 aus dem besetzten Kiewer Konservatorium das Feuer auf die Regierungskräfte eröffnet hat. Die Aussagen des Interviews rücken viele allzu einfache Versionen gerade, lassen selbst aber auch zahlreiche Fragen offen: Welche Rolle haben diese Schüsse gespielt? Waren sie es, die – nach bereits zwei vorhergehenden Tagen voller Gewalt und mit insgesamt 39 Todesopfern – dann weitere Angriffe der Sondereinheit Berkut provoziert haben? Inwieweit sind die Aussagen, die im übrigen mit den später rekonstruierten Fakten im Wesentlichen übereinstimmen (siehe unsere Links unter dem Text), vom Wunsch des Befragten beeinflusst, seine eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen?

    Das Interview führte Iwan Sijak von bird in flight, einem Internetmagazin, das auf Russisch in der Ukraine erscheint und eine länderübergreifende Leserschaft besitzt. Das Magazin leitet den Text folgendermaßen ein:

    „In der Geschichte der modernen Ukraine existiert kein wichtigeres Datum als der 20. Februar 2014. Damals wurden auf den Kiewer Straßen 48 Maidan-Aktivisten und vier Milizionäre erschossen. Bald darauf verließ Präsident Janukowitsch fluchtartig das Land, es begann die Krim-Annexion, dann der Krieg im Donbass. Im weiteren Sinne brachte dieser Tag den ersten Schritt zum Verlust von sieben Prozent des ukrainischen Territoriums und von vielen Tausend Leben. 

    Am frühen Morgen des 20. Februar konnte man keines dieser Ereignisse vorausahnen. Es hatte bereits schwere Kämpfe gegeben, bei denen 31 Aktivisten und 8 Sicherheitskräfte umgekommen waren, die Miliz [bis September 2014 war das die Bezeichnung der Polizei – dek] hatte die Protestierenden massiv zurückgedrängt und bezog schon Position auf dem Maidan. Auf dem Platz waren bloß noch einige hundert erschöpfte Aktivisten. Es bestand kein Zweifel, dass der nächste Sturm das Ende des Aufstandes bedeuten würde und dieser als schlichte ‚Massenunruhen‘ in die künftigen Lehrbücher eingehen würde. 

    Seine präzisen taktischen Aktionen schlugen die Sicherheitskräfte in die Flucht und verhinderten den Untergang der Revolution der Würde – mit solch vagen Worten beschreibt die ukrainische Wikipedia die Rolle Iwan Bubentschiks in der Geschichte. Zum ersten Mal erzählte er über die Ereignisse an diesem Tag im Film von Volodymyr Tykhyy Branzi (Die Gefangenen). Im Vorfeld der Premiere traf unser Korrespondent Iwan Sijak den aus Lwiw stammenden Maidan-Aktivisten, um dessen Version der Ereignisse zu erfahren.“

    Iwan spricht Ukrainisch, bird in flight gibt seine Worte auf Russisch wieder.

    „Ich möchte eine Angelschule für Kinder aufmachen. Das war es, worum ich mich vor dem Maidan gekümmert habe. Als in Lwiw die Studenten anfingen gegen Janukowitsch zu protestieren, bin ich hingefahren, um sie zu unterstützen. Alle sagten, man müsse nach Kiew, also bin ich hin. Schwer zu sagen, an welchem Datum genau, aber es war der erste Tag. Ich war vom ersten Tag an auf dem Maidan.

    Zunächst standen wir an der Säule [Denkmal für die Unabhängigkeit der Ukraine], haben die Studenten beschützt. Dann bildeten sich die sogenannten ‚Hundertschaften‘, ich bin der Neunten beigetreten. Wir wohnten in der Gontschar-Straße, im Haus der Partei Narodny Ruch, und sind jede Nacht um halb zwölf runter zur Metrostation unter dem Maidan, als Wachen. Wir hielten alle Ausgänge unter unserer Kontrolle, denn von dort konnten die Sondereinsatzkräfte auftauchen, für Sabotageaktionen oder um die Proteste aufzulösen.

    Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan.

    Ich erinnere mich, an der Gruschewskaja Straße standen die Sicherheitskräfte des Innenministeriums, die ließen uns nicht durch [zum Regierungsviertel]. Wir hatten einen Brief dabei, dass wir Bürger der Ukraine seien und das Recht hätten, uns frei zu bewegen. Haben gesagt, wenn sie unser Recht darauf bis zum nächsten Tag nicht wiederherstellen, werden wir stürmen. Und so kam es auch. Am nächsten Tag flogen schon Steine und Molotow-Cocktails.

    – In den Tagen vor dem 20. Februar haben die Spezialeinheiten von Janukowitsch alles unternommen, um den Maidan zu zerschlagen. Sie legten das Gewerkschaftshaus, das sehr wichtig für uns war, in Schutt und Asche. Wir haben dort gewohnt, geschlafen, haben die Toilette dort benutzt, dort Essen bekommen und medizinische Versorgung. Danach, am nächsten Morgen, gab uns Gott die Chance, ins Konservatorium hineinzukommen. Wir haben einen Roma-Jungen zum Fenster hochgehievt, er hat von innen die Türen geöffnet. Dort konnten wir ein bisschen Schlaf kriegen. Jemand schlief eine Stunde, jemand eine halbe, je nachdem wie viel man eben konnte während der furchtbaren Attacken, die gegen uns im Gang waren. Viele waren verzweifelt, ich aber nicht. Ich glaube fest an die Kraft Gottes und an die Gerechtigkeit.

    Im Konservatorium gab es Jungs mit Jagdgewehren. Die schossen mit Schrot auf die Spezialkräfte, die knapp 70 Meter von uns entfernt waren. Aber ich habe sie von den Fenstern vertrieben, denn als Antwort begann die Miliz das Haus mit Molotow-Cocktails zu bewerfen, sie wollten unseren einzigen Zufluchtsort in Brand setzen. Der Schrot ging denen nur auf die Nerven.

    Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich zu viel verlange. Also habe ich für 20 gebetet. Und gegen Morgen tauchte dann ein junger Kerl auf mit einer Kalaschnikow und 75 Patronen in einer Tennistasche. Viele würden gerne hören, dass wir die Maschinenpistole den Tituschki abgenommen haben, während der Kämpfe am 18. Februar. Sie hatten damals Waffen erhalten, um uns zu töten. Aber so war das nicht.

    – Ich schoss aus dem vom Maidan aus gesehen letzten Fenster im zweiten Stock, hinter den Säulen hervor. Von hier aus waren die Milizionäre beim Denkmal mit ihren Schilden gut zu sehen. Sie standen gedrängt hinter Sandsäcken, rund 200 Mann, mehr hätten dort nicht hingepasst. Immer wieder stießen Trupps mit Pumpguns vor. Die schossen direkt auf die Barrikaden, knallhart.

    Ich habe auf die gezielt, die das Kommando hatten. Hören konnte ich nichts, aber ich sah sie gestikulieren. Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse. Schießen habe ich in der Sowjetarmee gelernt. Ich habe auch eine Ausbildung beim Militärgeheimdienst gemacht. Wir wurden dort für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktgebieten trainiert.

    Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse.

    Ich habe sie im Genick getroffen, heißt es, und das stimmt. Sie standen zufällig mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht warten, bis sie sich umdrehen. So hatte Gott sie hingestellt, so geschah es.

    Die anderen musste ich nicht töten, nur auf die Beine zielen. Ich verließ das Konservatorium und bewegte mich entlang der Barrikaden. Schoss, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten 20 bis 40 Maschinengewehre. Bat die Jungs, einen schmalen Schlitz zwischen den Schutzschilden für mich offen zu lassen. Das wird jetzt mancher nicht gern hören … Die weinten vor Freude. Die wussten, dass wir das unbewaffnet nicht schaffen.

    – Ich kam bis zum Gewerkschaftsgebäude, dann hatte ich keine Patronen mehr. Aber es hatte sich bereits herumgesprochen, und die Sicherheitskräfte rannten davon. Sie warfen alles hin. Sie kletterten übereinander weg wie die Ratten.

    Nicht alle ihre Einheiten schafften es, den Maidan-Aktivisten zu entkommen. Unsere Jungs kletterten über die Barrikaden und sind hinter ihnen her. Sie nahmen Gefangene, Gruppen von zehn, zwanzig Leuten und führten sie hinter den Maidan, Richtung Kiewer Stadtverwaltung. Die aktivsten von unseren Helden verfolgten sie bis zur Institutsstraße, und dann kam bald der Befehl, auf die Demonstranten zu schießen.

    Mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig.

    Das war ein schwerer Moment, denn ich wusste, dass ich die Schüsse gegen unsere Jungs aufhalten konnte. Auf dem Maidan versprachen mir ein paar Leute, Patronen zu bringen – ich sage nicht, wer, aber es waren Personen mit einigem Einfluss. Ich glaubte ihnen, lief hin und her … Das waren die schwersten Minuten meines Lebens, ich war völlig hilflos. Es heisst immer, auf dem Maidan gab es viele Waffen. Aber das stimmt nicht. Niemand hätte sonst zugelassen, dass die Miliz auf unsere Leute schießt. Aus meiner Hundertschaft auf der Institutsstraße sind Igor Serdjuk und Bogdan Wajda umgekommen.

    – Ich verteidige meine Heimat, mein Volk. Als ich keine Patronen mehr hatte, war das für mich, als hätte man einem Chirurgen das Skalpell genommen. Ein Patient braucht dringend Hilfe, doch der Chirurg hat kein Skalpell … Und der Mensch stirbt vor den Augen des Arztes.

    Ich habe in der ATO-Zone Berkut-Leute getroffen, die für die Ukraine kämpfen. Aber ich will nur mit Leuten zu tun haben, die wie ich sind, oder besser. Es gab gewisse brenzlige Momente … Wenn sie bewusst Krieg führen, und nicht für Orden oder Privilegien, dann kann der Krieg eine Läuterung für sie sein. Zu tun haben will ich trotzdem nichts mit ihnen.

    Auf dem Maidan sind wir einen Schritt in die richtige Richtung vorangekommen und um eine Erfahrung reicher geworden, die uns weitermachen lässt. Aber mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig. Deswegen will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Und sie mit mir? Nach der Premiere des Films wahrscheinlich schon.

    Meine Opfer sind Verbrecher, Feinde. Ich muss reden, damit die anderen wissen, was mit Feinden zu tun ist.“


    Informationen und Links:

    Bei der Diskussion darum, wer wann auf wen geschossen hat, darf eines nicht vergessen werden: Gegen friedliche Demonstrationen im November und Dezember 2013 setzten Polizei, Spezialeinheiten und der Geheimdienst SBU brutale Gewalt ein. Währenddessen schwollen die kleinen, pro-europäischen Proteste im November zu einer riesigen, landesweiten Protestbewegung an. Ziviler Widerstand und Selbstorganisation kennzeichneten diese größtenteils gewaltfreie Bewegung, an der russischsprachige Ukrainer genauso ihren Anteil hatten wie ukrainischsprachige. Politiker aus Janukowitschs Lager liefen zur Opposition über, seine Machtbasis bröckelte bereits vor dem 20. Februar. All das kann und soll den Einsatz von Gewalt seitens einiger Demonstranten nicht rechtfertigen. Die Ereignisse müssen aber im Zusammenhang gesehen werden.

    Daher hier einige Links zu Artikeln und Dokumentationen, die die Proteste und ihre Eskalation zu rekonstruieren versuchen. Die Redaktion beabsichtigt dabei keine einheitliche, widerspruchsfreie Darstellung. Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Ereignisse ist das auch kaum möglich.

    Die Proteste:
     
    Der 20. Februar 2014:

     

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  • Ein Waffenstillstand ohne Chancen

    Ein Waffenstillstand ohne Chancen

    Ist das in München geschlossene Abkommen über einen Waffenstillstand in Syrien umsetzbar? Besteht von Seiten der Kriegsparteien überhaupt der Wunsch nach seiner Umsetzung? In welchen Rollen finden sich nun Russland, Europa, die USA? Der Militärexperte der Novaya Gazeta, Pawel Felgengauer, analysiert die Dynamik des Konflikts.

    Bereits im Oktober hatte Felgengauer prognostiziert, Russland strebe mit seinem Eingreifen ein „Jalta 2.0“ an, eine neue Kräfteaufteilung zwischen Ost und West – eine Einschätzung, die in München sicherlich nicht an Aktualität verloren hat.

    Bei der Sitzung der Syrien-Kontaktgruppe (International Syria Support Group ISSG) in München verkündeten die Teilnehmer, dass in Syrien bis kommenden Freitag ein Waffenstillstand in Kraft treten soll. Gleichzeitig sollen Hilfslieferungen für die bedürftige Bevölkerung beginnen und die Friedensverhandlungen in Genf wieder aufgenommen werden.

    Der Waffenstillstand bezieht sich nicht auf Terrororganisationen wie den Islamischen Staat, die Al-Nusra-Front und einige andere bislang nicht offiziell benannte Organisationen. Eine Liste solcher Organisationen muss noch von der UNO bestätigt werden. Außerdem wird es eine Arbeitsgruppe mit US-amerikanisch-russischem Vorsitz geben, um gewisse „Modalitäten“ des künftigen Waffenstillstandes sowie den Еinsatz von Waffen zu regeln. Kurz: Wen man bombardieren darf, wen nicht und was man mit der umfassenden humanitären Katastrophe in der Region konkret tun soll.

    Diese Aufgabe ist nicht zu stemmen. Jeder dauerhafte Waffenstillstand erfordert ausgearbeitete, detaillierte, gemeinsam vereinbarte und anerkannte Regeln. Man braucht ein System für Monitoring und Untersuchungen von Zwischenfällen, man braucht zahlreiche gut bewaffnete Friedenstruppen, und das Wichtigste: Man braucht einen starken Wunsch und politischen Willen seitens der Konfliktparteien, die Kampfhandlungen wirklich zu beenden. Heute gibt es in Syrien nichts davon, dafür aber von alters her reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.

    Heute gibt es in Syrien nichts von dem, was für einen Waffenstillstand nötig wäre, dafür reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.

    Es ist offensichtlich, dass das unkonkrete Münchener Communiqué absolut nicht ausreicht, um irgendeinen Waffenstillstand zu erreichen, geschweige denn aufrechtzuerhalten. Im Donbass, zum Beispiel, gelingt es seit über einem Jahr nicht, einen dauerhaften Waffenstillstand einzuhalten; in Bergkarabach finden ständig lokale Kämpfe statt. In Abchasien, in Südossetien und in Transnistrien wird zwar schon lange nicht mehr geschossen, aber von einer grundlegenden politischen Lösung ist man nach wie vor weit entfernt.

    Wird Syrien ein neues Tschetschenien? 

    Das Regime von Baschar al-Assad betrachtet alle bewaffneten Gegner als Terroristen. Die mit praktisch jedem verfeindeten IS-Truppen halten sich in einem mehr oder weniger eingegrenzten Gebiet auf, doch die Kämpfer der Al-Nusra-Front zum Beispiel sind hier und da verstreut, ändern ihre Positionen im Laufe der Kämpfe und gruppieren sich immer wieder neu. Aus der Luft einen Terroristen von einem Oppositionskämpfer zu unterscheiden ist beim besten Willen nicht möglich. Auf Seiten der Assad-Unterstützer herrscht ebenfalls ein Chaos, bestehend aus Resten der zerfallenen Armee und unterschiedlichen Volksmilizen, die sich nach religiös-ethnischen Prinzipien zusammensetzen, aus brutalen Freiwilligenkommandos und zahlreichen ausländischen Söldnern, insbesondere iranischen Militärangehörigen und Kämpfern der libanesischen Hisbollah.

    In einer solchen Lage hat der ausgerufene Waffenstillstand kaum Erfolgschancen. Der Iran und die Russische Föderation investieren weiterhin riesige Geldsummen und nehmen Menschenverluste in Kauf, um das marode, bankrotte, ja bereits vom eigenen Volk verschmähte Assad-Regime zu retten.

    Das langfristige Ziel von Moskau und Teheran besteht darin, einen Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, jegliche bewaffnete Opposition zu zerschlagen und aus dem Staatsgebiet herauszudrängen, und Syrien zu einem gemeinsamen iranisch-russischen Protektorat mit strategisch wichtigen Militärstützpunkten zu machen. Eine Art Tschetschenien, wie es nach der Zerschlagung der Unabhängigkeitskämpfer und Islamisten unter Putin entstanden ist.

    Vielleicht wird es in Syrien eine neue Führungsfigur geben, in der Art eines Ramsan Kadyrow. Assad ist schließlich keine unersetzliche Instanz.

    Europa gespalten, Kerry konziliant

    Europa will zwar, dass in Syrien zumindest irgendeine Ordnung wiederhergestellt wird, ist aber gänzlich uneinig, wie dies zu erreichen ist. Laut Quellen aus Brüssel ist die EU völlig gespalten: Frankreich, Großbritannien, Schweden und Dänemark weigern sich vehement, etwas mit Assad zu tun zu haben, und fordern, mit allen Mitteln die Opposition zu unterstützen. Bulgarien, Rumänien, Spanien und Tschechien wären bereit, mit Assad einen Dialog zu führen. Deutschland ist unentschlossen. Alle sind entsetzt über die Flüchtlingsströme und einige sind sogar einverstanden mit Moskau, das „einen nach dem anderen bombardiert“.

    Die offizielle politische Linie Washingtons, vertreten durch Außenminister John Kerry, beruht darauf, in Bezug auf die Syrien-Krise unter allen Umständen Berührungspunkte mit Moskau zu suchen, was zu zusätzlichem Zwist innerhalb der EU führt.

    Nur wenn man die Bevölkerung Syriens auf ein Drittel reduziert, wird der Rest sich dem Regime wieder fügen.

    Bloß keinen Druck, keine potenziellen Drohgebärden, nur unermüdliche Suche nach Kompromissen mit „Freund Sergej“ Lawrow). Assad verkündete denn auch gleich als Reaktion auf den Münchener Waffenstillstandsbeschluss, dass er ganz Syrien zurückerobern will, was jedoch „Zeit kosten kann“. Im Übrigen nicht nur Zeit: Man müsste noch bis zu einer Million Menschen ums Leben bringen, zusätzlich zu den bereits 470 Tausend Opfern, und bis zu 10 Millionen weitere in die Flucht schlagen. Denn nur indem man die Bevölkerung Syriens (vor dem Krieg lebten dort 23 Millionen Menschen) auf ein Drittel reduziert, kann man den Rest dazu bewegen, sich dem Regime wieder zu fügen.

    Die militärische Logik zwingt zum Weiterbomben

    Nach Meinung der Europäer haben sich die ersten 100 Tage russischer Luftschläge als kaum effektiv erwiesen: Die wenigen, demoralisierten Reste der syrischen Armee waren weder willens noch imstande, die russischen Bombardements zu nutzen und entschieden vorzustoßen. Daher haben Assads iranische Verbündete für die jetzige Offensive im Norden von Aleppo eine schlagfertige Truppe aus gut geschulten Kämpfern der Hisbollah sowie aus Söldner-Trupps aufgestellt, die aus irakischen und afghanischen schiitischen Freiwilligen unter dem Kommando von Generälen und Offizieren der iranischen Revolutionsgarde bestehen.

    Die radikalen schiitischen Kräfte kämpfen schon lange im Irak, Libanon und in Afghanistan gegen die Sunniten, die auch in Syrien die Bevölkerungsmehrheit bilden. Diese Kämpfer sind hochreligiös und neigen oft zu äußerster Grausamkeit, nicht weniger übrigens als ihre sunnitischen Gegner. Allerdings verfügt Assad nur über eine kleine Anzahl solch schlagfertiger Kräfte. Er muss bei Aleppo jetzt zügig handeln: die syrischen Oppositionskämpfer und radikalen Islamisten hinter die türkische Grenze drängen, und die unzuverlässige sunnitische Zivilbevölkerung am besten gleich mit. Je mehr, desto besser.

    Lawrow hat Kerry um den Finger gewickelt, sie haben ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben – es lief sogar noch besser als bei Minsk II.

    Bei Schließung der Grenze zur Türkei kann die Überwachung der zurückeroberten Gebiete örtlichen Kräften übertragen werden, die allerdings eher unzureichend ausgebildet sind. Die starken Streitkräfte werden dann wohl an andere Fronten verlegt, vor allem Richtung Damaskus und südlich davon, um die jordanische Grenze dichtzumachen. Den von Oppositionellen besetzten Teil von Aleppo wird Assad ebenfalls möglichst schnell in seine Gewalt bringen, solange dort Panik herrscht. Ansonsten steht eine Belagerung bevor, die sich über Wochen oder gar Jahre hinziehen könnte, wie es in Sarajewo während des Bürgerkrieges der Fall war. Insbesondere wenn dort, wie im Lawrow-Kerry-Plan vorgesehen, ein humanitärer Korridor zur Versorgung der Stadt eingerichtet wird.

    Die militärische Logik verlangt somit, dass die russische Luftwaffe weiter bombt und Assad mit seinen Verbündeten weiter angreift, unter welchem Vorwand auch immer: Die Opposition selber halte keine Feuerpause ein, es handele sich bei ihr um Terroristen etc.

    Lawrows Strategien verfangen, direkte Konfrontation dabei immer wahrscheinlicher

    Nebenbei bemerkt erledigte Lawrow in München die ihm vom Kreml gestellte Aufgabe mit Bravour. Er hat Kerry um den Finger gewickelt und ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben, das eine Menge Interpretationsraum bietet. Es lief sogar noch besser als bei Minsk II.

    Lawrow rief sogar das US-Militär zu enger Zusammenarbeit auf: „Wir haben einen gemeinsamen Feind.“ Das ist eher nicht so: Die Übereinkunft zu Syrien ist mit Kerry erreicht worden, nicht mit den USA oder dem Pentagon.

    Dessen Chef Ashton Carter erklärte, während in München verhandelt wurde, den Journalisten in Brüssel höflich, dass er Kerry viel Erfolg wünsche, seine – Carters – Aufgabe aber bestehe darin, „der russischen Aggression entgegenzutreten“ und gegen den IS mit Streitkräften der eigenen Koalition anzugehen. Dass er sich von Kerry nichts sagen lässt, hat Carter ja schon öfter unter Beweis gestellt.

    Jetzt, zum Ende ihrer Amtszeit, ist die Regierung Obama schwach, und das sollte eigentlich den russischen Strategen in die Hände spielen. Dennoch könnten Zeit und Kraft, die sie in die Verhandlungen mit Kerry investiert haben, sich als verschenkt erweisen. Das russische Militär und seine Verbündeten rücken rasch in Richtung der türkischen Grenze vor, ein direkter militärischer Zusammenstoß wird immer wahrscheinlicher, wobei Lawrow sich überzeugt zeigt, dass Washington den Einmarsch türkischer oder anderer arabisch-sunnitischer Kräfte nach Syrien nicht zulassen wird.

    Kerry allerdings hat sich dahingehend schon abgesichert, indem er in einem Interview in München erklärte: Sollten Assad, Russland und der Iran die getroffenen Vereinbarungen unterwandern, „wird die Weltgemeinschaft nicht dasitzen und blöd zusehen, sondern aktiv werden, um den Druck auf sie zu erhöhen.” Es könnten auch Bodentruppen zum Einsatz kommen. Nach dem Motto: Ich habe damit nichts zu tun, löffelt die Suppe selber aus, hat Kerry getan, was er konnte.

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    An der Polarkreis-Route

    Mehr und mehr gewinnt die sogenannte Polarroute oder Eisroute für Flüchtlinge an Bedeutung, die durch den Norden Russlands nach Europa führt. Neben dem Weg über Norwegen gibt es dabei einen weiteren direkt nach Finnland, das im Unterschied zu seinem Nachbarland EU-Mitglied ist. Natalja Sanejewa hat für SNOB mit Flüchtlingen auf der Polarroute gesprochen. Sie schreibt:

    Kandalakscha ist eine Stadt auf der Fluchtroute im Gebiet Murmansk. Am nächstgelegenen Grenzübergang werden Schengen-Visa, aus welchem Grund auch immer, von russischen Grenzern nicht kontrolliert. Ihre finnischen Kollegen können den Flüchtlingsstrom nicht bewältigen und vermuten hinter der Tatenlosigkeit der Russen politische Motive. Und die Einwohner Kandalakschas sind viel zu beschäftigt, um internationale Nachrichten zu verfolgen: Ihnen geht es ums Business.

    „Und wenn morgen ein Schwarzer mein Nachbar wird?“ fragte ein Passant.

    „Die sind so schwarz wie mein Schal“, sagte der Säufer.

    „Hätte ich ein Gewehr, würde ich alle erschießen“, sagte der Hausmeister.

    Der Inder sagte nichts. Der Inder war gestorben. Nachdem er zwei Wochen im Auto gelebt hatte, bei 30 Grad Kälte. In der Warteschlange an der russisch-finnischen Grenze. Er starb, und Gerüchte über die ruhige kleine Stadt Kandalakscha krochen in beide Richtungen, nach Russland und nach Finnland.

    In Kandalakscha leben an die 33.000 Menschen. Sie schrauben Autos zusammen und arbeiten im Aluminiumwerk. Der Durchschnittslohn beträgt weniger als 25.000 RUB [290 EUR – dekoder], was für eine Provinzstadt nicht schlecht ist.

    Aber diejenigen, die gelernt haben, an Flüchtlingen zu verdienen, machen viel mehr Geld. Jeden Tag überqueren mindestens 15 Flüchtlinge die Grenze zu Finnland. Von jedem verlangen Schleuser anderthalbtausend Dollar.

    Syrer, Afghanen, Pakistaner und Afrikaner warten, bis sie an der Reihe sind und die Grenze überqueren können. Araber, Berber, Kurden, Turkmenen. Lebendiges Geld. Ein Touristenvisum für Russland kostet sie etwa 300 Dollar, auf den ersten Blick ist das der billigste Weg nach Europa.

    Nach den „Sperenzchen“ mit dem Inder gaben die Stadtbehörden zu Protokoll: Alle Flüchtlinge sind in Hotels untergebracht. Mitte Januar veröffentlichte die russische Nachrichtenagentur RIA ein Interview mit einer afghanischen Familie, die angeblich im Hotel Spolochi ein Zimmer zugeteilt bekam. Allerdings ist das Hotel Spolochi seit November 2015 wegen Renovierung geschlossen. Dafür sind zwei andere Hotels proppenvoll mit Flüchtlingen, das Greenwich und das Pomotur. 1500 RUB [17 EUR – dekoder] pro Person und Nacht. Keine Sonderkonditionen.

    In den Hotels sind auch Kinder und Alte. In der Schlange warten ein Afghane mit kleiner Tochter und ein Syrer mit kranker Mutter. Deren Bruder ist Arzt in Helsinki und könnte ihr helfen. Aber die Schlange kommt nur langsam vorwärts, und das Geld geht schnell zu Ende.

    Der Araber Abderrahim hat zwei Tage im Greenwich verbracht. Wir sitzen in Petersburg, in einer kalten Küche mit durchgebrannter Glühbirne. Ich reiße ein gekochtes Hähnchen in Stücke als Brotbelag. Abderrahim lacht. Er ist Koch. Programmierer und Koch. In seiner Heimat konnte er weder in dem einen noch in dem anderen Beruf eine gut bezahlte Arbeit finden.

    Er ist 22, das älteste Kind in einer großen Familie. Vor einigen Jahren hatte sein Vater einen Unfall, er kann nicht mehr arbeiten. Sie haben viele Kredite aufgenommen, fürs Haus, für medizinische Behandlungen. Die jüngste Schwester ist zehn. Ein Jahr lang hat Abderrahim ohne freien Tag gearbeitet und 1000 Dollar gespart. Weitere anderthalb Tausend hat er sich von einem Cousin geliehen.

    „Was hat deine Mutter dazu gesagt, dass du weggegangen bist?“

    „Sie hat mich angefleht zu bleiben. Aber ich musste weg.“

    Da, wo Abderrahim herkommt, ist kein Krieg. Solche Flüchtlinge werden als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, ihnen wird Asyl oft verwehrt. Er nahm das Risiko dennoch auf sich. Der kürzeste Weg aus Afrika nach Europa führt über Marokko nach Spanien. Er wurde schon von einigen Tausend illegalen Migranten genutzt. Dann haben sie an der Grenze einen sechs Meter hohen Zaun hingestellt. Wer keine andere Möglichkeit hat und den nötigen Mut, der überquert das Mittelmeer jetzt mit Schlauchbooten. Aber diejenigen, die nicht ertrinken, werden meist festgenommen, zurückgeschickt und mit einem EU-Einreiseverbot für fünf Jahre belegt. Die Variante für Reiche: eine Scheinehe mit einer Frau aus der EU. Das kostet aber 3000 Dollar. Der Weg über Russland ist billiger und schneller. Trotz der Abzocke.

    Abderrahim hatte eigentlich vor, die finnische Grenze bei Wyborg zu überqueren. Aber in Petersburg traf er seine Landsleute, die ihm erklärten: Der einzige Weg aus Russland nach Europa führt über Kandalakscha.

    „Man hat mir die Telefonnummer eines Russen aus Kandalakscha gegeben, er hieß Kirill. Er erklärte mir, dass ich 1500 Dollar an den Schleuser zahlen müsse, um die Grenze zu überqueren. Sagte dann: Komm her mit dem Geld, alles andere erledigen wir. Anders kommst du nicht nach Finnland. Ich hatte nicht so viel Geld, aber ich bin gefahren, wollte zumindest Details erfahren, wie alles so läuft.“

    Jeder Flüchtling in Kandalakscha hat einen eigenen Schleuser. Man darf ihn nicht wechseln, sonst gibts Probleme. Manchmal gibt es Schlägereien unter Schleusern wegen der Kundschaft. Ein Flüchtling bringt den Halbjahreslohn eines Fabrikarbeiters.

    „Kirill hat mich am Bahnhof in Kandalakscha abgeholt, zusammen mit einem Polizisten. Wir sind zu einer Passstelle in der Nähe des Hotels gegangen, dort wurde ich registriert. Dann haben sie mich ins Greenwich gebracht und auf die Warteliste gesetzt. Wir waren zu zweit im Zimmer, bei mir war ein Syrer, ein Autoschlosser, aber in den anderen Zimmern waren viel mehr Menschen, bis zu sieben Personen. In den ersten Tagen lebst du unter guten Bedingungen, später kommst du in andere Zimmer. Die 1500 RUB [17 EUR – dekoder] pro Tag sind eine gigantische Summe für uns. Wenn du nicht zahlst, schmeißen sie dich raus, und das bei 30 Grad Kälte.“

    Das Pomortur ist schlimmer als das Greenwich: Es wird seltener geputzt, sie pferchen mehr Menschen in einen Raum, und der Hof ist voll mit verrosteten sowjetischen Autos. Da drin wohnen die Ankömmlinge aus den ärmsten afrikanischen Staaten wie Kongo, Kamerun, Senegal. Sie haben ihren Schleusern weniger als anderthalbtausend gezahlt, deswegen müssen sie sehr lange warten.

    Die Schleuser kümmern sich um ihre Kunden. Ist das russische Visum abgelaufen, verhandeln sie mit der Polizei. Haben die finnischen Grenzer dich nicht reingelassen, gibt’s den zweiten Versuch kostenlos. Abderrahim sagte Kirill, dass er bald von Verwandten Geld überwiesen bekomme. Daher durfte er den zweiten Tag kostenlos im Hotel übernachten. Am dritten wurde er von der Warteliste gestrichen.

    „Wenn du zahlst, fährst du dann am nächsten Tag?“

    „Nein, etwa eine Woche muss man warten. Es gibt auch Leute, die zahlen mehr, die legen 5000 Dollar hin und kommen dafür ganz oben auf die Liste. Aber während du wartest, musst du die ganze Zeit fürs Hotel zahlen. 100–200 Dollar musst du für die Unterbringung einrechnen. Es gibt dort viele syrische Familien, aber auch genug Afrikaner. Ich verstehe, dass die Grenzen in erster Linie für syrische Flüchtlinge offen sind. Aber meine Familie hungert. Zurzeit wohnen im Greenwich 400 Menschen. Sie gehen selten auf die Straße, hocken meist in ihren Zimmern, da es jeden Moment heißen kann: Morgen gehts los. Die Leute gehen nur raus, um Essen und Zigaretten zu kaufen.

    „Glaubst du, Kirill arbeitet alleine, oder teilt er das Geld mit jemandem?“

    „Viele Menschen sind in das Schleusergeschäft verwickelt. Es gibt viele russische Schleuser, sie alle sind sehr reich. Es gibt Gerüchte, dass Männer aus Moskau kommen, um die Gewinne einzusammeln. Außerdem verkaufen uns die Einheimischen Autos.“

    Die Einheimischen verkaufen alte Shiguli-Modelle für 500 Dollar. Zunächst hatten die Russen ihre Kunden selbst über die Grenze gebracht und sich dafür Minibusse angeschafft. Einer der Schleuser wurde von den Finnen erwischt, das Geld konfisziert, bald beginnt sein Prozess. Jetzt sitzen die Flüchtlinge selbst am Steuer – die Autos lassen sie später in Finnland am Straßenrand liegen.

    „Die Schleuser setzen fünf Flüchtlinge ins Auto, lassen sie vorfahren und fahren hinterher. An der Grenze zu Finnland halten sie Abstand und warten ab, ob sie durchkommen oder nicht.“

    „Sind schon mal welche zurückgekommen?“

    „Ja, viele. Das Wichtigste ist, sich ein gutes Märchen für den Grenzer auszudenken. Sie fragen nach den Reisegründen. Warum darfst du nicht in deine Heimat zurück? Warum ist dort die Situation schlecht? Ein junger Mann aus dem Jemen hat mal erklärt: Ich will in Finnland arbeiten. Stellen Sie sich vor, so hat er das gesagt! Klar, hat man ihn zurückgeschickt.“

    Einmal hat sich eine Schar solcher Flüchtlinge in das entlegene Dorf Kajraly verirrt. Dort wohnen 19 Menschen. Ein paar Kilometer weiter ist die finnische Grenze, aber das interessiert niemanden. Hier wird Holz gefällt, und man sieht sich wochenlang nicht. Und auf einmal tauchen diese merkwürdigen Menschen auf: mit dunkler Haut, halb erfroren, mit farbigen Decken über leichten Jacken. In Kajraly befindet sich das einzige Lokal im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Normalerweise schauen drei Menschen pro Tag hier vorbei. Die Einheimischen haben noch nichts über das Geschäft mit den Flüchtlingen gehört, sie sehen überhaupt zum ersten Mal so viele dunkelhäutige Menschen. Das ganze kleine Dorf ist gekommen, um sie sich anzuschauen, man gibt ihnen Kleidung, lässt sie sich aufwärmen, hilft, Autos zu reparieren. Danach sind die Flüchtlinge wieder Richtung Kandalakscha aufgebrochen, für den zweiten Versuch, die Grenze nach Finnland zu überqueren.

    Aber Abderrahim ist in Petersburg geblieben. Arbeit hat er noch keine gefunden. Sein russisches Visum ist abgelaufen. Er hat sich auf einer Couchsurfing-Site angemeldet und übernachtet kostenlos bei verschiedenen Menschen. Nach Hause zurück kann er nicht, er hat ja seiner Mutter versprochen, die Familie von ihren Schulden zu erlösen. Die Polizei hat ihn noch nicht erwischt.

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  • Die Untergangs-Union

    Die Untergangs-Union

    In westlichen Medien kaum beachtet, hatte sich am 1. Januar 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet. Gründungsmitglieder dieses „Gegenmodells zur EU“ sind Russland, Belarus, Kasachstan und Armenien. Später trat auch Kirgisistan der Union bei. An das Gewicht der EU reicht die östliche Union allerdings nicht heran, weder von der Zahl ihrer Mitglieder her, noch von ihrer wirtschaftspolitischen Bedeutung. Vor allem aber fehlt es ihr auch an innerem Zusammenhalt. Die einzelnen Mitgliedstaaten verfolgen weitgehend ihre eigenen Interessen. So verstand sich die EAWU von Anfang an eher als Wirtschaftsunion, denn als politischer Zusammenschluss.

    Wjatscheslaw Polowinko hat für die Novaya Gazeta nach einem Jahr Eurasische Wirtschaftsunion kritische Bilanz gezogen, aus der Perspektive Kasachstans, das in der Union eine Schlüsselrolle einnimmt.

    Das erste Neujahrsgeschenk von Russland an Kasachstan im Jahr 2016 war ein Erlass von Präsident Putin. Demnach dürfen Waren aus der Ukraine nur noch in versiegelten Waggons, Zisternen und LKWs und ausschließlich von Belarus aus durch die Russische Föderation nach Kasachstan befördert werden.

    Dabei sollen die für den Transit durch Russland bestimmten Warenlieferungen mit einer Plombe versehen werden, die über das russische Navigationssystem GLONASS auffindbar ist. Bei der Einreise bekommt jeder Fahrer ein Ticket, das er bei der Ausreise wieder abgeben muss. Es verliert seine Gültigkeit, sobald GLONASS eine Unregelmäßigkeit zeigt.

    Natürlich gelten diese drakonischen Maßnahmen in erster Linie der Ukraine: Am 1. Januar hat Russland das Freihandelsabkommen mit seinem proeuropäischen Nachbarstaat ausgesetzt. Allerdings bescherte es auch Kasachstan damit zusätzliche Kopfschmerzen: Nach Informationen der Nowaya Gazeta wollte Russland nämlich zunächst überhaupt keinen Warentransit aus der Ukraine zulassen.

    Die Entscheidung, einen Transit unter der Aufsicht von GLONASS einzuführen, fiel auf den ersten Jahrestag der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) am 1. Januar 2015. Seitdem ist die Mitgliederzahl der EAWU, die sich quasi als Alternative zur EU sieht, mit dem Beitritt von Armenien und Kirgisistan fast um das Doppelte gestiegen. Doch dies ist beinahe der einzige Erfolg. Denn der Warenumsatz zwischen den Ländern ist gesunken und die Partner sind in Handelskriege verstrickt.

    Nichts bleibt ohne Folgen

    Die erste Bewährungsprobe musste die neue Union noch vor ihrer offiziellen Gründung bestehen, als Ende 2014 der russische Rubel stark abgewertet wurde. Damals rettete der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew die Situation. Er sieht sich als federführend im Aufbau der EAWU. „Die Union hat dieses Jahr dank dem Pragmatismus Nasarbajews überlebt“, sagt der Zentralasienexperte Arkadi Dubnow. „Nur dank der aus der Not geborenen politischen Weisheit des kasachischen Präsidenten hat Kasachstan damals die Handelsgrenze nicht geschlossen, obwohl es kurz davor war.“

    Vereinfacht ausgedrückt: Nasarbajew wollte das Gesicht der sich gründenden Union retten und opferte dafür im Endeffekt die Wirtschaftskraft des eigenen Landes. Zunächst veranlasste der niedrige Rubelkurs die Kasachen dazu, über die Grenze zu fahren und alles Mögliche zu kaufen, von Lebensmitteln bis hin zu Wohnungen. Das bescherte kasachischen Unternehmern in allen Branchen große Verluste. Im Sommer 2015 stürzte dann mit leichter Verzögerung nach dem Rubel auch der Tenge in den Keller und fällt seitdem kontinuierlich weiter. So kostete ein US-Dollar im August 2015 noch 188 Tenge, derzeit sind es dagegen 340 Tenge.

    Kasachstan zahlt einen hohen Preis

    Kasachstan kam dieses Manöver teuer zu stehen: Nasarbajew selbst gab zu, für die Stabilisierung des Tenge-Kurses 28 Milliarden US-Dollar ausgegeben zu haben – sprich, er hat einfach Geld zum Fenster hinausgeworfen. Denn die Maßnahme brachte keine Stabilität: Kasachische Löhne sind nur noch die Hälfte wert, und unzufriedene Stimmen werden immer lauter. Dafür machen die Einwohner Kasachstans nicht nur die eigene Regierung, sondern immer öfter die Eurasische Wirtschaftsunion verantwortlich. Der Tenge war Ende 2015 die schwächste Währung in der GUS und in Europa: Er fiel gegenüber dem US-Dollar gleich um 85,2%.

    Allerdings ist es in den Medien gelungen, die Abwertung des Tenge nicht mit der EAWU in Zusammenhang zu bringen. Die Wirtschaftsprobleme der Union erklärten sie mit der weltweiten Finanzkrise. Und die Abwertung des Tenge, die sei gar „auf Anfragen der Fernsehzuschauer“ geschehen: als hätten kasachische Unternehmer den Präsidenten flehentlich darum gebeten.

    Viel schwerer war es dagegen, die Handelskriege zu erklären, die sich die Mitgliedstaaten während des gesamten Jahres lieferten. Ende März, Anfang April kam es zum ersten und gleichzeitig schrillsten Konflikt: Damals verbot Kasachstan die Einfuhr von Mayonnaise, Süß-, Milch- und Fleischwaren, Eiern und Butter aus Russland. Als Antwort darauf führten die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor und die Behörde für Veterinär- und Pflanzengesundheitsaufsicht Rosselchosnadsor eine Kampagne gegen Lebensmittel aus Kasachstan. Der Skandal konnte erst auf Ministerebene beigelegt werden.

    Am schwierigsten wurde die Situation, als Russland Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei verhängte. Kasachstan bekam diesen Konflikt zwar nur indirekt, aber empfindlich zu spüren: LKWs, die aus der Türkei nach Kasachstan fuhren, blieben an der russisch-georgischen Grenze stecken. Inzwischen ist es nahezu unmöglich, türkische Waren über Russland zu transportieren.

    Ein kasachischer Unternehmer, der anonym bleiben wollte, berichtete der Novaya Gazeta, dass er mehrere Arbeitertrupps zum Abladen an die Grenze entsenden musste. Die Zollbeamten hatten verlangt, die ganze Ware auszuladen und vorzuzeigen.

    Die kasachische Handelskammer veröffentlichte auf ihrer Homepage alternative Routentips, auf denen Waren aus der Türkei transportiert werden können, unter Umgehung Russlands. Der Weg per Fähre über das Kaspische Meer ist allerdings deutlich teurer. In Kasachstan scherzt man inzwischen schon, dass dank der russischen Politik die Brücke über das Kaspische Meer, von der Kasachstan, die Türkei und China seit Langem träumen, schon bald Realität werden könnte.

    Nicht alle lassen sich einspannen

    Wenn Experten Bilanz ziehen über das erste Jahr EAWU, dann konstatieren sie ein Fiasko nach dem anderen. „Zum Ende des Jahres 2015 fiel der Warenumsatz zwischen den EAWU-Ländern um 26 %, wobei einige Experten gar von 33 % ausgehen“, sagt Dosym Satpajew, Politologe und Direktor der Risikobewertungsgruppe. „Ich kann keinen einzigen positiven Aspekt nennen, der das Gefühl des Scheiterns irgendwie ausgleichen würde“, gesteht der kasachische Wirtschaftsjournalist Denis Kriwoschejew. „Alles, was 2014 noch vor der Unionsgründung vorausgesagt wurde, ist eingetreten: das Übergreifen der Inflation und der Währungsabwertung sowie der Druck auf die kasachischen Unternehmer. Und das ist erst der Anfang.“

    „Kasachstan ist eindeutig der Verlierer. Was Russland betrifft, so müssen wir die Dinge beim Namen nennen: Für Russland ist der Handel mit den EAWU-Staaten nicht so bedeutend. Die Verluste wirken sich nicht groß aus. Für Armenien dagegen bildet die EAWU die Grundlage des geopolitischen Überlebens. Die Gewinner sind, erstaunlicherweise, die Kirgisistan. Sie können nun ohne Gewerbeschein und Genehmigung in Russland arbeiten, gleichzeitig kann die Zusammenarbeit mit Kasachstan bei richtiger Zielsetzung gute wirtschaftliche Ergebnisse bringen“, so Arkadi Dubnow.

    Im Grunde genommen liegt das Hauptproblem in der Zielsetzung. Jedes Land trat mit eigenen Hoffnungen und Interessen der Union bei und traf schließlich auf zwei Dinge: das Diktat Russlands und den Vorrang der Geopolitik vor der Wirtschaft.

    Dosym Satpajew meint, das hauptsächliche Ergebnis des ersten Jahres EAWU sei die allseitige Enttäuschung. „Ein bedeutender Teil der kasachischen Wirtschaft sieht die EAWU nun viel skeptischer. Innerhalb Kasachstans sinkt das Loyalitätsniveau gegenüber der Union. Das bedeutet, dass die EAWU im Niedergang begriffen ist und kaum eine Chance hat, über dieses Stadium hinauszuwachsen“, so der Experte.

    Die Quadratur der Union

    Seit dem 1. Januar 2016 hat Kasachstan den Vorsitz der Union inne. Nach Meinung der Gesprächspartner der Novaya Gazeta wird Nursultan Nasarbajew alle Konflikte im Keim ersticken – wiederum, um das Gesicht der EAWU zu retten.

    Die Geschichte mit dem Warentransit aus der Ukraine unter Aufsicht von GLONASS könnte die ohnehin instabile Situation jedoch weiter ins Wanken bringen. Weder die kasachischen Machthaber noch die Gesellschaft haben es gerne, wenn man ihnen von außen etwas aufzwingt.

    Dass viele russische und prorussische Medien in Kasachstan über den Präsidenten-Erlass im Stile von „Putin hat erlaubt” (wörtlich zitiert) berichtet hatten, empfanden viele Kasachen als beleidigend. Dazu sollte man anmerken, dass viele Bewohner Kasachstans die russischen Medien als ein Instrument der Kreml-Expansion betrachten. Und als Ende 2015 die russischen Fernsehkanäle in Kasachstan wegen einer Änderung im Mediengesetz  ernsthaft in ihrer Existenz bedroht waren (kurz gesagt, weil die Ausstrahlung ausländischer Werbung verboten wurde, aber niemand wusste, wie man sie aus den Sendungen herausschneidet), hielt sich die Zahl der Anhänger und Gegner der russischen Sender in Kasachstan einigermaßen die Waage. Die russischen Sender sind inzwischen nicht mehr in Gefahr, allerdings war die Aufregung groß.

    Das größte Paradox ist allerdings, dass trotz all dieser großen Probleme keiner daran denkt, das Projekt EAWU abzuwickeln. „Zum Teil kann man die Überlebensfähigkeit der Union damit erklären, dass die Präsidenten Russlands, Kasachstans und Belarus‘ sich gegenseitig gut kennen und wissen, welche Retourkutsche ihnen blüht, wenn sie ein anderes Mitglied attackieren. Gleichzeitig wissen sie, welche Angriffe der anderen sie getrost ignorieren können“, erklärt Arkadi Dubnow.

    Am meisten jedoch fallen die Ambitionen von Präsident Nasarbajew ins Gewicht: Er hält sich, wie gesagt, in der EAWU für federführend.

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