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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“

    „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“

    „Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt die Redaktion des russischsprachigen Exilmediums Meduza über den Artikel, in dem sie Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt. 

    Darunter sind Aussagen von Personen aus Russland und seinen Nachbarstaaten, aber auch aus Deutschland und Österreich. In vielen finden sich Sorgen um die eigene Zukunft im Falle einer militärischen Niederlage Russlands. Einige spiegeln auch Phrasen und Narrative aus der russischen Propaganda wider. Auffällig ist, dass in nur einem der veröffentlichten Kommentare die ukrainische Bevölkerung vorkommt. 

    Ähnliche Erkenntnisse gewann auch das russische Forschungskollektiv Laboratorija publitschnoi soziologii (dt. Labor der öffentlichen Soziologie) in zwei Studien zur Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine. In ihrem Fazit Ende 2022 heißt es: „Ein erheblicher Teil der Unterstützung für den Krieg ist in der heutigen russischen Gesellschaft eine passive Unterstützung. Die Nicht-Gegner des Krieges würden es vorziehen, dass dieser nie begonnen hätte und wünschen sich, dass er bald endet. Und ein russischer Sieg ist für viele von ihnen sogar nur das geringere ,Übel‘.“

    „Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt Meduza über den Artikel, in dem es Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

    Andrej, 35, Wolgograd

    Der Krieg ist zu Ende, wenn eine der beiden Seiten gewonnen hat. Eine Niederlage würde für Russland eine nationale Demütigung bedeuten, das darf man nicht zulassen. Folglich müssen wir gewinnen – wir haben keine andere Wahl mehr.
    Die Ukraine will keinen Frieden. [Meduza: Ist das so? Das offizielle Kyjiw behauptet nur, es wolle alle von Russland annektierten Gebiete wieder zurückholen.] Die Ukrainer fordern immer mehr Waffen und beschießen russische Städte. Es ist schon viel zu viel Blut vergossen worden, um jetzt zu sagen: „Danke, das war’s. Lasst uns auseinandergehen.“

    Alexej, 24, Jakutsk

    Die Frage [von Meduza an die Leser nach Gründen, den Krieg zu unterstützen] ist nicht korrekt formuliert. Ich unterstütze den Krieg nicht, aber ich will auch nicht, dass Russland verliert. Dann wird es für alle noch schlimmer. Die Welt, wie wir sie kennen, wie wir sie gewohnt sind, wird mit Sicherheit zusammenbrechen, und es kommen noch dunklere Zeiten. Der Krieg ist ein Fehler, aber es darf keine Niederlage geben.

    Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg

    Pawel, 30, Deutschland

    Ich unterstütze den Krieg nicht, habe aber beschlossen, diesen Kommentar zu schreiben, weil die, die versuchen, Rechtfertigungen für diesen Krieg zu finden, oft mit Unterstützern gleichgesetzt werden.

    Ich bin wütend auf beide Seiten in diesem Konflikt. Auf Russland, weil es diesen dummen, blutrünstigen Krieg begonnen hat, der jeden Tag zu sinnlosem Töten führt. Auf die Länder, die die Ukraine unterstützen, bin ich wütend, weil sie nicht dazu aufrufen, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen, also das sinnlose Töten zu beenden. [Meduza: Ist das so? Nein. Die westlichen Partner haben mehrfach von den russischen Machthabern gefordert, den Krieg zu beenden.] Stattdessen versorgen sie [diese Staaten] das Land immer weiter mit Waffen, obwohl sie wissen, dass das nur noch mehr Opfer bringen wird.

    Anonymer Leser, 38, ohne Ortsangabe

    Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es war ein irrsinniger Fehler, ihn zu beginnen, aber jetzt muss man ihn gewinnen, sonst wartet auf uns das Leid der Besiegten. Putin unterstütze ich nicht, zum Teufel mit ihm.

    Oleg, 27, ohne Ortsangabe

    [Ich unterstütze den Krieg], weil ich denke, dass der „Friedensplan“, den Selensky vorgebracht hat und den der „kollektive Westen“ unterstützt, Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit einen solchen Schaden zufügen würde, dass es daran zerbrechen könnte. Und mir ist bewusst, dass sich [in diesem Fall] mein Wohlstand, meine Sicherheit und meine Perspektiven stärker verschlechtern, als wenn die russische Armee den ukrainischen Streitkräften so sehr schadet, dass sie danach bei einem Friedensschluss mehr Kompromisse eingehen müssen.

    Mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt

    Anonymer Leser, 36, Tjumen

    Ich unterstütze den Krieg nicht im Sinne der Z-Patrioten. Am 24. Februar [2022] war ich geplättet. Als Bürger der Russischen Föderation halte ich den Einmarsch der Truppen in die Ukraine zwar für einen Fehler, aber ein Abzug wäre ein Verbrechen. Ich habe nicht vor, die nächsten 20 Jahre Reparationen für Fehler zu bezahlen, die andere begangen haben. Mit der Verliererseite wird niemand reden.

    Zur Waffe greifen werde ich nicht. Man kann sagen, ich bin ein Beobachter, der nicht für die Ukraine ist. Ich war vor dem Maidan dutzende Male dort, ich weiß Bescheid, wie sich die Stimmung und Gesetze [im Land] verändert haben. Wenn dort ein europäischer Staat entstehen sollte, dann einer, der mit Francos Spanien oder Portugal unter Salazar vergleichbar ist und sich keinen Deut von Putins Russland unterscheiden würde.

    Viktoria, 28, Sankt Petersburg

    Am Anfang habe ich [den Krieg gegen die Ukraine] abgelehnt, wie alle kriegerischen Aktivitäten. Aber mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt, die Schadenfreude über den Beschuss der Krim-Brücke, die aktive Aufrüstung der Ukraine durch den Westen – da wurde mir klar, dass die Russophobie und andere Dinge, die ich früher für stumpfe Propaganda gehalten hatte, nicht immer gelogen sind. Krieg bedeutet immer Leid, aber manchmal sind die unpopulären Entscheidungen die richtigen.

    Nikolaj, 27, Österreich

    Ich finde den westlichen Standpunkt nicht ganz korrekt und stimme Putins Terminologie von der monopolaren Welt mit doppelten Standards zu. Meiner Meinung nach hat der Westen das Boot selbst ins Wanken gebracht und macht nun Russland dafür verantwortlich. Darüber hinaus führen die stetige finanzielle Unterstützung der Ukraine und die kontinuierlichen Waffenlieferungen dazu, dass das ukrainische Regime den Krieg weiterführt und sich nicht auf Verhandlungen einlässt.

    Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke

    Artjom, 40, Berlin

    Ich unterstütze nicht in erster Linie den Krieg, sondern das russische Volk und Russlands Interessen. Ich war zuerst entschieden dagegen, aber im Laufe der Entwicklungen habe ich meinen Standpunkt geändert.

    Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland und habe noch nie solche Propaganda gesehen. Die westlichen Politiker und Medien haben eine absolut einseitige Position eingenommen: Russland ist der Aggressor, die Ukraine ein Heldenstaat; Putin hat immer Unrecht, und Selensky redet man nach dem Mund. Alle, die eine andere Position vertreten, werden aus dem Informationsfeld gedrängt und „gecancelt“.

    Die westeuropäischen Staaten erweisen sich als vollkommen willenlos und handeln auf Befehl der USA. Die Ukraine wird direkt von den Amerikanern kontrolliert. Dieser Konflikt beweist endgültig, dass es in Westeuropa keine und auch in Osteuropa kaum noch unabhängige Staaten gibt.

    Sergej, 27, Perm

    Ich stehe hinter dem Vorgehen meines Präsidenten und meines Landes. Ja, anfangs habe ich den Sinn dieser ganzen „Operation“ nicht wirklich verstanden, aber mit der Zeit habe ich die russophoben Äußerungen vonseiten der Ukraine als auch der EU und der USA gesehen. Jeder, der kritisch denken kann und auch nur irgendwie bei Trost ist, weiß: Russland ist kein „Terrorstaat“, wir verteidigen nur unsere Interessen und unsere Souveränität. Daher unterstütze ich wie die meisten russischen Staatsbürger diese militärische Spezialoperation in vollem Umfang, und wenn es erforderlich ist zu kämpfen – werde ich kämpfen.   

    Anonymer Leser, 30, Astana

    Innerhalb eines Jahres sind [meine] Autoritäten und moralischen Vorbilder zu Verrätern geworden (die den Bürgern des eigenen Landes Böses wünschen, die zu Sanktionen aufrufen, anstatt zu versuchen, sie aufzuheben), zu Schandmäulern (die finden, wir sollten uns ergeben und die Schuld auf uns nehmen), zu Schwächlingen und Lügnern. 

    Ich finde auch jetzt noch, dass Russland diesen Krieg nicht hätte beginnen sollen, das war ein großer Fehler. Aber die Art von Ausgang, den jene [Politiker] vorschlagen, auf die ich [früher] gehofft habe, ist peinlich, schmerzhaft, erniedrigend und verlogen. Da warte ich lieber auf Putins Nachfolger: In Russland gibt es genug kluge Köpfe.

    Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke. Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist und möglichst wenige Menschen darin umkommen – vor allem keine Russen, aber auch keine Ukrainer. 

    Ruslan, 28, Kasan

    Ich bin nicht für den Krieg, aber verurteile Russland auch nicht dafür. Meines Erachtens hat Russland dadurch, dass es diesen Krieg angefangen hat, seine diplomatische Schwäche und Unfähigkeit zur Einigung mit seinen Nachbarländern gezeigt. Ich teile aber nicht die Sichtweise jener, die Russland schon mit dem faschistischen Deutschland vergleichen

    Erstens hatte die Ukraine die Wahl, sie hätte in den ersten Tagen des Krieges, als alles noch nicht so weit fortgeschritten war, mit uns verhandeln und unsere Forderungen erfüllen können. Sie hätte Territorium verloren, aber wäre als Staat bestehen geblieben. Ist etwa Territorium wichtiger als Menschenleben? Daher trägt auch die Ukraine eine Teilschuld am Tod jener Menschen, die getötet wurden. Ich bin mir sicher, dass die Menschen in jenen Gebieten, die an Russland fallen würden, keinesfalls schlechter leben würden. Vielleicht sogar in mancher Hinsicht besser. [dekoder: Die seltenen Berichte aus bereits von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine zeichnen ein anderes Bild. Sie thematisieren häufig Verfolgung, Haft und Folter von Angehörigen ukrainischer Soldaten und zivilgesellschaftlichen Aktivisten.]

    Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen

    Murad, 28, Moskau

    Mag unsere Regierung auch korrupt und ineffektiv sein, so stellt die Ukraine doch eine Gefahr für unsere Grenzen im Süden dar. Ohne die Schwarzmeerflotte auf der Krim verlieren wir den Einfluss im Schwarzen Meer und im Kaukasus. In den Jahren 2014 bis 2022 haben alle ukrainischen Regierungen aktiv verkündet, dass sie die Krim und die Gebiete im Osten mit Gewalt oder auf diplomatischem Wege zurückholen werden. Das sind unmissverständliche Drohungen. 

    [Zum Vergleich:] Jedes beliebige Land in Europa oder den USA wendet selbstverständlich Gewalt an, wenn es seine Grenzen bedroht sieht. Ihre aktuelle Rhetorik zeigt, dass sie mit zweierlei Maß messen.    

    Dimitri, 24, Moskau

    Die Idee, diesen Krieg zu beginnen, unterstütze ich nicht, aber ich bin auch nicht dafür, ihn jetzt zu beenden. Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen. Die Staatsmacht lässt alle in Ruhe, die studieren oder etwas machen, das zur Verteidigung beiträgt, daher lässt sich der Krieg unter dieser Regierung überleben.

    Aus dem Ausland hört man nur Gerede über die finstere Zukunft [Russlands] oder über unsere Entmenschlichung. Da bleibe ich lieber bei meinen Landsleuten, als auf das Wohlwollen irgendeines Podoljak [Mychajlo Podoljak, Berater des Leiters des ukrainischen Präsidialamts] oder eines amerikanischen Beamten zu hoffen, der am Krieg verdient.  

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    Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

    „Domoi! Ab nach Hause!“, rufen die Menschen im Stadtzentrum von Cherson. Mit ukrainischen Flaggen laufen sie auf einen russischen Militär-LKW zu, der sich im Rückwärtsgang von der Menschenmenge entfernt. Die Bilder von den Protesten gegen die russische Besatzung der südukrainischen Stadt Cherson gingen im März 2022 um die Welt. Wenig später folgten erste Berichte über Verschleppungen: „Ich bin in Cherson auf einer friedlichen Protestaktion gewesen. Mein Vater wird seit Montag, den 21. März 2022, vermisst; er ist zu einer Kundgebung gegangen und nicht zurückgekehrt.“

    Russland hat zahlreiche ukrainische Zivilisten gefangen genommen und auf die Krim verschleppt. Auf Meduza berichten ehemalige Häftlinge, wie sie dort im Gefängnis misshandelt wurden.

    Achtung: Der Text enthält drastische Darstellungen von Folter und Gewalt.

    Am Morgen des 9. Mai 2022 hörte Alexander Tarassow, Gefangener des Untersuchungsgefängnisses SISO Nr. 1 in Simferopol, hinter der Tür seiner Zelle die Speznas-Leute des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN brüllen: „Antreten! Kopf runter, rauskommen! Zackig, hab ich gesagt!“

    Die fünf Zelleninsassen senkten mit einstudierter Bewegung die Köpfe und verschränkten die Hände auf dem Rücken. Von da an sah Tarassow nur den Boden, die eigenen Füße und die Stiefel der Speznasowzy. Tief heruntergebeugt in der Stellung „Delfin“ kam er aus der Zelle und stellte sich mit dem Gesicht an die Wand. „Breiter! Die Beine breiter auseinander, hab ich gesagt!“ Einer der FSIN-Männer schlug Alexander so lange auf die Waden, bis der Häftling praktisch im Spagat stand.

    Mit der Stirn an die Wand gepresst dachte Tarassow nur an seine zu reißen drohenden Sehnen und hörte, was die Einsatzleute jetzt von ihm wollten: „Welcher Feiertag ist heute? Hm? War dein Opa im Krieg? Antworte!“

    Egal, wie die Antwort lautete – jeder Häftling bekam einen Schlag mit dem Elektroschocker: „Eure Großväter würden sich im Grabe umdrehen, ihr Faschisten!“

    Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, ‚Den Pobedy‘ zu singen

    Wenige Stunden später kam die Speznas zur nächsten Kontrolle. Diesmal gingen die mit Elektroschockern bewaffneten Einsatzleute gleich in die Zelle. In der Tür stand der Hundeführer. Sein Hund zerrte an der Leine, wollte sich auf die Häftlinge stürzen und bellte heiser, erinnert sich Tarassow.

    Einen von Tarassows Zellengenossen, Sergej Derewenski, nannten die Speznasowzy „Kämpfer des Rechten Sektors“. „Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, [das Sowjetlied] Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) zu singen“, erzählt Tarassow. „Sie verpassten ihm einen Tritt direkt in die Magengrube: ‚Los, sing!‘“

    Tarassow sah nicht hoch. „Das bringen sie dir schnell bei“, erläutert er dem Korrespondenten von Meduza die Ordnung im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1. „Die kleinste Augenbewegung, und du hast den Elektroschocker am Schädelknochen. Also schaute ich auf meine Füße. Und hörte zu.“

    „Dieser Tag des Sieges riecht nach Schießpulver …“, begann Derewenski mit fremder, ganz anderer Stimme – zitternd, gebrochen – zu singen. Den Einsatzkräften gefiel ganz offenbar, was sie hörten, denn sie sagten immer wieder: „Weiter!“ und machten weiter mit dem Elektroschocker, wenn Sergej sich verhaspelte.

    Der Stromschlag geht durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann

    „Der Stromschlag geht gefühlt durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann“, beschreibt Tarassow das Gefühl der Elektroschockbehandlung. „Danach krampfen sich die Muskeln weiter zusammen … Und in diesem Zustand sang er: ‚Mit Tränen in den Augen …‘“

    Bei diesen Klängen kamen weitere Gefängniswärter dazu. Der Hundeführer sah dem Auftritt weiterhin von der Tür aus zu; sein Diensthund war jetzt ruhig. „Ich betete, dass das an mir bitte vorübergeht“, erinnert sich Tarassow. „Wir waren zu fünft in der Dreierzelle, und wir hatten alle Angst, dass wir auch singen müssen.“

    Als die Speznasowzy weg waren und die Häftlinge wieder aufschauen konnten, sah Tarassow, dass Derewenski ganz blass war. „Wir alle hatten schweigend mit ihm gelitten. Hatten ihn aber nicht beschützen können. Wir waren beschämt, dass wir nichts dagegen ausrichten konnten“, sagt Tarassow. „Du wirst gequält, musst aber deine Schutzreflexe unterdrücken. Weil jeder Widerstand es nur schlimmer macht.“

    Vor seiner Verhaftung organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson

    Vor seiner Verhaftung im März 2022 organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson. Seine Zellengenossen waren ukrainische Aktivisten und Freiwillige, die der ukrainischen Armee geholfen hatten und in den Gebieten festgenommen wurden, die Russland zu Beginn des Krieges erobert hatte. Den Aufsehern zu widersprechen wagte niemand mehr: Jeder in dieser Zelle hatte bis Mai 2022 bereits Folter erfahren. Nikita Tschebotar aus Hola Prystan hatten sie aus dem Luftgewehr in die Beine geschossen – und ihn dann gezwungen, sich eigenhändig die Bleikugeln aus dem Fleisch zu pulen. Alexander Geraschtschenko aus Cherson wurde mit Stromschlägen gefoltert. Sergej Zigipa aus Nowa Kachowka wurde aus dem Gefängnis ins FSB-Gebäude nach Simferopol gebracht und stranguliert.

    Tarassow selbst war nach seiner Verhaftung im Keller der Stadtverwaltung von Cherson gefoltert worden (in der sich zu dem Zeitpunkt bereits die russischen Truppen eingerichtet hatten). Man klebte ihm Elektroden an die Ohrläppchen, ließ den Strom laufen und verlangte von ihm, die Namen der anderen Organisatoren der Proteste zu nennen. Tarassow zufolge nannten die FSB-Leute diese Methode „Anruf an Selensky“.

    „Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe und sagte: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe“, berichtet Tarassow. „Ich wusste echt nicht, ob er abdrückt oder nicht.“

    Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe

    Tarassow gibt zu, dass er bei den „Kontrollen“ im Simferopoler Untersuchungsgefängnis am liebsten aufbegehrt und zugeschlagen hätte. „Ich weiß noch, wie wir da sitzen, und einer [ein Mithäftling] nimmt einen Löffel und fängt an, ein Loch in die Wand zu kratzen. Sagt: ‚Guck mal, wir könnten echt einen Tunnel buddeln!‘ Ich sag zu ihm: ‚Und dann?‘ Da waren immer mindestens drei von der Speznas und der Typ mit seinem Hund plus zwei Wachen. Der ganze Block war vergittert. Und wir kannten nicht mal den Weg da raus.“

    Im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1 kann man sich leicht verirren: Es befindet sich in einer richtigen Gefängnisfestung aus dem 19. Jahrhundert. Tarassow erinnert sich: „Es ist wie ein mittelalterliches Verlies: Du wirst durch endlose verschlungene Gänge geführt, eine Gittertür nach der anderen wird aufgeschlossen … Und dazu hast du einen Sack über dem Kopf.“

    Die in der Ukraine festgenommenen zivilen Geiseln – so nennen Menschenrechtler die ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen ohne Anklage oder Kriegsgefangenenstatus in Untersuchungshaft gehalten werden – waren in einem Sonderblock untergebracht und komplett von allen anderen Häftlingen isoliert.

    „Im SISO gingen Gerüchte um, wir wären irgendwie besonders gefährlich“, erinnert sich Tarassow. „In Wahrheit wurde das gemacht, damit keinerlei Informationen über uns nach außen drangen. Einmal gingen wir an Insassen vorbei, die Küchendienst hatten, da rief der Gefängniswärter: ‚Wegdrehen, Gesicht an die Wand!‘“

    Die Zahl der ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen festgehalten werden, ohne offiziell als Kriegsgefangene oder als Angeklagte zu gelten, ist unbekannt.


    „Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?“

    Die Gefangenen im Simferopoler SISO erinnern sich gut an das Surren des Elektroschockers – und wie es nach dessen Einsatz roch.

    „Wenn denen irgendwas nicht passt – Stromschlag. Sie haben aus uns verängstigte Tiere gemacht“, sagt Alexander Tarassow. „Sie haben uns dazu gebracht, dass wir bei den routinemäßigen Kontrollen horchten, ob wir hinter der Wand den Elektroschocker hörten. Allein von dem Geräusch bekam ich Muskelkrämpfe.“

    Die Speznas-Leute wussten genau, welche Wirkung das Summen des Elektroschockers auf die Häftlinge hatte – und spazierten ausgiebig ohne echten Grund mit den eingeschalteten Geräten durch die Korridore. „Sie machten sich einen Spaß draus und ließen die Dinger im Takt surren: pam-pam-pa-pa-pam“, erinnert sich Tarassow. „Sie wussten, dass uns dieses Geräusch in die Eingeweide fährt. Dass wir Bauchkrämpfe davon bekommen und es uns gegen die Schläfen haut.“

    Sie zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation‘

    „Sie haben uns einfach dafür gehasst, dass wir ihre Truppen [zu Beginn der Invasion] nicht mit Brot und Salz empfangen haben“, sagt Tarassow. „Sie schlagen dir gegen die Waden, zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?‘“

    Nach Aussage von Meduzas Gesprächspartnern war der ukrainische Widerstand gegen den russischen Einmarsch ein echter Schock für das Personal des Simferopoler SISO Nr. 1. Und so versuchten sie, die Häftlinge „umzuerziehen“. Behaupteten ihnen gegenüber, dass die russischen Truppen bereits Odessa und Poltawa eingenommen hätten.

    Die Häftlinge hatten keine Verbindung zur Außenwelt. „Uns erreichten nur spärliche Informationen; manchmal konnten wir das Radio hören, das für die anderen Gefangenen angemacht wurde“, erzählt Tarassow. „Und im Mai [2022] mussten wir uns alle die Sendung Wojennaja taina [Kriegsgeheimnis] angucken, in der Russland versprach, bald das Regierungsviertel [in Kyjiw] einzunehmen. Da konnten wir dann selbst unsere Schlüsse ziehen: Wenn Selensky eine Videobotschaft auf dem Chreschtschatyk aufnimmt, was bedeutet das? Alles in Sicherheit.“


    „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen“

    Im Oktober 2022 wurde der gesamte „ukrainische“ Spezialblock des Untersuchungsgefängnisses Nr. 1, darunter auch Alexander Tarassow, in das neu eröffnete Untersuchungsgefängnis Nr. 2 verlegt, das sich ebenfalls dort befindet. Der neue Gefängnisbau, der ausschließlich für verschleppte Ukrainer bestimmt war, wurde derart eilig in Betrieb genommen, dass nicht einmal die Bauarbeiten abgeschlossen waren, erfährt Meduza von drei ehemaligen Insassen. Dass die Inhaftierten dorthin verlegt wurden, konnte man auch aus den ukrainischen Medien erfahren.

    Die Scheiben der neuen Plastikfenster wurden vor dem Eintreffen der Ukrainer komplett zugetüncht. „Damit wir weder den Hof sehen noch die Tageszeit erkennen“, sagt Tarassow. „Wir mussten uns daran gewöhnen, nicht zu wissen, ob es Vor- oder Nachmittag ist.“

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht. Aus den Lautsprechern ertönen regelmäßig die Gefängnisordnung und die russische Hymne – so laut, dass der drei Kilometer entfernt wohnende russische Anwalt Emil Kurbedinow, der den ukrainischen Geiseln zu helfen versucht, sie häufig von seinem Fenster aus hört. Von sechs Uhr morgens bis zur Nachtruhe ist es den Häftlingen verboten, auf ihren Pritschen zu sitzen oder zu liegen.

    „Damit ist es ihnen auch verboten, das Namaz [das muslimische Gebet] durchzuführen“, sagt uns Amide, die Frau des Krimtataren Ekrem Krosch, der vor kurzem in das SISO Nr. 2 überführt wurde. „Er darf nicht beten, weil er stehen muss.“

    Die Häftlinge würden maximal isoliert gehalten, damit sie weder einander noch die Gefängniswärter wiedererkennen, erklärt Tarassow. „Eine kurze Zeitlang konnten wir über die Lüftungsschächte kommunizieren“, erinnert sich ein anderer ehemaliger Häftling. „Wir hatten sogar eine Art Chat – einen Buschfunk zwischen den Zellen. Doch einer [der Häftlinge] namens Sascha, der im ‚Chat‘ die ukrainische Hymne gesungen hat, kam in den Karzer. Und Nikita, der im ‚Chat‘ zu Silvester Olivier-Salat forderte, hätten sie fast die Beine gebrochen.“

    Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich

    „[Die FSB-Leute] beginnen [die Verhöre] direkt mit Drohungen sexueller Art. Oder sagen: ‚Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich‘“, erinnert sich ein weiterer Ex-Häftling, Maxim. Er sah gleich, dass die Einsatzkräfte nicht älter waren als er, und nahm ihre Drohungen nicht ernst. „Die waren um die 25, wie ich“, sagt Maxim. „Die guckten in mein Handy und lachten mich aus, weil ich Kryptowährung zu teuer gekauft hatte. Das Fenster zum Innenhof war geöffnet, und mitten im Verhör sagten sie: ‚Wenn du aus dem Fenster schreist: ‚Schnauze, ihr Schwuchteln!‘, dann lassen wir dich frei!‘“

    Maxim wurde nicht nur vom FSB verhört, sondern auch von einem Mitarbeiter des Ermittlungskomitees. „Er erzählte, er sei [angeblich] in der Ukraine geboren, in Irpin, aber er liebe Russland“, erinnert sich der Ex-Häftling an das Gespräch. „Er sagte, seine Schwester sei [seit dem Maidan] ein Topfkopf und deswegen für die Ukraine.“

    Dann kamen Silowiki aus Moskau ins SISO und brachten einen ganzen Stapel Protokolle mit, erzählt Maxim. Sie fragten, was er über die „Verbrechen der ukrainischen Armee in Mariupol“ wisse. Ähnliche Fragen stellten sie auch Tarassow. „Sie wollten von uns Aussagen erpressen für ein Strafverfahren, dass die Ukraine gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen habe“, ist sich Tarassow sicher. „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen.“

    Das erste Strafverfahren wegen „Anwendung verbotener Mittel und Methoden der Kriegsführung“ hatte das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation schon im Mai 2014 gegen die Ukraine eröffnet – während des Kriegs im Donbass und kurz nach der Annexion der Krim. Im Frühjahr 2022 erfuhr dann die ganze Welt von der Ermordung von Zivilisten in Butscha durch die Russen. Zu dieser Zeit sprach Meduza mit einer dem Ermittlungskomitee nahestehenden Quelle: Nach den „Berichten der Chochly über Kriegsverbrechen in den Vororten [von Kyjiw]“ hätten die russischen Ermittler und Fahnder in den okkupierten Gebieten „sofort losgedonnert und die Aufklärung von Kriegsverbrechen des ‚Rechten Sektors‘ der ganzen letzten acht Jahre verlangt“. 

    „Das Ermittlungskomitee ist extrem daran interessiert, sein politisches Gewicht beizubehalten – genau deswegen seien in den okkupierten Gebieten temporäre Zweigstellen eingerichtet worden“, erfährt Meduza von einem russischen Juristen, der mit den zivilen Geiseln aus der Ukraine arbeitet. „Militärermittler aus dem ganzen Land wurden dahin abkommandiert und haben intensiv gearbeitet: an Hunderten von Fällen, Tausenden Geschichten, Bastrykin redet ständig öffentlich davon.“


    „Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch“

    Ende März 2022 wurden Alexander Tarassow und Sergej Zigipa mitten in der Nacht von Aufsehern geweckt. Mitarbeiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN kamen in die Zelle und stellten ihnen eine seltsame Frage: Ob einer von ihnen Spanisch könne? „Serjoga kann Portugiesisch“, erzählt Alexander. „Sie baten ihn, mitzukommen und einen Spanier zu beruhigen, der gerade aus Cherson gebracht worden war.“

    Die neue zivile Geisel war Mario García Calatayud, ein Rentner aus Spanien, der seit 2014 in der Ukraine lebt. „Sergej sagte ihm damals natürlich, dass alles in Ordnung käme“, erinnert sich Tarassow. „Aber Mario hatte einen Schock: Er begriff nicht, wo er da gelandet war und wer all diese Leute in Uniform waren, die ihn anschrien. Er sah aus wie ein gehetztes Tier.“

    Der Spanier wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand

    Mario Calatayud, der trotz mehrerer Jahre in der Ukraine weder Ukrainisch noch Russisch sprach, wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand. „Er musste alle diese Posen lernen: Antreten, zum Ausgang, Kopf runter. Ich hab aus der Zelle gehört, wie sich der Aufseher und der Speznas-Mann amüsierten: ‚Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch‘“, erinnert sich Tarassow.

    Seinen 75. Geburtstag erlebte Mario Calatayud im SISO Nr. 2 – und nicht in bester Verfassung. Anatoli Fursow, der Rechtsvertreter des Spaniers, erklärte Meduza, dass Calatayud Probleme mit dem Herzen habe, ihm aber in der Haft die Medikamente weggenommen worden seien. „Er rief immer auf Spanisch nach einem Arzt“, erinnert sich Tarassow, der in der Nebenzelle saß. „Aber der Arzt kam manchmal erst nach einer Woche. Dann roch es im ganzen Flur nach Corvalol.“

    Irgendwann lernte Calatayud doch noch ein paar Wörter Russisch: „choroscho“ (dt. gut), „spassibo“ (dt. danke), „normalno“ (dt. etwa okay, gut). Für die seltenen Gelegenheiten zum Duschen bedankte er sich bei den Aufsehern aber immer noch auf Spanisch: „Perfecto, señor comandante!“

    Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt

    Nicht einmal für die Verhöre fanden sie für Calatayud einen Dolmetscher – und zwar weder im SISO noch in der lokalen Verwaltung des FSB, wohin die Geiseln gelegentlich gebracht wurden. „Als wir [in das Gebäude] hineingeführt wurden, sagte einer vom FSB schon in der Tür, dass Mario ein Faschist sei“, erinnert sich Maxim, der zusammen mit dem Spanier zum Ermittler gefahren wurde. „Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt.“

    In der Zelle war Calatayud der Sauberkeitsfanatiker: Er wischte die Regale und die Fenstersprossen, bevor sich da überhaupt Staub angesammelt haben konnte. Sein Zellengenosse Jewgeni Jamkowoi glaubt, dass Calatayud den Aufsehern „seine Fügsamkeit demonstrieren“ wollte: „Im SISO schlugen sie richtig zu. Ich hab seine Narben vom Dynamo [das heißt die Spuren von der Folter mit Strom] gesehen. Und einmal hat sich ein Diensthund in seinem Bein verbissen: Das Blut spritzte, und er konnte sich nicht mehr zurückhalten und schlug dem Hund mit der Faust auf den Kopf. Das zahlte ihm der Hundeführer sofort heim.“

    Bevor Calatayud in Simferopol inhaftiert wurde, hatte er sich den russischen Silowiki gegenüber ziemlich kühn verhalten. „Sogar in der Zelle [in Cherson], als er gerade erst von einer Demo weg verhaftet worden war, brachte er es fertig, ‚Slawa Ukrajini!‘ zu rufen – und seine Morgengymnastik zu machen“, erzählt seine Frau, die 39-jährige Chersonerin Tatjana Marina. „Die hiesigen Aufseher schlackerten nur so mit den Ohren, wenn Mario sie unverblümt ‚puta madre‘ nannte – was soviel heißt wie Hurensöhne.“

    Marina erklärt, dass Calatayud 2014 in die Ukraine gezogen sei, um humanitäre Hilfsgüter in Kinderheime zu liefern, die sich im Osten des Landes nahe der Front befanden. „Er nannte Putin ‚señor de la guerra‘; die Ungerechtigkeit machte ihn ganz kirre. Er hatte in der Stadtverwaltung von Valencia gearbeitet, war aber schon in Rente – und kam, um zu tun, was in seiner Macht stand“, erzählt Tatjana Marina. 

    Die Hilfsgütertransporte unter Beschuss bis direkt an die Front haben Mario waghalsiger gemacht, meint seine Frau: „Er hat immer gesagt: ‚sangre española brava‘ [spanisches Blut ist tapfer]! In den ersten Tagen der Okkupation von Cherson benahm er sich wie ein Irrer. Jedes Mal, wenn er die Kette russischer Soldaten rund um unser Verwaltungsgebäude sah, formte er mit den Fingern Pistolen – wie ein Kind – und drohte ihnen [auf Spanisch]: ‚Ich knall dich ab, Besatzer!‘ Ich bekam schweißnasse Hände vor Angst.“

    Tatjana fragt sich, wie Mario im SISO überlebt: „Er ist doch so freiheitsliebend. Wie kann man einen, der so gern frei atmet, einfangen und in einen Käfig sperren?“


    „Kriegsgefangene kann Russland sie nicht nennen“

    Die meisten Gefangenen im SISO in Simferopol haben keinerlei gesetzlichen Status (etwa als Verdächtigte); ihre Inhaftierung entbehrt somit jeglicher Rechtsgrundlage. Gegen manche Zivilgeiseln wird dann doch ein Strafverfahren eingeleitet, unter anderem wegen „internationalen Terrorismus“ oder „versuchter Terroranschläge“. Konkret wurde mindestens sieben aus der Oblast Cherson entführten Personen eine Mitgliedschaft im [krimtatarischen, in Russland als „terroristisch“ eingestuften – dek] Noman-Çelebicihan-Bataillon zur Last gelegt.

    In den Antworten auf Anwaltsanfragen zu den Haftgründen der Ukrainer erscheint auch so etwas wie „Überprüfung durch den FSB“. „Sie [die Gefangenen] müssen sich einfach einer so genannten ‚Überprüfung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘, unterziehen. In jeder Antwort einer lokalen FSB-Zweigstelle wird diese ‚Überprüfung‘ erwähnt“, gibt ein von Meduza befragter Anwalt an.  

    Die Geiseln sind „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“

    Russland unterscheidet bei den Gefangenen nicht zwischen Zivilisten und Militär: Für die russischen Behörden gelten sie offiziell alle als „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“. „Unter diesem Begriff werden alle zusammengefasst“, sagt Anwalt Dimitri Sachwatow Meduza gegenüber. „Kriegsgefangene kann die Russische Föderation sie nicht nennen, weil das ja bedeuten würde, dass das ein Krieg ist.“

    Im Russischen Strafgesetzbuch gibt es allerdings keinen Paragrafen, der die Formulierung „Widerstand gegen eine Spezialoperation“ enthält. Anwälte werden zu den Geiseln schlichtweg nicht durchgelassen: Die meisten Informationen darüber, wer in diesen Haftanstalten sitzt und was dort geschieht, bekommen die Juristen von Ukrainern, denen es gelungen ist, aus diesen russischen Gefängnissen herauszukommen. Zu zivilen Geiseln aus der Ukraine erhalten auch ihre Angehörigen keinen Zugang, während Krimbewohner mit russischen Pässen, zum Beispiel Krimtataren, immerhin Besuch empfangen können. 

    Alexander Tarassow wurde am 14. Februar 2023 aus dem SISO Nr. 2 entlassen und lebt jetzt in Deutschland. Noch immer hat der Chersoner aber weder durchschaut, warum er entlassen wurde, noch mit welcher Begründung er fast ein Jahr lang ohne Anklage eingesperrt war. Bei seinen Verhören fragte er die Ermittler manchmal, warum er ohne Gerichtsbeschluss in Haft sei. „Irgendwann haben sie einen ‚Erlass des russischen Präsidenten über die Isolierung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘ erwähnt. Und hinzugefügt: ‚Na, es ist Krieg, du weißt ja.‘ Als ich rauskam, habe ich nichts darüber im Netz gefunden.“

    Bisher gebe es keine verlässlichen Hinweise auf die Existenz einer „Geheimverfügung“, meint Roman Kisseljow, ein russischer Menschenrechtsverteidiger, der Ukrainern dabei hilft, ihre Angehörigen in der Russischen Föderation zu finden. (Auch Meduza konnte keine solchen Hinweise finden). „Doch ich nehme an, dass solche Dokumente mit der Zeit auftauchen werden“, überlegt Kisseljow. „Ursprünglich hat einfach niemand [in der Regierung] damit gerechnet, dass der Krieg so lange dauern und ein solches Problem [mit zivilen Geiseln] überhaupt entstehen wird. Aber als sie dann doch so viele Gefangene beisammen hatten, kratzten sie sich die Köpfe und überlegten, wie sie es anstellen können, den Menschen ohne Gerichtsverfahren die Freiheit zu entziehen.“ 


    „Ukrainer gibt es hier massenhaft. Einfach massenhaft“

    Ukrainische Geiseln werden nicht nur auf der Krim, sondern auch in anderen Regionen der Russischen Föderation festgehalten, wie Meduza von russischen Anwälten und Menschenrechtlern weiß. Während auf der Krim der FSB mit ihnen „befasst ist“, ist es in anderen Gegenden die dem Verteidigungsministerium unterstellte Militärpolizei GUWP. 

    Dass sich das russische Verteidigungsministerium und der FSB die Zuständigkeit für ukrainische Geiseln teilen, ist kein Widerspruch, wie Andrej Soldatow, Experte für die russischen Geheimdienste, Meduza erklärt. Ihm zufolge wird die Militärpolizei von der Spionageabwehr DWKR überwacht, die wiederum eine Unterabteilung des FSB sei. Dass für die ukrainischen Geiseln die Spionageabwehr zuständig ist, bestätigte Meduza gegenüber auch ein Gesprächspartner aus dem FSB. Ein Büro für Spionageabwehr gibt es in jeder Armeeeinheit, erklärt Soldatow, und wenn eine Truppe an die Front geschickt wird, dann müssen auch die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes mit in die Kampfzone, wo sie „in temporäre Einsatzgruppen aufgeteilt“ werden.  

    Irina Badanowa schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000

    So funktionierte die Spionageabwehr in der Ukraine zu Beginn des Krieges, sagt Soldatow. „Die ‚Filtration‘ [der Ukrainer], die Bearbeitung der Einwohner, all das ist alles ihre Aufgabe“, meint der Experte. „Um die Sicherheit der russischen Truppen zu gewährleisten, müssen die Informanten der ukrainischen Streitkräfte ausfindig gemacht und drangsaliert werden. Und natürlich müssen sie ihre Agentennetze ausbauen. Das mit Filtrationslagern zu machen ist einfach und effektiv – eine in Tschetschenien erprobte Methode. Man saugt wie mit dem Staubsauger tausende junge Ukrainer ein, wirbt ein paar von ihnen an, und dann lässt man alle wieder laufen.“

    Die Arbeit mit Ukrainern, die in den besetzten Gebieten entführt und in russische Gefängnisse gesteckt wurden, ist die „natürliche Fortsetzung“ der militärischen Spionageabwehrmission, die sie an der Front verfolgen, meint Soldatow.

    Wie viele ukrainische Staatsbürger aktuell in diesen russischen Gefängnissen sitzen, ist unbekannt. Irina Badanowa von der Abteilung für die Suche und Befreiung von Kriegsgefangenen beim Generalstab der ukrainischen Streitkräfte schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000. Dutzende von ihnen sind, wie sie betont, unter den Haftbedingungen umgekommen.

    „Ukrainer gibt es hier massenhaft“, pflichtet Badanowa ein russischer Anwalt bei. „Einfach massenhaft.“

    Vom russischen Verteidigungsministerium, dem FSB, der FSIN, der Presseabteilung des Kreml und der prorussischen Verwaltung der Krim kamen keine Antworten auf die Fragen von Meduza. 

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  • „Hier sterben Menschen, und ich soll zu Hause sitzen?”

    „Hier sterben Menschen, und ich soll zu Hause sitzen?”

    Etwa 1500 Belarussen sollen im russischen Angriffskrieg auf Seiten der Ukraine kämpfen, 1000 beim Kalinouski-Regiment, das auch bei Bachmut im Einsatz ist. Viele Belarussen haben für das Nachbarland zu den Waffen gegriffen, weil sie die Ukrainer unterstützen wollen, auch weil sie das Schicksal von Belarus in den Händen des Kremls sehen und weil Machthaber Lukaschenko sich tief in den Krieg verstrickt hat.

    Einer von diesen Freiwilligen ist Sonja – so zumindest sein etwas seltsamer Kampfname, der übersetzt so viel wie Schlafmütze bedeutet. Er dient als stellvertretender Kommandeur einer Maschinengewehr-Einheit im Kalinouski-Regiment. Mit dem Kämpfer wider Willen, der vor dem Krieg im Kindergarten arbeitete und der in Belarus nie gedient hat, hat das belarussische Online-Medium Zerkalo ein langes Gespräch geführt: über seine Motivation, doch zur Waffe zu greifen, über die Kämpfe an der Front, über seine Pläne und darüber, was der Krieg mit einem macht.

    Das Interview beginnt eine halbe Stunde später als geplant: „Sonja“ hat verschlafen. Erst vor ein paar Tagen ist er von seinem zweiten Kampfeinsatz in Bachmut zurückgekehrt. Zwei Monate war er dort. Heute ist sein fünfter Urlaubstag. Sieben liegen noch vor ihm. 

    „Ich sag’s, wie es ist, ich bin eigentlich Hedonist und habe mit dem Militär überhaupt nichts am Hut. Diese ganzen Entbehrungen machen keinen Spaß, aber wenn’s drauf ankommt, dann verschlafe ich nicht“, erklärt er seine Verspätung eloquent. „Nur damit Sie verstehen: Bei unseren letzten Kampfeinsätzen mussten wir um drei Uhr nachts aufstehen, hatten eine Stunde zum Fertigmachen und waren im Morgengrauen in unseren Stellungen. Als der Kommandeur vor dem Urlaub zu mir sagte: ‚Kannst bis sechs im Bett bleiben‘, dachte ich: ‚Gott, endlich mal ausschlafen.‘ Was meinen Kampfnamen angeht, das nehme ich nicht so ernst. Die anderen Jungs suchen sich Namen wie Warjagow (Wikinger) oder Achilles, aber mir war das ziemlich egal. Beim ersten Frühsport im Trainingslager habe ich verschlafen, da sagten sie: ‚Du bist echt ne Schlafmütze [auf Russisch sonja – dek].‘ Da hatte ich meinen Kampfnamen.

    Wenn ich mich vorstelle, lachen die Ukrainer immer – zumal wir in einer Maschinengewehr-Einheit sind, an vorderster Front, wir kundschaften aus, greifen an, wehren Attacken ab – aber dann freunden wir uns an. Da geht’s nicht um den Kampfnamen, sondern darum, wie du kämpfst. Wenn du ein schlechter Kämpfer bist, kannst du dich noch so oft Wikinger nennen, das wird dir auch nicht helfen.”

    Sonja ist jung, groß wie ein Basketballspieler und hat ein Babyface. Er spricht Englisch, liest Bücher auf Deutsch und macht sich Sorgen, dass seine Frisur heute nicht sitzt. Von Beruf ist er Jurist, aber im Herzen Romantiker. Er hat in Belarus, Polen und Russland gelebt und als Gerichtsvollzieher, Kellner, Autowäscher, Tischler, Packer, Leiter eines Steinbruchs, Touristen-Guide, Chauffeur und Berater in einem Callcenter gearbeitet. Auf die Frage, warum er so oft den Arbeitsplatz gewechselt hat, sagt er, das sei „sein Charakter“, er habe lange nicht gewusst, wo er hingehöre.

    „Aber jetzt habe ich meinen Platz gefunden“, sagt er. „Das ist seltsam, weil ich mich über Armeeleute immer lustig gemacht habe. Ich hielt sie für hohl und hilflos. Aber ich habe das Gefühl, eine wichtige Arbeit zu machen: Ich rette Menschen, kämpfe für sie. Trotzdem bin ich wahrscheinlich kein echter Soldat. Ich bin im Krieg gelandet, das ist wohl etwas anderes als die normale Armee.“

    Sonja war nie bei der Armee, stattdessen hat er in einem Kindergarten gearbeitet. Er ist zufällig dort gelandet, als er eines Tages im Internet nach Jobs suchte – aber nicht nach Branchen, sondern nach Entfernung. Das nächste war der Kindergarten. Also rief er dort an.

    2022 hat Sonja Kindern und Erwachsenen Englisch beigebracht und wollte nicht weg aus Belarus. Sein Motto war: „Wenn alle gehen, bleibe ich.“ Aber als im Februar der Krieg begann, änderte er seine Meinung.

    „Im Schützengraben werde ich oft gefragt, warum ich jetzt in der Ukraine bin. Ich weiß nie, was ich darauf antworten soll. Na ja, warum wohl? Hier sterben Menschen, unter anderem auch durch unsere Schuld, und ich soll zu Hause sitzen?“, erklärt er. „Es gibt da diesen Film, Shutter Island. Leonardo Di Caprio spielt darin einen Feldmarschall, der den Verstand verliert. Am Ende sagt er diesen schönen Satz: ‚Was ist besser – als Monster zu leben oder als Mensch zu sterben?‘ Ich habe meine Wahl getroffen. Gleich am 24. Februar. An dem Abend sagte ich zu meinen Eltern, dass ich fahren werde. Wie sie reagiert haben? Wie sollen normale Eltern schon darauf reagieren? Meine Mutter wurde hysterisch, mein Vater sagte: ‚Bist du blöd? Denk doch mal nach!‘ Aber sie wussten, dass sie mich nicht aufhalten können. Ich bin stur wie ein Bock. Doch weil mein Vater krank wurde, musste ich die Abreise verschieben.“

    Ich sag‘s euch lieber gleich, ich hab noch nie gekämpft, kann sein, dass ich mir die Hosen vollmache

    Im Sommer 2022 verließ Sonja verließ Belarus. Bei der Einreise nach Polen wurde er festgehalten. Fünf Jahre zuvor war er dort in einen Autounfall geraten und hatte seine Strafe nicht bezahlt. Er sagt, er habe seinerzeit beim Gericht angerufen und sich erkundigt, dort habe es geheißen, der Fall sei erledigt. Sonja vermutet, dass nach Beginn des Krieges die Akten von Belarussen wieder hervorgeholt wurden, unter anderem auch seine. Im Endeffekt musste er ins Gefängnis und nach der Freilassung eine elektronische Fessel tragen. Als endlich alles geklärt war, war es schon Winter.

    Dann meldete er sich als Freiwilliger bei der ukrainischen Botschaft in Warschau, wollte in die ukrainische Armee eintreten. Sie lehnten ab, aber gaben ihm die Nummer des Kalinouski-Regiments. In der belarussischen Einheit nahm man ihn zwar auf, aber der Hindernislauf war damit nicht beendet: Kurz vor seiner Abfahrt bekam Sonja Windpocken. Zwei Wochen lang lag er mit Fieber im Bett. Erst dann ging es endlich in die Ukraine, zu den Übungen ins Trainingslager – und dann an die Front.

     Ein Rosenkranz am Rückspiegel eines ukrainischen Militärfahrzeugs / Ashley Chan/ZUMA Wire/imago images
    Ein Rosenkranz am Rückspiegel eines ukrainischen Militärfahrzeugs / Ashley Chan/ZUMA Wire/imago images

    „In meiner Familie wurde Sport groß geschrieben, ich musste immer ordentlich trainieren. Ich habe lange gepumpt, wollte den Mädels gefallen, und jetzt zahlt es sich endlich aus – am Maschinengewehr“, grinst Sonja, als er sich erinnert, wie er in seine Einheit kam. „Ich wusste schon im Trainingscamp, dass ich in die MG-Einheit will. Bei den Übungen stellte ich mich gut an. Und nach dem ersten Kampfeinsatz war es irgendwie von selbst klar, was ich machen werde. Es stellte sich obendrein heraus, dass ich mutig bin.“

    Woran haben Sie das gemerkt?

    „Erst wurde ich dem Bataillon Volat zugeteilt, aber als ich Senat kennenlernte (den stellvertretenden Kommandeur des Bataillon Litwin – Anm. d. Red.), habe ich mich ummelden lassen, damit ich unter seine Führung komme. Zum ersten Kampfeinsatz nahm er mich mit in die Oblast Charkiw. Bevor wir losfuhren, ging ich zu ihm und den anderen Jungs und hab gesagt: ‚Ich sag‘s euch lieber gleich, ich hab noch nie gekämpft, kann sein, dass ich mir die Hosen vollmache.‘ Ich dachte, es ist besser, wenn ich sage, dass ich ein Feigling bin. Wenn ich dann keiner sein sollte, umso besser, und wenn doch, dann hab´ ich sie wenigstens vorgewarnt. Ich wollte jedenfalls nicht den Macker spielen.

    Als wir ankamen und aus dem Auto stiegen, ging sofort der Beschuss los. Ein Panzer hatte uns im Visier. Wir liefen in irgendeinen Keller. Wir waren zu viert: ich, Senat und noch zwei andere großartige Männer – Weras und Helm. Sie hatten alle Erfahrung, nur ich war ganz neu. Und plötzlich, mitten in diesem Beschuss, wurde mir klar, dass ich keine Angst habe. In diesem Keller saßen wir vier Tage. Nachts gingen wir ins Feld, gruben Schützengräben und deckten Helm, damit er als Scharfschütze ein paar von denen umnieten konnte. Nach den vier Tagen sagte Senat: ‚Du bleibst hier vorne, du hast keine Angst.‘ Wie er das gemerkt hat? Weil ich eingeschlafen bin. Ganz in der Nähe schossen Panzer und die Artillerie, der Putz rieselte von der Decke, und ich sagte: ‚Hört mal, wir sitzen hier noch ne Weile, ich werd mal ne Runde pennen.‘ Ich zog die Weste aus, den Helm, kroch in den Schlafsack und war weg. Senat hat danach gesagt: ‚Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so wenig Angst hatte.‘ Und ich: ‚Vielleicht hast du noch nie jemanden gesehen, der so dumm ist. Das geht meist Hand in Hand.‘“

    Außerdem müssen Sie ziemlich stark sein. Wie viel wiegt so ein Maschinengewehr?

    „Ich habe ein Minimi 5,56, das wiegt zwölf Kilo, und ein CZ-Gewehr. Aber das Maschinengewehr kommt selbst für einen Kämpfer mit meiner Spezialisierung erst an zehnter Stelle. Spaten, Schlafsack, Besteck, mit dem du dein Dosenfleisch löffelst, und Wasser – das sind deine Hauptwaffen. Geballer kommt selbst auf dem Schlachtfeld gar nicht so oft vor, und wenn, dann nicht gezielt. Meistens kommt es aus Panzern, Minenwerfern und Flugzeugen, und wenn du dich retten willst, musst du dich schnell und tief eingraben können. Einmal gaben wir buchstäblich 200 Meter von den feindlichen Positionen entfernt den ukrainischen Artilleristen die Koordinaten durch. Sie zielten und schossen daneben, direkt auf uns. Ich hatte buchstäblich 30 Sekunden zwischen zwei Einschlägen, um mir ein Loch zu buddeln und wie ein Strauß meinen Kopf reinzustecken. Wenn dich ein Geschoss am Arsch oder am Bein erwischt, ist es halb so wild. Aber wenn’s dein Kopf ist, bist du tot.

    Ich bin ein religiöser Mensch und glaube an Schicksal, deshalb seh’ ich die Beschüsse gelassen. Ich vertraue darauf, dass es mich nicht erwischt, weil ich meine Mission noch nicht erfüllt habe.“

    Welche ist das?

    „Dieses Land zu verteidigen und zu meiner Familie zurückzukehren, zu meinem Haus, das ich selbst gebaut habe, meinem Garten, den ich selbst angelegt habe.“

    Nach seinem ersten Kampfeinsatz kehrte Sonja für drei Tage zurück nach Kyjiw, um sich zum Rettungsassistenten ausbilden zu lassen. Da erfuhr er, dass seine Kampfgenossen bei Bachmut sind, und bat seine Kommandantur, ihn auch dorthin zu schicken. Sie sagten: „Warte, bis wir ein Auto gefunden haben.“ Lange warten musste er nicht.

    „Da waren unsere Kämpfer, die brauchten Hilfe, da mussten wir hin“, erklärt er seine Entscheidung, von heute auf morgen an einen der gefährlichsten Hotspots dieses Kriegs zu fahren. „Was, Sorgen? So was hatte ich gar nicht. Nach Charkiw wusste ich ganz genau, was ich kann, ich wollte geradezu in die Schlacht. Einer meiner Kameraden wurde kürzlich verletzt. Das Auto, in dem er saß, wurde aus einem Granatwerfer beschossen. Es hat ihm das Trommelfell zerrissen. Seitdem redet er jeden Tag nur noch davon, wann sein Urlaub endlich vorbei ist und er wieder in den Krieg ziehen kann.“

    Ist das schon eine Art Abhängigkeit? Hängt man nach Bachmut quasi „an der Nadel“?

    „Ich gebe zu, das hat was von Abhängigkeit. Wenn man mal in einer richtigen Schlacht war, mittendrin, dann kommt einem alles andere fade vor. Das normale Leben wird langweilig. Aber die Hauptmotivation ist nicht die Abhängigkeit, sondern die Pflicht. Du siehst Menschen, die für dich Risiken eingehen, und kannst sie nicht einfach im Stich lassen.”

    Sie haben gesagt, Sie haben an vorderster Front gekämpft. Wie ist das so?

    „Während der Einsätze arbeitet man schichtweise: vier Tage im Schützengraben, dann genauso lange auf dem Stützpunkt [an einem anderen Ort], wo wir ordentlich essen und uns ausschlafen. An der Front kämpfen wir auf den Wiesen und in den Wäldern rund um Bachmut, ganz nah an den *** [den Russen – Anm. d. Ü]. Wenn wir mit schweren Maschinengewehren schießen, dann bauen wir sie normalerweise auf einem Hügel oder einem befestigten Bunker auf und halten vier Tage die Stellung. Außerdem können wir Drohnen steigen lassen und Ziele erwischen, die hinter den Hügeln in mehreren Kilometern Entfernung liegen. 

    Meistens sind sechs bis acht Mann in Stellung. Zwei haben Dienst (sehen bei Tageslicht durch die Fernrohre, bei Nacht in die Nachtsichtgeräte), die anderen ruhen. Die Dienste wechseln alle zwei, drei Stunden, weil dann die Konzentration abnimmt. Aber das sind Normen, die nur auf dem Papier existieren, in der Praxis zieht man manchmal auch sechs oder acht Stunden durch.   

    Ah, und man muss wissen, ich habe eine Eigenart. Sagen wir mal so, ich bin ein bisschen crazy. Ich kann nicht stillsitzen, weil, wie mein Vater immer sagte, der Wolf beißt in die Beine. Wenn wir auf den Posten kommen, dann nehm ich immer einen Batzen Zigaretten mit, gehe zu den ukrainischen Partnern, stelle mich vor, informiere mich über die Lage an der Front und mache mich nützlich, wo ich kann: Die einen brauchen Infos, die anderen Hilfe beim Angriff. Einen Maschinengewehrschützen kann man immer gebrauchen. Und ich hab einen Kurs zum Rettungssanitäter gemacht. Dieses Wissen hab’ ich allerdings nur einmal angewendet, konnte den Mann aber nicht retten. Gross hieß er, war ein Ukrainer. Wurde von einem Hubschrauber aus beschossen und die Lunge getroffen. Ich war in dem Moment ganz in der Nähe. Die Ukrainer hatten keine Evakuierung vorbereitet, also trug ich ihn zusammen mit einem Kameraden eineinhalb Kilometer von der Front weg. Er starb in unseren Armen. Seine Verletzungen waren schwer, es ist uns nicht gelungen, ihn zu stabilisieren. Als wir ihn den Ärzten übergaben, bedankten sie sich, aber ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Das war der schlimmste Moment meines Lebens. Gross hat eine Frau und eine kleine Tochter hinterlassen.”

    Was haben Sie dann den Rest des Tages gemacht? Geweint?

    „Gar nichts. Hab dagesessen, geraucht, geweint.”

    Weinen Männer im Krieg oft?

    „Natürlich, wir sind ja Menschen und nicht aus Stein.”

    In seiner Zeit in Bachmut hat Sonja fünf Kilo abgenommen. Im Unterschied zu seinem Kurzurlaub nach dem ersten Kampfeinsatz hat er diesmal „bei Senat ganze zwölf Tage herausgeschlagen“. Weil er weiß: sein Organismus braucht Erholung. 

    „Der Großteil des Lebens im Schützengraben sind nicht Angriff und Verteidigung, sondern reines Überleben. Suche nach Essbarem, nach Wärme, nach Möglichkeiten, zu Hause anzurufen oder Tee zu kochen. Das ist alles nicht so schön wie in den Videos, in denen irgendwelche Typen mit MGs auf Sturm gehen und alle niederknallen. Nein. Das ist Dreck, Schmerz, Kälte und Mäuse. Letztere sind unsere größte Plage. Die laufen nachts, wenn man schläft, einfach über einen drüber. Über den Bauch, übers Gesicht. Wir haben versucht, sie zu bekämpfen, aber wenn eine tot ist, kommen drei andere. Das ist Sisyphos-Arbeit. Sie werden von Tag zu Tag größer und fressen unser ganzes Proviant auf, das wir jetzt in Metall- oder Holzkisten aufbewahren müssen. Alles, was in Rucksäcken oder Plastiktaschen ist, erwischen sie, auch wenn das Zeug aufgehängt ist. Einmal hat mich ne Maus sogar vollngekackt, krass, oder? Wer macht denn so was?”

    Vergeht die Zeit im Kampf in einem anderen Tempo?

    „Es ist alles durcheinander, weil man nicht regelmäßig isst und schläft. Man hat zum Beispiel drei Stunden lang Dienst, dann hat man genauso lang Pause. In diesen drei Stunden muss man es schaffen, zum Bunker zu gehen, zu essen und zu schlafen. Bis man eingeschlafen ist, bleibt nur noch eine Stunde. Bestenfalls, wenn man nicht von einem Geschoss geweckt wird. Dann muss man erst wieder einschlafen. So geht das vier Tage lang. Das Problem ist nicht, dass man nicht schläft, sondern dass man nicht am Stück schläft. Können Sie sich vorstellen, was mit dem Organismus passiert? Dazu kommt noch die unregelmäßige Ernährung und tonnenweise Zigaretten. Am Ende eines solchen viertägigen Einsatzes steht man schon ziemlich neben den Schuhen.

    Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sagt, die Russen seien miese Kämpfer. Sie sind echte Profis

    Um es an der Front halbwegs auszuhalten, versuchen wir, viel zu lachen. Ein Schuss, alle gehen in Deckung, und einer schreit: „Wer hat mir in die Hosen gep…?“ Ohne Humor geht es gar nicht. Wenn du glaubst, du musst das alles bierernst nehmen, drehst du schon nach ein paar Stunden durch.” 

    Sie kamen im April nach Bachmut, da war es noch recht kalt. Wie ist es denn, unter solchen Bedingungen im Schützengraben oder im Bunker zu sitzen, vor allem nachts?

    „Du schläfst in Thermowäsche und komplett angezogen. Über der Kleidung ziehst du die Schutzweste an, und so schlüpfst du in deinen Schlafsack. Nur dass Sie es wissen: Auch jetzt sind die Nächte kalt. Bei meinem letzten Einsatz hatten wir Ukrainer dabei. Deren Kommandeur hatte einen lustigen Kampfnamen: Tomate. Also, Sonja ist noch nicht das Schlimmste. Wobei Tomate ein zwei Meter großer, hartgesottener Frontkämpfer mit grimmiger Miene ist. Ich meinte noch zum Spaß, komm, lass mal klotzen statt kleckern, nennen wir dich gleich Señor Pomidor. Na, und der hatte keinen Schlafsack, also hab ich mich in der Nacht mit ihm in meinen gekuschelt. Blöde Kommentare über Schwule kann man sich sparen. Man muss sich eben irgendwie wärmen, sonst erfriert man.”   

    Wie würden Sie die Russen als Gegner beschreiben?

    „Die Russen sind gut. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sagt, die Russen seien miese Kämpfer. Sie sind echte Profis. Am Anfang vielleicht nicht so, aber jetzt haben sie den Dreh raus. Wenn ich gefragt werde, wieso wir sie nicht plattmachen, dann sage ich: ,Komm doch selber und mach sie platt.‘  

    Während meines Einsatzes sind wir in einem Monat zwei Kilometer vorangekommen. Rechnen Sie sich mal aus, wie lang wir da bis zur Krim brauchen? Hören sie nicht auf diese ***, die behaupten, dass die Russen nichts anderes können, als Kanonenfleisch zu verpulvern. Ich sehe es ja mit eigenen Augen: Sie können kämpfen, sie können mit Drohnen umgehen, und ihre Stellungen halten können sie auch. Genug Waffen und Munition haben sie auch, also hört auf, auf einen schnellen Sieg zu hoffen.” 

    Reden wir mal von etwas Positivem: Sie sind jetzt im Urlaub, wie ist es denn, nach zweieinhalb Monaten in Bachmut ein relativ friedliches Leben zu führen?

    „Am ersten Tag hab’ ich mich in der Parfümerie verirrt. Ich brauchte eine stoßfeste Hülle für mein Tablet. Und neben dem Haus, in dem ich für die paar Tage eine Wohnung gemietet habe, gibt es ein großes Einkaufszentrum. Eine Freundin und ich gingen rein, und da waren lauter Spiegel, alles glänzte – ich war komplett verloren. Ich wusste nicht mehr, wo ich war, hatte ja vor 20 Stunden gerade noch im Schützengraben gehockt. Ich laufe, so bilde ich mir ein, durch den Elektronikladen und finde nirgendwo eine Hülle. Irgendwann stupst mich meine Freundin an und fragt: ,Brauchst du irgendwas von hier?‘ – ,Was meinst du?‘, frage ich verwirrt, seh mich um und checke, dass ich zwischen Lippenstiften und Wimperntusche eine Tablethülle suche. Ich hab´ irgendeinen Spruch gerissen, und wir sind raus. Aber insgeheim dachte ich, wie sehr ich doch neben der Spur sein muss, wenn ich Parfümerie mit Elektronik verwechsle. Das macht mir schon Angst.”

    Was werden Sie nach dem Krieg als Erstes tun?

    „Wenn ich überlebe? Ich gehe zurück nach Belarus. Ich hab’ mir dort ein Haus gebaut, mit Grundstück und Garten. Ich pflanze noch ein paar Bäume und hisse eine Flagge, nein zwei – eine belarussische und eine ukrainische. Das steht mir zu, ich hab´ ja gekämpft. Und dort lebe ich dann. Ich möchte Jäger werden, die Tiere schützen, das hat mir mein Vater beigebracht. Und mir eine Frau suchen, eine junge, hübsche. Wissen Sie, eine, wo sich die anderen Männer umdrehen, wenn ich mit ihr die Straße langgehe. Und Kinder will ich haben. Das sind natürlich lauter Fantasien, aber träumen schadet ja nicht?”

    Wieder im Kindergarten arbeiten wollen Sie nicht?

    „Vielleicht auch das.”

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  • „Die westliche Transgender-Industrie versucht unser Land zu durchdringen“

    „Die westliche Transgender-Industrie versucht unser Land zu durchdringen“

    „Zieh dich aus, dann schauen wir, wer du bist“ – das bekam die trans Frau Elis Femina kürzlich von einer Moskauer Polizistin zu hören, wie sie gegenüber Mediazona berichtet. Auf der Polizeiwache war sie gelandet, nachdem sie ein Türsteher am Wiederbetreten eines Klubs gehindert hatte mit den Worten: „Das ist doch ein Typ im Rock.“ Im Verlauf der Auseinandersetzung rief Femina schließlich „Ruhm der Ukraine!“. Dafür habe man ihr auf der Wache später gedroht, sie in die Ukraine an die Front zu schicken: „Dort kannst du dann unsere Männer ,bedienen‘, du FRAU.“

    Für LGBTQ und speziell für trans Menschen gehören Diskriminierungen in Russland zur alltäglichen Erfahrung – gerade auch von staatlicher Seite. Erst im Dezember unterzeichnete Putin eine Verschärfung des Gesetzes über sogenannte „homosexuelle Propaganda“, das als solche identifizierte Schriften und Medien generell unter Strafe stellt und verbietet.

    Am 14. Juni stimmte die Staatsduma nun in erster Lesung einstimmig für ein neues Transgender-Gesetz. Demnach sollen künftig geschlechtsangleichende Operationen und auch schon Änderungen der Geschlechtsvermerke in offiziellen Dokumenten verboten werden. Menschenrechtsorganisationen kritisierten das Gesetz scharf, selbst das russische Gesundheitsministerium hat sich gegen das Gesetz in der aktuellen Form ausgesprochen und befürchtet, dass es dadurch zu mehr Suiziden kommen kann. Mediazona hat eine Mitschrift der Parlamentssitzung zum Gesetz im Wortlaut veröffentlicht: Dort ist die Rede von einer „westlichen Transgender-Industrie“, es wird gewarnt vor einem „exponentiellen Wachstum“ geschlechtsangleichender Operationen und der Dumavorsitzende Wjatscheslaw Wolodin spricht in diesem Zusammenhang von „reinem Satanismus“. dekoder hat den Eröffnungsbeitrag von Pjotr Tolstoi übersetzt, um zu dokumentieren, mit welcher Rhetorik solche Gesetze in Abkehr von den Normen der WHO in Russland beschlossen werden. 

    Pjotr Tolstoi, stellvertretender Vorsitzender der Staatsduma, Partei Einiges Russland

    „Das ist keine neue Verbotsinitiative der Staatsduma, das ist ein weiterer Schritt für den Schutz nationaler Interessen. Und wir stimmen dem zu, weil sich Russland seit Beginn der militärischen Spezialoperation verändert hat. Die Jungs, die heute mit der Waffe in der Hand unser Land verteidigen, die sollen danach in ein anderes Land zurückkehren, nicht in jenes, was es vor Beginn der militärischen Spezialoperation war. Es ist sehr schade, dass viele das aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht begreifen, und viele erwarten auch einfach, dass sich nichts verändert und dass alles so bleibt, wie es war. Aber nichts wird so bleiben, wie es war.

    Es ist anzumerken, dass die Zahl der Geschlechtsumwandlungen in Russland leider steigt. Zwischen 2016 und 2022 haben nach Angaben des Innenministeriums 3000 Menschen ihr Geschlecht ändern lassen. Es ist tatsächlich so, dass dafür heutzutage als Grundlage ein einfaches ärztliches Attest ausreicht, das nicht offiziell erfasst wird. Man bekommt es in praktisch jeder Privatklinik in Russland. Leider hat das Gesundheitsministerium keinen Überblick, wie viele von diesen Operationen durchgeführt werden. Ein solche Dienstleistung kostet keine 30.000 Rubel [ca. 330 Euro – dek].

    Auf diese Weise kann sich ein Staatsbürger als untauglich zum Militärdienst erklären lassen

    Die Diagnose, von der die verehrten Ärzte sprechen, heißt „Transsexualismus“ und gehört zu den Störungen der Geschlechtsidentität. Unter anderem kann sich ein Staatsbürger auf dieser Grundlage als untauglich zum Militärdienst erklären lassen. Und man darf auch nicht vergessen, dass ein homosexuelles Paar, wenn ein Partner das Geschlecht ändert, das Recht bekommt, ein Kind zu adoptieren. Solche Fälle gibt es in Russland leider auch schon.

    Laut der russischen Verfassung ist die Ehe ein Bündnis zwischen Mann und Frau, irgendwelche unbestimmten, zusätzlichen oder Zwischen-Gender kommen darin einfach nicht vor. Es gibt nicht Elternteil-1 und Elternteil-2. Die Einführung einer solchen Praxis widerspricht einer ganzen Reihe von grundlegenden staatlichen Statuten und Konzepten: So unter anderem der russischen Verfassung, der Strategie der nationalen Sicherheit, den Grundlagen der Staatspolitik zum Schutz von traditionellen russischen geistig-moralischen Werten.

    In dieser Klassifikation gelten Perversionen als Norm. Wenn wir in einer solchen Welt leben wollen, dann muss nichts geändert werden

    Dass es derart rudimentäre Normen gibt, ist das Ergebnis der Arbeit von einigen Beamten im internationalen Bereich, zum Beispiel in der Weltgesundheitsorganisation mit ihrer internationalen Klassifikation von Krankheiten ICD-10 und ICD-11, die aus Gewohnheit immer noch anerkannt und von der russischen Regierung umgesetzt werden. In dieser Klassifikation gelten Perversionen als Norm. Wenn wir in einer solchen Welt leben wollen, dann muss natürlich nichts geändert werden: Es müssen keine Gesetze erlassen werden, und einfach akzeptiert werden muss unter anderem auch die Mitgliedschaft der Russischen Föderation in der Weltgesundheitsorganisation, die uns Geschäftsreisen, Vergünstigungen und eine ganze Reihe von lukrativen Verträgen und so weiter beschert.

    Ich spreche hier nur von der Spitze des Eisbergs. Die westliche Transgender-Industrie versucht auf diese Weise, unser Land zu durchdringen und eine Bresche für ihr millionenschweres Business zu schlagen. In Russland existiert bereits ein etabliertes Netz von Kliniken, die Geschlechtsumwandlungen vornehmen, einschließlich sogenannter trans-friendly Ärzte. Trans-friendly Psychologen arbeiten mit aktiver Unterstützung von LGBT-Organisationen (die vielleicht in den letzten Jahren ihren Namen in einen weniger verfänglichen geändert haben). Bereits heute ist das eine profitable, eine überaus profitable Branche medizinischer Dienstleistungen. Und es ist klar, warum eine ganze Reihe von Ärzten diese Branche so leidenschaftlich verteidigt, unter dem Deckmantel akademischer Kenntnisse, die sie unter anderem im Ausland während der Ausbildung in den USA und anderen Ländern erworben haben. Das ist natürlich gut, wundervoll. Nur scheint mir irgendwie, es ist an der Zeit, in dieser Branche aufzuräumen. Und die Entscheidung heute ist ein Schritt in diese Richtung.“

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  • Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    In der Rhetorik des Kreml ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bis heute bloß eine „militärische Spezialoperation“ – ein begrenztes Unterfangen, das irgendwo in der Ferne stattfindet, aber den Alltag der Menschen in Russland nicht weiter beeinträchtigt. Diese Erzählung verliert immer stärker an Glaubwürdigkeit, je mehr der Krieg auch in Russland zu spüren ist: sei es durch Drohnenangriffe auf Moskau oder Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet. 

    Für die Menschen in der Oblast Belgorod ist der Krieg schon lange eine Realität, die sich nicht ignorieren lässt. Von dort rückten im Februar 2022 russische Besatzungstruppen auf die ostukrainische Stadt Charkiw vor, nahmen die Region unter Beschuss und provozierten entsprechend Gegenfeuer auch von ukrainischer Seite aus. Zum Brennpunkt auf russischem Gebiet entwickelte sich die grenznahe Kleinstadt Schebekino mit einst rund 40.000 Einwohnern, von denen viele die Stadt inzwischen verlassen haben. Die Region geriet jüngst in die Schlagzeilen, nachdem russische Freiwilligenverbände, die für die Ukraine kämpfen, die Grenze mit gepanzerten Fahrzeugen überquerten und Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet verübten. Dazu bekannten sich die Legion Freiheit Russlands sowie das Russische Freiwilligenkorps (RDK) um den Neonazi Denis Kapustin, der auch in Westeuropa kein Unbekannter ist.

    The Insider war vor Ort unterwegs und berichtet von leeren Straßen, zerstörten Häusern und von Menschen, die sich von ihrer Regierung im Stich gelassen fühlen. Eine Reportage aus der russischen Grenzstadt Schebekino, wo der Krieg inzwischen in voller Wucht angekommen ist.

    1. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“

    „Wir wissen, was ihr in Moskau denkt. Ihr denkt, wir wären irgendein Dorf. Nicht mal den Namen der Stadt könnt ihr richtig schreiben!“, beschwert sich einer der Sicherheitsbeamten in der Grenzstadt Schebekino, mutmaßlich ein Mitarbeiter des FSB. „Wir kriegen hier alles ab, und bei euch kommen nicht mal gescheite Nachrichten darüber, was hier los ist!“

    Wir sitzen im Keller des Polizeireviers in Schebekino. Hier wurde ich hergebracht, weil ich die kaputte Fensterscheibe eines Schönheitssalons auf der zentralen Einkaufsstraße der Stadt fotografieren wollte. Das Geschoss hatte das Kulturzentrum getroffen, aber die Detonationswelle hat Fensterscheiben im Umkreis von zig Dutzend Metern bersten lassen. Die Soldaten tauchten aus dem Nichts auf. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“, sagten die bewaffneten Männer, nahmen mir Handy und Ausweis ab, setzten mich ins Auto, fuhren mich aufs Revier und brachten mich dann in den Keller. Vielleicht, um mich einzuschüchtern, vielleicht aber auch zum Schutz vor den Einschlägen: An jenem Tag wurde Schebekino vier Mal beschossen, es donnerte fast ununterbrochen über unseren Köpfen.

    Nach einem Einschlag irgendwo in der Nähe geht das Licht aus. Das Verhör wird im Dunkeln fortgesetzt. Keiner von den Polizisten hat sich mir vorgestellt. Sie suchen ukrainische Kontakte, scrollen durch die Fotos in meinem Handy, das entsperrt war, als sie es mir aus der Hand gerissen haben. Wollen DNA-Proben und Fingerabdrücke nehmen, aber die Technik macht nach dem Einschlag nicht mit. Der Ton wird weicher, als sie irgendwo in meinen Nachrichten eine Bestätigung dafür finden, dass ich wirklich Journalistin bin. Die Presse interessiert sie in dieser Situation weniger.

    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider
    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider

    „Solche Spielchen spielen wir hier nicht. Wir haben keine Zeit für einen Krieg gegen Journalisten, wir führen hier einen echten. Nur die bei euch in Moskau wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen“, sagt genervt der eine Mitarbeiter, der sich mir immer noch nicht vorgestellt hat. Er muss sich sichtlich beherrschen, keine direkte Kritik an der Zentrale zu üben, aber das gelingt ihm nur mäßig. Genau wie der Großteil der Bevölkerung der Oblast Belgorod sind auch die hiesigen Behörden empört über die Gleichgültigkeit des Kreml gegenüber den Ereignissen im Grenzgebiet und das Ausbleiben jeglicher Hilfe. Nach knapp vier Stunden darf ich den Keller verlassen.

    Auch die hiesigen Behörden sind empört über die Gleichgültigkeit des Kreml

    Mein Gesprächspartner ärgert sich, dass sie in der Oblast „nicht einmal den Kriegszustand“ ausgerufen hätten: „Offiziell war das hier nur eine Antiterroroperation, aber die wurde beendet. Jetzt gibt es hier gar keinen besonderen Status. Aber wir arbeiten immer noch genau so“, versucht mir der Polizist die Festnahme, Durchsuchung und Befragung zu erklären.

    Wir verlassen das Revier, der Mitarbeiter begleitet mich zu unserem Auto, das beim Krankenhaus von Schebekino in einer Seitenstraße wartet. „Schreiben Sie lieber was darüber, wie wir trotz der ganzen Sache hier versuchen zu arbeiten“, klagt der Polizist. Das Stadtzentrum hat sich während meiner Stunden im Keller verändert: Die Bürgersteige sind mit Glasscherben übersät, hinter dem Polizeigebäude steigen schwarze Rauchwolken auf. Drei Tage später wird auch das Polizeirevier getroffen, in dem ich gerade verhört wurde.

    2. „Unser russisches Donezk oder Mariupol“

    Die Folgen von Putins Krieg sind in Schebekino seit dem Beginn der „Spezialoperation“ spürbar. Nach dem 24. Februar stand der Landkreis regelmäßig unter Beschuss, aber es handelte sich dabei um einzelne Gegenschläge. Die Oblast Belgorod diente als Aufmarschgebiet für die Offensiven gegen Charkiw und Sumy, und auf den Feldern, Äckern und rund um die Ortschaften herum war regelmäßig russische Kriegstechnik stationiert. Auch solche, mit der die Ukraine beschossen wurde. Doch eine derartige Eskalation hat in Schebekino niemand erwartet. Noch am 25. und 26. Mai war es in der Stadt verhältnismäßig ruhig, nur gelegentlich donnerte es. „Das ist die Luftabwehr“, sagten die Bewohner und schenkten dem nicht allzu viel Beachtung. Die Kinder spielten weiter auf der Straße, die Rentnerinnen hatten es nicht eilig, ihre angestammten Plätze auf den Bänken zu verlassen. Am Morgen des 27. Mai heulten in der Stadt die Sirenen los. Die waren allerdings im Zentrum kaum zu hören – im Gegensatz zu den Explosionen direkt über den Köpfen. An diesem Tag wurde Schebekino vier Mal angegriffen. Mit jedem Tag nahm die Intensität der Beschüsse zu.

    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider
    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider

    Während wir die Lenin Straße entlangfahren, gibt es wieder Luftalarm. Wir halten an, steigen aus und laufen in einen Hof, in den Pfeile mit der Aufschrift „Schutzbunker“ weisen, aber wir finden nur eine abgeschlossene Kellertür. Wir warten ein paar Minuten, aber es kommt niemand, der uns aufschließen könnte. Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann. Die Frauen winken uns zu, wir gehen rein. In diesem Moment ertönt direkt über uns ein lauter Knall, alle schreien auf.

    Wenn es pfeift, sind es die Ukrainer, wenn es Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere Leute

    „Wer war das? Unsere Leute oder die anderen?“, fragt eine Frau in einer Mischung aus Russisch und Ukrainisch und späht aus der Tür. Viele ältere Bewohner der Oblast Belgorod sprechen Surshyk. „Wenn es pfeift, dann sind es die Ukrainer, wenn es einfach nur Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere. Wenn es pfeift, ist es gefährlicher, dann ist was im Anflug.“

    „Unsere Leute“, so die hiesigen Bewohner, positionieren ihre Kriegstechnik am Stadtrand von Schebekino. Den Geräuschen nach zu urteilen, werden die Geschosse wenige Kilometer von uns entfernt abgefeuert. Vergangenen Sommer standen die Armeefahrzeuge mitten in der Stadt – Ural- und KamAZ standen auf dem Krankenhausgelände, das an eine große Militärbasis erinnerte. Die Einfahrten wurden von Bewaffneten mit Maschinenpistolen kontrolliert. Zutritt bekam man nur mit Genehmigung. Jetzt ist das Krankenhaus leer. Nach dem Beginn der massiven Beschüsse wurden die Patienten nach Belgorod verlegt. Geblieben sind nur ein paar diensthabende Ärzte.

    Am 28. Mai meldete Wjatscheslaw Gladkow, Gouverneur der Oblast Belgorod, 116 Einschläge im Stadtgebiet Schebekino, am 30. Mai waren es bereits 215, am 1. Juni dann der Rekord mit 850 und am 2. Juni 371. Unter den Beschüssen leiden neben der Stadt Schebekino auch die Grenzdörfer Nowaja Tawolshanka und Murom. Letzten Sommer hatte das russische Militär zwischen Murom und Archangelski eine große Reparatur-Basis für Militärtechnik aufgeschlagen. Als die Oblast Charkiw okkupiert war, konnte man hier Raketenwerfer und andere Kampffahrzeuge sehen.

    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider
    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider

    Ende Mai boten die Ladenflächen noch Schutz. Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen werden. Aber einige Tage später wurden die Geschäfte geschlossen. Jetzt besteht Schebekino aus leeren Straßen, zerstörten Häusern und brennenden Dächern. Von den Zerstörungen betroffen sind sowohl Hoch- und Einfamilienhäuser als auch Verwaltungsgebäude; ein Wohnheim, zwei Fabriken und zahlreiche Autos sind ausgebrannt. In der Stadt gibt es seit Tagen weder Strom noch Wasser, der öffentliche Verkehr und das Mobilfunknetz sind zusammengebrochen. Am 1. und 2. Juni bildeten sich an den Tankstellen Staus. Die Einfallstraßen in die Stadt sind in alle Richtungen gesperrt und werden von ganzen Militärbrigaden kontrolliert. Bis zum 1. Juni konnte man Schebekino noch durch die Ortschaft Titowka erreichen, dann wurde auch diese Straße gesperrt.

    „Die Stadt ist leer, alles brennt, Rauchsäulen, hungrige Hunde, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden, suchen nach Fressen. Ein furchtbarer Anblick“, erzählt eine Einwohnerin, die Schebekino am 2. Juni verlassen hat.

    „Unsere schöne, saubere Stadt ist jetzt quasi ein russisches Donezk oder sogar Mariupol. Sie haben sie ihren waghalsigen Abenteuern geopfert“, beklagt Wadim, der in Schebekino geboren und aufgewachsen ist.

    3. Die Geiseln von Schebekino

    Schebekino ist die erste russische Stadt, die die Bewohner wegen des von Putin entfesselten Krieges verlassen müssen, allerdings wurde keine offizielle Evakuierung ausgerufen. Aber weil die Stadt gesperrt ist, wird es für viele zur echten Herausforderung, hier rauszukommen.

    Am 1. Juni haben die Behörden Busse bereitgestellt, die die Menschen von Schebekino nach Belgorod bringen sollten. Aber zu den Sammelpunkten außerhalb der Stadt mussten die Menschen irgendwie selbst kommen. Manche legten mehrere Kilometer zu Fuß zurück. Ältere und gebrechliche Menschen waren tagelang dem Beschuss ausgesetzt. Auch ihre Angehörigen konnten sie nicht abholen, weil die Stadt gesperrt war. Die Einwohner von Schebekino richteten Selbsthilfe-Chats ein, in denen sie dringend jemanden suchten, der ihre Eltern oder Haustiere aus der Stadt bringt.

    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider
    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider

    „Bitte, holt uns hier raus, wir haben Kinder, unsere Mutter ist krank. Was sollen wir tun??? Helft uns bitte!!! Irgendjemand, bitte!!!“, schreibt eine Einwohnerin. Und solche Nachrichten gibt es Dutzende, wenn nicht Hunderte.

    „Die Menschen in Murom bei Schebekino haben seit acht Tagen keinen Strom, im benachbarten Siborowka seit vier Tagen“, kann man in den sozialen Netzwerken lesen. „Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung – nehmen Anfragen entgegen und schweigen sich aus. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust. In Murom bricht die Verbindung immer wieder weg.“

    Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust

    In den Chats bitten die Menschen Freiwillige, ihre Haustiere zu füttern, die angeleint zu Hause geblieben sind. Manche warten nicht nur für Hunde und Katzen auf Hilfe, sondern auch für Hühner und Ziegen.

    „Familie, drei Erwachsene, ein Kind, 7 Jahre, Kreis Schebekino, Maslowaja Pristan. Mit Vieh: 14 Ziegen, 30 Hühner, 9 kleine, gutmütige Hunde, 2 Katzen. Suchen gezwungenermaßen ein neues Zuhause, ein Haus, mit Möglichkeit für Tierhaltung“, lautet eine Hilfsanfrage.

    Allerdings gibt es auch Personen, die weniger Schwierigkeiten haben, sich durch die Oblast zu bewegen, als die Belgoroder selbst, zumindest in den Grenzgebieten – und zwar ukrainische Diversionsgruppen und die Kämpfer des Russischen Freiwilligenkorps (RDK). Ihr Auftauchen sorgt kaum mehr für Verwunderung bei der einheimischen Bevölkerung.

    4. „Das ist keine Grenze, sondern eine offene Tür“

    „Unsere Grenze ist nicht nur löchrig, sie ist freizügig wie ein Stringtanga! Also schon eine Unterhose, aber alles offen. Genauso ist das bei uns“, – der Belogoroder Jewgeni versucht gar nicht erst, seine Emotionen im Zaum zu halten. Er ist vor 16 Jahren aus Norilsk hierher zu den Eltern seiner Frau gezogen. Die Region schien ihm das Paradies auf Erden: ein großes Haus, bestes Klima, 60 Kilometer bis ins ukrainische Charkiw. Er erzählt, dass sie früher oft hin- und hergefahren seien: Aus der Ukraine konnte man günstig und bequem nach Europa oder nach Asien fliegen. Jetzt geht das Ehepaar nach Pensa.

    „Unsere Eltern und die Kinder haben wir schon vorgeschickt. Ich musste unbezahlten Urlaub nehmen. Wir sind direkt von der Fabrik aus losgefahren. Ich habe zu viel Angst, um hierzubleiben, ich verliere lieber Geld als mein Leben“, sagt Jewgenis Frau.

    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google
    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google

    Wir stehen an der Ausfahrt von Schebekino an einer geschlossenen Gazprom-Tankstelle. Das ist reiner Zufall: In diesem Gebiet ist kein Empfang, das Navi spinnt und statt uns nach Belgorod zu führen, schickt es uns irgendwo Richtung ukrainische Grenze. Dorthin sind es von hier noch drei Kilometer, gleich hier ist die Kreuzung, wo man nach Woltschansk abbiegen muss, dort geht es dann zum Grenzübergang Schebekino. Und genau dort gab es laut Medienberichten am 1. Juni einen Versuch, von ukrainischer Seite aus die Grenze zu durchbrechen, und es kam zu einem Panzergefecht.

    Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da

    Die Abzweigung Richtung Grenzübergang Schebekino liegt verlassen da. Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da. Leere Befestigungen, eine offene Schranke, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“. Solche wurden verwendet, um entlang der ukrainischen Grenze die „Wagner-Linie“ zu ziehen. Die ist von hier aus zu sehen. Als das Verhältnis zwischen der Söldnertruppe und dem Verteidigungsministerium schlechter wurde, hieß diese Linie in den staatlichen Medien übrigens nicht mehr Wagner-Linie, sondern wurde zur „Belgoroder Verteidigungslinie“.

    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider
    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider

    Diese Befestigungsanlagen aus Betonkegeln scheinen ein Eindringen auf russisches Gebiet allerdings nicht wirklich zu verhindern. Russische Freiwilligeneinheiten, die den ukrainischen Streitkräften angegliedert sind, posten fast täglich Fotos und Videos aus russischen Grenzdörfern. Normalerweise geben sie keine Adresse an, aber in vielen Fällen kann man diese über Google Maps zurückverfolgen, vor allem wenn die Aufnahmen mit Drohnen gemacht wurden.

    So ist etwa auf einem Video vom 1. Juni die Zerstörung von militärischem Gerät zu sehen, das russische Soldaten im Dorf Nowaja Tawolshanka versteckt hatten, in der Gegend um die Pestschanaja Straße. Ein Foto von einem Panzer mit weiß-blau-weißer Flagge hat die Legion Swoboda Rossii [dt. Freiheit Russlands] am Anfang der Saretschnaja Straße in demselben Dorf gemacht. Von dort sind es bis zur ukrainischen Grenze nur 500 Meter. Diese russischen Grenzdörfer, in denen das russische Freiwilligenkorps RDK herumspaziert, hat keiner evakuiert. Das Dorf Nowaja Tawolshanka zum Beispiel hat rund 5000 Einwohner – alles lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken.

    Die Bewohner von Nowaja Tawolshanka sind lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken

    Die Videos der Legion Freiheit Russland zeigen, wie sich in den Wohnhäusern russische Soldaten verschanzen, die ihre Schützenpanzer am Gartenzaun oder einfach direkt vor den Häusern parken. Beim RDK, dem russischen Freiwilligenkorps, heißt es, es sei das russische Militär, das grenznahe Dörfer beschießen würde, um die Positionen des RDK zu vernichten. 

    Den Sicherheitsmann an der Tankstelle wundern die Versuche, die Grenzübergänge zu stürmen, offenbar nicht. Ihm zufolge kommen regelmäßig Ukrainer ungehindert in die Oblast Belgorod und kehren genauso unbehelligt wieder zurück. Die russische Regierung habe es nicht eilig, die Grenze abzusichern.

    „Die gehen aus und ein, als wären sie hier zu Hause. Wieso auch nicht, die Grenze steht offen wie eine Tür“, ärgert sich der Mann. „Kürzlich schau ich über die Felder, und da seh ich, wie etwa einen Kilometer weit weg etwas in der Sonne glänzt. Ich seh genauer hin – ein Pickup. Er wendet und beginnt zu schießen, er hatte ein Maschinengewehr oder einen Granatwerfer montiert, keine Ahnung. Die standen da eine Weile und schossen, dann fuhren sie gemächlich wieder zurück. Ohne Angst vor einem Gegenschlag – sie wissen ja, dass da keiner kommt.“

    5. „Wir sitzen den dritten Tag im Keller – für das Land ist Donezk leider wichtiger“

    Ein schwerer Schlag war für die Belgoroder auch das Schweigen der staatlichen Medien zur Lage in ihrer Region. Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender detailreich von den Erfolgen der russischen Armee rund um Awdijiwka in der ukrainischen Oblast Donezk. 

    „Wir sind denen allen scheißegal. Wir sitzen den dritten Tag im Keller, mein Kind hat schrecklich Angst, kann die ganze Zeit nicht raus. Aber für das Land ist Donezk offenbar wichtiger“, beschwert sich Tatjana aus Schebekino in den sozialen Netzwerken.

    Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender von den Erfolgen der russischen Armee in der Ukraine

    „Seit dem frühen Morgen hagelt es Raketen, alles brennt. Aber die großen Sender wissen anscheinend nicht mal, dass Schebekino existiert“, empört sich der User Konstantin Seliwanow.

    Der erste russische Fernsehsender Perwy Kanal widmete dem heftigen Angriff auf die Stadt am 27. Mai gerade mal eine Minute. In den Kommentaren zum Social-Media-Auftritt des Senders begannen die Leute zu fordern, dass diese Situation nicht weiter vertuscht wird, aber die Reaktion der Senderleitung beschränkte sich offenbar darauf, das Wort Schebekino zum Tabu zu erklären. Kommentare zum Thema Schebekino wurden entfernt. Findige User fingen an, Schebekino in lateinischer Schrift zu schreiben, um den Filter zu umgehen, aber dann wurde die Kommentarfunktion komplett ausgeschaltet. 

    In den sozialen Medien von Belgorod wurde unter den Hashtags #SchebekinoistRussland und #fürSchebekino zu Flashmobs aufgerufen, um die Aufmerksamkeit der staatlichen Medien zu erregen. „Die halbe Stadt ist zerstört. Keiner will uns verteidigen. Russen, helft uns“, schreibt eine Bewohnerin im Chat und bittet um Verbreitung ihres Appells.

    Die Hartnäckigkeit der Belgoroder hat mittlerweile tatsächlich Früchte getragen. Die staatlichen TV-Kanäle berichten nun doch über Schebekino, widmen dem Thema mehr Sendezeit. Aber wie heißt es so schön – hätten sie doch lieber geschwiegen: Der russische Abgeordnete Andrej Guruljow rief in der Sendung Solowjow Live dazu auf, „anzugreifen und plattzumachen, auch Schebekino … wenn’s sein muss mit Gleitbomben“. Offenbar hält er Schebekino für eine ukrainische Stadt. Und in der politischen Talk-Show 60 Minuten auf dem Sender Rossija-1 konnten sich Putins „Experten“ mit ihren schlauen Gesichtern nicht einmal den Namen der Stadt richtig merken, von der sie sprachen – mal sagten sie Schmjakino, dann wieder Schimekino.

    Das demonstrative Desinteresse seitens der staatlichen Medien macht sogar Bewohner wütend, die der Regierung gegenüber ansonsten loyal sind, hier aber das Gefühl haben, die ganze Oblast würde im Stich gelassen, die Leute würden verarscht und als lebende Schutzschilde missbraucht. Wie sich das auf die Umfragewerte der Regierung in der Region auswirkt, wird man sehen. Aber wohl kaum positiv.

    Es sind jetzt merklich weniger Zetts zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt

    „Es war interessant zu beobachten, wie nach der Ankündigung der Mobilmachung plötzlich Autos mit Spuren von abgerissenen Z-Stickern zu sehen waren“, erzählt Kristina [Name geändert – The Insider], Journalistin bei einer Belgoroder Zeitung. Sie hat den Eindruck, dass die Mobilmachung die Stimmung in der hiesigen Bevölkerung beeinflusst hat. Belgorod, wo wir Kristina treffen, scheint sich im letzten Jahr tatsächlich verändert zu haben. In etlichen Freiwilligen-Chats beklagten die Administratoren im Frühjahr, dass die Spenden weniger geworden seien. Die hurra-patriotischen Billboards Für Putin und Für Russland wurden stellenweise durch Plakate ersetzt, die dazu aufrufen, Vertragssoldat zu werden. An den Türen der Geschäfte und in den Fenstern von Gebäuden im Zentrum und in der ganzen Stadt sind jetzt merklich weniger Zs zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt. Heute prangt dafür auf jedem Haus ein Wegweiser zum Schutzraum.   

    6. Schutzraum betreten nur mit Gasmaske

    Das Artilleriefeuer auf Schebekino hat die Frage nach der Verfügbarkeit von Schutzräumen in Belgorod aufgeworfen. Aufgrund der Menge der Hinweisschilder könnte man annehmen, die Behörden seien dieses Thema ernsthaft angegangen. Wie sich jedoch zeigt, blieb es bei den Wandmalereien. Ich suche in dem Wohnblock, in dem ich eine Wohnung gemietet habe, nach einem Schutzraum.

    „Sie schaffen es sowieso nicht bis zu einem Schutzraum, wenn die zu schießen anfangen“, sagt eine Nachbarin. „Wenn die Sirene heult, muss man im nächstmöglichen Haus über die Gegensprechanlage jemanden rufen, und der kommt dann raus und schließt den Keller auf.“ „Ganz ehrlich, mein liebes Mädchen“, mischt sich eine zweite Nachbarin ein, „diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen!“

    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider
    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider

    Nach den Angriffen auf Schebekino hat sich die Situation mit den Belgoroder Schutzräumen nicht verändert, meint die Lokaljournalistin. Und tatsächlich, die Pfeile an den Häusern führen zu Kellern, die abgeschlossen sind.  

    Der „Schutzraum“ sieht aus, als hätte ihn lange keiner mehr geöffnet: Von der kaum anderthalb Meter hohen Tür steckt der untere Rand in Erde und Geröll. Aus dem verschlossenen Keller dringt ein ekelerregender Gestank.

    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider
    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider

    Ein Gemeindebediensteter hilft mir, doch noch in so einen Schutzraum zu gelangen, aber das bereue ich sofort. Die Nachbarin hatte recht: Ohne Gasmaske hält man es in dem Keller maximal eine Minute aus, genauso lang, wie man den Atem anhalten kann. Der Mann, der mir den Keller zeigt, ist vorsorglich draußen stehengeblieben.

    7. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“  

    Belgorod hat die meisten evakuierten Einwohner von Schebekino aufgenommen. Erst mal in mehrere Auffanglager. In der ersten Nacht schliefen tausende Menschen Schulter an Schulter: Die Betten wurden ganz dicht aneinander aufgestellt, es gab keine Privatsphäre und zu wenig Hygieneartikel und Kindernahrung – die wurden von Freiwilligen gebracht. Jeder hatte eine Fläche von zwei Quadratmetern.  

    Dann wurden die Evakuierten in Wohnheimen der technischen Fachschulen und der Staatlichen Universität Belgorod untergebracht. Dafür wurden allerdings Studenten aus ihren Zimmern geworfen, noch dazu, wie Betroffene erzählten, um zwei Uhr nachts. Ihnen wurden Zimmer mit Kakerlaken und ohne jeglichen Komfort angeboten, und wer protestierte, dem wurde nahegelegt, auszuziehen.

    Viele aus Schebekino wollen nach wie vor nicht wegziehen – und dafür gibt es einen Grund: In so einer temporären Unterkunft kann man ein Jahr oder noch länger festsitzen, wie es Leuten aus dem Grenzdorf Sereda im Stadtgebiet Schebekino passiert ist. Das Dorf wurde gleichzeitig mit zwei anderen – Shurawljowka und Nechotejewka – gleich als erstes evakuiert im Frühjahr 2022. Die Menschen leben immer noch in Auffanglagern. Wegen der Artilleriefeuer können sie nicht nach Hause zurück, aber so viel Geld, dass sie sich eine neue Wohnung kaufen oder wenigstens mieten können, bekommen sie vom Staat nicht.

    Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle

    Zudem ist es in den Auffanglagern nicht immer ungefährlich. Das Zentrum, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss. Ein Wachmann kam ums Leben. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“, hieß es in den sozialen Medien verächtlich. Erst danach wurden die Menschen endlich an einen halbwegs sicheren Ort gebracht. Wobei natürlich niemand weiß, wie lange dieser Ort noch sicher sein wird: In Schebekino hatte auch keiner erwartet, einmal direkt an der Frontlinie zu wohnen.

    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider
    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider

    Die Behörden könnten die Situation für die Bewohner verbessern, indem sie in der Oblast den Notstand ausrufen. In diesem Fall bekämen kinderreiche Familien 15.000 Rubel [etwa 165 Euro – dek], alle anderen 10.000 Rubel [etwa 110 Euro – dek] für die Miete einer Wohnung. Aber noch kann davon keine Rede sein: Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle und als gäbe es auf russischem Staatsgebiet keinen Krieg.

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  • Unmoral als System

    Unmoral als System

    Der Mensch sei von Natur aus schlecht, alle Ideale per se utopisch und Wahrheiten manipuliert – viele halten solche Aussagen auch heute noch für Grundprinzipien des Menschseins. Aus dieser Sicht erscheint jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft sinnlos, argumentiert Andrej Archangelski. Die Zukunft als solche wird zum Feind, die Ablehnung progressiver Werte, der Amoralismus werden zum eigenen Wertesystem. Dies macht für Archangelski die Ideologie des Putinismus aus und die zynischen Grundlagen eines Totalitarismus 2.0. Auf Carnegie politika fragt er, wie eine Rückkehr zur Moral möglich sein kann.

    Anfang der 2000er Jahre tauchte im öffentlichen Diskurs in Russland ein bemerkenswerter Begriff auf – nepolschiwzy, frei übersetzt „die Nichtlügner“. Der Begriff ging auf Alexander Solschenizyns 1974 erschienenen Essay Schit ne po lschi (dt. Nicht nach der Lüge leben) zurück und war in erster Linie eine abwertende Bezeichnung für Menschen, die antisowjetisch eingestellt waren. Aber er hatte auch einen tieferen Sinn: Der Begriff verhöhnte nicht nur die sowjetische Hölle, sondern bestritt selbst die Möglichkeit, nicht nach der Lüge zu leben.

    Die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, war der ideelle Kern der Perestroika

    Dabei war die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, der ideelle Kern von Gorbatschows Perestroika: Damals glaubte die Gesellschaft, dass man aufhören müsse, sich gegenseitig anzulügen, um die angestauten Probleme zu lösen. Und genau das wurde in den 2000er Jahren plötzlich wieder absurd und utopisch. „Erzähl ihr mal, wie man ohne Lüge lebt“, sang [der Sänger der bekannten Band Leningrad] Schnur über eine Petersburger Prostituierte, mit der er natürlich Mitgefühl hatte.

    Hier liegt auch die Wurzel der Putinschen Ideologie: Im Unterschied zum offiziellen Patriotismus und den traditionellen Klammern wurde sie zwar nie öffentlich verkündet, aber dennoch wurde den Menschen konsequent und unermüdlich eingeimpft: Ohne Lüge zu leben, ist eine Utopie. Alle lügen. Der Mensch ist in seinem Kern ein niederes Wesen, das sich niemals bessern wird; jegliche „große Umwälzungen“ werden nichts in ihm ändern; er wird, wo auch immer sich ihm die Gelegenheit bietet, stehlen und lügen. Niemand bleibt sauber, unter keinen Umständen.

    Dieses Konzept hielt auch Einzug ins Propagandafernsehen, wo es jedes Mal herangezogen wird, wenn die russische Staatsmacht sonst nichts mehr zu bieten hat. Zum Beispiel, als sich nicht länger verheimlichen ließ, dass unsere Sportler gedoped waren. „Das machen doch alle“, war von der Propaganda schließlich abfällig zu vernehmen, nachdem sie sich wochenlang darüber ausgelassen hatte, dass Feinde ihnen das Zeug „untergejubelt und in den Tee gemischt“ hätten.

    „Das machen doch alle“

    „Das machen alle.“ Das heißt mit anderen Worten: „Es gibt keine Heiligen“, keiner ist besser als der andere. Niemand ist rein. Genau darauf baut Putins gesamte Ideologie auf, und sie ist in diesem Sinne sehr praktisch. Wenn niemand besser ist als der andere, wenn alle gleich schlecht sind (die im Westen sowieso) – was wollen die dann von uns?

    Das ist Putins Moral, denn es regiert sich leichter, wenn es grundsätzlich nichts gibt, was man menschliches Ideal nennen könnte. Wenn es kein Ideal gibt, dann eröffnet sich ein grenzenloser Raum für Interpretationen, dann kann es gar keine Wahrheit geben – denn alles ist Manipulation. Damit wird auch der politische Handlungsspielraum extrem groß. „Es gibt keine Heiligen“ – dieses oberste Gebot des Zynismus hat uns die Propaganda in den letzten 20 Jahren unterschwellig eingetrichtert, parallel zu offiziösen Auslassungen über unsere moralische Überlegenheit.

    Der Krieg fügt sich in diesem Sinne sehr gut in Putins Ideologie, und zwar mit seiner totalen Amoralität. Alle sollen mit in den Dreck gezogen werden, auch die, die vielleicht noch sauber waren („Ihr werdet euch nicht reinwaschen können“): die Befürworter, die Gegner, die Neutralen. Mit der Entfesselung dieses Krieges hat das Putin-Regime mit einem Schlag alle früheren moralischen Grundfesten weggefegt; man kann heute unmöglich eine weiße Weste tragen – es sei denn, man lässt sich freiwillig vom System missbrauchen.

    Alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf

    „Das ganze Leben gründet auf Betrug, alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf.“ Diese Vorstellung von der immanenten Amoralität des bourgeoisen Lebens (natürlich im Gegensatz zum sowjetischen) stammt aus der Hauptquelle des sowjetischen Wissens über den Westen: der Zeitschrift Krokodil und ähnlichen Publikationen. In den 2000er Jahren diente sie als Basis für die stillschweigende Legitimierung der Ideologie in Putins Russland. Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Kapitalismus von Natur aus unmoralisch ist.

    Der Amoralismus, der sich in den 2000er Jahren in Russland etablierte, war zunächst nur eine Lücke, eine weltanschauliche Leerstelle, die sich nach dem Zerfall der UdSSR auftat. Die „Suche nach einer nationalen Idee“ war damals die wohl letzte freie öffentliche Debatte in Putins Russland, und sie führte zu nichts. Doch irgendwann stellte sich zur allgemeinen Verwunderung heraus, dass alles auch einfach so funktioniert.

    Ideelle Leere bietet mehr Raum als jedes Dogma 

    Dieser Hohlraum anstelle der einstigen Sowjetideologie war zunächst ungewohnt, aber dann wurde er für den Kreml gewissermaßen zu einer postmodernen Entdeckung. Das Wertevakuum, die Ungewissheit, die ideologische Schwammigkeit des 21. Jahrhunderts entpuppte sich als etwas, das besser funktioniert als sämtliche Dogmen oder Deklarationen. Die ideelle Leere bietet per Definition mehr Raum als jedes Dogma. In der Politik ist Amoralität überaus praktisch, weil sie einen extrem breiten Korridor an Möglichkeiten eröffnet.

    Der Amoralismus eignet sich zwar nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis, als etwas, „über das man nicht spricht, aber das alle wissen“. Der Amoralismus hat jedoch nicht nur einen praktischen Nutzen, er ist auch das beste Mittel gegen die Zukunft – Russlands Hauptproblem am Anfang des 21. Jahrhunderts.

    Amoralismus eignet sich nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis

    Die totalitären Regime des 21. Jahrhunderts erschaffen im Gegensatz zu denen des 20. Jahrhunderts keine neuen Utopien – sie speisen sich aus den Utopien der Vergangenheit. Der Hauptfeind des Totalitarismus 2.0 ist die Zukunft als solches. Hier eignet sich der Amoralismus hervorragend als Ideologie. Im Unterschied zu progressiven Postulaten („Der Mensch kann mit der Zeit besser werden“) basiert der Amoralismus auf dem Gegenteil: Die menschliche Natur kann grundsätzlich nicht verändert werden, der Mensch wird immer so und so bleiben. Folglich ist auch jede Hoffnung auf die Zukunft sinnlos.

    Die autoritären Regime des neuen Typs gründen bewusst auf der Angst der Bevölkerung vor der Zukunft. Gleichzeitig flüstern sie ihren Bürgern ein, dass „alles Gute längst geschafft ist“, dass die Menschheit ihr Potenzial bereits ausgeschöpft habe. Weiter geht es nicht; man kann nur in der Ewigkeit verharren oder die Stufen in die Vergangenheit hinabsteigen und versuchen, die Geschichte von neuem durchzuspielen. Im Amoralismus bleibt die Zeit quasi stehen.

    Ein weiterer Aspekt des Amoralismus als Ideologie ist der Kampf gegen das Ideal. Grundsätzlich und gegen jedes. Ja, dieses Wort darf es gar nicht geben. Nicht umsonst wurde die Intelligenzija (die in Russland als die einzige Hüterin von humanistischen Idealen gilt) die letzten 20 Jahre sorgfältig und zielgerichtet verlacht.

    Wie befreit man sich aus dem Fangeisen des Amoralismus? 

    Wie aber befreit man sich aus diesem Fangeisen des Amoralismus? Wie durchbricht man den Abwärtsstrudel, den Teufelskreis? Alle denkenden Russen – sowohl die, die gegangen, als auch die, die geblieben sind – befinden sich heute in Geiselhaft dieses Postulats: Eine Zukunft zu erschaffen ist nicht mehr möglich. Und tatsächlich ist es jetzt so gut wie unmöglich, sich eine bessere Zukunft vorzustellen, weil man zuerst den Albtraum der Gegenwart überwinden muss. Jeder Versuch, unter diesen Umständen nach Idealen zu suchen, ist utopisch. Im besten Fall wird man zum Gespött der Leute.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache. Selbst die russische Sprache scheint nicht besonders geeignet für Variantenreichtum, für Wahrscheinliches und Relatives. Sie eignet sich nur für das Ewige und Unveränderliche. Über die Zukunft nachzudenken ist per Definition eine unsichere, wackelige Angelegenheit. Doch wir werden es wieder lernen müssen. Man kann dem Amoralismus heute nur auf Augenhöhe begegnen, indem man über die Zukunft nachdenkt, diskutiert und reflektiert – egal, wie utopisch und unwahrscheinlich das auch erscheinen mag.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache

    Die Rückkehr zur Moral ist zudem unmöglich ohne die Rückkehr zur Politik im europäischen Sinne – als Raum von konkurrierenden Ideen und Wettbewerb. Denn freie Politik ist heute die praktische Umsetzung der Moralität, die das Gegenteil von Amoralismus ist. Moral wird im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt und formuliert. Politik ist die kollektive Verkörperung der Moral im 21. Jahrhundert, aber natürlich nur die echte Politik und nicht ihr Surrogat. Genau dort, in der Politik und den damit verbundenen Prozessen (in erster Linie Wahlen), werden in einem ganz praktischen Sinne die Grenzen zwischen Gut und Böse verhandelt.

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  • Krieg im Kindergarten

    Krieg im Kindergarten

    Seit September 2022 beginnt die russische Schulwoche mit den sogenannten Gesprächen über das Wichtige – verpflichtende Unterrichtseinheiten, bei denen es um die „militärische Spezialoperation“, den „kollektiven Westen“ und generell eine „patriotische Erziehung“ geht. Doch die beschränkt sich nicht nur auf den Schulbereich: Tarnanzüge, Gewehre und Schmetterlingsminen zum Ausmalen – Irina Nowik berichtet für 7×7 über eine fortschreitende Militarisierung an russischen Kindergärten.

    In einem Raum mit großen Fenstern tanzen 15 Kinder. Sie schwenken bunte Tücher in drei Farben: weiß, blau und rot. An einem der Fenster hängt die russische Trikolore. Es spielt ein munteres Kinderlied der Band Wolschebniki dwora (dt. Die Zauberer vom Hof):

    „Lass über der Welt wehen deine Fahnen
    Wir tragen alle deinen stolzen Namen,
    Russland, wir sind alle deine Kinder, 
    Und das heißt, wir werden siegen!“

    Und der Refrain: „Russland, deine Kinder sind wir. Russland, deine Stimmen brauchen wir.“

    Dieses Video hat die Redaktion von Olga bekommen. Ihre Tochter Polina (beide Namen auf Wunsch der Mutter geändert) ist fünf und lebt mit ihren Eltern und ihrem großen Bruder in Sankt Petersburg, wo sie die Vorschulgruppe eines staatlichen Kindergartens besucht.

    Auf einem anderen Video, das Olga uns schickt, sieht man die Väter in Trainingsanzügen marschieren. Im Hintergrund läuft das Armeelied U soldata wychodnoi (dt. Der Soldat hat heute frei) in der Interpretation des sowjetischen Vokal- und Instrumentalensembles Plamja.

    Beide Videos hat die Petersburgerin während einer Feier aufgenommen, die anlässlich des 23. Februars, zum Tag des Vaterlandsverteidigers, im Kindergarten ihrer Tochter stattfand. Nach den Neujahrsferien hatte die Erzieherin in den Elternchat geschrieben, dass es an diesem Tag eine offene Unterrichtsstunde im sportlich-patriotischen Stil geben würde und alle Kinder mit Fliegermütze und tarnfarbenem T-Shirt kommen müssten.

    Papa muss in der Armee dienen – und der Sohn auch

    Olga war geschockt von dieser Ankündigung und antwortete im Chat, dass sie dagegen sei. Ausnahmslos alle anderen Eltern waren aber dafür und überwiesen dem Elternkomitee Geld für die Mützen.

    Polina wollte gerne an der Feier teilnehmen. Um ihre Tochter nicht zu enttäuschen, besorgte Olga eine weiße Mütze und ein blaues T-Shirt und flocht ihr weiß-blaue Bänder in die Zöpfe. „Ich zog sie extra in den Farben der weiß-blauen Flagge an. Ich weiß nicht, ob das irgendwem von den Eltern oder Erziehern aufgefallen ist.“

    Die Väter nahmen an den Spielen teil, die Mütter schauten zu und machten Fotos. Alle Aktivitäten drehten sich um das Motto, dass Papa in der Armee dienen muss – und der Sohn auch. Eine der Aufgaben für die Väter bestand darin, anstelle eines Gewehrs einen Fleischwolf auf Zeit zusammenzubauen.

    Im Kindergarten Planeta detstwa (dt. Planet der Kindheit) in Ujar bei Krasnojarsk feierte die jüngste Gruppe Karamelki (dt. Bonbons) ebenfalls den 23. Februar. „Die Kinder sagten mit Liebe, Hingabe und Stolz Gedichte über Vaterlandsverteidiger auf, sangen das Lied My soldaty, brawyje rebjata (dt. Wir Soldaten, tapfere Burschen) und spielten mit den Vätern die Spiele Maskirowka (dt. Tarnung), Saminirui pole (dt. Miniere das Feld) und Soberi bojepripassy (dt. Sammle die Munition ein)“, schrieb die Kindergartenleitung in die Gruppe im sozialen Netzwerk VKontakte.

    Auch in den älteren Gruppen des Kindergartens fanden solche Veranstaltungen statt. Die Vorschulklasse Zwetnyje ladoschki (dt. Bunte Händchen) bekam Besuch von einem Veteranen des Afghanistan-Kriegs, Juri Prichodkin. „Sowohl die Teilnehmer als auch die Fans (die Mütter) waren ergriffen, und die Jungen wurden motiviert, in den Reihen der russischen Armee zu dienen“, kann man in derselben Gruppe nachlesen.

    Lernen, wie man eine Kalaschnikow zerlegt

    An einem anderen Tag bekamen die Kindergartenkinder von Angehörigen der Junarmija, der Jugendarmee, gezeigt, wie man eine Kalaschnikow zerlegt.

    „Unser Kindergarten will seine Vorschulkinder für die Junarmija begeistern. Den Kindern hat es gut gefallen, wir haben die Vorschulgruppen ausgewählt, weil sie damit schon was anfangen können. Das war eine Vorbereitung auf den Tag des Vaterlandverteidigers. Es war ein Erfolg auf ganzer Linie, die Kinder haben so etwas zum ersten Mal gesehen. Natürlich möchten sie den strammen, tapferen Soldaten nacheifern“, berichtet die Leiterin des Kindergartens, Irina Kossuchowa.

    Es gibt da so einen Buchstaben

    In den Kindergärten gab es schon Kriegspropaganda bevor in den Schulen die patriotischen Unterrichtsstunden Gespräche über das Wichtige eingeführt wurden. Bereits am 17. März 2022, knapp einen Monat nach Kriegsbeginn, wurden im Dorf Kurtamysch, Oblast Kurgan, erstmals Kindergartenkinder in Z-Form aufgestellt. Im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen und in den Oblasten Omsk und Samara mussten die Kinder Bilder von Panzern und Soldaten malen. In Chakassien mussten sich die Kinder allen Ernstes hinknien und Z-Bilder hochhalten. Das Symbol trug die Farben des Georgsbands, daneben stand: „Wir lassen die Unseren nicht im Stich.“

    Die Eltern sind oft nicht einverstanden mit solchen Veranstaltungen, aber nicht alle haben den Mut, sich gegen das System zu stellen, besonders nach der Geschichte mit Mascha Moskaljowa, einer Fünftklässlerin, deren Vater wegen einer Antikriegszeichnung seiner Tochter zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt wurde. Eine Lehrerin hatte sich über die Schülerin beschwert. Eine weitere Fünftklässlerin aus Moskau, Warwara Galkina, wurde vom Schuldirektor persönlich denunziert, weil sie die Heilige Javelin vor dem Hintergrund einer blau-gelben Flagge als Profilbild hatte. Warwaras Mutter musste zur Polizei und die Wohnung der Familie wurde einer Hausdurchsuchung unterzogen. Über Denunziationsfälle bei Vorschulkindern ist bisher nichts bekannt, aber das bedeutet nicht, dass man in der Zukunft davor gefeit ist.

    Anfang April 2022 beschloss offenbar die Leitung eines Kindergartens in Tscheboksary, dass es mit Bildern und Liedern nicht getan ist, und trug den Kindern und deren Eltern auf, für die russischen Soldaten Geschenke zu sammeln. Auf der Liste standen Schokolade, Kekse und andere Süßigkeiten, außerdem Konserven, Zahnpasta, Zahnbürsten, T-Shirts und Socken.

    Diese Kinder werden in dem Glauben aufwachsen, dass sie von Feinden umgeben sind, die sie oder ihre Eltern umbringen wollen

    Der Pädagoge und Gründer des Instituts für informelle Bildung Dima Sizer ist überzeugt, dass derartige Propaganda-Veranstaltungen den Kindern einen ungesunden Patriotismus einimpfen können: „Was wir den Kindern im Alter von fünf oder sechs Jahren vorlegen, begleitet sie in der Regel ihr Leben lang. Leider ist es so, dass man Kindern eine bestimmte Einstellung zu Menschen, zu ihrem Land, ihrer Familie einpflanzen kann. Diese Kinder werden in dem Glauben aufwachsen, dass sie von Feinden umgeben sind, die sie oder ihre Eltern umbringen wollen“, sagt Sizer gegenüber der 7×7.

    Seit Beginn des Ukraine-Kriegs nimmt die Militarisierung der patriotischen Veranstaltungen und Aktivitäten immer weiter zu. Im Kindergarten Oduwantschik (dt. Pusteblume) in dem burjatischen Dorf Syrjansk gab es eine feierliche Einweihung einer Gedenkecke mit Fotos von im Ukraine-Krieg gefallenen Vätern. An der Eröffnung nahmen Ehefrauen und Verwandte der Soldaten teil.

    In der Region Perm zeigten Veteranen, die in Afghanistan und Tschetschenien gekämpft haben, den Kindern, wie man mit Gewehren schießt. In gleich mehreren Kindergärten der Oblast Belgorod bekamen die Kinder Ausmalbilder, auf denen sie Schmetterlingsminen und Gegenstände erkennen sollten, in denen man diese Minen nicht verstecken kann. Das war Teil eines speziellen Leitfadens für Vorschulkinder zum Verhalten bei einem Artilleriebeschuss.

    Schmetterlingsminen beziehungsweise PFM-1 sind hochexplosive Minen, die gegen Infanteristen eingesetzt werden. Wer auf eine solche Mine tritt, wird sofort in die Luft gesprengt. Einem Bericht von Human Rights Watch zufolge sollen im ukrainischen Isjum solche Minen sowohl von den russischen als auch von den ukrainischen Streitkräften gelegt worden sein, obwohl ihr Einsatz gegen das völkerrechtlich verankerte Verbot von Antipersonenminen verstößt.

    Anstatt den Kindern von alldem zu erzählen, präsentierte man es ihnen in spielerischer Form. In dem Ausmalbuch waren außerdem Übungen zu den verschiedenen Sprengstofftypen und Merkverse wie dieser zu finden:

    „Hörst du’s knallen, renne schneller
    mit den Großen in den Keller“

    Diese Leitfäden wurden offenbar erstellt, um die Kinder auf die Lebensrealität im Grenzgebiet vorzubereiten. Die Eltern beschwerten sich, dass man auf diese Weise ihren Töchtern und Söhnen die Kindheit wegnehmen würde.

    Glorifizierung von Helden

    Die Forschung kennt keine vergleichbaren Beispiele der Militarisierung aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges. Was jedoch nicht bedeutet, dass die sowjetische Propaganda nicht auch mit Kindern gearbeitet hat, sie ist bloß anders vorgegangen.

    In erster Linie erzählte man Kindern, dass alle Kapazitäten an die Front gehen müssten. Stalin sagte: „Das Land muss seine Helden kennen“, und so wurden während des Kriegs Helden glorifiziert – tatsächliche und ausgedachte, wie zum Beispiel die 28 Panfilowzy. Der Historikerin Tamara Eidelman zufolge war der Grundgedanke, dass ein Held jemand ist, der sein Leben „für die Heimat, für Stalin“ hergibt, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, während Stalin als der große Beschützer vor den Faschisten gezeichnet wurde. Zwischen Faschisten und Deutschen wurde ein Gleichheitszeichen gemacht; das wichtigste Gefühl des Sowjetmenschen war der Hass auf sie. Wladimir Putin spricht heute von einer „übermäßigen Dämonisierung Stalins“ und vermittelt die gleiche Idee: Er beschütze Russland vor den „ukrainischen Faschisten“.

    So wie sowjetische Kinder Briefe an Veteranen des Zweiten Weltkriegs geschrieben haben, sollen jetzt im Rahmen der Aktion Brief an den Soldaten russische Kinder Briefe an Soldaten verfassen, die in der Ukraine kämpfen. In einem Kindergarten in Ufa wurden dafür Bilder und Grußkarten gebastelt. Von manchen Kindern dort ist der eigene Vater an der Front. In den sozialen Netzwerken beschwerten sich Eltern, dass ihre Kinder gezwungen würden, an der Aktion teilzunehmen.

    Die verschiedenen Institutionen des Bildungssystems wählen dabei das Format, das sie für ihre Schützlinge als am besten geeignet und am interessantesten erachten. Ein offizielles Programm, das im ganzen Land einheitlich für den Patriotismus-Unterricht gelten würde, gibt es nicht.

    Vor dem 23. Februar 2023 hat es in Polinas Kindergartengruppe keine Militärveranstaltungen gegeben. Die offene Stunde, zu der alle in Fliegermützen kommen mussten, war das erste derartige Ereignis seit Beginn des Krieges. Als Polinas Mutter Olga die Erzieherinnen fragte, warum sie diese Feier überhaupt veranstalten würden, antwortete man ihr, die Kinder der Vorschulgruppe seien jetzt alt genug, „das alles zu wissen“. Olga hält die offene Stunde für eine persönliche Initiative von einer Erzieherin, der sich dann das Elternkomitee angeschlossen habe mit dem Vorschlag, eine Sammelbestellung für die Fliegermützen aufzugeben.

    „Ich sagte, meine Tochter braucht keine Mütze, und gab kein Geld dazu“, erzählt Olga.

    Ihren Standpunkt hat Olga nicht nur im Elternchat klargemacht, sondern auch direkt gegenüber der Erzieherin. Die reagierte gelassen, aber je näher der 23. Februar rückte, desto öfter fragte sie nach, ob Olga nicht vielleicht doch eine Mütze kaufen wolle. Sie argumentierte, dass die Kinder ohne sie nicht am Wettlauf teilnehmen könnten: Die Jungen und Mädchen sollten bis zu ihrer Fliegermütze rennen, sie aufsetzen und wieder zurückrennen.

    Amulettpuppen für die Soldaten an der Front

    Solche Veranstaltungen werden immer mehr, und sie nehmen immer kreativere Formen an. Während die Mobilisierten teure Ausrüstung, Visiere, Wärmebildkameras, Quadrocopter, Nachtsichtgeräte und Ferngläser aus eigener Tasche kaufen müssen, beschlossen die Erzieherinnen des Kindergartens Nr. 50 in Sennaja, Oblast Saratow, das Sicherheitsproblem auf ihre Weise zu lösen: Sie ließen die Kinder Amulettpuppen für die Soldaten basteln. „Diese Püppchen sollen den Soldaten positive Energie, Wärme und Schutz vermitteln. Damit alles gut ausgeht und unsere Jungs gesund und munter wieder nach Hause zurückkehren“, liest man in der Ankündigung.

    Dima Sizer zweifelt nicht an der Entscheidungsautonomie des Vorschulpersonals: „Eine einheitliche Doktrin wäre zumindest nachvollziehbar, man könnte sie meiden und sich nach anderen Formen der Erziehung umsehen, die es immer noch gibt und die auch im Gesetz verankert sind“, sagt Sizer. „Aber wenn ein Kind aus dem Kindergarten kommt und erzählt, dass eine Erzieherin sich etwas ausgedacht hat, nur weil sie der ganzen Welt vorauseilt in Sie-wissen-schon-was, dann sind wir, verzeihen Sie den Ausdruck, wirklich am Arsch.“

    Seit 2012 gab es für das Vorschulalter 21 verschiedene Lehrpläne. Ein Kindergarten konnte selbstständig ein oder mehrere fertige Programme auswählen oder nach dem Muster eines staatlichen Modells sogar selbst eines schreiben. Am 28. Dezember 2022 verabschiedete das Bildungsministerium der Russischen Föderation einen Erlass über das „einheitliche föderale Programm für Vorschulerziehung“. Die Ausarbeitung hat gerade mal einen Monat gedauert. Das Ziel des Dokuments sei „die Schaffung einer einheitlichen Vorschulbildung in Russland“. Der Fokus der Beamten liegt dabei vor allem auf der patriotischen Erziehung, auch vom traditionellen Flaggenhissen ist die Rede. Das Programm soll den Verfassern zufolge den Grundstein für „Staatsbürgerschaft und Patriotismus“ legen.

    Noch ist das neue Programm nicht landesweit in Kraft, aber in Nowosibirsk hat man die Eltern bereits vorgewarnt, dass sich ab September 2023 alle staatlichen Kindergärten danach richten werden.

    Die Urenkel der großen Sieger

    Der gemeinsame Lehrplan wird als Doktrin dargestellt, was eigentlich nicht stimmt. Das Dokument schreibt zum Beispiel nicht ausdrücklich vor, dass die Kinder Z-förmig aufzustellen sind. Laut Dima Sizer ein wichtiges Detail: „Kindergärten und Schulen haben noch immer einen großen Handlungsspielraum. Erziehung funktioniert generell so, dass sie sehr von den Akteuren abhängt. Was im Klassenzimmer passiert, ist immer noch das, was der Lehrer macht, und nicht das, was das Ministerium vorschreibt. Nicht unbedingt der Widerstand des Lehrers, sondern seine Haltung, die Art und Weise, wie er dieses Programm umsetzt.“

     

    Putin besuchte im September 2023 neue Kindergärten und Vorschulen. / Foto © Mikhail Klimentyev/Sputnik Russia/imago images

    Wo die Einen eine Möglichkeit zum Manövrieren sehen, führen die Anderen Befehle von oben aus. So fand Ende April in der Region Krasnodar eine Militärparade statt, an der mehrere Kindergärten aus Jeisk teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Motto Wir sind die Urenkel der großen Sieger. Zusätzlich zu den russischen Trikoloren wehte eine rote Flagge mit Hammer und Sichel. Zur Blasmusik marschierten Kinder und Erzieher in den Uniformen der verschiedenen Truppen: Land-, Luft- und Seestreitkräfte. Alle Kinder trugen Uniformen. Bürgermeister Roman Bublik verkündete „den Beginn einer glorreichen Tradition“ – die Parade soll nun jährlich stattfinden.

    Julia Galjamina, Politikerin, Bürgerrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Bewegung Mjagkaja sila (dt. Soft Power), glaubt, dass auf das Denken in der frühen Kindheit weniger die Propaganda als die Atmosphäre wirkt. Wenn beispielsweise im Kindergarten ein Kult des Sterbens und Tötens propagiert wird, dann beeinflusst das die moralische Entwicklung des Kindes negativ.

    Im September 2022 hat die Leitung des Kindergartens Mosaika (dt. Mosaik) in der Region Perm 98.600 Rubel in die Ausarbeitung, Herstellung und Installation von Plakaten und sogenannten patriotischen Ecken im öffentlichen Raum gesteckt. In diesen Ecken kann man die russische Symbolik kennenlernen oder Postkarten aus seiner Heimatregion bewundern.

    „Etwas von der Propaganda wird ganz sicher bei den Kindern hängenbleiben“, meint Psychologin Anastassija Rubzowa. „Was genau, können wir nicht vorhersehen. Wir wissen nur, dass Kinder noch mehr als Erwachsene zu Fragmentierung, Polarisierung oder Schwarzweißdenken neigen. Für sie existiert nur der gute Held oder der schlechte Bösewicht, da gibt es keine Grautöne. Die Propaganda festigt diese Polarisierung. Kinder, die damit aufwachsen, neigen auch später dazu, die Realität stark zu vereinfachen, sie künstlich in Schwarz und Weiß aufzuteilen.“

    Patriotismus ist für sie unmittelbar mit Militarismus verbunden

    Jewgeni Roisman, ehemals Bürgermeister von Jekaterinburg und nun politischer Häftling, sagte bereits 2017 zum Thema patriotische Erziehung: „Plötzlich meinen alle, uns Patriotismus beibringen zu müssen … Sie laufen rum und erklären: Wir sorgen für die militär-patriotische Erziehung der Jugend. Meine Guten, wollt ihr nicht lieber für eine pazifistisch-patriotische Erziehung der Jugend sorgen? Nein, wollen sie nicht, denn Patriotismus ist für sie unmittelbar mit Militarismus verbunden. Das ist eine totale Verdrehung: Sie reden von Heimatliebe, dabei wollen sie in Wirklichkeit kämpfen.“

    Nach Ansicht der Psychologin Anastassija Rubzowa wirkt sich Krieg auf Kinder wie auf Erwachsene immer destruktiv aus. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine merkt Rubzowa einen sprunghaften Anstieg der Angst. Man wisse nicht, welche Gefahren wann und wo lauern. Die Eltern würden dieses Gefühl auf die Kinder übertragen, die unruhiger werden, schlechter schlafen, schlechter lernen und öfter krank werden, was wiederum den Eltern noch mehr Kummer bereite. Das sei eine Endlos-Spirale.

    Die Situation bedrohe nicht nur die Sicherheit der Eltern, sondern auch den psychisch-emotionalen Zustand des Kindes, bei dem die Botschaft ankommt, seine Familie wäre von mehreren feindlichen Ringen umzingelt. Rubzowa erklärt: „Der innere Kreis besteht aus Bekannten, Lehrern, Klassenkameraden, Arbeitskollegen der Eltern, es gibt aber auch einen äußeren Kreis – das ist wohl der furchterregende Westen, das böse Amerika, von dem alle im Fernsehen reden. Das Kind wächst mit dem Weltbild auf: ‚Die Welt ist ein furchteinflößender Ort, an dem man keine Freunde hat.‘ So wird es kaum zu einem kooperativen Erwachsenen werden.“

    „Wir Erwachsenen haben unser Land zu dem gemacht, was es jetzt ist. Und wenn wir unsere Kinder auf tickenden Zeitbomben aufwachsen lassen, werden sie traumatisiert sein. Deshalb müssen wir als Erwachsene die Verantwortung dafür übernehmen und die Tragödie, die in der Zukunft passieren kann, minimieren“, sagt Julia Galjamina.

    Wir Erwachsenen haben unser Land zu dem gemacht, was es jetzt ist

    Was können Eltern tun, um ihre Kinder bestmöglich von der Propaganda abzuschirmen? Auf diese Frage hat 7×7 unterschiedliche Antworten bekommen.

    „In den letzten Monaten habe ich öfter ein Beispiel angeführt: Eine Frau kommt von der Arbeit nach Hause und sagt zu ihrem Mann: ‚Mein Chef belästigt mich sexuell. Er hat mir unter den Rock gefasst, aber nur ein paar Mal. Sonst ist er ein netter Chef, und das Büro ist gleich über die Straße.‘ Ich würde mich wundern, wenn der Mann erwidert: ‚Bleib da, sag nichts, es ist doch so praktisch.‘ Warum sagen wir über unsere Kinder: ‚Es wurde ja nur einmal vergewaltigt, ist doch nicht so schlimm, dafür ist der Kindergarten gleich um die Ecke.‘ So kann das doch nicht funktionieren“, sagt Dima Sizer.

    Julja Galjamina äußert sich weniger kategorisch. Sie meint, Eltern können und sollen ihren Kindern erklären, dass Menschen eben verschiedene Meinungen haben und sie nicht einverstanden sind mit dem, was im Kindergarten gesagt wird.

    Zum 9. Mai bereitet Polinas Kindergartengruppe ein Konzert vor. Diesmal hat die Erzieherin Olga gefragt, ob Polina daran teilnehmen will, und Olga auf ihren Wunsch hin das Programm gezeigt. Die Kostüme sind diesmal keine Tarnanzüge und Fliegermützen, dafür ist ein „Georgsbändchen am Revers (links)“ obligatorisch.

    „Das geht halbwegs in Ordnung, keine Zetts und kein Moshem powtorit (dt. Wir können das wiederholen). Ich habe zugestimmt“, sagt Olga.

    In Polinas Kindergarten hängen wenigstens keine Zetts, meint Olga. Im Kindergarten ihres Sohnes, den er bis letztes Jahr besuchte, hingen ausgedruckte Plakate mit Schriftzügen wie Sa swoich (dt. Für die Unseren) oder Swoich ne brossajem (dt. Wir lassen die Unseren nicht im Stich). Olga vermutet, dass es eine Initiative der Kindergartenleitung war – die Plakate hingen nicht nur im Gruppenraum, sondern auch am Eingang und im ganzen Gebäude.

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  • Geburt und Tod der Russischen Welt

    Geburt und Tod der Russischen Welt

    „Identitätskrise“, „Wertevakuum“, „kollektives Trauma“, „postimperiales Syndrom“ – nach dem Zerfall der UdSSR hat die russische Gesellschaft viele verschiedene Diagnosen bekommen. Zahlreiche Politiker und Intellektuelle haben in dieser turbulenten Zeit deshalb unterschiedliche Sinnangebote unterbreitet. Einer dieser Entwürfe stammte von den Polittechnologen Pjotr Schtschedrowizki und Efim Ostrowski. Demnach sollte Russland kein aggressives Imperium sein, sondern eine progressive Welt, die „neue Zukunftsbilder entfaltet“ und über eine starke Anziehungskraft verfügt – vor allem für die Menschen, die „auf Russisch denken und reden“. Diese Welt bekam einen Namen: russki mir – die „russische Welt“. 

    Analog zur Frankophonie oder zum British Commonwealth war die „russische Welt“ ursprünglich ein Kulturkonzept. Es war die Idee einer friedlichen Wiederherstellung der Identität Russlands, Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und Einbindung seiner in der ganzen Welt zerstreuten Diaspora.

    Es kam anders: Bereits seit den frühen 2000er Jahren hat der Kreml immer wieder versucht, diese Idee zu instrumentalisieren, sie ideologisch aufzuladen und zur Durchsetzung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum einzusetzen. Historiker Ilja Budraitskis zeichnet für das Onlinemedium Posle (dt. Danach) die Geschichte und Umwandlung von russki mir von seiner Entstehung in den 1990er Jahren bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine nach.

    Collage © Posle.Media
    Collage © Posle.Media

    In seiner Rede kurz vor Kriegsbeginn bezeichnete Wladimir Putin die Ukraine als „integralen Bestandteil unserer Geschichte, Kultur und unseres geistigen Raums“. Daraus ergibt sich für ihn eine unmittelbare militärpolitische Folgerung: Die Grenzen dieses „geistigen Raums“ müssen mit den Staatsgrenzen der Russischen Föderation übereinstimmen. Die Idee einer Einheit von Kultur und Armee, von Staat und Sprache, von nationaler Identität und Staatsbürgerschaft ist bekannt als Doktrin des russki mir – der „russischen Welt“. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde sie vom Kreml konsequent verfolgt, bis sie endgültig zu einem Schlüsselelement wurde, das einem ganzen Volk sein Existenzrecht abspricht und einen Angriffskrieg rechtfertigt. Was verbirgt sich hinter dem Konzept der „russischen Welt“, und wie ist es entstanden?

    Russisch sprechen, denken und fühlen

    Der Begriff russki mir taucht in Moskaus intellektuellen Kreisen bereits in den 1990er Jahren auf, als Reaktion auf das Bedürfnis nach einer umfassenden kulturellen Definition der russischen Identität, die sich von nationalistischen und revanchistischen Definitionen abheben sollte. Anfang der 2000er Jahre wurde das Konzept jedoch um neue Inhalte erweitert und allmählich zur offiziellen Staatsdoktrin entwickelt. Im Oktober 2001 erläuterte Putin auf dem sogenannten „Weltkongress der [im Ausland lebenden] Landsleute“ zum ersten Mal sein Verständnis dieser Doktrin: Die „russische Welt“ bestehe aus Millionen von Menschen außerhalb der Russischen Föderation, die „russisch sprechen, denken und fühlen“. Die Zugehörigkeit zur „russischen Welt“, so Putin, sei eine freiwillige Entscheidung; sie sei „eine Frage der geistigen Selbstbestimmung“. Und weil „Russland konsequent den Weg der Integration in die globale Gemeinschaft und Wirtschaft“ gehe, hätten „unsere Landsleute alle Möglichkeiten, ihrem Heimatland in einem konstruktiven Dialog mit internationalen Partnern zu helfen“. Man merkt Putins Rede an, dass er sich damals viel mehr für die „russisch gesinnten“ Bewohner von London, Paris oder New York interessierte als für den Donbass oder Nordkasachstan. Das Jahr 2001 war so etwas wie Putins Flitterwochen mit dem Westen: Russland unterstützte aktiv die militärische Operation der USA in Afghanistan, während im eigenen Land liberale Wirtschaftsreformen durchgeführt wurden, die auch ausländische Investoren anziehen sollten. Insofern ist die „russische Welt“ auch als einflussreiche und wohlhabende Diaspora zu verstehen, die in einer globalisierten Welt Russland einen wichtigen Wettbewerbsvorteil bringen könnte.

    Das Jahr 2001 war so etwas wie Putins Flitterwochen mit dem Westen

    Die Idee der „russischen Welt“ als „kultureller und menschlicher Ressource“ auf dem Weltmarkt beschrieb detailliert der kremlnahe Polittechnologe Pjotr Schtschedrowizki bereits im Jahr 2000. Er trat als Verfechter der „russischen Welt“ als „humanitär-technologischem Ansatz“ auf und stellte sie dem serbischen Szenario einer „gewaltsamen Lösung territorialer und ethnokultureller Probleme“ entgegen.

    Mitte der 2000er Jahre hatte Putins Russland jedoch als Rohstofflieferant seinen festen Platz in der Weltwirtschaft eingenommen, und die Entwicklung „kultureller Ressourcen“ rückte in den Hintergrund. Gleichzeitig versetzten die „Farbrevolutionen“ 2003 in Georgien und 2005 in der Ukraine der politischen Vorherrschaft Moskaus im postsowjetischen Raum einen schweren Schlag. Das Vertrauen des Kreml in seine informellen Beziehungen zu den lokalen Eliten wurde enttäuscht, während die allmähliche Abkühlung der Beziehungen zum Westen eine aktive Informationskampagne notwendig machte. 

    Die russischsprachige Bevölkerung als Instrument der Einflussnahme 

    Die „russische Welt“ wurde nun vollständig von den politischen Interessen des russischen Staates bestimmt: Die russischsprachige Bevölkerung des nahen Auslands musste zu einem Instrument der Einflussnahme werden, und aus Sympathie für Russland aufgrund seiner Geschichte und Kultur (und in diesem Sinne auch für Russland als Erbe der Sowjetunion) musste Unterstützung für seine Außenpolitik werden. Zu diesem Zweck wurden Mitte der 2000er Jahre Projekte wie die Stiftung Russki Mir, der Fernsehsender Russia Today, das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit und das Rossotrudnitschestwo geschaffen. Jede dieser Institutionen spielte in der Förderung der russischen „Soft Power“ seine eigene Rolle: RT beispielsweise konzentrierte sich auf „alternative Nachrichten“, die die Positionen der westlichen Medien in Frage stellten und für den Kreml günstige Interpretationen des Weltgeschehens anboten, während das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit ein Netzwerk konservativer Experten schuf, die Putins Russland als Bollwerk Europas gegen „Linksliberalismus“ und Feminismus zeichneten.

    Die ‚russische Welt‘ wurde als Konglomerat von ‚Werten‘ verstanden, deren Förderung im Interesse des Staates ist

    Die „russische Welt“ wurde nicht mehr einfach als die internationale Gemeinschaft der Russischsprachigen verstanden, sondern als Konglomerat von „Werten“, deren Förderung im Interesse des Staates ist. Es fand eine „Sicherheits-Politisierung der russischen Welt“ statt, wie die ukrainische Forscherin Vira Ageyeva es nannte: Der kulturelle Einfluss war de facto nicht mehr von der „nationalen Sicherheit“ und dem Schutz vor äußeren Bedrohungen zu trennen. Als der stellvertretende Chef des russischen Generalstabs Alexander Burutin 2008 die Gründung des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit begrüßte, hob er dessen Bedeutung für die „Informationskriege“ hervor, deren Objekt „die Menschen und ihre Weltbilder“ seien.

    Waffe in einem unsichtbaren Krieg

    In dieser Interpretation weichen die Grenzen zwischen „Soft Power“ und „Hard Power“ auf, und die Inhalte der „russischen Welt“ – Sprache, Kultur, das Gefühl einer „Verbindung zu Russland“ – sind nichts anderes mehr als eine Art Waffe in einem unsichtbaren Krieg. In der Interpretation des Kreml ist die „russische Welt“ lediglich eine Antwort auf die Expansion des Westens, der Begriffe wie „demokratische Wahlen“ oder „Menschenrechte“ als Mittel zur Schwächung Russlands einsetze. In dieser Interpretation besitzen „Werte“ keinen Wert an sich, sondern sind Instrumente für nationale Interessen. Und während jeder Menschenrechtsaktivist oder Oppositionelle innerhalb Russlands als Kanal für den westlichen Einfluss gebrandmarkt wurde, wurden die Träger russischer Kultur außerhalb Russlands zu Agenten des politischen Einflusses gemacht.

    Sprache, Kultur, das Gefühl einer ‚Verbindung zu Russland‘ – sind nichts anderes mehr als eine Art Waffe in einem unsichtbaren Krieg

    Nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs im Donbass 2014 ist die „russische Welt“ endgültig von den Zeichen der „Soft Power“ befreit und zum Irredentismus geworden – das heißt zu einem Programm zur Wiedervereinigung verlorener „historischer Gebiete“, wenn nicht innerhalb der Russischen Föderation, so doch in der direkten Umlaufbahn ihrer politischen und militärischen Präsenz. Patriarch Kirill erklärte in einer Rede, die „russische Welt“ sei „eine eigene Zivilisation von Menschen, die sich heute mit unterschiedlichen Namen bezeichnen – Russen, Ukrainer und Weißrussen“. Die Zugehörigkeit zur „russischen Welt“ ist in dieser Lesart keine Frage der persönlichen Entscheidung, sondern durch das Schicksal – per Herkunft und Geburtsort – bereits vorbestimmt. Für den Kreml-Strategen Wladislaw Surkow ist die „russische Welt“ überall dort, wo man „die russische Kultur schätzt, die russischen Waffen fürchtet und unseren Putin respektiert“. Teil der „russischen Welt“ zu sein bedeutet also, in irgendeiner Form ein Untertan Putins zu sein, seine Autorität anzuerkennen und sich ihr zu unterwerfen. Man kann sich keine Formel vorstellen, die den völligen Zusammenbruch aller bisherigen Vorstellungen von der „russischen Welt“ als „Soft Power“ deutlicher offenbaren würde: Russland darf nicht einfach für seine hohe Kultur geliebt werden, auch sein politisches und soziales Modell findet niemand attraktiv, dafür ist es in der Lage, mit seiner militärischen Macht Angst und Schrecken zu verbreiten.

    Scheitern der „russischen Welt“

    Die staatlichen Institute, die seit einem Jahrzehnt mit dem Aufbau der „russischen Welt“ betraut sind, haben sich als fruchtlos erwiesen, als ein weiterer Mechanismus zur Einverleibung riesiger Haushaltssummen. Selbst die Russisch-Orthodoxe Kirche, von der sich unmittelbar nach Kriegsbeginn Millionen ukrainischer Mitglieder abwandten, erlitt einen moralischen Bankrott. Das Scheitern der „russischen Welt“ als „Soft-Power“-Strategie ist jedoch nicht allein auf Korruption zurückzuführen, sondern vor allem auf die antidemokratische Weltsicht der russischen Staatselite, die zutiefst davon überzeugt ist, dass das einfache Volk unter keinen Umständen sein eigenes Schicksal bestimmen darf. Die eigentliche „russische Welt“ – die zig Millionen russischsprachigen Menschen – wurde nicht als Partner in einem gleichberechtigten Dialog, sondern als „Aktiva“ des Staates gesehen, die es zu verwalten und zu seinem Vorteil zu nutzen gilt. 

    Das Scheitern der ‚russischen Welt‘ als ‚Soft-Power‘-Strategie ist jedoch nicht allein auf Korruption zurückzuführen

    Heute ist diese „russische Welt“ buchstäblich zur Geisel und zum Opfer eines Staates geworden, der einen verbrecherischen Krieg führt. Es waren vor allem russischsprachige Ukrainer, die unter den russischen Bomben in Mariupol und Charkiw starben oder flüchten mussten. Die Logik des Kreml läuft auf eine grausame Formel hinaus: Wenn man die „russische Welt“ nicht unterwerfen kann, dann muss man sie zerstören. Daraus folgt, dass die russische Kultur und Sprache nur dann eine Zukunft haben können, wenn man sie auf den Trümmern des Putin-Staates aufbaut. 

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  • Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Die Söldnertruppe Wagner wirbt seit dem Frühjahr 2022 gezielt Gefängnisinsassen an, die sich parallel zur russischen Armee an der Invasion in die Ukraine beteiligen. Wenn sie sechs Monate im Einsatz überleben, winkt den Kämpfern die Begnadigung. Inzwischen kehren einige in ihre Heimatorte zurück – unter ihnen verurteilte Schwerverbrecher wie der 28-jährige Iwan Rossomachin. Sein 200-Seelen-Heimatdorf Nowy Burez in der Oblast Kirow, knapp 1000 Kilometer östlich von Moskau, machte in russischen Medien Schlagzeilen, seit er dort eine Rentnerin ermordet haben soll. Alina Ampelonskaja hat sich für das Sankt Petersburger Nachrichtenportal Fontanka auf seine Spuren begeben – und schildert in einer Reportage ihre Eindrücke.

    Um 17 Uhr ist die Straße [in Nowy Burez] menschenleer. Am Einkaufsladen hängt ein Schild: Öffnungszeiten 8 bis 19 Uhr. Ich ziehe an der Tür – geschlossen. Erst da sehe ich einen zweiten Aushang, ein ausgedrucktes A4-Blatt, das etwas oberhalb der Augenhöhe an der Scheibe klebt: Heute bis 15 Uhr.

    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach. Die Tür steht offen. Ich spähe hinein, in der Hoffnung, irgendjemanden anzutreffen oder wenigstens kurz aufs Klo gehen zu können: Von Kasan bis Nowy Burez sind es vier Stunden Autofahrt. Es gibt auch einen Bus von der Nachbarstadt Wjatskije Poljany hierher, aber er fährt nur dreimal die Woche. Wen es interessiert: montags, mittwochs und freitags.

    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach / Foto ©  Alina Ampelonskaja
    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach / Foto © Alina Ampelonskaja

    Drinnen steht vor der Bühne mit den zwei russischen Flaggen ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke. Daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Die drei wirken überaus freundlich, zumindest bis zu dem Moment, in dem ich mich als Journalistin vorstelle.

    „Wir haben keine Zeit, wir proben für den 9. Mai. Vielleicht finden Sie draußen jemanden, der mit Ihnen sprechen will …“ Ich nicke mit einem Lächeln, aber innerlich resigniere ich. Von draußen komme ich ja gerade und weiß, wie es dort aussieht. „Kann ich vielleicht Ihre Toilette benutzen?“ „Ja, raus und nach links.“

    Vor der Tür bleibe ich kurz stehen: An einem Aushängebrett sind die Eintrittspreise für diverse Veranstaltungen und Dienstleistungen angeschlagen: Film- und Zeichentrickvorführung – 30 Rubel [etwa 0,35 Euro – dek] pro Person, Diskothek – 30 bis 80 Rubel [etwa 0,35 bis 0,90 Euro – dek], Benutzung des Fitnessraums – 30 bis 50 Rubel [etwa 0,35 bis 0,60 Euro – dek] pro Stunde. Aber einen Fitnessraum gibt es hier gar nicht.

    Drinnen steht ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke, daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Sie proben für den 9. Mai / Foto © Alina Ampelonskaja
    Drinnen steht ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke, daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Sie proben für den 9. Mai / Foto © Alina Ampelonskaja

    Aus dem Inneren dringt der Anfang einer Reportage des lokalen Fernsehsenders Wjatskije Poljany herüber: „An einem grauen Sonntagmorgen haben sich besorgte Bürger im Kulturzentrum eingefunden, die sich von der Polizei und der regionalen Verwaltung Auskunft über den Vorfall erhoffen …“

    Ich wohne hier nicht mehr, ich besuche nur übers Wochenende meine Oma

    Seit der Rückkehr von Iwan Rossomachin, der als Söldner für die Gruppe Wagner an der Front war, sind knapp zwei Wochen vergangen. Jetzt sitzt er hinter Gittern: Zuerst fünf Tage wegen Sachbeschädigung, mittlerweile steht er unter Mordverdacht. Nicht zum ersten Mal: 2020 hat er eine Bewohnerin von Nowy Burez umgebracht. Sie wird hier von allen nur Tante Tanja genannt, ohne Nachnamen.

    Um 17 Uhr ist die Straße in Nowy Burez menschenleer / Foto © Alina Ampelonskaja
    Um 17 Uhr ist die Straße in Nowy Burez menschenleer / Foto © Alina Ampelonskaja

    Da sehe ich auf der Straße einen Mann in Gummistiefeln. „Ich wohne hier nicht mehr, ich besuche nur übers Wochenende meine Oma“, antwortet er lustlos. Gleich nach dem Schulabschluss sei er in die Stadt gezogen, berichtet er. Das Gespräch ist vorbei, bevor es richtig angefangen hat. Über das Leben im Dorf wisse er nicht viel. „Da kann ich nicht helfen“, antwortet er knapp und verschwindet im Kulturzentrum.

    Später erfahre ich den Grund: In einem gemeinsamen Chat wurden die Dorfbewohner eindringlich davor gewarnt, mit der Presse zu sprechen. Während der drei Tage, die ich hier verbringe, wird man mich immer wieder bitten, das Diktiergerät auszuschalten und keine Namen zu nennen. Ich bin ratlos.

    Ich klopfe an ein Tor, unter dem eine Hundeschnauze hervorschaut. Es muss doch jemand hier sein, der diese Schnauze füttert? Nach ein paar Minuten höre ich im Hof Schritte und eine genervte Stimme: „Ist ja gut, jetzt gib schon Ruhe.“ Ein Mann in Camouflage-Overall und Gummistiefeln öffnet mir die Tür. „Ich wohne hier nicht, bin nur auf Besuch bei meiner Mutter. Hier gibt es nichts, nur den Laden und die Kolchose. Die Schule hat dichtgemacht, der Kindergarten auch.“

    „Die Kolchose“ ist der Agrarbetrieb Rus. Laut den Dorfbewohnern arbeitet dort der Großteil der hiesigen Bevölkerung. Die Popularität lässt sich leicht erklären: Erstens verdient man in der „Kolchose“ relativ gut – als Melkerin zum Beispiel rund 30.000 Rubel [etwa 340 Euro – dek]. Zweitens gibt es keine andere Arbeit. Die meisten Männer versuchen ihr Glück in der Stadt oder verdingen sich irgendwo als Tagelöhner.

    In der „Kolchose“ arbeitet der Großteil der Bevölkerung. Eine andere Arbeit gibt es nicht / Foto © Alina Ampelonskaja
    In der „Kolchose“ arbeitet der Großteil der Bevölkerung. Eine andere Arbeit gibt es nicht / Foto © Alina Ampelonskaja

    In einem der Nachbarhäuser geht ebenfalls eine Tür auf. Ein Mann gesellt sich zu uns, dann kommen noch weitere dazu – der eine wollte gerade etwas erledigen, ein anderer kommt gerade vom Angeln zurück. Auch die „Hundeschnauze“ rennt heraus – ein junger Rüde mit schwarzen Zotteln. „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“

    „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“ / Foto © Alina Ampelonskaja
    „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“ / Foto © Alina Ampelonskaja

    Die Männer gehen in die Hocke und unterhalten sich da unten weiter. Ich bin unschlüssig: Soll ich mich auch so hinhocken? Ich bleibe lieber erst mal stehen.

    „Noch mehr Journalisten, oder was?“

    Vor dem Kulturzentrum hält ein Auto an, das keiner von den Männern kennt.
    „Noch mehr Journalisten, oder was?“

    „Wir sind ja jetzt berühmt. Ob Skabejewa wohl kommt?“ Er dreht sich zu mir: „Haben Sie gesehen, wie sie sich im Fernsehen aufgeregt haben über diese Brigade in der Ukraine? Weil die angeblich Edelweiß heißt, wie bei der Wehrmacht? Wissen Sie, wie der militär-patriotische Club hieß, in den Wanja [Rossomachin] gegangen ist? Edelweiß.“ Ich schaue später nach: Den Club gibt es immer noch. Eine staatliche Organisation, wohlgemerkt.

    „Wie viele Menschen leben hier im Dorf?“ „Das Haus hier steht leer, das da auch, die hier kommen nur im Sommer … Vielleicht zweihundert? Die Alten sterben weg. Das haben die Menschen ja so an sich. Wir haben vier wichtige Dokumente im Leben: Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Scheidungsurkunde und Sterbeurkunde. So sieht’s aus. Wir sind hier die Jüngsten, auch wenn wir selber nicht mehr ganz frisch sind.“

    Viele Häuser stehen leer, manche sind nur im Sommer bewohnt / Foto © Alina Ampelonskaja
    Viele Häuser stehen leer, manche sind nur im Sommer bewohnt / Foto © Alina Ampelonskaja

    Bei der Volkszählung 2010 hatte Nowy Burez knapp über 350 Einwohner. Die Charakterreferenz für Rossomachins Gerichtsverhandlung haben 150 Menschen unterschrieben – fast jeder im Dorf, wie mir die Bewohner erzählen.

    „Das Leben ist ein Mysterium!“, sagt einer meiner Gesprächspartner. „Sie sollten sich mal mit Vytas unterhalten. Aber der war heute so besoffen, dass ihm sein Gebiss rausgefallen ist.“

    Ein Taxi in die Stadt und zurück kostet 1500 Rubel – unbezahlbar

    Vytautas Antanowitsch ist 80 Jahre alt. Er hat seinerzeit im Bergwerk in Workuta gearbeitet. In der Rente zog er gemeinsam mit seiner Frau zurück in ihr Heimatdorf Nowy Burez. Das gelb-grüne Holzhaus hat er selbst gebaut. Es hat mehrere große Zimmer, aber Vytautas verbringt die meiste Zeit in der ehemaligen Sommerküche. Mehr braucht er nicht, sagt er. Seine Frau ist nach langer Krankheit gestorben, sein Sohn ist ertrunken.

    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas. Er sitzt auf dem Bett auf einer kratzigen Wolldecke. In der kleinen Küche ist alles in greifbarer Nähe: Vor ihm steht ein Tisch, direkt dahinter der Kühlschrank.

    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas / Foto © Alina Ampelonskaja
    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas / Foto © Alina Ampelonskaja

    Links neben Vytautas liegt ein Haufen Medikamente. Er hat eine ganze Reihe von Krankheiten, eine davon ist Krebs. Mein gestriger Bekannter Slawa setzt dem alten Mann Spritzen. Anders geht es nicht: Die Spritzen braucht er täglich, aber die Feldscherin ist an Covid gestorben. Jeden Tag in die Stadt zu fahren, wäre unbezahlbar: Ein Taxi kostet hin und zurück fast 1500 Rubel [etwa 17 Euro – dek]. 

    Das gelb-grüne Holzhaus hat Vytautas selbst gebaut / Foto © Alina Ampelonskaja
    Das gelb-grüne Holzhaus hat Vytautas selbst gebaut / Foto © Alina Ampelonskaja

    Auf dem Staatssender Rossija 1 läuft eine Renovierungssendung. Die Moderatorin schwärmt, wie toll die Lounge-Ecke in der Moskauer Wohnung geworden ist.

    In der Küche sind außer uns noch zwei Männer. Nennen wir sie Petja und Jura. Jura holt die Wurst aus dem halbleeren Kühlschrank. „Wo hast du denn die *** [geklaut]? Die gibt’s hier doch gar nicht zu kaufen!“ „Mitgebracht.“ „[Lüg] *** doch nicht!“ Vytautas und Jura beschimpfen einander ständig, aber ihre Augen sind gutmütig.

    Petja ist jünger als ich. Er hält sich wie so viele mit Gelegenheitsjobs über Wasser: „In der Kolchose verdienst du zur Erntezeit als Traktorfahrer 20 bis 25 [Tausend; etwa 230 bis 285 Euro – dek]. Aber im Winter … Da kannst du nur Eier schaukeln, bekommst vielleicht grad mal die Hälfte rein.“

    Das Zimmer ist verqualmt. Der alte Mann raucht Gestopfte mit Bauerntabak. Neben der Packung liegt eine Schachtel normale Zigaretten einer mir unbekannten Marke. Ich hole zwei Schachteln Parlament aus meinem Rucksack, die ich „zum Tee“ mitgebracht habe. „Oho!“, lacht Jura. „Hast du gesehen? Der Tageslohn einer Melkerin. Eine Packung ist für mich!“

    Auf dem Tisch stehen eine Flasche Wodka und zwei staubige Pinnchen. Eins ist für mich, wie sich zeigt. Als Vytautas noch fit war, brannte er seinen Schnaps selbst. Das Geschäft lief gut: In elf Tagen stellte er 12,5 Liter her. Pro Flasche nahm er 200 Rubel ein. Dieser Satz hat sich in Nowy Burez in den letzten Jahren übrigens nicht geändert. Nur Verkaufsstellen gibt es jetzt nur noch zwei anstatt vier. Wegen der Krise.

    Wir bitten um Geldspenden für die Herstellung von Tarnnetzen

    „Jeder Mensch braucht doch irgendwas zu tun“, sagt Jura und schaut dabei rauchend aus dem Fenster. Viele von Vytautas‘ Nachbarn haben gesessen. Überhaupt kannst du in diesem Dorf mit einer Gefängnisstrafe niemanden groß beeindrucken.

    Wir kommen schnell auf das Thema Tod zu sprechen. Einer ist unter die Traktorräder geraten, ein anderer hat sich aufgehängt. Manchmal lauert das düstere Ende, wo man es am wenigsten erwartet: Zum Beispiel in den Geschichten von Kunden der „Verkaufsstelle“, die gern anschreiben ließen. „Eine hat über viertausend zusammenkommen lassen. Als sie ihre Rente bekam, sollte sie bezahlen, kam hier an mit zitternden Händen. Ich sag zu ihr: ‚Wenn du zu geizig bist, darfst halt nicht trinken.‘ Hab ihr nichts mehr gegeben. Jetzt ist sie schon tot.“

    Jura fällt Vytautas ins Wort. Er hat seine eigene Version der Geschichte: „Das hat doch nichts … Sie hat doch erzählt, dass ihre Neffen sie mit einer ganzen Horde *** [vergewaltigt] haben. Da war sie 80. Wir haben ihr gesagt, sie soll sie anzeigen, aber sie hatte Angst.“

    Von diesen Gesprächen wird mir übel. Offenbar merken sie das, ich höre: „Ja, *** [richtig krass]. Da gab es doch diesen Kafka, der hat über so was geschrieben. Wenn der heute noch leben würde, der würde *** [sich wundern]. Der hätte *** [ganz schön viel] Material. Da brauchst du weder Reporter noch eine Zeitung. Nur die Chroniken von Nowy Burez.“

    In der Dorfschule hat nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden im Nachbardorf unterrichtet / Foto © Alina Ampelonskaja
    In der Dorfschule hat nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden im Nachbardorf unterrichtet / Foto © Alina Ampelonskaja

    Von Vytautas‘ Haus bis zur ehemaligen Dorfschule ist es zu Fuß etwa eine Viertelstunde. Jetzt hat dort nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden in das [knapp 18 Kilometer entfernte] Dorf Srednjaja Toima gefahren. Seit ein paar Monaten funktioniert das [nach einer Unterbrechung] wieder: Man hat einen neuen Busfahrer gefunden. Der alte war in den ersten Tagen der Mobilmachung [im September 2022] einberufen worden. Die Kinder bekamen ihre Aufgaben per WhatsApp und mussten drei Mal die Woche mit dem Linienbus zur Schule fahren.

    Der 24-jährige Kirill (Name v. d. Red. geändert) hat noch die hiesige Dorfschule besucht. Die neunte Klasse schloss er mit drei anderen ab (eine zehnte und elfte Klasse gab es nicht). Zwei von ihnen sind zum Arbeiten weggegangen: Alexej nach Moskau, ein anderer irgendwo in den Norden. Der dritte starb bei der Armee und kehrte im Sarg vom Wehrdienst zurück. Iwan Rossomachin war nur ein paar Jahre älter.

    Meine nächste Station führt mich in den Laden, der gestern geschlossen war. Ich werde von Einheimischen begleitet. Verlaufen kann man sich zwar nicht, aber so ist es sicherer.

    Vom Shampoo bis zur Bettwäsche – im Geschäft von Nowy Burez kann man alles kaufen / Foto © Alina Ampelonskaja
    Vom Shampoo bis zur Bettwäsche – im Geschäft von Nowy Burez kann man alles kaufen / Foto © Alina Ampelonskaja

    In Nowy Burez gibt es nur ein Geschäft, deshalb kann man dort alles kaufen: Lebensmittel, Shampoo und Waschmittel, Schulhefte und Bettwäsche. Die Nudeln werden gleich in Großpackungen zu 1,5 Kilo verkauft. Mitten im Raum steht ein Tisch. Vermutlich zum Einpacken der Einkäufe. Auf dem Tisch liegen zwei ausgedruckte Zettel: „Sehr geehrte Dorfbewohner, wir bitten um Geldspenden für die Herstellung von Tarnnetzen. Annahme in der Verwaltung.“ „Interessenten für Beichte, Krankensalbung und Fürbitten melden sich bitte in der Verwaltung. Kosten: circa 500 Rubel plus eine Kerze. Bei mindestens zehn Interessenten kommt Vater Anatoli (in die Bibliothek).“

    Das Bekleidungssortiment hängt an einer Stange beim Fenster. Das meiste sieht nach Frauenkleidung aus. Ein T-Shirt – 500 Rubel [etwa sechs Euro – dek], ein Hauskleid – 900 [etwa 10 Euro – dek]. Während ich das Angebot studiere, betritt ein Kunde den Laden, ein hagerer Typ mit Mütze. „Zwei Flaschen Wodka.“ „Ich hab dir doch gleich gesagt, du sollst mehr nehmen!“, lacht die Verkäuferin. „Ja ja …“

    Es gab auch früher schon Mörder hier, aber niemand hatte Angst

    Ich sehe mir noch ein paar Minuten lang die Vitrinen an und gehe wieder raus. Meine neuen Bekannten streifen sich lachend Gummihandschuhe ab. Jeder hat nur einen an. „Hast du den Typen gesehen? Das ist Tolja (Name v. d. Red. geändert). Weißt du, warum wir Handschuhe anziehen? Er will einem immer die Hand geben, aber er bumst mit Schwangeren. Was guckst du so? Wirklich! Ist schon ein paar Mal vorgekommen in der Kolchose.“ „Warum denn Schwangere?“ „Na, sonst lässt ihn keine ran!“ Sie wiehern laut los.

    Auch der örtliche Kindergarten ist geschlossen / Foto © Alina Ampelonskaja
    Auch der örtliche Kindergarten ist geschlossen / Foto © Alina Ampelonskaja

    Das Gebäude der Dorfverwaltung befindet sich zwischen dem Einkaufsladen und dem Kulturzentrum. Im Vergleich zum Nachbargebäude, dem ehemaligen Kindergarten, wirkt es äußerst gepflegt. Vor dem Eingang sind weiße, dreieckige Steinplatten im Rasen verlegt.

    Die Bürgermeisterin von Nowy Burez zu treffen, entpuppt sich als die schwierigste Aufgabe. Weder geht Ljubow Wladimirowna ans Telefon, noch reagiert sie auf das Klopfen an der Tür. Zu Hilfe kommen mir ein paar Rentnerinnen, die zufällig da sind. Als ich mein Vorhaben erkläre, wählen sie gleich eine Nummer und überreichen mir das Handy – fast sofort geht jemand ran. „Ich kann Ihnen keine Auskunft geben“, wimmelt mich Ljubow Wladimirowna ab. Nichts zu machen. Ich sage: „Auf Wiederhören“ und gebe das Klapptelefon seiner Besitzerin zurück.

    Im Vergleich zum benachbarten Kindergarten wirkt das Gebäude der Dorfverwaltung äußerst gepflegt / Foto © Alina Ampelonskaja
    Im Vergleich zum benachbarten Kindergarten wirkt das Gebäude der Dorfverwaltung äußerst gepflegt / Foto © Alina Ampelonskaja

    „Ob er sie wohl umgebracht hat? Wir waren früher jeden Tag spazieren. Jetzt haben wir Angst. Es gab auch früher schon Mörder hier, aber niemand hatte Angst, wenn sie [aus dem Gefängnis] zurückkamen.“

    Das Nächste, was ich höre war, dass er schon tot ist

    Neue Informationen über den Mordfall gibt es nicht – nur die trockene Pressemitteilung der Mordkommission. Nach ihrer unerwarteten Auskunftsfreude vor Rossomachins Verhaftung schweigt die Polizei nun. Der Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoshin, hat sein Bedauern angesichts des Vorfalls geäußert und geraten, sich an seine Organisation zu wenden, sollten ehemalige Häftlinge durch aggressives Verhalten auffallen: „Wir schicken unseren Werbungstrupp, der hakt sich bei ihm unter und bringt ihn schnurstracks an die Front.“

    Gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor / Foto © Alina Ampelonskaja
    Gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor / Foto © Alina Ampelonskaja

    Vor meiner Reise hatte ich mir vorgenommen, die Leute über Iwan auszufragen. Jetzt sehe ich, dass es keinen Sinn hat: gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor und keiner bittet mich herein.

    Sweltlana und Jelena (Namen v. d. Red. geändert) stelle ich auch keine besonderen Fragen. Wir müssen in dieselbe Richtung, also laufen wir zusammen. Bereits nach wenigen Minuten klingelt Swetlanas Handy. Sie hebt ab und geht ein Stück weg. Als sie zurückkommt, will Jelena sofort wissen:
    „Hat sie dir gesagt, du sollst schön den Mund halten?“ Pause. „Ja.“

    Was wir besprochen hatten, war bestimmt streng geheim: Wie oft die beiden Freundinnen am Fluss spazieren gehen und welche Bücher sie zuletzt aus der Bücherei ausgeliehen haben.

    Die Bürgermeisterin von Nowy Burez treffe ich doch noch. Aber ein Gespräch wird daraus nicht: Ljubow Wladimirowna will als Erstes wissen, ob ich eine Genehmigung habe, mich hier aufzuhalten, und droht mir, mich der Kreisverwaltung zu melden.

    „Es läuft alles gut bei uns. Soziale Probleme sind unsere interne Angelegenheit. Hören Sie auf, hier herumzurennen und Sachen zu schreiben. Dörfer wie unseres gibt es hier noch und nöcher. Mit der gleichen Infrastruktur und sozialen Zusammensetzung, ohne Schule und Kindergarten. Sind wir etwa die Einzigen, die solche Probleme haben?“

    Vor meiner Abreise klopfe ich an die Tür eines Hauses, das ich bisher gemieden habe. Hier wohnt die Mutter des zweiten Wagner-Söldners, ebenfalls Iwan. Auch er hat sich im Gefängnis anwerben lassen, nur dass Rossomachin noch zehn Jahre abzusitzen gehabt hätte, und Iwan weniger als eins. Sie waren fast gleich alt.

    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass ihr Sohn für Wagner kämpfte / Foto © Alina Ampelonskaja
    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass ihr Sohn für Wagner kämpfte / Foto © Alina Ampelonskaja

    Die Tür macht eine müde aussehende Frau mit einer leisen Stimme auf. Sie bittet mich herein. Über dem Sofa hängt eine gerahmte Urkunde mit der Unterschrift von Leonid Passetschnik [dem Chef der selbsternannten LNRdek]: „Iwan Wladimirowitsch kämpfte für die Freiheit und Unabhängigkeit der Volksrepublik Luhansk. Er fiel nach mutigem und selbstlosem Kampf als Held auf dem Schlachtfeld.“

    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass Iwan einen Vertrag unterschrieben hatte. Sie habe es vom Enkelsohn ihrer Nachbarin erfahren, der ebenfalls eine Haftstrafe in der Strafkolonie in Rudnitschny absaß: „Er hat es mir gesagt, aber ich habe nicht kapiert, dass das wirklich wahr ist. Das Nächste, was ich hörte, war, dass er schon tot ist. Davor hat Iwan am Telefon zu ihm gesagt: ‚Mich braucht doch niemand, ich gehe.‘“

    Am Kreuz auf Iwans Grab liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner / Foto © Alina Ampelonskaja
    Am Kreuz auf Iwans Grab liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner / Foto © Alina Ampelonskaja

    Iwan liegt hier in Nowy Burez begraben. „In den Birken“, wie die Einheimischen sagen. Iwans Grab liegt ganz am Rand, beim Zaun. Aber an seinem Kreuz liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner.

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    „Wir müssen jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen“

    Die Aufführung von Krieg und Frieden an der Bayerischen Staatsoper stößt in der deutschen Presse auf kontroverse Diskussionen. Während der Tagesspiegel nach der Premiere am 5. März über „einen einmalig großen Abend“ schreibt, ist der Musikkritiker Jörn Florian Fuchs im Deutschlandfunk ratlos: Auch nach dem Drüberschlafen wisse er nicht so recht, was er davon halten soll. Den Kern des Problems greift Christine Lemke-Matwey auf ZEIT Online auf: Eine Oper eines russischen Komponisten (Sergej Prokofjew) nach dem Roman eines russischen Schriftstellers (Lew Tolstoi), in der Aufführung eines russischen Regisseurs (Dimitri Tschernjakow) und russischen Dirigenten (Wladimir Jurowski) – und das alles in München kurz nach dem 1. Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine … Das Stück, das von zwei russischen (Verteidigungs-)Kriegen inspiriert wurde – dem Vaterländischen Krieg 1812 und dem Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 – feiere seine Premiere mitten im russischen Angriffskrieg, und das Publikum sehe sich mit der Frage konfrontiert, „wer hier eigentlich wer sein soll, wer Opfer ist und wer Täter, wer Aggressor, wer Verteidiger“. 

    Nach der Premiere hat sich Meduza in München mit dem Dirigenten Wladimir Jurowski getroffen. In einem langen Interview erzählt er über das problematische Stück von Prokofjew, über den Versuch, das „schwere kulturhistorische Gepäck“ auf die Münchener Bühne zu bringen, über die Instrumentalisierung von Prokofjew und anderen Komponisten durch die russische Kulturpropaganda und über jenes Russland, das sich lohnt, bewahrt zu werden.  

    „Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)
    „Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)

    Wladimir Rajewski: Kaum zu glauben, dass die Idee zu Tschernjakows Inszenierung von Krieg und Frieden schon vor dem Krieg aufgekommen ist – und nicht als Reaktion der Bayerischen Staatsoper auf die aktuellen Ereignisse.

    Wladimir Jurowski: Zuerst wussten wir nicht, in welcher Form wir die Oper dem Publikum präsentieren wollen, und wir hatten auch keine Ahnung von dem Konzept des Regisseurs, er selbst aber auch nicht. Wir ahnten nicht einmal, dass wir die Oper schlussendlich in dieser stark gekürzten, zerschnittenen Version spielen würden. Die ursprüngliche Idee war, Krieg und Frieden von der ersten bis zur letzten Note aufzuführen, sozusagen den Urtext.      

    Es gibt eine ganze Reihe von Opern, die in unterschiedlichen Versionen vorliegen. Auf der ganzen Welt werden meistens sogenannte Mischversionen gespielt, also, man nimmt, was den Interpreten am besten gefällt, und wirft manchmal alles durcheinander in einen Topf. 

    Kaum jemand weiß, dass die Sache mit Prokofjews Krieg und Frieden noch viel verworrener ist als mit anderen Opern. An Krieg und Frieden arbeitete Prokofjew von Frühling 1941 bis zu seinem Tod im Frühling 1953 – also zwölf Jahre. In dieser Zeit komponierte er mindestens drei Versionen. 

    Auf uns hagelte es sowohl von russischer als auch von westlicher Seite allerlei Beschuldigungen: Wir hätten Prokofjew verdreht und dem eigenen Geschmack angepasst, indem wir vor allem den Teil über den Krieg zu einem, wie sie es nannten, Dog’s Dinner gemacht hätten. Und dann hätten wir noch dem Chor das berühmte letzte Stück entrissen und seine Musik der Banda überlassen. Was die Banda spielt, ist das Thema „Groß ist unser Land“, und im Vordergrund skandiert der Chor [in einer späten Bearbeitung von Prokofjew] einen propagandistischen, geradezu stalinistischen Text. Solang es Tschernjakows Konzept noch nicht gab, haben wir einfach einen Weg gesucht, wie wir das so hinkriegen, dass wir Sergej Sergejewitsch [Prokofjew] nicht vollends blamieren und uns selbst auch nicht. Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen und alles Unnötige zu streichen. Zur Gänze kann man das natürlich nicht entfernen, das ist unmöglich, aber sehr vieles haben wir herausgenommen.    

    „Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Prokofjew hat uns kein fertiges Werk hinterlassen, sondern eine riesige Skizze, einen Torso, ein Gerüst, das nicht vollendet wurde. Es zerfällt in lauter fragmentarische Szenen, die sich fast unmöglich zu einem großen Ganzen zusammenfügen lassen. Tschernjakow ist das gelungen, aber nur dank der außergewöhnlichen Situationen und den Bedingungen, unter denen die Inszenierung entstanden ist, und weil er bewusst auf die Gegenüberstellung „Krieg und Frieden“ verzichtet hat. Und nur dank dem sehr konzeptualistischen und sehr starken Zugang, der in das Grundprinzip Tolstois und Prokofjews eingreift, gelang uns eine Inszenierung, die sich als zusammenhängende Geschichte erzählen lässt. Aber an sich ist es eine Collage. 

    Wir haben eine Art erfundene, dystopische Situation: Russen sind im Haus der Gewerkschaften im Zentrum Moskaus in der Säulenhalle eingeschlossen, in einer Art Kriegsatmosphäre. Wir erwähnen kein einziges Mal, was eigentlich passiert ist. Das ist der Ausgangspunkt des Spiels: Es fehlt die wichtigste Komponente jedes Kriegs – der äußere Feind. Wir sehen Menschen, die verängstigt sind, die sich Sorgen machen, die etwas quält, aber einen Feind als solchen gibt es nicht. Also beginnen sie, den Feind in den eigenen Reihen zu suchen und auch zu finden. Obwohl wir den Text nicht verändert haben – sie sprechen weiterhin von Franzosen, von deutschen Generälen, russischen Spionen und Partisanen.   

    Brächten wir ein Drama nach dem Roman von Tolstoi auf die Bühne, dann würden solche Freiheiten natürlich extrem stören. Aber wir inszenieren ja die Oper von Prokofjew, und wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne und in den Saal: das Jahr 1812, in dem Napoleons Russlandfeldzug stattfand, das Jahr 1856, in dem Tolstoi seinen Roman zu schreiben begann, das Jahr 1941, in dem Prokofjew anfing, seine Oper zu komponieren, das Jahr 1946, in dem die Oper aufgeführt und kritisiert wurde, das Jahr 1953, in dem Prokofjew am selben Tag wie Stalin starb, schließlich auch unsere unselige Zeit. Und eben weil wir eine Oper machen und keinen Roman, und weil wir damit einen riesigen kulturhistorischen Raum abdecken, viel größer, als wenn wir einfach Tolstois Text verfilmen oder als Theaterstück auf die Bühne bringen würden – deswegen dürfen wir uns solche Freiheiten erlauben. 

    „Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Was haben Sie mit der Musik gemacht, als Sie von dem Konzept erfuhren, dass Prokofjews patriotischer Chor so etwas sein wird wie … ein heutiger patriotischer Chor?

    Ich musste nichts Spezielles machen, weil etwas Erstaunliches und äußerst Bemerkenswertes passiert ist: Das, was mich persönlich an Prokofjew immer irritiert und sehr genervt, geärgert hat, hat sich bestätigt: dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus. Den man übrigens keineswegs nur in Krieg und Frieden findet, sondern auch in vielen anderen sowjetischen Kompositionen. 

    So wie im Oratorium Auf Friedenswache und dergleichen? 

    Ja. Da gibt es überall wundervolle Musik, aber auch immer wieder Momente, für die man sich einfach schämt. Ich habe zum Beispiel längst, lange vor dem Krieg gegen die Ukraine, bewusst aufgehört, Prokofjews Kantate Alexander Newski aufzuführen. Früher hat sie mir sehr gefallen, und als Musik zu Sergej Eisensteins großartigem Film finde ich sie immer noch absolut angemessen – es ist wirklich eine tolle Filmmusik. Aber wenn ich sie auf einer Konzertbühne als eigenständige musikalische Komposition spiele, dann treiben mir manche Seiten daraus die Schamesröte ins Gesicht. 

    „Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Diese betont patriotische Glut im vierten Teil der Kantate Steht auf, russische Leute oder das beinah sadistische Vergnügen, mit dem Prokofjew die Kreuzritter auf dem zugefrorenen Peipussee „schlägt“, lassen einen spüren, wie sehr dieses Werk trotz des unbestrittenen Talents seines Urhebers vergiftet ist mit einem üblen, beinah faschistischen Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer. Hier werden ganz offensichtlich und bewusst historische Ereignisse verwendet, um nationalistische, ideologisierte Weltbilder zu untermauern. Wenn wir das auf die Konzertbühne bringen, dann übernehmen wir einen Teil der Verantwortung für das, was die Menschen auf der Bühne von sich geben. Im Theater oder im Kino ist diese Verantwortung nicht so umfassend. Im Theater und im Kino werden reale Situationen gespielt, unter anderem aus ferner Vergangenheit. Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung. 

    Faschistischer Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer

    Im heutigen Kontext kann man keine dieser Kompositionen spielen, ohne an die Parallelen und Überschneidungen zu unserer traurigen Realität zu denken. Vor allem, weil die heutigen russischen Machthaber in einer absolut stalinistischen Tonalität handeln und Kunst, auch klassische Kunst, bewusst als schwere Propagandawaffe einsetzen. Für sie wird Puschkin genauso zum Propagandawerkzeug wie Tschaikowski und Rachmaninow, den sie ebenfalls vereinnahmt haben, obwohl er emigriert war – war er doch ein echter Patriot! Sie verwenden dieselbe Lexik wie Stalins Ideologen, als diese den verderblichen Einfluss des Westens bekämpften und gegen die eigenen Komponisten, Dichter, Schriftsteller, Künstler, Formalisten, wurzellosen Kosmopoliten et cetera wetterten.        

    Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist

    Leider werden Prokofjew und sogar Schostakowitsch mit der Zeit selbst zu Instrumenten der russischen Kulturpropaganda. Schostakowitsch etwas weniger, einfach weil er sich viele Jahre lang bewusst gegen das Regime gestellt hat. Prokofjew hat mehrere Werke geschaffen, die gerade auch im heutigen Kontext ganz schreckliche Assoziationen wecken können.

    Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist, wie er oft dargestellt wird. Er ist ein sehr komplexer Charakter.

    Zwischen 2005, als Sie Krieg und Frieden in der Pariser Oper dirigierten, und 2023 scheinen Lichtjahre zu liegen. Haben die Ereignisse seit dem letzten Jahr irgendeinen Einfluss auf Ihre Interpretation gehabt?

    Auch wenn es seltsam ist, muss ich da etwas zu den ersten Akkorden der ersten Szene sagen, mit denen das Opus beginnt. Das ist eine ziemlich einfache Quint, also ein Intervall aus zwei Noten, zerlegt auf zwei Oktaven, das von nur vier Instrumenten gespielt wird. Diese Quint klang für mich früher irgendwie … als ob jemand nachts im Wald einen Vogel aufgescheucht hätte. Aber jetzt beginnt vor allem dank Tschernjakows Idee alles mit Stille, und Fürst Andrej erwacht auf einer Matratze, umringt von diesen Menschen – vielleicht Flüchtlingen, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht – und zieht sich nach und nach die Kleider aus, bis er im Unterhemd dasteht. Dann stößt er einen unhörbaren schmerzlichen inneren Schrei aus. Und aus diesem Schrei entspringt Musik – Verzweiflung. Die Verzweiflung und Ohnmacht eines vom Leben gebrochenen Menschen. 

    Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins

    Mit den Jahren hat sich das Gefühl bei mir eingestellt, dass bei Prokofjew in der Musik oft zu finden ist, was ihm den Erinnerungen seiner Zeitgenossen zufolge als Mensch fehlte, nämlich Empathie. Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins. In der Musik aber beweint er die tote Julia oder den toten Romeo, als wären es seine eigenen Kinder. Und genau deswegen, weil das mit einer gewissen Distanz kreiert wurde, hängt das Ergebnis von uns selbst ab, von den Künstlern, den Interpreten. Wir können diese Musik in Richtung einer großen menschlichen Wärme interpretieren oder in Richtung absoluter Kälte und eisiger Emotionslosigkeit.  

    Prokofjew hat sich auch nach seiner Rückkehr in die UdSSR sehr zynisch zu einer Kooperation mit dem Regime geäußert.

    Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys. Er verhielt sich ja wie ein absoluter Schnösel, war ein großer Schachspieler, er glaubte an Sport, an die Macht des Fortschritts. Prokofjew war ein verwöhntes Kind seiner Zeit, und als es vorbei war mit der Kindheit und er sich die Nase anschlug [an der Zensur], war es zu spät. Gott sei Dank wurde er nicht als kreatives Wesen gebrochen, denn die letzten Sachen, die er geschrieben hat – die letzten Symphonien, das Symphoniekonzert für Violoncello sowie die Neunte, die letzte vollendete Klaviersonate – all das zählt immerhin zu den großen Schätzen der Musikgeschichte. In der Musik bewahrte er sich immerhin seine Freiheit, blieb er selbst.  

    Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys

    Krieg und Frieden ist leider eines der Beispiele, das veranschaulicht, wozu die innere Bestechlichkeit eines Künstlers führt. Obwohl ich Prokofjew immer noch für einen herausragenden Komponisten halte, der nicht nur erstaunliche Klangkombinationen schuf, sondern auch bemerkenswerte Aussagen tätigte, die die unbeugsame Kraft des menschlichen Geistes bezeugen. Aber gewissermaßen schrieb Prokofjew diese Musik nicht dank, sondern eher trotz seiner Eigenschaften.     

    In Österreich und Deutschland hat Prokofjew keinen so guten Ruf. Woran liegt das?

    Das hat grundsätzlich mit der Natur von Prokofjews Musik zu tun, die nicht wirklich in den österreichisch-deutschen musikalisch-psychologischen Raum hineinpasst. In Deutschland muss man Prokofjew erst einen Weg ebnen. Wenn ich in Deutschland mit seinen Partituren arbeite, dann muss ich auch in sehr guten Orchestern mit mehr Mühe den Widerstand dagegen abbauen, Prokofjew so zu spielen, wie er selbst gespielt werden wollte. 

    „Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Haben Sie auf diese Weise auch Krieg und Frieden den Weg geebnet?

    Den Weg ebnen musste ich nicht – das hat unser Theater entschieden. Aber während der Arbeit mit dem Orchester tauchten manchmal Hemmungen und irgendwelche Problemchen auf. Das hat damit zu tun, dass Prokofjew einen sehr eigenen, einzigartigen Zugang zu solchen Aspekten des Musizierens hat wie Phrasierung und Artikulation. Das kann man sich vorstellen wie einen Menschen, der Gedichte oder Prosa schreibt, aber nicht in der allgemein üblichen Syntax und abseits der gültigen Rechtschreib- und Satzzeichenregeln. Orthografie, Satzbau und Interpunktion sind bei Prokofjew ungewöhnlich, einmalig.

    Verstehe ich das richtig, dass Sie nicht nach Russland fahren?

    Ich kann da nicht einreisen.

    Weil Sie sogar jetzt eine Anstecknadel mit einer ukrainischen Flagge auf dem Revers tragen? 

    Nein, die kam erst später dazu. Nach allem, was ich gesagt habe, wird mir einfach keiner mehr ein Visum geben.   

    Ah, Sie sind ja kein russischer Staatsbürger.

    Genau. Es war daher sehr kurios zu erfahren, dass ich in der schwarzen Liste von Roskomnadsor als „Meinungsbildner des öffentlichen Lebens“ erscheine. 

    Oh, ich stehe auch auf dieser Liste. 

    Man kann das als Auszeichnung betrachten. Aber „ausländischer Agent“ kann ich nicht werden, weil ich kein russischer Staatsbürger bin. Ich hatte ein Visum, mit dem ich letztes Jahr noch einreisen konnte. Aber ich habe natürlich alle Konzerte [in Russland] abgesagt. Jetzt wäre ich, selbst wenn ich unbedingt wollte, auf die Gnade des Kulturministeriums angewiesen.   

    Das Sie jetzt nicht so gern hat?

    Das mich natürlich nie im Leben einladen würde. Wie in dem einen [russischen] Spruch: Zieh dir entweder eine Hose an oder nimm das Kreuz ab. Also, wenn du so redest, wozu fährst du dann hin? Höchstens privat, um meine Lieben zu sehen, meine Freunde. Wobei es da auch ein paar gibt, mit denen ich nur schwer reden könnte. 

    Haben Sie Leute im Umfeld, die den Krieg unterstützen?

    Das nicht unbedingt, aber sie finden zum Beispiel meine Entscheidungen auch nicht gut. 

    Ich war in Russland immer ein Fan Ihrer Aufführungen von Musik vergessener Komponisten aus der Sowjetzeit. Was wird daraus jetzt?

    Jetzt berichtet man, dass das Konzert Drugoje prostranstwo. Continuo stattgefunden hat, und dann in Klammern: „ohne Wladimir Jurowski“. Ich werde hier und da in der Presse erwähnt. Zum Beispiel, nachdem ich im Februar 2022 zum ersten Mal die ukrainische Hymne gespielt habe. Das war in Berlin. Wir haben Tschaikowskis Slawischen Marsch, der auf dem Programm stand, durch Werbizkis Hymneersetzt und sogar noch eine symphonische Ouvertüre von ihm gespielt. Wobei wir aber zum Beispiel Tschaikowskis Fünfte Symphonie oder Rubinsteins Cellokonzert nicht gestrichen haben.

    Schon damals tauchten im russischsprachigen Internet Schlagzeilen auf wie: „Jurowski ersetzt Tschaikowski durch Bandera-Hymne“. Ich beließ es nicht dabei und spielte die „Bandera-Hymne“ auch andernorts. Und ich habe sehr vieles gesagt, mit dem ich mir ganz bewusst alle Wege zurück verbaut habe. 

    Glauben Sie nicht, dass das Interesse an allem Russischen im kulturellen Sinn dann, wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, erst recht wieder aufkommen wird? Irgendwo müssen ja die Antworten auf die Fragen stecken, die früher niemand gestellt hat.  

    Dieses Interesse geht nicht verloren – es ist auch jetzt nicht verschwunden. Nach unserer Premiere von Krieg und Frieden bekamen wir sehr viele schöne Rückmeldungen, nette und auch richtig schmeichelhafte. Ein Münchner Kritiker schrieb, so viel Selbstreflexion vonseiten russischer Künstler, wie wir in dieser Inszenierung sehen und hören konnten, nährt die innere Hoffnung, dass dieses Land noch nicht endgültig verloren ist. Da bin ich mit ihm einverstanden. 

    Ich beließ es nicht dabei und spielte die ‚Bandera-Hymne‘ auch andernorts

    Ich gehe sogar noch weiter: Ich bekam gerade bei dieser Premiere das Gefühl, dass im Saal, in dem übrigens sehr viele Vertreter der neuen russischen Emigration saßen, eine Art Schulterschluss der russischen, russischsprachigen Menschen außerhalb Russlands auf Basis gänzlich anderer Ideale stattfand.

    Ich hoffe einfach sehr, dass die heutigen russischen Emigranten mehr Glück haben, dass sie sich nicht in Gezänk, Streitereien und persönlichen Geplänkeln suhlen werden wie die russischen Emigranten nach dem Bürgerkrieg. Weil damals ja doch das sowjetische Russland als moralischer Sieger aus der Schlacht hervorging. In diesem Punkt bin ich solidarisch mit Dimitri Bykow, der den Gedanken formuliert hat, dass der größte Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Emigration folgender ist: Damals rannten sie vor der Revolution davon, die zwar etwas Schreckliches, Böses war, aber gleichzeitig auch etwas Neues und Frisches. Die heutige Emigration flieht vor einer Reaktion, vor etwas, das im Inneren zerbrochen ist, das verfault, verwest und eigentlich nicht mehr lange bestehen wird. Insofern erinnert mich das eher an die Flucht der Deutschen 1848 oder die Flucht aus Frankreich und Österreich nach dem Wiener Kongress. Oder wie die Russen vor dem bereits morsch gewordenen Zarenregime der Romanows flüchteten.     

    Ein scharfsinniger Gedanke, typisch für Bykow, aber auch von einer ihm typischen Sympathie für das sowjetische Projekt begleitet. 

    Ich finde, wir müssen dieses sowjetische Atlantis jetzt, wo dieser furchtbare Krieg begonnen wurde, endgültig in uns begraben. In uns, ich klammere mich da selbst nicht aus, diese höchstgefährliche Nostalgie nach der Vergangenheit abtöten. Die wir im Grunde ja gar nicht wirklich erlebt haben. 

    Alle meine Erinnerungen an die Sowjetunion stammen aus meiner Kindheit im häuslichen Umfeld und meiner Jugend am Konservatorium. Ins echte Leben hatte ich da noch gar nicht hineingeschnuppert. Wir müssen uns mit großer Sorgfalt Rechenschaft darüber ablegen, was genau wir da so nostalgisch vermissen. Sonst kann es passieren, dass wir unwillkürlich Geister der Vergangenheit wecken, die wir dann nicht mehr so einfach mit einem Espenpflock in ihre Särge zurücktreiben können. Wobei eigentlich genau das gerade vor unseren Augen geschieht.   

    „Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Sie haben ja nicht in Russland gelebt und den neuen Alexander-Newski-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre wahrscheinlich gar nicht mitbekommen.

    Ja, das ist ehrlich gesagt an mir vorübergegangen. Der Kult um diese großen Helden der Vergangenheit: Kutusow, Peter der Große. Aber die allmähliche Rehabilitierung von Iwan dem Schrecklichen und Stalin ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Ich versuche einfach schon lange, mich von alldem fernzuhalten. Lange bevor ich 2021 aufhörte, mit dem Staatsorchester in Russland zu arbeiten, hatte ich ein sehr merkwürdiges, ein sehr ungutes Gefühl, wenn ich die russische Grenze passierte. Ich liebte meine Stadt immer noch, meine Freunde, und es war mir immer eine große Freude, für das Moskauer Publikum zu spielen, aber was gleichzeitig auf den Straßen Moskaus vor sich ging, versetzte mich immer mehr in Angst und Schrecken. Daher verkroch ich mich immer, wenn ich nach Russland fuhr, wie eine Schnecke in ihrem Haus. Ich versuchte, möglichst wenig draußen zu sein, möglichst wenig Kontakt zu fremden Menschen zu haben.

    Wenn das, was am 24. Februar begonnen hat, nicht passiert wäre, dann wäre ich natürlich trotz aller Verschlechterungen dieses internen Klimas weiterhin nach Moskau gefahren. Das steht außer Frage. Ich wurde gefragt: Wie kannst du da immer noch hinfahren, bei dem Wahnsinn, der da vor sich geht? Morde an Journalisten, Morde an Oppositionspolitikern, Nawalny im Gefängnis und immer wieder in Einzelhaft, und so weiter und so fort. Ich habe immer mit den Worten des Dirigenten Iván Fischer geantwortet, der noch immer, trotz der ebenfalls schwierigen Situation in Ungarn, das Festival Orchester Budapest leitet. 

    Er sagte auf solche Fragen: „Ja, mein Land ist krank. Aber stellen Sie sich vor, Sie haben einen kranken Verwandten, jemand in Ihrer Familie ist krank. Würden Sie ihn etwa (das war allerdings noch vor der Pandemie) isolieren? Würden Sie ihm verweigern, seine Angehörigen zu sehen? Nein, Sie bringen ihm Medikamente und Tee mit Zitrone, erzählen ihm etwas, um ihn aufzuheitern, damit er schneller gesund wird. Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied. Ich versuche, ihm mit meiner Musik etwas Wärme zu spenden und zu seiner raschen Genesung beizutragen.“ So ein herzensguter, idealistischer Gedanke.  

    Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied

    Mit diesem Gedanken habe ich noch lange auch in Russland gearbeitet. Und ich werde jetzt nicht lügen und behaupten, es hätte mir widerstrebt. Ich habe es sehr genossen. Ich fand es schön, mit meinen Musikern zu kommunizieren, und mir gefiel es, wie es uns gelang, eine Art Staat im Staat zu errichten. Denn in unserem Orchester waren die Beziehungen untereinander ganz anders als in anderen Orchestern mit anderen Dirigenten. Wir reisten auch zusammen durch Russland, hatten nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg Auftritte. Jetzt weiß ich das nicht. Aber ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.  

    Und bis dahin?

    Bis dahin müssen wir jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen. Und nach Möglichkeit dafür kämpfen oder anderen dabei helfen, dafür zu kämpfen, dass dieses Russland nicht endgültig abstürzt.  

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