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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Frachtgut Zinksarg: Unterwegs mit einem Leichenkurier

    Frachtgut Zinksarg: Unterwegs mit einem Leichenkurier

    Lange Zeit schien es klar, dass im russischen Abnutzungskrieg nur eine Seite gewinnen kann: Russland hat fast viermal so viele Einwohner wie die Ukraine, viel mehr Waffen, und die ohnehin stärkere Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren. Dennoch ist die Offensive bei Charkiw stecken geblieben und auch die Vorstöße an anderen Frontabschnitten sind strategisch unbedeutend. Dabei verliert Russland in großer Zahl gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie. Militärexperten gehen davon aus, dass der Kreml im kommenden Jahr vor ernsten Nachschubproblemen stehen wird.


    Bereits jetzt versucht Russland offenbar, seinen Mangel an Material durch mehr Personal auszugleichen: Seit Beginn der Invasion setzen die Kommandierenden vor allem auf Artilleriefeuer und Frontalangriffe, bei denen die eigenen Soldaten als Kanonenfutter verheizt werden. Laut Mediazona hat Russland im ersten Halbjahr 2024 rund ein Drittel seiner Gesamtverluste zu verzeichnen. Während 2023 im Schnitt etwa 120 russische Militärangehörige pro Tag fielen, sind es derzeit 200 bis 250. 


    Die Soldaten, die an vorderster Front ins Feuer geschickt werden, stammen vor allem aus ärmeren Landesteilen abseits der Großstädte. Wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld zurückgelassen werden, kommen ihre Leichen in Zinksärgen nach Hause zu ihren Familien. Wie das abläuft, darüber berichtet ein anonymer russischer Offizier dem Medienprojekt Mediazona: Drei Monate lang hat er mehr als ein Dutzend Tote nach Hause gebracht, bis in den Fernen Osten.

    Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Krieg, Tod und Gewalt.

    Ich bin ausgebildeter Militärpsychologe. In meinem Dienst musste ich gefallene Soldaten nach Transbaikalien begleiten. Eigentlich ist es die Regel, dass so etwas nur Leute mit meiner Ausbildung machen, aber jetzt schicken sie sonst wen dorthin. Meistens sind es einfache Soldaten, manchmal beliebig ausgewählte Offiziere. Der Grund ist natürlich der akute Personalmangel.

    Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522

    Der Ablauf an sich ist simpel: Die Toten aus der Ukraine werden in die Leichenhalle auf dem Gelände des Militärhospitals in Rostow am Don geliefert, in das Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522. Grob gesagt ist das eine Sortierstation, von der aus die Leichen ins ganze Land transportiert werden. Dort arbeiten Militärangehörige aus allen Einheiten, die im Krieg sind. Ihre Arbeit ist die Hölle: Sie müssen die Leichen identifizieren und alle Toten aus ihrer Einheit für den Abtransport vorbereiten. Sobald eine Leiche eingeliefert und identifiziert wurde, ruft das Zentrum aus Rostow im jeweiligen Truppenteil an und bestimmt einen Totenbegleiter. Infrage kommen Offiziere und Vertragssoldaten, die gerade verfügbar sind. So war es auch bei mir. Weil ich mich geweigert habe, einen Befehl auszuführen, wussten sie nicht, wohin mit mir. Ich war froh, dass sie mich genommen haben: besser ich als jemand, der überhaupt keine Ahnung hat, was er zu einer Mutter sagen soll, die ihren Sohn beerdigen muss.

    Danach läuft es folgendermaßen: Die Begleitperson fliegt nach Rostow am Don, fährt ins Zentrum 522, nimmt den gefallenen Soldaten in Empfang, seine Papiere und persönlichen Gegenstände, die seiner Familie überbracht werden müssen, die Sterbeurkunde und die Dokumente, die für das Begräbnis nötig sind, sowie den Tapferkeitsorden. Dann heißt es warten, bis es grünes Licht für die Reise gibt. Wenn es soweit ist, bekommt die Begleitperson eine Einweisung vom Zentrumsleiter. Die Toten werden in eine IL-76 geladen und zum Bestimmungsort geflogen. Wie wir mit den Hinterbliebenen umgehen sollen, wird bei der Einweisung nicht gesagt.

    Bei der Ankunft werden die Leichen von der örtlichen Militärverwaltung in Empfang genommen, die den Weitertransport in die Herkunftsorte organisiert. Ist man dort angekommen, übergibt man die Leiche den Angehörigen und bleibt bis zum Schluss bei ihnen, einschließlich der Beerdigung. Danach erhält man die Papiere, die für die Kompensationszahlungen nötig sind, einen Sterbe- und Bestattungsnachweis, und kehrt in seinen Truppenteil zurück.

    Von Rostow aus gehen praktisch täglich solche Flüge. Unser Flugzeug war voll belegt: 80 Holzkisten, innen drin Zinksärge mit den Leichen und an den Wänden eng an eng knapp 60 Begleitpersonen, von denen manche bis zum letzten Zielflughafen mitfliegen mussten. Im Normalfall dauert die Reise mehrere Tage, mit Zwischenstopps in verschiedenen Großstädten. Am Anfang [des Krieges] bekam jeder Tote seine eigene Begleiterperson, aber seit es nicht mehr genug Leute gibt und die Verluste steigen, gibt es eine Person für alle Gefallenen aus einer größeren Stadt oder einem Truppenteil.

    Weder angemessene Lagerung noch Kühlung

    Das Identifikationszentrum in Rostow am Don ist ein Ort des Grauens. Da ist in erster Linie der Gestank, der mit nichts vergleichbar ist. Obwohl ich im tiefsten Winter dort war, ist er schwer zu vergessen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es im Sommer zugeht. Das Zweite ist der Umgang mit den Toten: Sie liegen in den riesigen Hangars, in denen sie identifiziert und sortiert werden, einfach auf dem Boden. Ich habe dort einen abgetrennten Kopf auf dem Boden liegen sehen. Sein verzerrtes Gesicht werde ich nie vergessen. Es gibt weder angemessene Lagerung noch Kühlung, was klar ist angesichts des Zustroms – die Leichenhallen sind nicht für diese Mengen ausgelegt. Bei den Gefallenen aus meiner Einheit habe ich dann den ganzen Prozess mitangesehen: Den Toten wird eine Uniform angezogen – das machen einfache Soldaten, manchmal sogar Wehrdienstler –, dann werden sie in einen Zinksarg gelegt, geschminkt, damit sie durch das kleine Sichtfenster nicht ganz so schlimm aussehen, dann verschweißt man den Sarg, legt ihn in eine Holzkiste, beschriftet sie und bereitet sie für den Transport vor.

    Die ganze Angelegenheit ist auch körperlich Schwerstarbeit, man ist praktisch als Packer angestellt. Angefangen bei der Leichenhalle in Rostow bis zum Heimatdorf des Toten muss man ständig Särge schleppen und hin- und herschieben.

    Bei der Ankunft muss man selber mit den Angehörigen sprechen. Natürlich ist da vor allem das ungeheure Leid der Mutter. Am schlimmsten ist es, wenn der Tote sehr jung war, 20 bis 25 Jahre. Dann wäre ich am liebsten selbst an seiner Stelle, um nicht mitansehen zu müssen, was mit den Eltern passiert, wenn sie ihr totes Kind sehen.

    Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen

    Der eine Satz, den ich als Begleitperson bei der Ankunft sagen muss, lautet ungefähr so: „Sehr geehrte Maria Iwanowna, mein herzliches Beileid angesichts Ihres schweren Verlusts.“ Alles andere kann warten. Um die Situation irgendwie erträglicher zu machen, gibt es einfache Regeln. Man sollte immer eine Flasche Wasser und Taschentücher dabeihaben und sich vorher überlegen, wo sich der oder die Betroffene hinsetzen oder hinlegen kann. Auf keinen Fall darf man einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, etwas sagen wie: „Ich verstehe sie.“ Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen, solche Worte können eine aggressive Reaktion hervorrufen. Wenn das passiert, darf man nicht darauf eingehen, nichts beweisen oder abstreiten. Man muss einfach zuhören und warten, bis die Emotionen nachlassen.

    Außerdem ist es empfehlenswert, die Angehörigen zu fragen, was sie über die Todesumstände wissen. Wenn ihnen noch keine Details bekannt sind – eine Mutter wird immer fragen, wie ihr Sohn gestorben ist –, sollte man sie damit beruhigen, dass es ein schneller Tod war und ihr Kind nicht leiden musste. Manchen Müttern gibt das etwas Trost. Man darf eine Mutter nie von dem Sarg wegzerren und muss verhindern, dass es die Angehörigen tun. Im ersten Moment sollte man die Tränen und Emotionen fließen lassen, bis sie irgendwann abklingen. Viele machen den Fehler, sie gleich beruhigen zu wollen, sie ziehen sie weg, lassen sie nicht ausweinen. Das ist falsch. Die meisten Begleitpersonen wissen nicht einmal das. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, also sagen sie einfach nichts. Das kommt alles daher, dass es an geschulten Leuten fehlt und sie jeden X-Beliebigen nehmen.

    Ich wurde oft eingesetzt, alle ein oder zwei Wochen. Bei 13 Beerdigungen war ich persönlich dabei. Es gibt auch welche, die noch mehr mitgemacht haben. Der Strom reißt nicht ab. Fast jeden Tag gibt es Ehrenbegräbnisse.

    Noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen

    Am eindrücklichsten ist mir ein Lehrer in Erinnerung geblieben, den ich in ein Dorf namens Bura an der chinesischen Grenze begleiten musste. Er war eingezogen worden und starb an einer Verletzung am Bein, die eigentlich gar nicht lebensgefährlich war. Aber er hat zu viel Blut verloren, weil man das Bein nicht oberhalb der Wunde abgebunden hat, sondern darunter. Dafür wurde nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Er war ein einfacher Lehrer, den man Tausende von Kilometern weit weggeholt hat, um Menschen zu töten. Auf dem Land sind die Leute einfach gestrickt: Man sagt ihnen, ihr müsst „gegen Nazis kämpfen“, also kämpfen sie gegen Nazis. In diesem gottverlassenen Dorf gab es keinen, der ihn als Lehrer ersetzen konnte. Dieser Mann war sehr beliebt, das ganze Dorf schätzte ihn. Ich habe noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen wie bei seiner Beerdigung.

    Dann gab es noch eine Mutter, der ich ihren zweiten Sohn tot zurückbringen musste, nachdem sie schon einen [im Krieg] verloren hatte. Das Dorf hieß Tschara. Der erste Sohn war als Freiwilliger in die Gruppe Wagner eingetreten, der zweite wurde eingezogen, der dritte war noch zu Hause, aber wollte auch bald hingehen. Sie ist natürlich zusammengebrochen, war vollkommen hysterisch. Ich habe mir ihre Hasstiraden anhören müssen, auf Putin, auf Schoigu, einfach auf alle. Ich trug eine Uniform, also war ich an allem schuld, ich habe diesen Krieg entfesselt, alle getötet, ihren Sohn getötet – das volle Programm. Sie tat mir sehr leid. Sie wäre mir am liebsten an die Gurgel gegangen, aber durch den Schock war sie wie gelähmt. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und wäre fast ohnmächtig geworden.

    Ein anderer harter Moment war, als mehrere Tote aus einer Einheit auf einmal in eine Leichenhalle gebracht wurden. Es kamen viele Verwandte, alle waren völlig am Ende. Zwei der Familien wollten unbedingt die Zinksärge öffnen und die Leichen umbetten. Sie hatten einen Trennschleifer dabei, aber als sie es nicht schafften, baten sie mich um Hilfe. Da habe ich zum ersten Mal einen Zinksarg zersägt, unter den Blicken der trauernden Verwandtschaft. Es war eiskalt, meine Hände waren steif gefroren, und dann war einer der Toten schrecklich zugerichtet. Während wir sie in die Leichenhalle trugen, um sie umzuziehen, weinten alle hysterisch. Einen Zinksarg zu zersägen ist nichts für schwache Nerven.

    Ich habe schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind

    Es gibt verschiedene Gründe, warum die Leute die Särge öffnen wollen. Eigentlich haben Zinksärge ein kleines Fenster, damit man das Gesicht sehen kann. Normalerweise, wenn es keine Kopfverletzung gibt, erkennt man den Toten. Manche Angehörigen wollen ihn einfach noch einmal berühren, sie wollen sich von dem Körper verabschieden. In Transbaikalien werden die Toten traditionell zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt. Aber das ist in dem Fall keine gute Idee. Vor allem, wenn es warm ist, dann liegt die Leiche da und rottet vor sich hin. Bei meinen Einsätzen habe ich das eigentlich nie erlaubt. Dazu war ich befugt: Ich konnte entscheiden, ob ein Zinksarg geöffnet wird oder nicht. Wenn man das Gesicht durch das Sichtfenster sehen und den Toten identifizieren kann, dann reicht das. Meistens sind es die Mütter, die ihren Sohn noch einmal sehen wollen, aber sie verstehen nicht, dass da der Geruch ist, und es ist schlicht auch nicht ungefährlich.

    Nur ein Mal habe ich es erlaubt. Es war Winter, da konnte man ihn einen Tag lang offen stehenlassen. Außerdem war er noch nicht lange tot, wir hatten ihn zügig nach Hause gebracht. Alle anderen habe ich in geschlossenen Särgen beerdigt.
    Bis zur Beisetzung wird der Zinksarg an verschiedenen Orten gelagert, nicht unbedingt im Leichenschauhaus, einfach weil es die nicht überall gibt. In ganz abgelegenen Dörfern werden die Särge manchmal in der Schule aufgebahrt – in der Aula oder sogar in der Kantine. Der Tote steht einfach mitten im Raum, die Menschen kommen und verabschieden sich. Das sind oft kleine, arme Dörfer. Die Leute tun, was sie können.

    Ich persönlich habe nie etwas Negatives erlebt, außer von dieser einen Mutter, und der habe ich meine Nummer gegeben und versprochen zu helfen, so gut ich kann. Sie hat sich später bei mir gemeldet, wir haben telefoniert, ich habe ihr mit den Papieren geholfen. Alle anderen haben auf mich nicht feindselig reagiert. Die Leute verstehen, dass ich nichts dafürkann, dass ich sie nicht umgebracht habe. Wenn ich mit den Menschen rede, habe ich schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind. Sie verstehen, dass es völliger Irrsinn ist. Viele haben versucht, ihre Angehörigen davon abzuhalten, aber sie fahren trotzdem und sterben.

    Auf dem Land sind alle arm

    Zum Leichenschmaus bin ich meistens nicht geblieben. Das ist zu hart, furchtbar. Ich habe alle möglichen Ausreden erfunden, damit ich nicht hinmusste, obwohl man mich eingeladen hat. Das Essen war natürlich gut, aber ich bin meistens gefahren. Nur wenn man mit einer Eskorte zu einer Ehrenwache muss, dann hat man Wehrpflichtige dabei, die regelmäßig mit Essen versorgt werden müssen. Und wo versorgt man sie? Beim Leichenschmaus. Also muss man bleiben und dabeisitzen.

    Das ist ein elender Anblick. Auf dem Land sind alle arm, für ein Begräbnis sammelt das ganze Dorf. Die Gegend ist sowieso schon trostlos, aber jetzt ist sie noch trostloser, weil sie buchstäblich alle Männer von dort wegholen. Burjaten, Jakuten, alle Minderheiten, die in diesem Gebiet leben. Die kommen zuallererst an die Front. Mindestens in zwei der Musterungsbehörden, mit denen ich zu tun hatte, hörte ich, dass sie keine „Mobilisierungsressourcen“ mehr hätten. Im Klartext heißt das, dass es in ihren Verwaltungskreisen keine Männer mehr gibt.

    Ich habe etwa drei Monate [als Totenbegleiter] gearbeitet. Das ist eine harte Erfahrung, Ich bin wenigstens ein Militär und dafür ausgebildet, ich wusste immerhin, was auf mich zukommt. Aber es ist trotzdem grauenvoll. Erst war es sehr schwer, aber dann gewöhnst du dich natürlich dran.

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  • „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGB gehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden. 
    Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.

    Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.

    Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner

    „Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“

    Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.

    Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“ 

    Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.


    Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.

    Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat

    Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.

    Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“

    Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass? 

    Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.

    Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“

    „Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“

    Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“

    Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache. 

    Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen

    In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“

    „Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“

    Mit Kuhmist gegen Proteste

    Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.

    Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.

    Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.

    Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.

    Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“

    Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“

    Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.

    Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?

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  • Alarmknopf im Wahllokal

    Alarmknopf im Wahllokal

    Am 25. Februar werden in Belarus Parlaments- und Kommunalwahlen abgehalten. Es sind die ersten landesweiten Wahlen seit 2020. Damals waren die Präsidentschaftswahlen Auslöser für landesweite Proteste, die nur mit massiver Gewalt niedergeschlagen werden konnten. Seitdem haben zigtausende Bürgerinnen und Bürger das Land verlassen, Tausende wurden eingesperrt, das Regime setzt seine Jagd auf Andersdenkende fort. Wjatscheslaw Korosten gibt für das belarussische Portal Pozirk einen sarkastischen Ausblick auf eine Wahl, bei der sich das Regime noch nicht einmal mehr um den Anschein von Demokratie bemüht.

    So etwas wie die Massenproteste im Sommer 2020 will Alexander Lukaschenko nicht noch einmal erleben. Die Wahlen am 25. Februar sollen vergessen machen, dass das Volk dem Präsidenten bereits ein deutliches „Nein“ gesagt hat. / Foto © IMAGO / Pond5 Images

    Einen Monat vor dem Einheitlichen Wahltag gibt es keinen Zweifel mehr: Die Wahlen zur zweiten Kammer des Parlaments und in die Lokalparlamente werden diesmal maximal ehrlich ablaufen. Die Behörden haben jede Imitation von Demokratie aufgegeben und verbergen nichts mehr: Sie werden die Kandidaten eigenhändig auswählen, die Abgeordneten selbst ernennen und die Wähler nicht unnötig mit der Illusion einer Willensäußerung verunsichern.

    Und wenn jemand meint, von seiner Stimme würde irgendetwas abhängen, oder schlimmer noch, auf die Idee kommt, auf seine Rechte hinzuweisen, dann werden ihn spezielle Leute per „Alarmknopf“ umgehend eines Besseren belehren.

    Nicht, dass es früher so viel anders gewesen wäre. Die Parlamentsabgeordneten wurden auch vorher selektiert und ernannt. Es wäre töricht zu glauben, die finale Liste würde durch die Wähler und nicht durch Alexander Lukaschenko persönlich abgesegnet.

    Allerdings war der Herrscher vor 2020 noch gnädig und ließ seine Opponenten wenigstens auf dem Stimmzettel zu. 2016, mitten im Tauwetter, ließ er sogar zu, dass die gemäßigten Oppositionellen Jelena Anissim und Anna Kanopatskaja ein Mandat als Abgeordnete erhielten. Das änderte zwar nichts daran, dass die zweite Kammer des Parlaments ein Ort ist, wo Entscheidungen von oben im Fließbandverfahren abgesegnet werden, aber immerhin wehte einen Hauch von Pluralismus durch den Sitzungssaal.

    Jetzt sind die Zeiten völlig andere. Es gibt nicht nur keine oppositionellen Kandidaten, es gibt im legalen Bereich gar keine Opposition mehr: Oppositionsparteien wurden aufgelöst, soziale Bewegungen abgeschafft, abweichende Meinungen sind de facto kriminalisiert. Sämtliche nennenswerte regimekritische Politiker sind entweder im Gefängnis oder im Ausland. Den weniger auffälligen wird klargemacht, dass sie besser die Füße stillhalten und nicht aufmucken. Der Bildung eines neuen Parlaments und der regionalen Räte nähert sich Belarus im Stechschritt in Reih und Glied und ohne Widerrede.

    Am 15. Januar war die Nominierung der Kandidaten abgeschlossen. Die Zentrale Wahlkommission meldete munter: Auf 110 Abgeordnetensitze kämen insgesamt 298 Kandidaten – 2,7 auf jedes Mandat. Bei der Wahl 2019 waren es 2,4 Mal mehr – 703 Kandidaten und damit 6,4 pro Sitz.

    Man bleibt unter sich, die Kandidaten sind handverlesen und linientreu. Bereit, Lukaschenko und seinem Kurs zu dienen, ihn zu wahren und zu mehren. Es sind Vertreter der vier regierungsnahen Parteien und der offiziellen Gewerkschaften, Beamte, Gesetzeshüter und Propagandisten. Dazu kommen der derzeitige Leiter der Lukaschenko-Regierung, Igor Sergejenko, und die Ministerin für Arbeit und soziale Sicherheit Irina Kostewitsch.

    Wir halten die Wahlen für uns selbst ab

    Weil den Behörden sonnenklar ist, dass man dem Westen diese „Wahlen“ unmöglich als solche verkaufen kann, machten sie sich nicht einmal die Mühe, OSZE-Beobachter einzuladen. Sie entschieden lieber gleich, nur Vertreter Russlands und anderer befreundeter Länder und Organisationen einzuladen.

    Die Entscheidung, die OSZE aus dem Spiel zu lassen, kommentierte Karpenko offen: „Wir haben an sich kein Problem damit“, sagte der Chef der Wahlkommission. „Aber wozu, wenn wir die Wahlen in erster Linie für uns selbst abhalten?“, fragte er rhetorisch. „Für uns selbst“ – das klingt eher nach einer Betriebsweihnachtsfeier als nach einer nationalen Kampagne, an der theoretisch die gesamte erwachsene Bevölkerung des Landes teilnehmen kann.

    Die OSZE nahm die rührende Direktheit des Beamten zur Kenntnis, schluckte die bittere Pille und brachte dienstfertig ihre „tiefe Besorgnis“ zum Ausdruck.

    Die Silowiki haben indes ihre eigene Rhetorik, und alles deutet darauf hin, dass sich das Innenministerium auf die Wahlen wie auf eine Spezialoperation vorbereitet. Das Ziel ist, die Parlamentsmandate möglichst ungestört an die richtigen Leute zu verteilen.

    Am 13. Januar kündigte Innenminister Iwan Kubrakow im Staatsfernsehen an, jedes Wahllokal mit einem „Alarmknopf“ auszustatten, wie ihn auch Bankangestellte für den Fall eines bewaffneten Raubüberfalls haben.

    Außerdem seien dem Minister zufolge „bereits jetzt in allen Regionen Überwachungskameras im Umkreis der Wahllokale installiert“ worden.

    Am Tag der Wahl, erklärte er weiterhin, würden „nach dem Vorbild von Minsk“, 50 Personen in einem „speziellen Raum“ untergebracht, die (offenbar an den Bildschirmen) jedes Wahllokal in Echtzeit überwachen werden. „Bei der kleinsten Gefahr“, so der General, würden „schnelle Einsatzgruppen“ die diensthabende Polizei verstärken, um eine „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu verhindern.

    Die Silowiki lassen derzeit keine Gelegenheit aus, um über die Wahlen zu sprechen. Am 17. Januar sprach der stellvertretende Innenminister, Gennadi Kasakewitsch, anlässlich eines Besuchs in Usda bei Minsk mit seinen Untergebenen über die Unzulässigkeit „extremistischer Äußerungen“ während der Wahlen. Am selben Tag besprach Karpenko mit Offizieren der Inneren Truppen und der Grenzschutzorgane das „Verfahren für die Organisation der Stimmabgabe von Wehrdienstleistenden und Vertragssoldaten“.

    Ein paar Details: Die Namen der Mitglieder der Wahlkommissionen sind nun geheim – zu ihrer eigenen Sicherheit. Belarussische Staatsbürger, die sich im Ausland aufhalten, dürfen nicht wählen – dort kann man im Notfall ja nicht mal eben eine „schnelle Einsatztruppe“ hinschicken. Und natürlich kann von unabhängigen Beobachtern keine Rede sein.

    Kurzum, es wird alles getan, um sicherzustellen, dass nichts die Aufrechterhaltung der „Verfassungsordnung“ (sprich: der Macht Lukaschenkos und seines Regimes) gefährdet.

    Ist sie denn durch irgendetwas gefährdet? Aus Sicht der Machtvertikale offenbar schon.

    Viele Karrieren hängen davon ab, ob die Wahlen glatt laufen 

    Die Verhaltensauffälligkeiten der Behörden vor den Wahlen lassen sich durch eine ganze Reihe von Gründen erklären. Einer der wichtigsten: Das System, das Lukaschenko errichtet hat, ist zu einer anderen Form der Mobilisierung gar nicht fähig. Ihr politisches Credo scheint zu sein: „Es kann gar nicht genug sein“.

    Die belarussischen Behörden können weder flexibel noch nach dem Prinzip der Effizienz arbeiten. Vor allem nicht in letzter Zeit. Wenn Ideologie – dann in Überdosis und überall, bis in die Kindergärten. Wenn Wirtschaft – dann mit strengster Preisregulierung und Strafverfolgung wegen jedem Cent. Wenn Politik – dann ohne die kleinste Alternative, mit Säuberungen, willkürlichen Entlassungen und Razzien in Betrieben. Die Kahlschlag-Methode ist in den Augen der Staatsdiener eben die effektivste. Sie können gar nicht anders.

    Man könnte es als Rückversicherung betrachten – nicht so sehr der Vertikalen, sondern ihrer einzelnen Vertreter. Für Karpenko ist es im Grunde die erste wichtige Prüfung im neuen Amt. Für Kubrakow ist es ebenfalls der erste Stresstest. Seit 2020 mussten sich viele aus Lukaschenkos Entourage verabschieden, und die Neuen wollen die Fehler ihrer Vorgänger nicht wiederholen. Viele Karrieren hängen davon ab, wie „elegant“ die nächste Wahl verläuft.

    „Das Echo von 2020“ – so lautet eine verbreitete und im Prinzip treffende Erklärung dafür, warum sich das Regime auf die Wahlen wie auf einen Krieg vorbereitet. Die Situation nicht noch einmal erleben wollen, die Traumata loswerden, Rache üben – das sind durchaus logische Motivationen für ein Regime, das bereits am Rande des Abgrunds stand.

    Ja, eine Wahlkampagne gab es nach diesen Ereignissen bereits: das Referendum von 2022. Sie haben es planmäßig durchgeführt und alle gewünschten Änderungen in die Verfassung geschrieben. Aber aus irgendeinem Grund hat das keine Ruhe gebracht. Vielleicht, weil vor dem Hintergrund des russischen Einmarsches in der Ukraine erneut Proteste im Lande ausbrachen. Nach einem ruhigen 2021 gingen viele Menschen auf die Straße, die Zahl der Inhaftierten schnellte wieder in die Tausende, und das Okrestina-Gefängnis öffnete wieder sperrangelweit seine Tore.

    Sogar in der Kirche spricht Lukaschenko von den Wahlen

    Aber die Angst der Machthaber wurzelt natürlich nicht nur in der Vergangenheit. Im Palast auf dem Prospekt der Sieger in Minsk versteht man sehr wohl, dass die Parlamentswahl kein Ereignis ist, das die Gemüter der Bevölkerung übermäßig aufwühlt. Man kann sogar getrost behaupten, dass sich die Belarussen aufgrund der dekorativen Rolle des Abgeordnetenhauses im Staatskonstrukt kaum dafür interessieren. Nicht umsonst wurde im vergangenen Jahr die Beteiligungsschwelle für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer abgeschafft – so mussten die Behörden die Menschen nicht mehr zur Wahlurne treiben.

    Es liegt auf der Hand, dass das Regime die Wahlen von 2024 als Prolog für den Präsidentschaftswahlkampf von 2025 versteht. Eine Generalprobe, die um jeden Preis jedes Lob von oben übertreffen muss.

    Experten sind sich einig, dass Lukaschenko vorhat, zum siebten Mal zu kandidieren, auch wenn er im Oktober 2020 bei dem berühmten Treffen mit politischen Gefangenen im KGB-Gefängnis das Gegenteil versprochen hatte. „Ich gebe euch mein Wort, Jungs“, sollen seine Worte gewesen sein, wenn man dem Pseudo-Oppositionellen Juri Woskressenski glauben darf.

    Doch die Zeit verging, und Lukaschenko hat sein Wort offenbar zurückgenommen. Und nun ist es der ewige Herrscher selbst, der am häufigsten in der Öffentlichkeit über die Präsidentschaftswahlen spricht.

    Sogar als er an Weihnachten eine Kirche in der Agrarstadt Scherschuny besuchte, sprach er von weltlichen Dingen: „Sie werden an uns trainieren. Und wir müssen durchhalten. Sie werden an uns für die kommenden Präsidentschaftswahlen trainieren.“ Die Wahlen seien das Hauptereignis des Jahres, das man „würdig überstehen“ müsse.

    Die Präsidentschaftswahlen werden spätestens am 20. Juli 2025 stattfinden, und in der Zeit bis dahin kann wirklich alles passieren.

    Der Krieg in der Ukraine geht weiter, und niemand weiß, wohin das Pendel ausschlagen wird. Der belarussischen Wirtschaft stehen nach dem Aufschwung im Jahr 2023 voraussichtlich schwierige Zeiten bevor. Auch auf dem vielbeschworenen „weiten Bogen“ [in der Zusammenarbeit mit Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika] sind keine Durchbrüche zu erwarten. Im Westen nichts Neues. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland wächst und droht uns politisch teuer zu stehen zu kommen. Bis zu den Wahlen im Jahr 2025 muss zudem noch eine belarussische Volksversammlung gebildet werden, die dann auch noch einen Vorsitzenden braucht. Das alles macht das Machtsystem zusätzlich kompliziert und erfordert zusätzliche Kontrolle.

    Zu allem Überfluss lässt den Herrscher hin und wieder seine Gesundheit im Stich, was Gerüchte von einer vorzeitigen Übergabe der Macht schürt. Diese werden durch das neue Gesetz über die lebenslange Immunität für den Staatschef und die erneute Beschränkung auf zwei Amtszeiten [für neu gewählte Präsidenten] in der Verfassung genährt.

    Die Zeit rennt, und sie ist allzu sehr verdichtet. Der Preis für Fehler ist mittlerweile so hoch, dass man sich schlichtweg keine mehr leisten darf.

    Entsprechend gibt es keinen Grund mehr, bei den Wahlen einen Wettbewerb zu imitieren. Die Zeiten sind andere.

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  • „Das ist mein Protest gegen die ‚Spezialoperation‘“

    „Das ist mein Protest gegen die ‚Spezialoperation‘“

    Den ganzen Januar über standen in vielen Städten in Russland die Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen, die Mitte März abgehalten wird. Um als Präsidentschaftskandidat registriert zu werden, muss er bis Ende Januar 100.000 Unterschriften in verschiedenen russischen Regionen sammeln (2500 in je 40 Regionen). Nadeshdin war bis dahin nur wenigen bekannt. Seine Biografie lässt keine eindeutigen Schlüsse zu: Er gibt an, in den 1990er Jahren sowohl mit Boris Nemzow als auch mit Sergej Kirijenko zusammengearbeitet zu haben. Nemzow wurde zu einem der erbittertsten Gegner Putins, 2015 traf ihn eine Kugel vor den Mauern des Kreml. Kirijenko sitzt auf der anderen Seite dieser Mauer im Kreml: Als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung ist er heute verantwortlich für die Unterdrückung jeglicher Opposition. Ohne sein Einverständnis dürfte Nadeshdin wohl noch nicht einmal für die Kandidatur kandidieren. Dennoch haben in den vergangenen Wochen selbst Anhänger von Alexej Nawalny dazu aufgerufen, Nadeshdins Kandidatur zu unterstützen. Dass es dabei mehr um einen symbolischen Akt geht, mit dem die Menschen sich selbst und einander gegenseitig Mut machen, zeigt eine Umfrage, die das Portal Holod unter den Schlangestehenden durchgeführt hat.

    „Die Zukunft liegt um die Ecke“: Wie hier in Sankt Petersburg standen in vielen russischen Städten Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen / Foto © Artem Priakhin/imago-images

    Anton, 30, Jekaterinburg
    Ich denke, es geht vor allem darum, dass selbst nach der dunkelsten Nacht irgendwann der Morgen kommt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Veränderungen viel schneller kommen werden, als es scheint – man muss nur daran glauben.

    Leider gibt es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis viele Menschen, die verzweifelt sind und nicht mehr an das Gute oder an die Zukunft glauben. Ich sehe ja auch überall das Negative und verstehe, warum die Menschen apathisch werden. Deshalb war ich ehrlich überrascht, als ich sah, dass Leute mehrere Stunden vor Nadeshdins Kandidatenbüro anstehen: Menschen, die nicht verzweifelt sind, die lächeln und an Veränderungen glauben. Das macht Hoffnung.

    Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung

    Dimitri, 37, Ishewsk
    Ich würde das nicht einmal als Schlange bezeichnen. Ich habe nicht länger angestanden als für einen Burger bei KFC. Außerdem, warum denken viele, dass es sowieso nichts bringen wird?

    Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung. Die Hoffnung auf Liebe, auf eine Karriere, die nicht auf Vitamin B beruht, auf ein Leben in Würde. [In Russland] sind die geblieben, die keine Möglichkeit haben, alles hinzuwerfen. Sie haben sich selbst dazu verdammt, Tag für Tag die Maske der Resignation zu tragen. Wir haben Freunde verloren, den Kontakt zueinander, unsere Heimat – und das, ohne dass wir ihre territorialen Grenzen verlassen hätten.

    Die Unterschrift heute ist die einzige legale Möglichkeit, zu versuchen, etwas zu ändern und dem wunderbaren Russland der Zukunft wenigstens ein kleines Stückchen näher zu kommen.

    Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr und habe eine Selbstzensur entwickelt

    Anna, 31, Jakutsk 
    Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr, ich habe mich damit abgefunden, dass es bestimmte Internet-Dienste nicht mehr gibt, und eine Selbstzensur entwickelt. Aber als ich davon hörte, dass Unterschriften für einen Kandidaten gesammelt werden, der sich gegen den Krieg ausspricht, bin ich sofort auf Nadeshdins Internetseite gegangen. Ich habe mich registriert und bin gleich hingegangen, als sein Büro geöffnet war. Warum?

    Weil es für mich eine Möglichkeit ist, sicher und offen mein „Nein“ zu sagen. Nein zur Politik der Einschüchterung, nein zu menschenverachtenden Gesetzen. Schließlich bin ich russische Staatsbürgerin, ich gehöre dem Volk der Jakuten an – ich kann doch meine eigenen Ansichten haben? Ist es etwa ein Verbrechen, sie zu äußern? Seit Februar 2022 fühle ich mich gelähmt, hoffnungslos und apathisch. Ich hätte mir einfach nicht verziehen, wenn ich nicht meine Unterschrift abgegeben hätte. Selbst, wenn es nichts ändert, wenn alles umsonst ist, heißt es nicht, die Hoffnung stirbt zuletzt? Schon sein Name ist ja sprechend [„Nadeshda“ bedeutet auf Russisch Hoffnung dek].

    Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der ‚militärischen Spezialoperation‘ eintritt

    Wladimir, 49, Ishewsk
    Boris Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der „militärischen Spezialoperation“ eintritt und die Politik des Präsidenten kritisiert. Allein die Art, wie er seine Unterschriften sammelt (mit Unterstützung von Freiwilligen in Hunderten von Städten in ganz Russland und nicht mit Hilfe des Staatsapparats), spricht dafür, dass bei Weitem nicht alle in Russland die aktuelle Politik unterstützen und eine große Nachfrage nach Veränderung besteht. Allein, persönlich dabei zu sein und echte, lebendige Menschen zu sehen, ist schon eine große Sache. Es ist sicher nur der Beginn eines langen Weges, aber wir müssen den ersten Schritt gehen.

    Oleg, 21, Jekaterinburg
    Ich bin mir natürlich der Aussichtslosigkeit bewusst, aber ich habe trotzdem beschlossen, meine Unterschrift abzugeben – es ist wenigstens eine winzige Chance auf Veränderungen. Ich bin froh, meinen kleinen Beitrag geleistet zu haben. Wenigstens habe ich nicht tatenlos zugesehen, sondern getan, was ich konnte – ich habe selbst unterschrieben und meinen Freunden davon erzählt.

    Fürs Demonstrieren könnte ich von der Uni fliegen – und ich will nicht mein Leben ruinieren

    Jaroslaw, 21, Nowosibirsk/Sankt Petersburg
    Was in den letzten zwei Jahren in Russland passiert, gefällt mir ganz und gar nicht. Auf eine Demonstration zu gehen oder etwas Vergleichbares zu tun, das traue ich mich nicht. Dafür könnte ich von der Uni fliegen, und ich will nicht mein Leben ruinieren für etwas, das dem Land ohnehin nicht viel nützen wird. Aber meine Unterschrift für einen vernünftigen Kandidaten abzugeben, ist eine absolut sichere Form des Protests, und so habe ich wenigstens meinem inneren Unmut Ausdruck verliehen.

    Vera, 63, Moskau
    Ich verfolge seit vielen Jahren die Beiträge von Ekaterina Schulmann, und ich stimme ihr zu: Das Volk muss dem Staat seinen Willen zeigen (wie sie sagt, „es muss sich regen“). Jedes Volk hat die Anführer, die es verdient. Man muss jede noch so kleine Gelegenheit nutzen, die das Leben bietet.

    Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind

    Wladimir, 41, Twer
    Mir ist klar, dass es in Russland keine freien Wahlen gibt, dass für Putin so oder so seine 80 Prozent verkündet werden und Nadeshdin ein paar müde Prozent bekommt. Ich habe meine Unterschrift für ihn abgegeben, damit ich mir guten Gewissens sagen kann, dass ich überhaupt etwas in dieser ganzen Finsternis getan habe. Immerhin habe ich auch eine Menge vernünftiger, anständiger Leute gesehen, von denen es in Russland immer noch viele gibt. Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind.

    Regina, 35, Ufa
    Wenn wir alle diese kleine Chance, etwas zu bewegen, wieder einmal verstreichen lassen, wer wird dann je etwas verändern? Das ist immerhin eine legale Form des Protests, man kommt nicht ins Gefängnis dafür. Ich rechne nicht damit, dass sie Nadeshdin zur Wahl zulassen werden. Das ist natürlich schade, aber trotzdem ist es besser, zu handeln, als tatenlos zuzusehen. Ich finde es inspirierend, dass ich nicht alleine damit bin und mein Umfeld so enthusiastisch reagiert hat. Also wird alles gut – wenn nicht jetzt, dann irgendwann.

    Ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin

    Katerina, 35, Ishewsk
    Ich habe in einem verbotenen sozialen Netzwerk Posts von Freunden gesehen, dass Unterschriften gesammelt werden. Ehrlich, ich habe mir Nadeshdins Seite nicht einmal genau angesehen, ich bin einfach hingegangen und habe unterschrieben. Außerdem habe ich meine Familie und Freunde dazu aufgerufen – ein Teil von ihnen hat mitgemacht.

    Ich glaube, ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin.

    Anna, 47, Tomsk
    Für mich ist das eine Form des Protests gegen die „Spezialoperation“, gegen die totale Zensur, gegen die aggressive Außenpolitik gegenüber zivilisierten Ländern, das Abgleiten unseres Landes in ein autoritäres Regime, gegen die Inflation. Also gegen all den Wahnsinn, der nach dem Beginn der „Spezialoperation“ folgte. Ich kann nur hoffen, dass Putin sieht, was die Menschen wirklich von ihm halten, und die Unterschriftensammlung wie ein Hebel wirken kann, der ihn dazu bringt, seine Innen- und Außenpolitik zu ändern. Das ist eine Wunschvorstellung, aber vielleicht wird Nadeshdin ja wirklich genügend Unterschriften sammeln und zur Wahl zugelassen werden?!

    Während ich das schreibe, denke ich, was, wenn Sie gar nicht von Holod sind, sondern nur ein Provokateur? Und ich zensiere mich selbst. In solchen Zeiten leben wir! Die Menschen sind verängstigt. Das muss man auch ändern. Das darf nicht sein.

    Mir gefällt hier alles außer der Regierung – ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen 

    Jewgeni (Name geändert), 21, Ufa
    Ich bin geboren und aufgewachsen unter ein und demselben Präsidenten. Von Jahr zu Jahr wird alles schlimmer. Vor meinen Augen verwandelt sich mein Land von einer Demokratie in einen autoritären Staat, eine Diktatur.

    Deshalb halte ich es für meine Bürgerpflicht, meinem Land zu helfen. Mir gefällt hier alles außer der Regierung, und ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen und in Europa oder der USA meine Freiheit zu suchen. Weil ich glaube und hoffe, dass wir es hier irgendwann sogar noch besser haben könnten als dort.

    Jewgenija (Name geändert), 33, Nowosibirsk
    Für mich ist dies eine Gelegenheit für einen Appell der Anständigen und ein inneres Bedürfnis. Wie das Zwitschern der Spatzen im Winter: „Wir leben! Wir auch!“ Es geht mir schlecht, weil ich nicht offen sagen kann, was ich denke, und mich nicht ohne Risiko für mich und meine Familie über die Missstände empören kann. Ich halte es für nötig, alles zu tun, was nicht verboten ist, um mich selbst zu schützen. Das schließt auch das Wahlrecht ein. Vielleicht werde ich meinem Kind, wenn es irgendwann einmal Politikunterricht in der Schule hat, davon erzählen, wie wir unsere Unterschrift für Nadeshdin abgegeben haben – vielleicht wird das in zehn Jahren ein wichtiges Ereignis gewesen sein? 

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  • „Wir wollen jedes Kind erreichen“

    „Wir wollen jedes Kind erreichen“

    Wladimir Putin setzt auf die junge Generation. Seine Strategen haben bereits Mitte der 2000er Jahre die Jugendbewegung Naschi (dt. Die Unsrigen) ins Leben gerufen. Als deren Funktionäre älter wurden, wurden sie ersetzt durch Iduschtschije Wmeste (dt. Wir gehen gemeinsam). Es folgte Set, „Das Netz“ für die Generation Social Media und natürlich die militaristisch-patriotische Junarmija, die unter der Aufsicht des Verteidigungsministeriums Wehrsport betreibt.

    Das neueste Projekt heißt Bewegung der Ersten, was nicht von Ungefähr an die Pioniere erinnert. Das Portal Verstka hat recherchiert, mit welchen Versprechen Schülerinnen und Schüler zu den Aktionen der Ersten gelockt werden und was sich der Staat die Formung der jungen Generation im Geiste von Patriotismus und Putinismus kosten lässt. 

    Bald soll eine neue Jugendorganisation an allen Schulen in Russland ihre Tätigkeit aufnehmen. Was steckt hinter der Bewegung der Ersten, und wie ist sie aufgebaut?

    Seit zwei Jahren existiert in Russland eine landesweite Organisation für Kinder und Jugendliche – die Bewegung der Ersten (Dwishenije perwych). Aktuell gibt es 30.000 Standorte im ganzen Land und in den besetzten Gebieten der Ukraine. Bis Anfang Herbst waren mehr als eine Million Menschen der Organisation beigetreten, und im laufenden Jahr ist geplant, zusätzlich sieben Millionen Schüler und Studenten als Mitglieder zu gewinnen. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, „jedes Kind zu erreichen“, deshalb sollen Ableger an allen Schulen, in den meisten Universitäten, Colleges, weiterführenden Bildungseinrichtungen und sogar in Unternehmen entstehen. Verstka hat recherchiert, wie die Bewegung Kindern die Staatsideologie einpflanzt und allmählich allgegenwärtig wird.

    „Das sind Pioniere, oder?“

    „Wir haben diese Organisation ins Leben gerufen, um Russland eine große Zukunft zu sichern. Um allen Generationen ein würdiges und glückliches Leben zu ermöglichen. Um die Welt zum Besseren zu verändern. Wir sehen uns als Pioniere unseres Vaterlandes.“ Neun Schüler einer Schule in Lipezk tragen auf der Bühne der mit Luftballons in den Farben der Trikolore geschmückten Aula das „feierliche Gelöbnis“ der Aktivisten der Bewegung der Ersten vor. „Unsere Mission ist es, für Russland zu sein, Menschen zu sein, zusammen zu sein, in Bewegung zu sein, die Ersten zu sein.“

    Der offiziellen Legende nach geht die Gründung einer russischen Kinder- und Jugendbewegung (RDDM), der Bewegung der Ersten auf Diana Krassowskaja zurück – eine Schülerin aus Sewastopol, die 2014 von Luhansk auf die Krim gezogen ist. Wladimir Putin „unterstützte“ die Idee. Im Juli 2022 unterschrieb der russische Präsident einen entsprechenden Erlass und übernahm persönlich den Vorsitz im Aufsichtsrat der Bewegung. Laut dem Erlass können sich der Bewegung Mitglieder zwischen 6 und 18 Jahren anschließen sowie Erwachsene (einschließlich volljährige Studenten), die als Mentoren fungieren und Veranstaltungen organisieren können.

    Der Name Bewegung der Ersten wurde auf der ersten Vollversammlung der Organisation im Dezember 2022 gewählt – allerdings erst im dritten Anlauf. Die anderen Vorschläge waren: Pioniere, Gagarin-Bewegung, Neue Generation und Großer Wandel. Nachdem die Wahl gefallen war, soll Putin gefragt haben: „Die Ersten – was soll das heißen? Das sind Pioniere, oder?“ Woraufhin die Vize-Premierministerin Tatjana Golikowa sagte: „Ja. Früher hießen die so.“ Und obwohl der Präsident vorschlug, den Namen noch einmal zu „überdenken“, blieb es dabei.

    Vorstandsvorsitzender der russischen Kinder- und Jugendbewegung (RDDM) wurde Grigori Gurow, der seit 2017 in der föderalen Agentur für Jugendangelegenheiten gearbeitet hatte und seit 2021 stellvertretender Minister für Wissenschaft und Hochschulbildung war.

    Der neuen Bewegung wurden die Russische Schülerbewegung (Rossiiskoje dwishenije Schkolnikow RDSch) und andere große Kinderverbände angegliedert. Dazu gehören die Junarmija (dt. Junge Armee), der Wettbewerb Großer Wandel, die Nowosibirsker Union der Pioniere und die Pioniere von Baschkortostan, die alle zu Mitbegründern der RDDM wurden.

    Die Bewegung der Ersten entstand also nicht aus dem Nichts. Die Russische Schülerbewegung gab es in Russland bereits seit 2015. Sie wurde auf eine Initiative von Wladimir Putin hin gegründet und widmete sich der „Erziehung und Lebensgestaltung“ von Schülern auf Basis des „Wertesystems der russischen Gesellschaft“. Finanziert wurde die Bewegung von der Föderalen Agentur für Jugendangelegenheiten Rosmolodjosh. Mit der Gründung der Bewegung der Ersten wurde das alte Format aufgelöst.

    Die militaristisch-patriotische Bewegung Junarmija untersteht formell nun auch der neuen Organisation. Um in die Bewegung der Ersten einzutreten, müssen sich die Mitglieder jedoch gesondert registrieren. In vielen Regionen sind die Standorte der Junarmija weiterhin autonom, auch wenn sie anlässlich militaristisch-patriotischer Veranstaltungen mit der neuen Bewegung zusammenarbeiten.

    Sie pflanzen Bäume und sehen eine Videobotschaft von Putin

    Lisa ist 15. Seit der zweiten Klasse ist sie Mitglied einer Jugendbewegung im Gebiet Krasnojarsk. Sie führt biologische Untersuchungen durch und tritt bei Konferenzen auf. 2022 erzählte ihr der wissenschaftliche Leiter von dem Forum Ökosystem, das auf der Halbinsel Kamtschatka stattfand. Dort konnten Mitglieder der Bewegung der Ersten teilnehmen, die das Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen hatten. Die Schülerin bewarb sich und wurde eingeladen. Im Auswahlgespräch gab sie an, dass sie sich seit ihrer Kindheit für Biologie und Ökologie interessiert.

    Bei der Eröffnung wurde eine Ansprache von Wladimir Putin übertragen, als Redner waren der [Erste stellvertretende – dek] Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Kirijenko und andere Staatsbeamte eingeladen. Die Vorträge handelten jedoch nicht nur von Ökologie. „Die Redner kamen, um mit uns über die Welt zu sprechen, über das, was jetzt im Land passiert. Sie drückten ihre Unterstützung für unsere Bewegung aus und motivierten uns, weiterzumachen“, erinnert sich Lisa im Gespräch mit Verstka. „Sie sagten, dass jetzt nicht die günstigste Zeit für das Land sei, und dass man auf der Hut sein müsse und aufpassen, was man sagt: Man weiß ja nie, wer vor einem steht. Sie sagten auch, dass im Internet alle möglichen Leute unterwegs wären und man nicht auf jeden hören sollte, weil viele Falschinformationen verbreitet würden.“

    Die am weitesten verbreitete Form der Arbeit der Bewegung der Ersten sind Aktionen, die anlässlich staatlicher Feiertage durchgeführt werden. Hier: Hissen der russischen Flagge am Tag des Wissens in Moskau, im September 2023 / Foto © Konstantin Kokoshkin/IMAGO, Russian Look

    Inhaltlich umfasst die Bewegung der Ersten insgesamt zwölf Bereiche: Bildung und Wissen; Wissenschaft und Technik; Arbeit, Beruf und Wirtschaft; gesunde Lebensführung; Kultur und Kunst; Freiwilligenarbeit und ehrenamtliches Engagement; Sport; Medien und Kommunikation; Diplomatie und internationale Beziehungen; Tourismus und Reisen; Ökologie und Umweltschutz; Patriotismus und historisches Gedächtnis. Zu jedem Bereich initiieren die Aktivisten landesweite, regionale und schulische Projekte, Festivals, Konzerte, Wettbewerbe und Contests – im Programm der Bewegung füllen die möglichen Formate zwei ganze Seiten.

    Auch wenn nicht alle Bereiche in direktem Zusammenhang mit Patriotismus und Wehrerziehung stehen, definiert das Programm der Bewegung als Ziele ihrer Bildungsarbeit „Formulierung und Verteidigung der Interessen des Vaterlandes, Selbstverwirklichung und zivile Bildung von Kindern und Jugendlichen im Kontext der russischen Identität“. So lief beispielsweise den ganzen Sommer über die Kampagne Ein Buch für einen Freund: Schüler sammelten ihre Lieblingskinderbücher und schickten sie zu Beginn des Schuljahres an Schulen in den [okkupierten] Regionen Cherson und Saporishshja und in die sogenannten Volksrepubliken DNR und LNR.

    „Das Ziel der Bewegung der Ersten ist Patriotismus“, erklärt ein Gesprächspartner von Verstka freiheraus, der als Erziehungsberater für 17 Schulen im Föderationskreis Nordwest verantwortlich ist. „Indem man die Wissenschaft voranbringt, verbessert man den Status seines Landes. Alles ist miteinander verknüpft. Es gibt keine Erziehung ohne Bildung und keine Bildung ohne Erziehung.“

    Die Bewegung der Ersten verfolgt jedoch auch offen militaristische Projekte. Zum Beispiel die militärischen Ausbildungscamps Der Verteidiger als Mentor, in denen junge Teilnehmer der Militärischen Spezialoperation Kinder unterrichten. Oder Sarniza 2.0 – eine moderne Version des seit Sowjetzeiten bekannten militärisch-patriotischen Rollenspiels. Nach Angabe von Grigori Gurow lernen die Teilnehmer, wie man Drohnen steuert, mit Funkgeräten umgeht und Fakes entlarvt.

    Die am weitesten verbreitete und einfachste Form der Arbeit der Bewegung der Ersten sind jedoch Aktionen, die anlässlich staatlicher Feiertage durchgeführt werden. Am Tag des Vaterlandsverteidigers wurden Schulkinder beispielsweise aufgefordert, Briefe an russische Armeeangehörige zu schreiben, und am Tag der russischen Flagge sollten sie die Trikolore zeichnen. Bei einer anderen Aktion mit dem Namen Wir sind Bürger Russlands erhalten Jugendliche, die ihr 14. Lebensjahr vollendet haben, ihre Pässe an einem besonderen Datum (zum Beispiel am Tag Russlands am 12. Juni oder zum Tag des Wissens am 1. September) und in einer feierlichen Atmosphäre: mit gehisster Flagge und zur russischen Hymne.

    Daniil Ken, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Aljans utschitelei, ist der Meinung, dass auch der Sinn scheinbar neutraler Aktionen und Projekte letztlich auf Ideologiearbeit mit den Schülern hinausläuft. „Manche durchschauen das vielleicht nicht“, sagt er zu Verstka, „manche lassen sich vielleicht davon täuschen, dass ziemlich viele der Aktivitäten quasi unpolitisch sind. Sie spielen ja auch Volleyball, gehen ins Museum, pflanzen Bäume. Aber wie funktioniert das: Zuerst gibt es ein Event zu einem ganz neutralen Thema, und dann streuen sie eine Videobotschaft von Putin mit Glückwünschen zum Jubiläum ein. Alles, was mit dem Staat oder der Geschichte zu tun hat, zielt auf Loyalität“.

    Die Illusion eines sozialen Aufstiegs

    Wassilissa aus der Oblast Orenburg geht in die zehnte Klasse. Bei der Bewegung der Ersten ist sie seit einem halben Jahr. Es sei ihr sehr wichtig gewesen, Mitglieder aus anderen Regionen kennenzulernen, erzählt sie Verstka. Wassilissa hat im Wettbewerb Universitärer Nachwuchs (Universitetskije smeny) gewonnen und bekam eine Reise nach Moskau bezahlt, wo sie nicht nur andere Schüler und Schülerinnen, sondern auch Prominente traf.      

    Wassilissa möchte Journalistin werden und bat die Organisatoren des Projekts, am Moskauer Kulturinstitut Marketing-Team für Social Media mithelfen zu dürfen. „Ich habe bei den meisten der Veranstaltungen die Beleuchtung gemacht“, erzählt sie stolz. „Jetzt bin ich im Block für Öffentlichkeitsarbeit und würde gern in den sozialen Medien mithelfen, wenn ich darf. Ich habe große Pläne, möchte mehr über die Entstehung der Bewegung erfahren und meine Kenntnisse vertiefen.“

    Um der Bewegung der Ersten beizutreten genügt es, sich auf deren Website zu registrieren, als Teilnehmer oder als Mentor (diese Option steht Erwachsenen offen – Pädagogen, Eltern, volljährigen Studierenden), dort einen Fragebogen auszufüllen und einen Aufnahmeantrag hochzuladen. Laut Tatjana Kossatschjowa, der Vorsitzenden der Zweigstelle Rjasan, wird in der Regel jedes Kind aufgenommen.

    Ihr zufolge liegt die Motivation der Kinder darin, Neues zu lernen, sich weiterzubilden, kostenlos in andere Regionen zu reisen und dort die allrussischen Kinderzentren zu besuchen. Wer an Freiwilligenprojekten teilnimmt, bekommt ein Freiwilligenbuch, anhand dessen ihm an manchen Hochschulen Zusatzpunkte angerechnet werden (gleichwertig mit einem goldenen GTO-Abzeichen und einer guten Note für die Abschlussarbeit). Außerdem können die Sieger des Wettbewerbs Großer Wandel (Bolschaja peremena) auf Staatskosten an russischen Hochschulen studieren und bei der Aufnahmeprüfung Zusatzpunkte erhalten. Umgekehrt können Studierende, die Mitglieder der Bewegung sind, zusätzliche Bildungsangebote nutzen und dafür Bildungsnachweise nach staatlichem Muster erhalten. 

    Daniil Ken, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft  Aljans utschitelei merkt an, dass die Bewegung der Ersten „die Illusion eines sozialen Aufstiegs für die Jugend“ erzeuge. Wer sich ausprobieren möchte, bekomme hier die Gelegenheit. Die Kinder könnten an Medienprojekten teilnehmen, dem Schulkomitee beitreten und den Leiter der Bezirksverwaltung treffen. Eine Funktion in der Bewegung bekämen aber nur einige Wenige anvertraut, sagt der Experte. 

    „Welche Perspektiven haben Oberschüler in einer Kleinstadt? Sie wissen, wie niedrig die Gehälter sind, sie kennen den Zustand der Betriebe. Ihre Aussichten sind nicht allzu rosig. Und da kommt der Staat auf sie zu und sagt: ‚Alles gut, das wird schon. Ihr werdet Karriere machen, Anerkennung bekommen und Status. Mit uns gemeinsam wachsen. Wir sind stark, stell dich unter unsere Fahne, dann wird alles gut.‘ Auf diese Weise versuchen sie, mögliche Proteststimmungen bei Oberschülern oder Studierenden einzudämmen“, sagt Ken.   

    Wie viel lässt sich der Staat die Bewegung der Ersten kosten?

    Die Bewegung hat eine föderale, eine regionale, eine lokale und eine Ebene in den Schulen und Hochschulen. Auf föderaler und regionaler Ebene gibt es Koordinationsräte. Auf föderaler Ebene hat Kirijenko den Vorsitz, auf regionaler jeweils das Oberhaupt der Region. Des Weiteren sitzen Vertreter regionaler Behörden aus den Bereichen Kultur, Sport, Wirtschaft, Medien, Bildung und Jugendpolitik in den Koordinationsräten. 

    Die allrussischen Projekte der Bewegung der Ersten sowie die Gehälter der Mitarbeiter des zentralen Apparats werden aus dem staatlichen Budget sowie mit Zuschüssen aus unterschiedlichen Haushaltsebenen finanziert. Grigori Gurow zufolge kostet die Bewegung vier Milliarden Rubel jährlich [etwa 41 Millionen Euro – dek]. Zudem werden den regionalen Zweigstellen im Wettbewerbsverfahren Subventionen zugesprochen, laut Gurow in Höhe von rund zehn Milliarden Rubel jährlich [mehr als 100 Millionen Euro – dek]. 6000 Menschen sind insgesamt in der Organisation beschäftigt, sagt er. 

    Schüler werben Schüler 

    Darja aus Omsk ist 15 Jahre alt. Vor drei Jahren ist sie der Bewegung der Schüler Russlands beigetreten und hat bereits am ersten Kongress der Bewegung der Ersten 2022 teilgenommen. Danach überzeugte sie sechs weitere Kinder aus ihrer Schule, Aktivisten der Bewegung zu werden. Sie baten ihre Schulleitung, an ihrer Schule eine Primärzelle zu registrieren, gründeten einen Sowjet perwych (dt. Rat der Ersten) und treffen sich seitdem alle paar Monate, um zukünftige Projekte zu planen. Derzeit entsteht an Darjas Schule zum Beispiel ein Naturfreunde-Verband. 

    In vielen Regionen wurden an den meisten Schulen und Colleges Vertretungen eröffnet. Jeder Pädagoge kann eine solche Zelle leiten. Meistens übernehmen diese Rolle jedoch die pädagogischen Berater, erfährt Verstka von einem Kurator des Föderationskreises Nordwestrussland. Das ist ein neues schulisches Amt, das 2023 russlandweit in allen Bildungsstätten eingerichtet wurde. Pädagogischer Berater kann werden, wer an der Ausschreibung Navigator der Kindheit (Nawigator detstwa) teilnimmt, von denen es bereits drei gab, und die jedes Jahr im Frühling neu ausgeschrieben wird. In der Stellenbeschreibung steht, dass man in dieser Funktion für das Zusammenspiel zwischen Schulen und gesellschaftlichen Organisationen zuständig ist. 

    Nicht nur an Schulen, auch an Hochschulen plant die Bewegung über hundert neue Zellen. Primärzellen entstehen an Colleges, technischen Lehranstalten und Weiterbildungsinstituten: an Sportschulen, in Kulturpalästen, Jugendzentren – und sogar in Unternehmen. Mitarbeiter all dieser Organisationen, aber auch Eltern von Studierenden melden sich als Mentoren. So führen etwa Kadetten der Militärakademien militärisch-patriotische Projekte an und Studierende der Medizin leiten ein Erste-Hilfe-Projekt. „Die Primärzellen bewegen sich über den Rahmen der Schulen hinaus, um jedes Kind zu erreichen“, sagt Tatjana Kossatschjowa, Vorsitzende der Zweigstelle Rjasan.  

    Grigori Gurow betonte mehrmals, dass die Teilnahme an der Bewegung der Ersten nicht erzwungen werden darf. Gemäß Artikel 34 des föderalen Bildungsgesetzes muss die Teilnahme an jeglichen gesellschaftlichen Vereinigungen im Rahmen der Tätigkeit von Bildungseinrichtungen freiwillig erfolgen. Formal entspricht die Tätigkeit der Bewegung an Schulen einem außerschulischen Angebot und ist nicht Teil des Lehrplans. 
    Daniil Ken berichtet Verstka allerdings, dass bei der Lehrergewerkschaft  bereits Beschwerden von Eltern eingetroffen seien, deren Kinder zu Veranstaltungen der Bewegung mitgenommen wurden, obwohl sie keine Mitglieder sind. „Manchmal macht die ganze Klasse oder Schulstufe irgendeine Aktivität, die unter der Schirmherrschaft der Bewegung und mit ihrer Symbolik stattfindet“, erzählt Ken. „Die Ressource Kind ist super-verfügbar. Man braucht nur ins Sekretariat zu gehen und zu sagen: ‚Morgen legen alle neunten Klassen am Grab des unbekannten Soldaten Blumen nieder oder kommen zum Schaman-Konzert in die Aula‘ – dann stehen alle bereit.“

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  • „In jedem Haus ein Toter“

    „In jedem Haus ein Toter“

    Am 5. Oktober 2023 hat die russische Armee das Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw angegriffen. Die Rakete traf eine Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten aus dem Dorf. 59 Menschen kamen ums Leben, alle Opfer waren Zivilisten. Journalist Schura Burtin war am Ort der Tragödie und hat für Cherta eine Reportage über die Toten und Überlebenden von Hrosa geschrieben.

     
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Frühmorgens, mein Kollege und ich gehen gerade in unser Hotel in Charkiw, da gibt es plötzlich einen lauten Knall. Dann einen zweiten, so dicht nacheinander, dass sie fast zu einem verschmelzen. Die Fensterscheiben zittern, wir stürzen nach draußen und sehen unseren Taxifahrer, der ganz benommen neben seinem Auto steht. Wir wissen noch nicht, wo es eingeschlagen hat, also unterhalten wir uns weiter mit der Dame an der Rezeption, frühstücken in Ruhe. Als wir schließlich an die Einschlagstelle kommen, ist die Straße schon mit Polizeiband abgesperrt. Wir sind mitten in Charkiw, in seiner schönen, beschaulichen Altstadt. Auf dem Bürgersteig liegen die zerborstenen Fensterscheiben der umstehenden Häuser.

    Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt vor sich hin

    Rettungskräfte räumen grad die Trümmer aus dem Loch, das die Rakete in das zweistöckige Backsteingebäude geschlagen hat. Das Gebäude und die Häuser daneben wirken ohne Fenster unbewohnt und verlassen. In Wirklichkeit wurden die Opfer bereits mit Krankenwagen weggebracht. Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt geistesabwesend vor sich hin. In den Taschen sind irgendwelche Sachen. Auf die Frage, wohin sie fahre, sagt sie schluchzend: „Nach Amerika. Sie sehen ja, hier geht es nicht. Gut, dass ich diese Tasche gekauft habe, eine gute Tasche ist das …“ Sie wird offenbar von einem Fluchtinstinkt getrieben. Wenn im Nachbarhaus eine Iskander-Rakete einschlägt, ist man nur noch Instinkt. Während wir mit ihr sprechen, ziehen die Helfer die Leiche eines zehnjährigen Kindes aus den Trümmern.

    Die zweite Rakete hat hundert Meter vom Puschkin-Park entfernt eingeschlagen. Die Autos sind schon ausgebrannt, die Opfer weggebracht, die Iskander-Splitter auf einer Plane ausgebreitet. Die Sonne der russischen Dichtung blickt von seinem Podest in einen Krater von fünf Metern Durchmesser. Von den Balkonen der umliegenden Häuser sind nurmehr Fetzen übrig, wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen. Ein paar Dutzend Bewohner wurden im Schlaf lediglich von Glassplittern getroffen.

    Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten auf einen Berg von Leichen stürzen?

    Als mir am Vorabend ein Freund erzählte, dass in einem Dorf bei Charkiw 50 Menschen getötet wurden, wurde mir übel. Ich dachte daran, hinzufahren, aber dann fragte ich mich, wozu eigentlich. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten wie die Aasgeier auf einen Berg von Leichen stürzen? Wenn jemand imstande ist, schockiert zu sein, dann kann er das auch ohne uns; Reportagen machen das Geschehene nur noch alltäglicher.

    Unser Fixer rast über die Autobahn – wir wollen vor den anderen Journalisten in Hrosa ankommen. Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man jemanden mit Fragen löchert, der gerade einen nahen Menschen verloren hat. Soll man sich etwa erkundigen, was der Tote noch gestern gemacht hat? Die Soldaten beim Kontrollposten lassen uns ohne Weiteres passieren: Die Interessen des Präsidialbüros decken sich heute mit unseren.

    Als wir ankommen, sind bereits mehr Kameras als Menschen da. Der Ort ist winzig, es gibt nur drei Straßen. Grüppchen von jungen Psychologinnen in blauen Westen gehen herum und sprechen leise mit den Dorffrauen. Außerdem sieht man: Polizisten, UNO-Mitarbeiter in weißen Jeeps und ein paar Freiwilligen-Brigaden. Die Journalisten versuchen, einander nicht in die Quere zu kommen; wir scharen uns um die nächste verweinte Frau und stellen ihr ein und dieselben dummen Fragen: „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, „Warum waren Sie nicht da?“, „Was denken Sie, warum die das getan haben?“ Dabei versuchen wir, uns möglichst so hinzustellen, dass wir nicht in einen fremden Bildausschnitt geraten. Was kann man einen am Boden zerstörten Menschen noch fragen, wenn man ihm aussagekräftige Details entlocken muss?

    Gestern, am Donnerstagmorgen, hatten sich Menschen hier zur Totenfeier für Andrij Kosir zusammengefunden, ein Dorfbewohner, der an der Front gefallen war. Vor den Trümmern sitzen drei alte Männer. Der eine, der am wichtigsten aussieht, hat einen schweren kantigen Kiefer und ein grobes, grimmiges Gesicht. Auf die Frage nach seinem Namen reagiert er misstrauisch: „Kolja …“ – „Und mit Nachnamen?“ – „Fomenko …“ Dann klären uns die drei über die Umstände auf.

    Es war dem Sohn wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden

    „Andrij war in Polen, er war immer irgendwo zum Arbeiten. Als der Krieg ausbrach, sind er und [sein Sohn] Dennis sofort zurückgekommen und [an die Front] gegangen. Sie haben im selben Schützengraben gekämpft. Dann hat es sie erwischt – der Vater war sofort tot, er [der Sohn] hat überlebt. Er ist erwachsen, über zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Andrij wurde in Dnipro beerdigt, sein Sohn kämpfte noch ein halbes Jahr. Als er sein Geld bekommen hat, beschloss er, den Vater herzuholen. Der Vater war also gefallen, jetzt ist auch der Sohn tot, seine Frau auch, und die Schwiegermutter, und sein Schwager Hrib auch, alle tot …“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Dennis hatte den Tod seines Vaters mitangesehen. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden. Um mit der quälenden Frage abzuschließen, ob er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er steckte den gesparten Kampfsold in die Feier. Die Organisation übernahm Andrijs Schwager Hrib, er kaufte ein, kümmerte sich um die Räumlichkeiten in dem Café, das seit Kriegsbeginn geschlossen war, karrte Gasflaschen heran und engagierte ein paar Frauen, die beim Kochen halfen. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Tage, rund einhundert Gäste wurden erwartet. Offenbar sehnten sich in diesen schwierigen Zeiten viele Dorfbewohner nach einem Gefühl von Gemeinschaft, es kamen fast alle.

    „Hrib hat schon vor Wochen eingeladen“, sagt Kolja Fomenko. „Das ganze Dorf, ob Säufer oder nicht. Hrib war leitender Ingenieur hier im Büro, in der ehemaligen Kolchose. Ich hab ihn nie gemocht, diesen Schwager, er hat nie gegrüßt. Darum bin ich nicht hingegangen.“

    „Haben Sie die Explosion gehört?“

    „Was heißt gehört, ich bin plötzlich über den Boden gekugelt wie Tscheburaschka. Ich denk, was ist denn das. Ich wusste ja, dass meine Frau dort war. Ich rannte hin, aber hier lagen nur noch Leichen, Fleischfetzen, eine menschliche Leber, sowas hab ich noch nie gesehen. Die hatten da ja Gasflaschen, zum Kochen. Meine Frau wurde nicht gefunden. Das ist das Schlimmste, wenn man nicht mal was zu beerdigen hat …“ Sein grobes Gesicht wird von einem Heulkrampf verzerrt, wie bei einem kleinen Kind. Und in diesem Moment sehe ich tatsächlich das Kind in ihm, das jeder von uns ein Leben lang bleibt.

    Ich versuche, etwas über sein Leben herauszufinden. Er sagt, dass er nicht von hier stammt, sondern aus Luhansk, dass er früher einen Tanklaster gefahren ist, auch nach Russland, dann zwanzig Jahre lang Taxifahrer war (daher wohl seine grimmige Mine). Als sie in Rente gingen, beschlossen sie, in die Heimat seiner Frau zurückzukehren: „Also sind wir hergekommen, hier gibt es ja Land, man kann für sich selbst sorgen. Ich hab ein paar Schweine gehalten, meine Frau hatte den Garten, sie hat alles eingelegt, lauter Konserven, Marmelade und so, diesen ganzen Mist eben …“

    „Was hat Ihre Frau gestern gemacht?“

    „Morgens hat sie Bliny mit Quark gebraten. Ich sag zu ihr: ‚Was machst du hier für einen Wirbel?‘ Und sie: ‚Ich muss doch gleich zur Feier.‘ Also hat sie sich beeilt und ist mit den Nachbarn los. Mein Nachbar Tolik ist mit, wir wohnen Zaun an Zaun. Sie wollte mich noch überreden, aber ich hatte keine Lust. Ich kannte da keinen, warum soll ich mich da durchfüttern lassen?“

    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Offenbar hat diesem Mann die Tatsache das Leben gerettet, dass er sich hier immer noch wie ein Fremder fühlt.

    „Und was haben Sie vorgestern gemacht?“, bohre ich weiter.

    „Na, das Gleiche wie immer, Unkraut gejätet, Tomaten ausgerissen, Äpfel gepflückt, gegessen, ausgeruht vor der Glotze. Nach dem Mittagessen zu den Hühnern, dies und das, gerecht, Laub zusammengefegt.“

    „Und Ihre Frau?“

    „Na, auch das Gleiche wie immer: gekocht, gewaschen, geputzt.“

    „Was war sie von Beruf?“

    „Sie hat vierzig Jahre lang im Lokwerk von Luhansk geschuftet, ihre Rente verdient, jeden Groschen umgedreht. Und jetzt? Alles für’n Arsch, alles umsonst … Ich bin runter in den Keller – alles vollgestopft bis obenhin, wozu? Ich kann das doch nicht essen …“

    Kolja weint wieder. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist für ihn, die Konserven zu sehen, die seine Frau hinterlassen hat, und beim Essen zu wissen, dass sie nie wieder etwas einmachen wird.

    Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen

    „Warum ist das passiert?“, fragt einer der anderen Journalisten.

    „Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen. Obwohl da gar keine anderen Soldaten waren.“

    Es gibt zwei Versionen. Das ist die erste, die naheliegende: Die Russen haben gehört, dass ein Militärangehöriger beigesetzt wird, und dann beschlossen, ein paar von ihnen zu töten. Die zweite Version ist, dass sie einfach auf eine Stelle gezielt haben, wo es viele Mobiltelefone gab. An ein schreckliches Versehen glaubt hier niemand. Ich habe ja erst heute Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee eine Iskander-Rakete dazu benutzt, einen zehnjährigen Jungen im bunten Pyjama und seine Großmutter zu töten. Und gleich danach noch eine, um eine friedliche Straße mitten in Charkiw zu verwüsten.

    ***

    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. Ich will da nicht hin. Mein Kollege erzählt, dass unser Fixer einen Arm gefunden hat, den er uns zeigen will.

    „Das war eine Szene – schrecklich und komisch zugleich“, sagt der Kollege philosophisch. „Die Rettungskräfte sammelten die menschlichen Überreste ein und wussten nicht, wohin damit. Also legten sie alles in eine große Bratpfanne, die sie dort gefunden hatten. Und alle machten Fotos davon. Dann fiel ihnen auf, dass das ziemlich makaber aussieht, und baten: ‚Die Bilder, die sie grad gemacht haben, bitte verwenden sie die nicht. Wir legen das woanders hin, dann können Sie neue Fotos machen …‘“

    ***

    Das Gebäude, das den Trümmern des Cafés am nächsten liegt, ist das besagte Büro des Landwirtschaftsbetriebs, der ehemaligen Kolchose. Die Fenster und Türen sind bei der Explosion zerborsten, das Dach ist eingestürzt. Im Vorgarten sehe ich drei Frauen stehen, die die Ruine anstarren, als wollten sie etwas verstehen. Eine der Frauen ist Tamara. Sie ist Buchhalterin im Betrieb und hat überlebt. Ihre beiden Kolleginnen waren bei der Trauerfeier und sind tot.

    Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks

    „Wir waren auf der Arbeit. Ich wollte auch [zu der Feier] gehen, aber ich habe eine bettlägerige Großmutter. Ich war noch schnell bei ihr, um sie umzuziehen – und war dann spät dran“, erinnert sich Tamara.

    „Und ich hab noch die Kuh gemolken. Da fragt meine Nachbarin: ‚Was ist, Valentina, kommst du auch mit?‘ Und ich: ‚Nee, Ira, heut nicht, ich geh nicht.‘ Sie wollte unbedingt hin, das war ja ihr Kollektiv, da muss man zusammenhalten.“

    „Wir hatten eine Betriebsprüfung, ich wollte nachmittags noch was durchrechnen.“

    „Und ich sag noch zu ihr: ‚Olja, bleib doch hier und ruh dich aus!‘ Sie war immer so nervös, so verantwortungsbewusst, was soll man da sagen.“

    Plötzlich merke ich, dass die anderen beiden Frauen Mutter und Tochter sind. Die Tochter, eine füllige junge Frau, bricht in Tränen aus. Ich frage: „War jemand von Ihren Verwandten dabei?“, aber sie schüttelt den Kopf. Ich wundere mich, dass sie so bitter um fremde Menschen weint.

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Die Tür geht wohl nicht mehr zu?“, fragt die ältere Frau Tamara und deutet auf das ramponierte Türschloss.

    „Nein, wir haben den halben Tag rausgeholt, was wir tragen konnten. Da ist ja die ganze Buchhaltung drin, wir sind dafür verantwortlich. Wir sammeln die Papiere ein und weinen: ‚Hrib, Hrib, was hast du nur angerichtet!‘ Einen Menschen wollten wir beerdigen und begraben jetzt das ganze Dorf. Die, die gleich tot waren, wussten zum Glück gar nicht, was da passiert. Aber die, die noch lange im Sterben lagen …“

    „Andrij ist wiedergekommen und hat alle mitgenommen …“

    Ich spüre, dass sich vor den Frauen ein Abgrund aufgetan hat. Die Todespforten haben sich geöffnet, und der zurückgekehrte Andrij Kosir hat ihre halbe Welt dorthin mitgenommen.

    Die Frauen sagen, sie hätten seit gestern nicht mehr geschlafen: „Ich habe einfach Angst zu Hause“, gesteht Tamara. „Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig, ich weiß nicht, wohin mit mir. Wir werden ja immer weniger, die meisten sind in alle Himmelsrichtungen davon …“

    Deshalb kommt Tamara immer wieder zu ihrem zerstörten Büro, hält sich am Gartentor fest und starrt auf die Stelle, wo früher das Café war.

    Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen

    „Wie hießen die beiden?“

    „Irina und Galina“, antwortet Tamara widerwillig.

    Ich spüre, dass sie sagen will: Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung, wie sie hießen? Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks. Ich versuche, aus ihr herauszukriegen, wie die Verstorbenen gelebt, was sie gemacht haben.

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Lebten ein ganz normales Leben. Was Buchhalterinnen eben so machen. Auf dem Feld draußen arbeiten Mechaniker, wir sammeln die Berichte ein, teilen Treibstoff zu, je nach dem, wer was braucht.“

    „Könnten Sie von einer konkreten Person erzählen?“

    „Wie, konkret? Alle lebten einfach ihr Leben. Standen am Zaun und unterhielten sich: Was gibt’s Neues, brauchst du irgendwas – so was halt. Die jungen Mädels hatten ihren Freundeskreis, wir hatten unseren. Partys gefeiert haben sie, geträumt, Reisen gemacht, fremde Länder bestaunt und uns dann davon erzählt. Auch die Besatzung haben wir friedlich durchgestanden, niemand war niemandem Feind. Und dann innerhalb einer Minute …“

    „Vielleicht könnten Sie von einer Person genauer erzählen?“

    „Twerdochleb Iryna, Chaibako Tetiana, Pantelejewa Iryna, Taran Halja, Tanja, die Frau von Andjussowytsch Mykola, ist auch dahin … Tut mir leid, ich kann das nicht.“

    „Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen.“

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Das wird sie nicht zurückbringen. Man kann nicht nur von einem konkret erzählen, man muss von allen konkret erzählen. Aber an alle zu denken, das ist schwer …“

    Offenbar versucht die Frau zu erklären, dass die Menschen nicht getrennt voneinander existieren, und das ganze verlorene Leben in fünf Minuten erzählen, das kann sie nicht.

    ***

    Wir sehen einen Mann mittleren Alters in Jogginghosen und Badelatschen. Er geht leicht wankend auf das Café zu, das es nicht mehr gibt.

    „Ich will mir mal ansehen, wie meine Frau gestorben ist“, lallt er. „Sonst nichts. Sonst einfach gar nichts. Was soll ich denn tun? Mich einfach total volllaufen lassen wie ein Russe …“, er sieht uns an, „wie ein Ukrainer – und drei Tage nicht mehr aufhören …“

    „Wie heißen Sie?“

    „Juri. Meine Frau ist tot, unser Haus ist leer. Und ich kann nichts machen! Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Ich war gerade auf der Arbeit, als mich die Jungs anriefen: ‚Hrosa hat‘s voll abgekriegt, das Café ist im Arsch.‘ Und meine Frau arbeitet dort im Büro. Ich hab sofort gespürt, das geht nicht gut aus. Als ich ankam, lag da meine Frau. Kurz dachte ich, sie ist davongekommen, ist sie aber nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf, ihr Bauch war aufgerissen, das Bein … Ach, Jungs …“

    Der Mann umarmt meinen Kollegen und mich und weint. So stehen wir mitten auf der Straße da, zu dritt umschlungen mit einem betrunkenen Fremden. 

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Ihr seid also aus Russland? Richtet diesem Putin aus, diesem Idioten, ich komm mit einer MG … Was soll ich tun? Betrink mich eben, ich hab Wodka im Haus, kommt mich besuchen.“

    Ich würde tatsächlich furchtbar gern jetzt trinken.

    „Geht nicht, sind im Dienst.“

    „Ah, ihr seid aus den USA? Richtet diesem Biden aus, diesem Idioten, er soll den Krieg beenden. Als ob wir heiß drauf wären. Also ich geh mal …“

    Der Mann geht zu dem Trümmerhaufen. Wie es aussieht, macht er seit gestern nichts anderes, als sinnlos zwischen den Ruinen und seinem leeren Zuhause hin und her zu wanken.

    ***

    Zwei Frauen stehen abseits der Bar. Eine hübsche junge Dame vom Fernsehen fragt sie:

    „Was meinen Sie, warum haben die das gemacht? Gibt es hier militärische Objekte?“

    „Das wissen wir nicht …“

    Eine von ihnen ist schüchtern, klein, ungefähr 70 Jahre alt. Auf die Frage nach ihrem Namen antwortet sie zögerlich: „Tanja … Lukaschewa.“ Bei der Trauerfeier sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen. Die zweite Frau heißt Alla Sosulja, sie ist Schulbibliothekarin und um die 60. Sie erzählt mir von diesem Schwiegersohn, einem Mathematiklehrer, und was für ein guter Mensch er war. Wie er mit den Kindern wandern war und im Wald, nach Odessa fuhr und nach Swjatohirsk, was für Ausflüge er mit ihnen gemacht hat, „und die Kinder hatten ihn von Herzen gern …“.

    „Einmal ist die Katze auf seinen Schreibtisch gesprungen“, lächelt Tanja. „Er machte gerade Online-Unterricht, am Computer. Da haben die Kinder aus der zweiten Klasse alle angefangen, ihre Katzen herzuzeigen: ‚Ich hab auch eine! Ich auch …‘“ Als sie das erzählt, sieht Tanja glücklich aus, fast selig. 

    Alla sagt, ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg. Sie hätten den Dienst gemeinsam angetreten: Ihr Sohn wurde einberufen, ihr Mann ging mit. Solche Geschichten, wo der Vater an die Front geht, weil er den Sohn nicht alleinlassen will, höre ich oft.

    Ich frage Tanja, was sie von Beruf ist. 

    „Stukkateurin“, sagt sie stolz. „Obwohl ich eigentlich Schweißerin gelernt habe, aber in dem Beruf war ich nicht lange, sondern mein Leben lang Stukkateurin. Mein Mann ist Pflasterer und Fliesenleger, wir waren immer auf den Bahnhöfen im Einsatz. Egal wo man hinfährt – das haben wir gemacht. Meine Enkelin fragt immer: ‚Wie kann das sein, dass ihr das alles gebaut habt?‘“ Tanja lacht glücklich.

    Es wirkt, als befinde sie sich außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht real ist

    Es wirkt, als sei sie komplett aus der Situation herausgefallen, als befinde sie sich irgendwo außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht wirklich real ist. „Ich hab meine Tochter nicht tot gesehen“, sagt Tanja gedankenverloren. „Den Schwiegersohn haben sie gefunden und identifiziert, aber meine Tochter und ihre Schwiegermutter nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Zu Hause liegen ihre Sachen herum, Dinge, die sie gemacht hat …“

    Tanjas Verstand kann den Tod ihrer Tochter offenbar nicht fassen. Gerade noch war sie da, und plötzlich ist sie komplett verschwunden.

    ***

    Ein Auto hält an, der Mann fragt nach Walerka. Von Walera habe ich schon gehört; er hat sechs Angehörige verloren: seinen Bruder, seine Schwester, seine Tochter, seinen Schwiegersohn und dessen Eltern.

    Der Mann nimmt uns mit zu ihm. Unterwegs erzählt er, dass heute Morgen Schewtschenkowe beschossen wurde, ein Dorf ein paar Kilometer entfernt von Hrosa. Obwohl die Front weit weg ist, fünfzig Kilometer: „Ich kam gerade aus dem Haus, als sie einschlugen, fünf Stück, Streubomben. Eine ist bei den Nachbarn auf der Pokrowskaja Straße direkt in den Hof geflogen, bei einem Ehepaar mit einer Blumenhandlung, die Frau ist verletzt.“

    Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher

    Walera Kosir ist ein Mann um die 65, mit rundem Kopf, Händen wie Baggerschaufeln und, wie bei Bauern üblich, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Er sitzt auf einer Bank vor dem Haus seiner toten Tochter und ihres toten Mannes. Als hätte er uns erwartet, beginnt er sofort aufgeregt zu erzählen und zu gestikulieren: 

    „Auf einen Schlag, meine Tochter, ihr Mann, seine Eltern, mein Bruder, meine Schwester – sechs Verwandte und die Taufpaten dazu, alle an einem Tag! Mein Schwiegersohn, Tolik Pantelejew, was der für ein Mann war! Ich sag nur eins: Wenn ich mit dem in die Stadt fahre, da grüßen ihn alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Polizeichef. Ein einwandfreier Mensch, wenn der zum Laden kommt, um Waren zu liefern und Wodka, fangen die Jungs zu betteln an: ‚Tolja, wir verdursten.‘ Er zieht eine Flasche raus, gibt sie ihnen, geht zur Kasse und bezahlt sie: ‚Eine Flasche hab ich genommen.‘“

    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Walera spricht energisch und gestenreich. Er ist nüchtern, fast ungewöhnlich klar.

    „Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher, hat auch den Tag der Lieferfahrer organisiert, 200 Hrywnja pro Nase hat er eingesammelt und selber 1000 draufgelegt, damit’s für alle reicht. Rund um die Uhr hat er geackert: Schweine angekauft, gekühlt, zerlegt, verkauft. Den ganzen Tag, von vier Uhr früh bis neun am Abend. 20 Schweine hat er gehalten. Sie sind nicht vom Land? Das ist schwere Arbeit, zu Silvester, zu Weihnachten – selber isst er nichts, aber die anderen versorgt er: ‚Ich mach das für die Kinder – sollen ihren Papa in guter Erinnerung behalten, dass sie nicht arbeiten mussten …‘ Wenn beim Töchterchen die Gangschaltung am Fahrrad kaputtging, da kauft er gleich am nächsten Tag eine neue. Und sein Telefon stand nicht still, ein Pfundskerl war das!“

    Waleri kann gar nicht aufhören, von seinem Schwiegersohn zu reden und zu reden. Ich habe den Eindruck, wenn er ihm ein Denkmal setzt, dann braucht er nicht über das Geschehene nachzudenken.

    „So ein schönes Paar, hoch angesehen auf dem Land wie in der Stadt. Alle nannten sie Oletschka, wirklich alle, nicht Olja und nicht Olga – das sagt doch was aus, oder? Vor einem halben Jahr hat Tolja gejammert, da war er beduselt: ‚Ich werde mal sterben, und du, schöne Olja, wirst mit nem anderen anbandeln.‘ Und sie so: ‚Nein, Tolja, sterben werden wir schön zusammen.‘ Und so ist es gekommen, in derselben Sekunde.

    Er wollte gar nicht hingehen, hatte keine Zeit. Musste mit seinem Vater nachts aufs Feld fahren, Wache schieben. Ich sag noch: ‚Geh halt nicht hin, musst ja noch fahren.‘ – ‚Ich trink ja nichts, will nur ein wenig mit den Jungs beisammen sitzen.‘ Sein Vater und ich sind zusammen groß geworden, haben als kleine Bengel unsere Schniedel verglichen. Ihr wisst ja, oft gibt es bei Schwiegereltern diese Streitereien, wessen Kind das Bessere ist oder wer spendabler ist. Wir haben alles zusammen gemacht, die Armee, dann wieder zurück, und so ist es gekommen, dass unsere Kinder geheiratet und uns Enkelchen geschenkt haben.“

    Mit seinem aufgeregten Bericht zeichnet Walera uns das Bild einer wunderbaren Familie, die jetzt nur mehr als Erinnerung existiert.

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf

    „Oletschka war am feinsten rausgeputzt, hatte sich die Haare gemacht. Bei uns gilt ja: Essen musst du nicht unbedingt, aber wenn du unter Leute gehst, musst du was hermachen. Nicht mal in der Stadt sind sie so angezogen wie bei uns auf dem Dorf, wenn Feiertag ist. Hrosa ist diese Art von Dorf, da wird man geboren, getauft, alle halten zusammen, klein aber fein, jeder Zaun ordentlich gestrichen. Erst die letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt es Zuzug aus den anderen Oblasten, bis dahin war das Dorf wie fünf Finger an einer Hand. Drum sind auch alle zu der Beerdigung gekommen. Waren erst zehn Minuten drin, die meisten hatten noch nicht mal ein Gläschen, hatten grade mal das Vater Unser gebetet. Unser Kirchendiener sollte singen. Weißt du, hat Kassewitsch gesungen?“

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf.

    „27 Personen konnten sie noch erkennen, den Rest nicht mehr … Ich denk: Vielleicht eine Gedenktafel, ein gemeinsames Grab und ein Grabstein für alle? Na, wie sie halt wollen. Meine halben Kontakte kann ich aus dem Handy löschen, ins Jenseits gibt’s keine Verbindung. Ich wär ja auch dabei gewesen, aber ich musste zur Arbeit. Das ist schon das zweite Mal, dass mich das Schicksal rettet. Ich bin Wächter bei einer Tankerkolonne. Als unsere Gegend noch okkupiert war, habe ich mein Essen nicht mit zur Arbeit genommen, fuhr in der Mittagspause hierher, vier Kilometer. Hatte mir gerade Erbsensuppe genommen, da schlug dort eine HIMARS-Rakete ein. Dann der Anruf: ‚Von deinem Arbeitsplatz ist nichts mehr übrig.‘“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Es kommen noch mehr Journalisten. Walera wiederholt seine Geschichte: „Wir waren Freunde, und dann haben unsere Kinder geheiratet“, „Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre, hupen alle …“, „Bei meiner Tochter ging die Gangschaltung kaputt, da hat er gleich eine neue gekauft …“, „Sie waren gerade erst angekommen, noch beim ersten Glas …“ Ljuba sitzt schweigend neben ihm auf der Bank und starrt mit leerem Blick durch die Journalisten hindurch.

    „Oma und ich, wir ach egal … Wir wissen nicht, wohin mit uns, versteht ihr? Wenn es einen Ausweg gäbe …“ Walera reibt sich energisch die grauen Stoppel auf dem Kopf. „Ich weiß, es gibt keinen, ich muss da durch! Seht euch meine Hände an.“ Walera zeigt seine Handflächen her, auf einer hat er eine Narbe. „Ich hab zwanzig Jahre lang Gasflaschen geschleppt, hab in den Dörfern Flüssiggas ausgeliefert. Dann bin ich in Rente gegangen, dachte, die Kinder würden für mich da sein … Tja, wir haben keine Wahl, es geht nur noch um die Kleinen.“

    Ich merke, dass die drei Enkelkinder, die seine Obhut brauchen, für ihn eine wahre Rettung sind.

    ***

    Gegen Mittag werden die Journalisten und UNO-Mitarbeiter immer weniger, ein großer Jeep nach dem anderen rumpelt durchs Dorf Richtung Landstraße. Freiwillige verteilen von einer Ladefläche herab Hilfsgüter an die Betroffenen: Bretter, Spanplatten, Decken. Die Dorfbewohner kommen herbei und bilden eine wuselige Schlange. Viele Frauen tragen schwarze Kopftücher, drängeln, drücken, schnattern aber genauso wie alle anderen – es entsteht ein Gewusel, das nicht zur Situation passt. So eng zusammengedrängt sehen die Dorfleute hilflos und mitleiderregend aus. Wenn sie drangekommen sind und dann beim Weggehen wirken sie froh, in ihren Gummistiefeln, ein paar Gratisdecken in den Händen.  

    „Onkel Wassja! Ich hatte Sie im Geiste schon begraben …“

    „Großmutter sitzt zu Hause – drei Kinder tot, das vierte in Russland.“

    „Alinka ist jetzt auch ganz allein, vielleicht haben sie sie weggebracht. Ich wollte ihr Geld bringen, aber das Haus war zugesperrt.“

    „Ach, woher das Geld denn nehmen, und wem geben? In jedem Haus ein Toter.“

    „Halja Chodak konnte sich retten, zwischen zwei Kühlschränken. Als die Decke einbrach, war sie geschützt.“

    „Oxana kam zu sich und hatte was am Bein, am Kopf und am Kiefer. Kam zu sich und schrie immer nur ‚I! I! I ..!‘ Rief nach ihrem Igor, aber der ist tot.“

    Wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht

    „Ja, der lag da, wär er doch dort liegengeblieben, wozu ihn herbringen. Jemand hat darauf abgezielt. Die Polizei kam dann, hat die Handys kontrolliert, angeblich haben sie drei Personen mitgenommen. Vielleicht hatten die russische Nummern drauf oder was weiß ich …“

    „Die heutige Technik eben, Handykontrolle! Sie hatten sich gerade erst zu Tisch gesetzt … Als Erstes müssen die doch die kontrollieren, die nicht dort waren. Ich weiß nicht …“

    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Eine Frau mit schwarzem Kopftuch lädt mit ihren beiden Kindern Platten und Bretter auf den Anhänger eines uralten Shiguli. Ich frage sie, wen sie verloren hat, sie nennt zwei Namen, die ich mir nicht gleich merken kann. Ich bitte Sie, mir von ihnen zu erzählen, biete an, ihr dafür beim Ausladen zu helfen. Sie stimmt zu. Ich hole meinen Rucksack, aber da sehe ich den Shiguli schon wegfahren, der Alte am Steuer wirft mir einen schiefen Blick zu. Als ich ihnen entschlossen hinterher will, sehe ich an der Kreuzung drei alte Frauen auf einer Bank sitzen.

    „Lasst die Fragerei“, sagt eine, „wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht.“

    Ich gehe durchs Dorf, schaue in die Höfe. Selbst lackierte Autos stehen vor jedem dritten Haus, hinter den Zäunen blicken mir düstere Minen entgegen. Ich muss an die Reporterin von vorhin denken, die auf ihre rhetorischen Fragen brauchbare Antworten erwartete. Geh doch verfickt nochmal einfach mal durch dieses Dorf, Schnalle.

    Es fängt an zu regnen, ich setze mich zu spanischen Journalisten ins Auto und fahre mit ihnen weg. Am Abend werden alle weg sein und das Dorf sich selbst überlassen bleiben, klein, grau und menschenleer.

    ***

    Zwei Tage später meldete der SBU, der Inlandsgeheimdienst der Ukraine, er habe zwei Verdächtige ausfindig gemacht. Angeblich waren es die Mamon-Brüder, zwei Polizisten aus Schewtschenkowe, die für die Besatzer gearbeitet hatten und nach Russland gegangen waren. Aus den veröffentlichten Chats geht hervor, dass der jüngere Bruder Dmitri, gebürtig aus Hrosa, mit den Dorfbewohnern Kontakt aufgenommen und seinem Bruder dann mitgeteilt hat, dass eine Beerdigung für einen Soldaten geplant war. Wladimir, der selbst nicht im Dorf wohnte, gab die Informationen dann an die Russen weiter. Und die freuten sich, eine Ansammlung von Soldaten plattzumachen.

    „Ich hab klargestellt, dass da Zivilisten sein werden, da werden sie wohl keine Geschenke hinschicken, obwohl wahrscheinlich viele aus der ukrainischen Armee kommen werden“, schrieb Wladimir seinem Bruder. Letzterer machte sich offenbar doch ein wenig Sorgen um seine alten Nachbarn aus dem Dorf. Trotzdem gaben sie Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier preis, und den Russen waren die Zivilisten scheißegal, sie schickten sehr wohl ihre „Geschenke“. Ich finde, dieses kleine Wörtchen sagt alles darüber, wie der Krieg die Seelen der Menschen tötet. Alle Opfer waren Zivilisten.

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  • Wir danken den Schamanen für die Stärkung der Streitkräfte!

    Wir danken den Schamanen für die Stärkung der Streitkräfte!

    Die Ideologie des Russki Mir beschreibt Russlands Konfrontation mit dem Westen als apokalyptischen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein einstmals international gefeierter Regisseur deutet ein eingeritztes Zeichen im Boden einer Moskauer Kirche als Beleg dafür, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine auf göttlicher Vorsehung beruhe. Die orthodoxe Kirche übernimmt Formulierungen von Ideologen, die sie früher wegen Okkultismus und Satanismus bekämpft hat. Wladimir Putin argumentiert mit „Erkenntnissen“, die sein Geheimdienst mit Hilfe von Gedankenlesern errungen haben will. Der Präsident und sein Verteidigungsminister besuchen gemeinsam „Kraftorte“ in der Taiga. Woher dieser Trend zum Magischen in der russischen Führung kommt, schildert der Religionsexperte Alexander Soldatow in der Novaya Gazeta.

    Kara-ool Doptschun-ool ist der oberste Schamane der Russischen Föderation. Schamanismus ist Teil der Kultur der Burjaten und anderer Völker des Landes. In ihrem Feldzug gegen den Westen setzt nun auch die politische und militärische Elite auf rituelle Unterstützung / Foto © Sergey Pyatakov/SNA/imago-images

    Im Zuge der wachsenden Sinnkrise der „militärischen Spezialoperation“ tauchen immer öfter Begriffe wie „Magie des heiligen Krieges“ oder „Blut- und Opferkult“ auf. Die Bemühungen des  Patriarchen Kirill, das Geschehen in ein christliches Gewand zu hüllen, klingen wenig überzeugend. Besser funktioniert da schon das Verschwörungskonstrukt von Alexander Dugin oder die heidnisch-manichäische Doktrin des Russki Mir. 

    Das lateinische Wort occultus bedeutet so viel wie „geheim“, „verborgen“. Und während die großen klassischen Religionen offen predigen, liegt der Reiz des Okkulten im Verborgenen, in seinem esoterischen Charakter. Träumen Sie von geheimen Instrumenten der Weltpolitik, und möchten Sie ewig in Ihrem physischen Leib leben? Dann ist Okkultismus genau das Richtige für Sie. Besonders hilfreich beim Eintauchen in esoterische Tiefen sind Verschwörungserzählungen.

    Die Doktrin des Russki Mir, die der Russischen Föderation heute als Ideologie dient, ist durch und durch konspirologisch. Im vergangenen Jahr haben orthodoxe Theologen aus mehreren Ländern diese Doktrin in einer gemeinsamen Erklärung kritisiert. Sie verglichen sie mit dem Manichäismus  – dem Glauben an einen ewigen Kampf zwischen Gut (Russland) und Böse (der Westen). Wenn es sich bei der „Spezialoperation“ um eine metaphysische Schlacht handelt, wie Patriarch Kirill behauptet, dann reichen weltliche – militärische und politische – Mittel allein nicht aus, um sie zu gewinnen. Dann braucht man „Hilfe von oben“.

    Die Facetten der neuen russischen Konspirologie

    „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen“, sprach Jesus (Matthäus-Evangelium 12:39). Wenn man eines braucht, dann findet man auch ein Zeichen – und den Einen oder Anderen vermag es sogar zu überzeugen. So entdeckte Nikita Michalkow in der Großen Christi-Himmelfahrt-Kirche in Moskau ein „Z“ (welches man übrigens auch als „N“ lesen kann), das jemand im 19. Jahrhundert in den Steinboden geritzt haben soll. Daraus schlussfolgerte der Großmeister des Kinos: „Also ist das [was in der Ukraine geschieht] von Gott gewollt“.

    Einer gründlicheren Suche nach einer orthodoxen Rechtfertigung für die „Spezialoperation“ widmete sich im vergangenen Oktober das Weltkonzil des Russischen Volkes in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Einer der Ideologen des Konzils war Alexander Dugin, dem die Russisch-Orthodoxe Kirche einst mit Misstrauen begegnete, weil seine Schriften eine Fülle von okkulten Verschwörungsmythen enthielten. Nun finden sich Dugins Gedanken in den Abschlussdokumenten des Konzils wieder: „Der Westen ist eine Idee. Die Einpflanzung dieser Idee begann mit der Säkularisierung, die das Göttliche vom Menschlichen trennte … Die Spezialoperation ist ein Krieg zwischen Himmel und Hölle.“

    Vordenker des Nationalsozialismus als Inspiration 

    Auf Dugins Lehren, die von russischen Intellektuellen bisher belächelt wurden, muss man nun genauer schauen – der ideologische Überbau der „Spezialoperation“ ist unübersehbar von seinen Postulaten beeinflusst. Dugins Ansichten gediehen im mystischen Nebel des Jushinski-Zirkels, der in den 1960er Jahren von dem Schriftsteller Juri Mamlejew gegründet wurde. Die Teilnehmer – überwiegend Studenten – probierten sich durch sämtliche ihnen zugängliche esoterische und magische Praktiken, psychedelische eingeschlossen. Nach Radikalität strebend, entdeckten die Mamlejew-Anhänger die Ideologie der europäischen Rechtsextremen für sich. Dugin verbreitete im Folgenden die Ideen des französischen Traditionalisten René Guénon und des italienischen Esoterikers Julius Evola. In seinem Buch Heidnischer Imperialismus schreibt Evola: „Der Mensch besitzt keinen Wert an sich. Sein Leben wird durch und durch vom Kastensystem bestimmt und entfaltet sich erst im Imperium … Der Humanismus ist das Böse. Der Imperator steht über der Religion … Die wahre Freiheit ist die Freiheit zu dienen.“  Auf der Suche nach einem Ort, an dem er seinen rechtsextremen Ideen nachgehen konnte, trat Dugin der [National-patriotischen Front] Pamjat bei, wo man ihn jedoch wegen seines „okkulten Satanismus“ rauswarf. Bald darauf gründete er seine Eurasische Bewegung.

    Der heutige Kriegsphilosoph begeisterte sich für die Mystik des Dritten Reiches. In Archiven studierte er die Schriften der okkulten SS-Abteilung Ahnenerbe, und sein Buch Hyperboreische Theorie gibt die Anschauungen eines ihrer Köpfe wieder – Herman Wirth.

    In seinem Almanach Das Ende der Welt publiziert Dugin Werke des englischen Schwarzmagiers und Begründers des Ordo Templi Orientis Aleister Crowley, der dem Satanismus nahe stand. Dugins Kernidee, die der Kreml und das Weltkonzil des Russischen Volkes übernommen haben, ist der „okkulte geopolitische Dualismus“. Für die Anhänger dieser Idee ist die Weltgeschichte einzig ein Kampf zwischen dem Atlantischen Orden des Todes und dem Eurasischen Orden des Lebens. Diese Theorie gipfelt in einer grotesken Rassenlehre: Laut Dugin stammen die reinrassigen Arier von Cro-Magnon-Menschen ab, während die westlichen „Dämonen-Menschen“ von den Neandertalern abstammen. Seine Überzeugungen betrachtet der Chefdenker der Eurasier als durchaus orthodox, genauer noch: als altgläubig – und bezieht sich dabei auf die Starowerzy (dt. Altgläubige), wurzelnd in einer volkstümlichen esoterischen Strömung, die von der offiziellen Kirchen vergessen worden sei.

    Moskau als Nachfolgerin von Byzanz

    Eine andere Figur, die einen religiösen Einfluss auf das aktuelle Geschehen hat, ist Metropolit Tichon (Schewkunow), ehemals Archimandrit des Sretenski-Klosters auf der Lubjanka, jetzt Metropolit von Pskow. Tichon und Putin verbindet eher Freundschaft, wobei dem Lubjanka-Archimandrit einst die Rolle des persönlichen Geistlichen des Präsidenten zugeschrieben wurde. Ihre Freundschaft reicht lange zurück: Bereits 2001 begleitete Tichon Putin zum Starzen Johann Krestjankin, und vor kurzem besuchten sie gemeinsam das Freilichtmuseum Chersonesos von Tauria auf der Krim. Tichons Ideologie ist zwar orthodoxer und weit entfernt von Dugins kruden Theorien, aber in der Praxis führt sie zu denselben Schlüssen.

    Tichons Lehre zufolge ist Russland von Gott als Nachfolger von Byzanz auserwählt und dazu berufen, ein Abbild des Reiches Gottes auf Erden zu sein. Doch eine Vielzahl an äußeren, vom Teufel inspirierten Feinden sorge dafür, dass es ständigen Prüfungen ausgesetzt sei.

    Die „Geschichtsparks“, die unter Tichons Patronage eröffnet wurden und in die Milliarden aus Staatsunternehmen fließen, vermitteln den Besuchern mit interaktiven Mitteln einen einfachen Gedanken: Russland hat immer wieder seine Feinde besiegt, ist dann auf seinen vorbestimmten Weg zurückgekehrt und hat andere Völker mitgezogen.

    Der russische Präsident und Tichon haben sich über den heute im Exil lebenden Oligarchen Sergej Pugatschow kennengelernt, und der ist folgender Ansicht: „[Tichon] verehrt Putin wirklich, er glaubt an sein gottgleiches Charisma.“ Tichon seinerseits sagte unlängst dem Staatssender Rossija 24: „Ich kenne den russischen Präsidenten persönlich. Er hätte die Spezialoperation unter anderen Bedingungen und Umständen für Russland nicht begonnen. Also musste es sein.“

    Populärer Okkultismus bietet einfache Lösungen

    Der populäre, kommerzielle Okkultismus unterscheidet sich von traditioneller Religiosität und geopolitischen Verschwörungsmythen dadurch, dass er einfache Lösungen anbietet. In den vergangenen Jahren (und im letzten ganz besonders) ist oft davon die Rede, dass die Machthaber aktiv auf archaische schamanische Praktiken, Magie, Zauberei und andere esoterische Methoden zurückgreifen würden. Einer der ersten „Schamanismus-süchtigen“ russischen Politiker war der Vorsitzende der gesetzgebenden Versammlung in Sankt Petersburg Wadim Tjulpanow. Bereits als Senator brachte er den nenzischen Schamanen Kolja Talejew mit in den Föderationsrat. „Er bekommt Botschaften vom Universum und kann dir alles über dich erzählen, über deine Vergangenheit und deine Zukunft. Die Vergangenheit kennt er so gut, dass ich Gänsehaut bekomme“, schwärmte der Senator. Bei der gläubigen Orthodoxen [und Vorsitzenden des Föderationsrats] Valentina Matwijenko zeigte das Schwärmen Wirkung: „Dann zaubern Sie uns doch was herbei, damit die Wirtschaft wächst“, bat sie Kolja.

    Davon, dass das Schamanismus-Thema nicht nur Spaß ist, zeugt das tragische Schicksal von Alexander Gabyschew, einem jakutischen Schamanen, der sich zu Fuß nach Moskau aufgemacht hatte, um „den Präsidenten zu vertreiben“. Jetzt wird er seit drei Jahren von unterschiedlichen Gerichten von einer Nervenheilanstalt in die nächste geschickt. Gleichzeitig werden die „richtigen“ Schamanen von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zitiert: „Der oberste Schamane der Russischen Föderalen Kara-ool Doptschun-ool dankte den Schamanen in Russland für das gemeinsam durchgeführte Ritual zur Unterstützung der russischen Streitkräfte und wünschte ihnen viel Erfolg für die weitere Stärkung unserer Heimat.“

    Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der aus einer Region stammt, in der der Schamanismus zur Tradition gehört, ist der einzige russische Minister, der unter allen Präsidenten und Premierministern in der Regierung verblieb. Er war schon als Kind mit den Traditionen seines Volkes vertraut – er führte Archäologen aus Leningrad zu tuwinischen Grabhügeln. Der junge Schoigu begeisterte sich außerdem für die Geschichte des „schwarzen Barons“ Roman von Ungern-Sternberg, der während des Bürgerkriegs im russisch-mongolischen Grenzgebiet kämpfte. Als einer der ersten eurasischen Mystiker träumte von Ungern-Sternberg von der Wiedererrichtung des Reiches von Dschingis Khan und einem neuen „Feldzug nach Westen“, an dem die Völker Asiens beteiligt sein sollten. Der Vater des Ministers, Kushuget Schoigu, war als Volksheiler und „wahrer Hüter der Volkstraditionen“ bekannt, was ihm zu einer Parteikarriere unter dem alternden Breshnew verhalf. Offenbar haben auch Putins und Schoigus berühmte gemeinsame Reisen zu sibirischen „Kraftorten“ eine spirituelle Erklärung.

    Streben nach ewigem Leben

    Unter der Leitung von Michail Kowaltschuk wird derweil am Kurtschatow-Institut an der Verlängerung des Lebens geforscht. Das Wissenschaftsverständnis von Kowaltschuk, der als Freund Putins gilt, ist dabei durchaus ungewöhnlich. So schlug er 2016 bei einem Treffen mit dem Präsidenten vor, „nach Organisationen zu suchen, die den Gedankenfluss in bestimmte Richtungen lenken können“, und in jüngster Zeit machte er auf die Gefahr von „ethnischen Waffen“ aufmerksam („Kampftauben“ oder „Moskitos“, die „nur Russen“ angreifen würden).

    Auf dieser Ebene bewegt sich auch das Interesse an künstlicher Intelligenz, die es ermöglichen soll, nach dem physischen Tod in ein Meta-Universum umzusiedeln. Die Ablehnung des wissenschaftlichen Weltbildes auf Staatsebene zieht auch die Weltanschauung der einfachen Bürger in Mitleidenschaft, die zunehmend in Aberglaube und magisches Denken abgleitet. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums im vergangenen Jahr ergab, dass nur ein Viertel der Russen an das Reich Gottes nach dem Tod glaubt, aber fast ein Drittel an den bösen Blick und Verwünschung (das sind doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren). Als wäre das nicht genug, hat das Präsidium der Russischen Akademie der Wissenschaften ohne viel Aufhebens die Kommission zur Bekämpfung von Pseudowissenschaft und Verfälschung wissenschaftlicher Erkenntnisse abgeschafft. Der Verschwörungs-Ideologe Dugin argumentiert: „Echte Forschung und echte Wissenschaftler gibt es schon lange nicht mehr … Durchdrungen von der starren Diktatur des Liberalismus, sehen sie in allem nur noch die in sie selbst eingeimpften Codes.“

    Atmosphäre des kollektiven Rasputinismus

    Esoterik und Okkultismus gab es im Kreml schon lange vor Putin. Gleich zu Beginn von Boris Jelzins Amtszeit ernannte der Leiter des Sicherheitsdienstes, Alexander Korshakow, den General Boris Ratnikow zu seinem Chefberater und General Georgi Rogosin zu seinem ersten Stellvertreter: In den 1980er Jahren hatten diese beiden in geheimen KGB-Labors auf dem Gebiet der „Psychotechnik“ und „extrasensorischen Wahrnehmung“ geforscht. Rogosin erstellte astrologische Karten für Jelzin und förderte die Psychotronik, auf deren Grundlage der Generalstab „psychotronische Waffen“ entwickelte. Laut Eduard Krugljakow, dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommission der Russischen Akademie der Wissenschaften zur Bekämpfung von Pseudowissenschaften, brachte Rogosin „alle möglichen Hellseher, Heiler, Okkultisten, Astrologen und andere Scharlatane“ mit in den Sicherheitsdienst, was zu einer Atmosphäre des „kollektiven Rasputinismus“ geführt habe.

    General Boris Ratnikow ging obendrein in die Geschichte ein, weil er das Gehirn von Madeleine Albright „auf Entfernung scannte“ und „pathologischen Slawen-Hass“ darin vorfand. Ratnikow sah seine Mission im Sicherheitsdienst des Präsidenten darin, das Bewusstsein des Staatsoberhaupts vor Manipulationen zu schützen, so erklärte er es in einem Interview mit dem Staatsblatt Rossijskaja Gaseta. Die Manipulationen des parapsychologischen Generals selbst haben jedoch eine deutliche Spur in der Geschichte hinterlassen. Vergleichen wir zwei Aussagen: „Wir haben eine Seance durchgeführt, um uns mit dem Unterbewusstsein von US-Außenministerin Albright zu verbinden … Sie war empört darüber, dass Russland über die größten Rohstoffreserven der Welt verfügt. Ihrer Meinung nach sollten die russischen Reserven in Zukunft nicht von einem Land allein verwaltet werden“ (General Ratnikow, 2006). „Jemand wagt es ungerecht zu finden, dass Russland allein die Reichtümer einer Region wie Sibirien besitzt – ein einzelnes Land“ (Wladimir Putin, 2021). Im Jahr 2015 erklärte Albright, in Russland gebe es „Leute, die glauben, ihre Gedanken lesen zu können“, und fügte hinzu, dass sie „nie so etwas über Sibirien oder Russland gedacht oder gesagt“ habe.

    Hoffen auf Botschaften aus dem All

    Bis 2003 existierte innerhalb der russischen Streitkräfte die sogenannte Dienststelle Nr. 10003 – eine Experten-Abteilung des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation für außergewöhnliche menschliche Fähigkeiten und besondere Waffentypen. Ihrem ehemaligen Chef Generalleutnant Alexej Sawin zufolge, sei es die Aufgabe der Abteilung gewesen, „das Gehirn für Botschaften aus dem Universum empfänglich zu machen“. Er erläuterte: „Wir nannten uns ‚Spezialoperatoren‘ – Menschen mit erweiterten Hirnfähigkeiten … Die Amerikaner erreichten nicht annähernd unsere Ergebnisse.“ Mir, dem Autor dieses Textes, war es vergönnt, an Konferenzen teilzunehmen, auf denen Militärwissenschaftler, viele von ihnen im Generalsrang, allen Ernstes ihre mit Hilfe von „psychotronischen Techniken aufgedeckten“ konspirologischen Erkenntnisse präsentierten. Das sowjetische New Age, das von Science Fiction das in den 1960er bis 1980er Jahren von Science Fiction, Ufologie und dem Glauben an das Übersinnliche geprägt war, wächst und gedeiht in der Armee-„Elite“ fröhlich weiter.

    Angesichts der extremen Auswüchse der russischen Propaganda fragt man sich häufig: „Sind diese Menschen verrückt geworden oder täuschen sie einfach nur sehr professionell eine Paranoia vor?“ Tatsächlich erleben wir gerade eine interessante Verschiebung des Massenbewusstseins weg von einer objektiven und hin zu einer esoterischen Sicht auf die Welt. Einerseits erinnert das an Massenhysterie und eine extreme Archaisierung des Denkens. Wenn wir uns jedoch das ganze technologische Arsenal ansehen, das zur Volksverdummung eingesetzt wird, wirkt es eher wie eine komplexe Manipulation. Wer braucht noch systematische Bildung, nüchterne Religiosität oder die Fähigkeit zum kritischen Denken, wenn der große Leader alles mit Hilfe von Schamanen und künstlicher Intelligenz entscheidet?

    In Wirklichkeit ist das Erstarken des Okkultismus in den Regierungskreisen ein klares Zeichen für ihre Schwäche und Unfähigkeit. Wenn ein Politiker oder ein militärischer Führer nicht in der Lage ist, seine Handlungen rational zu planen und seine Macht lieber an unbekannte und unsichtbare Kräfte „delegiert“, offenbart er damit seine Unfähigkeit, die Situation zu kontrollieren.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch: 

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  • „Putin und Lukaschenko sehen sich als Sieger“

    „Putin und Lukaschenko sehen sich als Sieger“

    Früher hat Tamara Eidelman Geschichte an der Moskauer Schule № 67 unterrichtet. Nach dem russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat sie ihre Heimat verlassen. Seitdem lebt sie in Portugal, gibt aber weiter Geschichtsstunden für ein russischsprachiges Publikum: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben ihren YouTube-Kanal abonniert. 

    Im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Zerkalo spricht die russische Historikerin über Themen, die sowohl Belarus als auch Russland betreffen: das Machtverständnis von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, imperialistische Denkweisen, Russlands Blick auf Belarus sowie die Instrumentalisierung von Geschichte in beiden Ländern.

    Zerkalo: Manche vergleichen Wladimir Putin mit russischen Zaren oder mit Adolf Hitler. Mit welchen historischen Persönlichkeiten würden Sie ihn vergleichen?

    Tamara Eidelman: Wissen Sie, ich möchte diese Frage nicht beantworten. Tut mir leid. Putin kann sich mit jedem vergleichen, mit dem er will, von mir aus mit dem Herrgott. Die Propaganda benutzt Vergleiche, um ihm zu schmeicheln. Wenn er einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut.

    Mit Hitler hat er nun nichts gemein, und das sage ich nicht, um Putin zu verteidigen. Natürlich sind beide Diktatoren und haben aggressive Kriege entfesselt, aber bis zur Massenvernichtung reicht es bei Putin Gott sei Dank noch nicht. 

    Jede historische Persönlichkeit, zumal jeder Diktator, lebt in seiner jeweiligen Epoche und muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Wenn wir jetzt anfangen, darüber zu sprechen, wie viel Ähnlichkeit Russland mit Hitler-Deutschland hat, dann haben wir für unser Verständnis nichts gewonnen. Russland hat eine ganz andere Struktur, es folgt einem anderen historischen Weg und anderen Traditionen, die Zeiten sind andere. Es war nach 1938 praktisch unmöglich nachzuvollziehen, was in Deutschland passiert, heute haben wir unzählige Fakten dazu, was in Russland geschieht. Das ist wichtig, weil es sowohl eine öffentliche Meinung in Russland als auch eine internationale gibt. Und wie man es dreht und wendet, die Machthaber schauen darauf. Wenn es diese öffentliche Meinung nicht gäbe, kein Internet, keine Handys, dann würden zum Beispiel politische Gegner mit Haut und Haaren gefressen und ausgespuckt werden. Niemand wäre mehr am Leben. Ja, sie bekommen riesige Haftstrafen, aber Gott sei Dank leben sie. Das ist wichtig.

    Wenn Putin einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut

    Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verübten die Deutschen schreckliche Dinge in Polen, von denen praktisch niemand wusste, außer denen, die es selbst gesehen haben. Das volle Ausmaß der Gräueltaten wurde erst nach dem Krieg sichtbar, als man ausreichend Material gesammelt hatte. Sie können jetzt sagen, dass man auch heute nicht alles weiß, aber wenn man mit halbwegs ungetrübtem Verstand an die Masse der existierenden Informationen zu dem herangeht, was in diesem Krieg, was in Russland und in Belarus passiert, ändert das viel.

    Als nächstes kommt meistens die Frage: „Und womit wird das alles enden?“ Wenn wir davon ausgehen, dass man Russland mit [Deutschland in] den 1930er Jahren vergleichen kann, dann würde als nächstes ein Weltkrieg kommen, der Faschismus würde besiegt werden und so weiter. Aber es ist überhaupt nicht gesagt, dass es so sein wird. Zum Beispiel, weil es damals keine Atomwaffen gab. Ich mag diese Vergleiche nicht.

    War und bleibt Russland für immer ein Problem für seine Nachbarn?

    Solange dieses Regime in Russland besteht, natürlich. Ich will anmerken, dass auch das Regime in Belarus so lange bestehen wird wie das Regime in Russland. Russland wollte sich so weit wie möglich ausdehnen, aber das galt für alle starken Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts. Bloß ist Russland an dem Punkt stehen geblieben, der für Großmächte vor 150 bis 200 Jahren normal war. Europa hingegen hat verstanden, dass man sich nicht so verhalten sollte. Daraus schließe ich, dass auch Russland das irgendwann verstehen wird.

    Meine Eltern wurden in der UdSSR geboren, lebten eine Zeitlang in Russland und dann in Belarus. An ihrem Denken gibt es nichts Imperialistisches, während unsere Verwandten, die so alt sind wie sie und ihr ganzes Leben in Russland verbracht haben, dahin tendieren. Warum ist das so?

    Das spricht wohl einfach für Ihre Eltern. Es gibt ja auch in Belarus Menschen, die das Land als Teil Russlands sehen, eines Imperiums, der UdSSR. Es geht nicht darum, wo man geboren wurde. Diese Haltung macht das Leben leichter, denn wenn du dich als Teil von etwas Großem, Grandiosem begreifst, dann werden all deine Strapazen, dein armseliges Leben, deine Probleme unwichtig. Ja, wir produzieren Raketen, wir sind Teil von diesem großartigen Land. Das flößt uns die Propaganda unermüdlich ein. Dein Privatleben ist weniger wert als das, was dich umgibt.

    Politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt

    Aber politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt. Das sind alles Märchen. Genau auf diesen Märchen baute die nationalsozialistische Rassenpolitik auf. Das dürfen wir auf keinen Fall schlucken. Es zählt nicht nur der Ort, an dem du lebst, sondern auch die Erziehung, deine Familie, dein sozialer Umgang.

    Lukaschenko und Putin schwelgen ständig in der Vergangenheit und ihren Kindheitserinnerungen. Wollen sie, dass wir so leben wie damals, und tun alles dafür?

    Ich glaube, im Grunde sind wir ihnen völlig schnuppe. Sie selbst wollen in einem – aus ihrer Sicht – mächtigen Land leben, vor dem alle Angst haben, und in ihrer Macht baden.

    Ich glaube, bei solchen Leuten legt sich irgendwann ein Schalter um, und sie beginnen zu denken, dass das, was für sie gut ist, auch für alle anderen gut ist. „Was würdet ihr denn ohne mich machen? Ihr seid kleine Kinder, ihr müsst mir gehorchen. Was ich mir für euch überlege, das wird für euch gut sein.“

    Alle erinnern sich gern an ihre Kindheit – ja, Plombir war lecker. Mir scheint das eher ein Propagandatrick. Sie brauchen vor allem Macht.

    Und wenn der Diktator stirbt, wird es besser?

    Ja. Im Moment versucht man uns schreckliche Angst einzujagen, dass danach alles in Blut und Chaos versinkt. Historisch gesehen ist alles möglich, und natürlich wird es auch auf irgendeine Art Chaos geben. Andererseits wird der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators von Leuten aus seinem Umfeld getan. Sie verstehen, dass sie nicht so werden können wie er und ein neues Leben aufbauen müssen. Sie müssen sich mit der internationalen Gemeinschaft verständigen und für Stabilität sorgen. Das konnte man gut in der Tauwetterperiode beobachten, sowohl in der UdSSR als auch in Spanien [unter Franco] oder Portugal [unter Salazar]. Die ersten Veränderungen werden von Leuten aus dem Inneren des Systems herbeigeführt.

    Der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators wird von Leuten aus seinem Umfeld getan

    Die spannende Frage ist die, was danach passiert. Das Tauwetter hat in der UdSSR ein bisschen getröpfelt, dann kam wieder der Frost. Das Regime hat sich nicht verändert, alles ist in den Händen der Leute aus demselben System geblieben. In Spanien wurden die Veränderungen zunächst von Menschen aus dem System angestoßen, aber dann von verschiedenen Parteien und Organisationen aufgegriffen, unterschiedliche soziale Schichten haben sich eingeklinkt und Druck ausgeübt, weil das System weicher geworden war. Sie bekamen die Möglichkeit zu handeln und veränderten das Regime.

    Das ist ein großes Problem für uns alle: Was werden wir tun, wenn die Regime fallen? Werden wir die Chance nutzen oder ein weiteres Mal alles verschlafen, während wir uns gegenseitig bekriegen und auf Hexenjagd gehen, und das Regime wird sich hinüberretten und alles wieder von vorne beginnen? Auf der zweiten Etappe wird sehr viel von uns abhängen.

    Was wussten Sie vor 2020 von Belarus und den Belarussen?

    Das spricht nicht gerade für mich. Abgesehen von der Band Pesnjary und ein paar groben Vorstellungen davon, was bei euch während des Kriegs und der Partisanenbewegung passierte, wusste ich kaum etwas. Und das ist falsch. Ich hatte absolut keine Vorstellung von eurer Kultur und Geschichte. Für viele, nicht nur für mich, war 2020 eine Erschütterung, weil wir Belarus als sehr sowjetische Republik wahrgenommen hatten. Aber ich glaube, das war eher Lukaschenkos Propaganda zu verdanken. Er hat dieses Bild erschaffen: Wir halten an den sowjetischen Traditionen fest. Wir dachten, bei euch ist alles noch schlimmer als bei uns. Aber dann kam dieser wundervolle Protest – wir müssen noch einiges von Belarus lernen.

    Eine der wichtigsten Epochen in der belarussischen Geschichte ist das Großfürstentum Litauen. Wie wird die Geschichte dieses Staates in Russland gelehrt?

    Gar nicht. Vielleicht wird es hier und da erwähnt. Der Geschichtsunterricht geht in den verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion auf die sowjetische Tradition zurück, und die sowjetische Tradition auf das russische 19. Jahrhundert. Es wird Staatsgeschichte gelehrt, und alles, was außerhalb des Staates liegt, ist entweder eine Lüge oder völlig uninteressant. Und die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig. Dabei sind das 14. und 15. Jahrhundert sowohl für Russland als auch für die Ukraine, Litauen und Belarus unglaublich interessant. Aber es wird alles nur aus dem Blickwinkel Moskaus präsentiert.

    Die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig

    Ich würde mir wünschen, dass diese Epochen in der Zukunft nicht als Geschichte des einen oder anderen Staates gelehrt werden, sondern als Geschichte von Völkern. Dann würden wir ein Kaleidoskop von verschiedenen Menschen, Kulturen und Sprachen erhalten und sehen, wie vielfältig alles war.

    Die belarussischen Behörden bauen ihre Propaganda und Ideologie auf der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs auf. Warum ist das so, was denken Sie?

    Sie handeln im Rahmen des sowjetischen und aktuellen Narrativs. Die Machthaber schlugen seit 1945 Kapital aus dem Krieg, indem sie seine Geschichte verzerrten. Der Philologe Jewgeni Dobrenko hat ein Buch namens Posdni Stalinism (dt. Der Spätstalinismus) geschrieben, das ich gerne zitiere: „Die Geschichte des Kriegs wird zu einer Geschichte des Sieges.“

    Nach außen hin gelten alle Worte den Opfern. In der belarussischen Geschichte waren das Chatyn und andere verbrannte Dörfer. Doch das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt. Rollende Panzer, die Operation Bagration, „Da sdrawstwujet towarischtsch Stalin!“ (dt. „Hoch lebe Genosse Stalin!“). Aber in der Geschichte des Krieges ist nicht alles so einfach. Übrigens waren es die belarussischen Historiker, die davon sprachen, dass Themen wie die Partisanenbewegung – und das ist die heilige Kuh – sehr komplex seien.

    Das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt

    Daher wissen wir, dass das Bild von den Partisanen, die aus dem Wald kommen und von den Dorfbewohnern jubelnd mit den Worten: „Hurra, unsere guten Jungs sind da!“ empfangen werden, falsch ist. Auch die Partisanen waren gefürchtet. Das allein galt als schreckliche Häresie und Lästerung der Heldentaten des sowjetischen Volks. 

    Wie derzeit über den Krieg gesprochen wird, das gibt den Propagandisten die Möglichkeit zu erklären, es wäre damals nicht um Blut, Dreck und Gräueltaten gegangen, sondern um den Triumph unserer Heerführer, allen voran Genosse Stalin. Das waren die wahren Sieger, nicht die Menschen, die in den Schützengräben verfaulten. Diese Vorstellung kommt sowohl Putin als auch Lukaschenko sehr entgegen. Sie sehen sich als eben solche alle besiegenden Sieger.

    Wie wird man Lukaschenko in den Lehrbüchern beschreiben, wenn er nicht mehr an der Macht ist?

    Man wird schreiben, was für ein großer Diktator er war, das ist klar. Aber ich glaube, dass es interessanter sein wird, über Lukaschenko zu schreiben als zum Beispiel über Putin. Wie er raffiniert seinen Weg zur Macht geebnet und die Karte der Sowjetnostalgie ausgespielt hat. Natürlich hat Putin dasselbe gemacht, aber Lukaschenko war viel früher. Er hat mit irgendeinem sechsten Sinn gespürt, dass das der Köder ist, mit dem man viele Menschen kriegt. Man wird ihn als interessanten, blutrünstigen und hinterlistigen Diktator erforschen.

    Was denken Sie, wäre Lukaschenko bereit, alles Belarussische in Belarus abzuschaffen und sich selbst und die Belarussen Russen zu nennen, wenn es die politische Situation erfordert?

    Ich glaube, das tut er schon. Als die Sowjetunion zerfiel, kamen in fast allen Republiken Leute an die Macht, die nationale Ideen vorbrachten. Lukaschenko schrieb sich stattdessen die prosowjetische Idee auf die Fahne, sein größter Feind war die Nationalpartei. Er ist bereits dabei, alles Belarussische zu unterdrücken: die Sprache, die Kultur. Aber hier sind wir wieder bei der Machtfrage – bis zu welchem Punkt wird er bereit sein, das zu tun? Ist er bereit, zu Russland zu gehören? Sich Putin zu unterwerfen? Über eine Nachfolgerschaft zu verhandeln? Irgendwie scheint mir das keine Option für jemanden, der Geschmack an der Macht gefunden hat.

    In Russland gibt es jetzt Schulbücher mit einem Kapitel über die „Spezialoperation“. Darin geht es um die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, um den „Druck der Vereinigten Staaten“, „Geschichtsklitterung“ und das „Wiedererstarken des Nazismus“. Unter anderem wird in diesem Lehrbuch behauptet, die westlichen Länder hätten die fixe Idee einer „Destabilisierung der Lage in Russland“. Im Abschnitt über den Krieg in der Ukraine wird Putin mit der Aussage zitiert, Russland habe den Krieg begonnen, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden. Ist es ein Verbrechen, so etwas zu lehren?

    Ein solches Lehrbuch zu schreiben, ist ein Verbrechen. Unterrichten kann man nach so einem Lehrbuch auf unterschiedliche Art und Weise. Man kann sagen: „Achtet nicht drauf, was da steht.“ Aber es ist und bleibt eine schwierige Herausforderung, mit einem solchen Lehrbuch zu arbeiten.

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  • Debattenschau № 90: Welchen Sinn haben Wahlen in einer Diktatur?

    Debattenschau № 90: Welchen Sinn haben Wahlen in einer Diktatur?

    Am Wochenende wurde in Russland der sogenannte „einheitliche Wahltag” veranstaltet: In 21 Regionen wurde über die Regionsoberhäupter entschieden und die Zusammensetzung von 16 Regionalparlamenten neu bestimmt. Vor der Präsidentschaftswahl 2024 testet der Staat seine Kontrolle über das Land. Und die Opposition testet seine Schwachstellen. Unter Menschen, die dem Kreml gegenüber kritisch eingestellt sind, wird schon lange debattiert, ob die unfairen und manipulierten Wahlen boykottiert werden sollten, oder ob man sich allen Wahlfälschungen zum Trotz beteiligen sollte, um den Betrügern wenigstens so viele Schwierigkeiten zu machen wie möglich. Auch der prominenteste Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte aus dem Gefängnis heraus seine Unterstützer auf, zur Wahl zu gehen und für die Kandidaten zu stimmen, die der Kreml-Partei Einiges Russland am ehesten Konkurrenz machen.

    In der Debattenschau stellt dekoder die Argumente der politischen Beobachter Alexander Kynew und Grigori Judin und der Moskauer Lokalpolitikerin Julia Galjamina vor. Ihre Beiträge haben sie bereits vor der Wahl für den Think Tank Kollektiwnoje deistwije (dt. kollektives Handeln) verfasst. Darüber, dass die Scheinwahlen, die in den besetzten Gebieten auf ukrainischem Staatsgebiet inszeniert wurden, illegal sind und boykottiert werden sollten, herrschte unter demokratischen Oppositionellen Einigkeit.

    Alexander Kynew: Die Wahlen sind eine Gelegenheit, etwas über die russische Gesellschaft zu erfahren

    [bilingbox]Wahlen sind keine bloße Formsache, sondern eine Gelegenheit, die Stimmung in der Gesellschaft zu messen, eine riesige soziologische Umfrage. Wie soll man etwas über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich nicht die Wahlen anschaut? Bei allen Problemen mit Wettbewerb und Abhängigkeit von der Staatsmacht zeigen Wahlen, wie repressiv ein System ist. Und sie spiegeln wider, wie homogen oder heterogen eine Gesellschaft ist. Selbst wenn das Messinstrument nicht ideal ist, kann es bei regelmäßiger Benutzung eine Dynamik aufzeigen.

    Wenn wir von den Wahlen sprechen, müssen wir zunächst die föderalen Wahlzyklen verstehen. Ein Zyklus dauert fünf Jahre und beginnt mit den Wahlen in die Staatsduma. Innerhalb dieses übergeordneten föderalen Zyklus finden alljährlich in unterschiedlich vielen Verwaltungseinheiten Regionalwahlen statt. 2021, im ersten Jahr des aktuellen Wahlzyklus, haben 39 Regionen ihre Parlamentswahlen zeitgleich mit den Wahlen in die Staatsduma abgehalten. Das erhöht den Einfluss der landesweiten Propaganda insbesondere in Regionen wie Sankt Petersburg, Perm und Krasnojarsk. Die Wahlen im zweiten Jahr betrafen die wenigsten Regionen und waren am unspektakulärsten: Von sechs Regionen sind vier in fester Hand der Regierungspartei, und die Höhe der Wahlbeteiligung entspricht dem Wahlergebnis für den Sieger.

    Es ist nun das dritte Jahr des Zyklus, in dem die Regionen wählen, die 2018 gewählt haben. Damals war gerade die Rentenreform beschlossen worden und Leute wie Sergej Furgal (Chabarowsk) und Walentin Konowalow (Republik Chakassien) wurden regionale Oberhäupter. Diesmal wurden 16 Parlamente neu gewählt, wenn man die annektierten Regionen in der Ukraine einmal beiseite lässt.

    Was die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und die Oblaste Cherson und Saporischschja angeht, die Russland unrechtmäßig angegliedert hat: Dort gibt es keine klaren Grenzen, es gibt keine Wählerlisten, viele Menschen sind auf der Flucht, niemand weiß, wie viele Wahlberechtigte es dort überhaupt gibt. Wie soll ein Wahlkampf unter den Bedingungen von Kämpfen, Kriegszustand und Ausgangssperre aussehen? Ich bezweifle, dass überhaupt eine Wahl im eigentlichen Sinne stattfindet. Natürlich bekommen wir Protokolle, aber was bei diesen Wahlen wirklich passiert, bleibt ein Geheimnis.

    Was das russische Staatsgebiet betrifft: Nur zwei der 16 teilnehmenden Subjekte wurden fest von der Regierungspartei kontrolliert – die Republik Baschkirien und die Oblast Kemerowo. Auch die Oblast Rostow gehörte bis zuletzt dazu, aber jetzt pendelt sie in Richtung Protest. Dort ist die Situation wegen der Flüchtlingsströme und der wachsenden Kriminalität angespannt, nicht zuletzt hatte Prigoshins Aufstand dort seinen Anfang genommen.

    In den übrigen 13 Regionen gibt es im Zuge der Wahlen durchaus einen gewissen Wettbewerb. Die meisten dieser Regionen liegen in Sibirien oder Fernost, wie die Republiken Chakassien, Burjatien und Jakutien, die Region Transbaikalien und die Oblast Irkutsk. Auch in vielen Gemeinden, etwa in Krasnojarsk oder Abakan, gibt es unter den Kandidaten eine gewisse Konkurrenz.  So auch in der Oblast Archangelsk und dem Autonomen Kreis der Nenzen, wo 2020 die Mehrheit gegen die Verfassungsänderungen stimmte. Weliki Nowgorod und Jekaterinburg sind zwei Regionen, in denen die Fraktion Jabloko vertreten sind.

    In den Regionen, in denen es politischen Wettbewerb gibt, ist im Vergleich zu 2022 eine Belebung des politischen Lebens zu beobachten, wie man an den aktuellen politischen Kampagnen sehen kann. Ich sehe zwei Hauptgründe für diesen Aufschwung: Der erste Grund ist historisch und geografisch bedingt. Einige Regionen – wie der hohe Norden – waren schon immer protest- und wettbewerbsfreudiger, die dortige Bevölkerung ist aktiv. Der zweite Grund ist die Stabilisierung des politischen Systems. Im vergangenen Jahr standen viele Menschen unter Schock und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Jetzt sehen sie, dass das Regime stabil ist und nicht einfach so verschwindet. Es wird sich wahrscheinlich von innen heraus verändern, seinen eigenen Gesetzen folgend.

    Unterschiede zwischen den Kandidaten in Bezug auf die „militärische Spezialoperation“ sucht man vergeblich. Die meisten sprechen darüber einfach nicht. Die Trennlinie verläuft zwischen denen, die sie aktiv unterstützen, und denen, die zur Normalität zurückkehren wollen. Niemand kämpft entschlossen für das Ende der Spezialoperation. Die Parteien verhalten sich unterschiedlich: Die einen verbünden sich mit der Regierungspartei, die anderen setzen auf die Unterstützung der Wirtschaft. Aber es gibt keine Partei, die sich für den Frieden einsetzt. 

    Insgesamt hat die außenpolitische Thematik nichts mit den Regionalwahlen zu tun: Die Organe auf dieser Ebene haben keinen Einfluss auf derartige Entscheidungen. Sie kümmern sich um lokale Probleme wie Straßensanierung oder den Bau von Krankenhäusern. 

    Bei den Gouverneurswahlen, bei denen es keinerlei Wettbewerb gibt, ist die Spezialoperation im Wahlkampf kein Thema, höchstens als Schutzreaktion: Viele Gouverneure haben Angst, jemand könnte sie denunzieren oder sich über sie beschweren, also sichern sie sich ab, ziehen Uniformen an, besuchen in Camouflage Krankenhäuser und fahren an die Front.

    Der Rest der Wahlkampagne dreht sich um die soziale Absicherung: Unterstützung für die Familien derer, die eingezogen oder getötet wurden, Ferienprogramme für Kinder aus solchen Familien oder Hilfe für bestimmte soziale Gruppen aus der Ostukraine. Es gibt viele solcher Initiativen, ich würde sie als Teil der Sozialpolitik betrachten. Lokale soziologische Studien zeigen, dass Bedarf an Hilfe für Kriegsgeschädigte besteht und von den Menschen positiv aufgenommen wird. Wenn man die globalen Dinge schon nicht beeinflussen kann, will man wenigstens den Opfern helfen – diese Überzeugung herrscht auf regionaler Ebene.~~~Выборы — это не просто формальность, — это уникальный способ измерения общественных настроений, гигантский соцопрос. Как вы что то можете знать об обществе, если вы не изучаете выборы? При всех проблемах с конкуренцией и зависимостью от власти, выборы показывают степень контроля над обществом, отражают степень однородности или разнообразия общества. Даже если инструмент измерения не идеален, он может показать динамику, если используется постоянно.

    Когда речь идет о предстоящих выборах, важно понимать концепцию федерального электорального цикла. Он длится пять лет и считается от выборов Государственную думу. Внутри этого федерального большого цикла ежегодно неравномерными группами проходят выборы по регионам. В 2021 году, в первый год цикла, 39 регионов провели выборы своего парламента одновременно с Госдумой. Так происходит в последние годы, чтобы использовать преимущества федеральной пропаганды, особенно в таких регионах как Санкт-Петербург, Пермский и Красноярский край. Потом идет второй год цикла, он самый маленький и самый неинтересный: из шести регионов, четыре — это жестко управляемые, где процент явки совпадает с максимальными процентами за победителя.

    Сейчас третий год цикла, завершается срок полномочий в тех регионах, которые голосовали после пенсионной реформы в 2018 году. В этот период были избраны такие фигуры, как Фургал (Хабаровский край) и Коновалов (Республика Хакасия). Выборы пройдут в 16 законодательных собраниях, и если учесть объявленные присоединенными области Украины, их станет 20. Кроме того, будут выборы в городские советы крупных городов.

    Что касается ЛНР, ДНР, Херсонской и Запорожской областей, объявленных присоединенными, тут есть много вопросов. В первую очередь, отсутствие четких границ делает невозможным формирование одномандатных округов. Поэтому выборы будут проводиться только по партийным спискам, как областных советах, так и на городских местных выборах. Еще одной проблемой являются списки избирателей: из-за миграции по линии фронта никто точно не знает, сколько людей находится на территории этих областей. Конкуренции там, вероятно, не будет. Какая может быть агитационная кампания в условиях военных действий, военного положения и комендантского часа? Я сомневаюсь в том, что голосование в привычном понимании этого слова вообще состоится. Конечно, будут оформлены протоколы, но что на самом деле произойдет на этих выборах, остается загадкой.

    Не считая эти территории, из 16 участвующих субъектов только два — Республика Башкортостан и Кемеровская область — строго контролируются властью. Такой была и Ростовская область, но сейчас она колеблется в сторону протестности. Там сложная ситуация из-за миграции, ухудшения криминогенной обстановки, плюс там как раз начинался Пригожинский мятеж.

    Оставшиеся 13 регионов являются конкурентными в плане выборов. Большинство из них находятся в Сибири и на Дальнем Востоке, включая Хакасию, Забайкальский край, Бурятию, Якутию и Иркутскую область. Кроме того, многие муниципалитеты, такие как Красноярска и Абакана, также являются конкурентоспособными. Также конкуренция есть в Архангельской области и Ненецком автономном округе — в 2020 году там голосовали против изменений в Конституции. Великий Новгород и Екатеринбург — два региона, где представлена фракция Яблоко.

    В конкурентных регионах происходит оживление политической жизни по сравнению с прошлым годом, если судить по текущим политическим кампаниям. Я вижу две основные причины этого оживления. Первая причина историко-географическая. Так сложилось, что некоторые регионы, например Крайний Север, всегда были более протестны и конкурентоспособны, там живут активные люди. Вторая причина — это стабилизация политической системы. В прошлом году многие были в шоке и не знали, что делать дальше. Сейчас же стало понятно, что режим устойчив и не собирается никуда исчезать. Он, скорее всего, будет меняться изнутри, следуя своим внутренним законам. Поэтому дискурс меняется в сторону того, как выживать, и какие должны быть ставки в этом выживании.

    Искать различия между кандидатами на основе их отношения к СВО бессмысленно, так как большинство из них об этом просто не говорят. Основное разделение происходит между теми, кто активно поддерживает спецоперацию, и теми, кто за возвращение к нормальной жизни. Радикальных борцов за прекращение СВО нет просто из-за рационального поведения игроков. Партии ведут себя по-разному: одни ассоциируют себя с властью, другие строят кампанию на поддержке бизнеса. Но нет такой партии, которая бы выступала за мир. Есть партии войны, которые конкурируют друг с другом. И есть несколько партий здравого смысла. 

    В целом, внешнеполитическая тематика не имеет никакого отношения к региональным выборам: органы этого уровня не влияют на принятие таких решений. Идти на местные выборы с внешнеполитической повесткой — это вводить избирателей в заблуждение. Региональные органы власти решают локальные задачи, такие как ремонт дорог или строительство больницы.

    Там, где это выборы неконкурентные, губернаторские, СВО в избирательной кампании не для избирателей, а для системы. Это защитная реакция: многие губернаторы боятся, что на них кто-то донесет, пожалуется, поэтому они перестраховываются, надевают камуфляж, посещают госпитали и ездят на фронт.

    В остальном, агитационная история касается социальной защиты. Защита семей тех кто призван или погиб, выделение путевок детям из этих семей или помощь конкретным социальным группам из Восточной Украины. Таких инициатив много, и я бы рассматривал их как часть социальной политики. Судя по локальным социологическим исследованиям, запрос на помощь пострадавшим существует и вызывает одобрение людей. Раз на глобальные вещи повлиять не могут, то надо помогать тем, кто пострадал — такое убеждение присутствует на региональном уровне.[/bilingbox]


     

    Die Verlesung der Wahlergebnisse am 11. September 2023 / Foto © Maksim Blinov/Sputnik Moscow Russia/imago-images

    Grigori Judin: Russland braucht erfahrene Demokraten in Freiheit, nicht im Gefängnis

    [bilingbox]Für die Regierung sind Wahlen unabdingbar, weil die Legitimität in Russland auf demokratischen Prinzipien basiert. Das bedeutet nicht, dass bei uns Demokratie herrscht, aber darauf basiert eben die Legitimität der Regierung. Die Regierung behauptet, allen Entscheidungen würden auf Grundlage des Volkswillens getroffen. Daher müssen regelmäßig Wahlen stattfinden. Der Erste, der ein solches System eingeführt hat, war im 19. Jahrhundert Napoleon III. in Frankreich. Es war dem im heutigen Russland sehr ähnlich. Das gesamte Verwaltungssystem des Landes ist an der Durchführung dieser Wahlen beteiligt, um die demokratische Legitimität der Regierung zu unterstützen.

    Andererseits sehe ich einen Bedarf an echter Demokratie in Russland, der vor allem von unten kommt, nämlich auf der Ebene der regionalen Selbstverwaltung. Das ist weniger die Forderung nach fairen Wahlen als vielmehr der Wunsch, auf regionaler Ebene selbständig entscheiden zu können. Vor dem Hintergrund der Wahlfälschungen bleibt dieses Bedürfnis nach Demokratie leider oft unbemerkt. Aber es ist real und stimmt optimistisch. 

    Ich bewundere das Engagement von Menschen, die sich derzeit aktiv am politischen Leben beteiligen, und glaube daran, dass gerade solche Menschen in der Zukunft etwas verändern können. Derzeit jedoch, unter den aktuellen Bedingungen, wird ihr Tun wohl kaum zu wesentlichen Veränderungen führen. Ich will die Aktivisten nicht kritisieren und sie nicht öffentlich von ihrer Mission abbringen, aber sie gefährden sich selbst: Während sie früher ihren Job riskierten, landen sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach im Gefängnis. Gerade weil ich ja glaube, dass sie die Zukunft in der Hand haben, will ich nicht, dass sie in Haft sitzen. 

    Was den Zusammenhang zwischen den aktuellen Wahlen und dem bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf betrifft, so sind die aktuellen Wahlen für die Verwaltung eine Art Probelauf. Es geht nicht nur um die Darstellung der Ergebnisse, sondern auch um das Funktionieren des Systems. Peskow nannte das eine „kostenintensive Bürokratie“, und ich gebe ihm Recht. Das ist nicht nur Bürokratie, sondern eine Investition ins System. Wenn man das billig machte, würde das System nicht funktionieren – nicht, weil es nicht billiger ginge, sondern weil genau das der Sinn dahinter ist. Jetzt, ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, ist es an der Zeit, die Funktionsfähigkeit des Systems unter den neuen Bedingungen zu testen, vor allem mit Rücksicht darauf, dass das System unter Stress steht. Doch das nächste große Plebiszit wird unter einem ganz anderen Druck stattfinden. ~~~Для правительства выборы необходимы, потому что в России легитимность строится на демократических принципах. Это не означает, что у нас демократия, но именно так устроена легитимация правительства. Правительство утверждает, что все решения принимаются на основе воли народа. Поэтому требуется регулярное проведение голосований. Такая система была впервые введена Наполеоном III во Франции в 19 веке и очень похожа на то, что происходит в России сейчас. Вся административная система страны работает на проведение этих выборов, чтобы поддерживать демократическую легитимность правительства.

    С другой стороны, я вижу запрос на настоящую демократию в России, который исходит, прежде всего, снизу — с уровня местного самоуправления. Это не столько требование честных выборов, сколько желание иметь возможность самостоятельно принимать решения на местном уровне. Этот демократический запрос, к сожалению, часто остается незамеченным на фоне проблем с фальсификацией выборов. Но он реален и внушает оптимизм.

    Я уважаю усилия тех, кто сейчас активно участвует в политической жизни, и верю, что именно такие люди в будущем смогут что-то изменить. Однако сейчас, в сложившихся условиях, их действия, скорее всего, не приведут к существенным изменениям. Я не критикую и публично не отговариваю активистов, но считаю, что сегодня их деятельность просто опасна для них самих, — если раньше их просто снимали отовсюду, то сейчас, вероятней всего, будут сажать. Именно потому, что я считаю, что за ними будущее, мне не хочется, чтобы их сажали.

    Что касается связи между текущими выборами и предстоящей президентской кампанией, то в административной логике текущие выборы являются своего рода репетицией. Важно не просто рисование результатов, а работающая система. Песков назвал это «дорогостоящей бюрократией», и я согласен с ним. Это не просто бюрократия, это инвестиция в систему. Если делать это дешево, система не будет работать, — не потому, что нельзя сделать дешевле, а потому что именно в этом и смысл. Сейчас, за полгода до президентских выборов, — время для проверки функционирования системы в новых условиях, особенно учитывая, что система находится под стрессом. Но следующий, большой, плебисцит будет проведен с совершенно другим уровнем давления.[/bilingbox]


    Julia Galjamina: Die Teilnahme an Wahlen gibt Aktivisten und Wählern Hoffnung

    [bilingbox]Ich finde es wichtig, an den Wahlen teilzunehmen, weil das eine Möglichkeit ist, gegen den Autoritarismus zu protestieren. Wir können und dürfen die Hoffnung nicht verlieren und müssen jede Gelegenheit nutzen, für unsere Werte einzustehen – für Frieden, Demokratie und politische Teilhabe. In jeder Situation und in jedem Kontext kann und muss man für seine Werte einstehen und entsprechend handeln, statt nur zu warten. 

    Es gibt drei triftige Gründe, an den Wahlen teilzunehmen: die Unterstützung des aktiven Teils des politischen Spektrums in Russland, die Repolitisierung der Gesellschaft und die Einflussnahme in den jeweiligen Städten. Die Wahlkampagne der Jabloko-Kandidaten in Weliki Nowgorod zum Beispiel ist im ganzen Land bekannt und gibt allen ein Fünkchen Hoffnung – den Aktivisten genauso wie den einfachen Wählern. 

    Wie viele Kandidaten überhaupt zu den Kommunalwahlen zugelassen werden, ist regional unterschiedlich. In Krasnojarsk zum Beispiel wurden alle Kandidaten zugelassen, aber ihre Zahl lässt zu wünschen übrig. Einer der Gründe dafür ist, dass es keine politische Kultur und keine Akteure gibt, die systematisch und nicht nur vor den Wahlen an die Öffentlichkeit gehen. In Jekaterinburg im bereits erwähnten Weliki Nowgorod, und im erweiterten Stadtgebiet von Moskau, wo permanent und systematisch gearbeitet wurde, gibt es viele Kandidaten, und die meisten von ihnen wurden auch zugelassen. In Belgorod wurden die wenigen unabhängigen Kandidaten nicht zugelassen, aber dort ist die Situation auch sehr angespannt

    Generell werden derzeit nicht so viele unabhängige Kandidaten aufgestellt und registriert. Aber ich finde nicht, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. In einer konkreten Stadt kann sogar ein einziger Abgeordneter eine große Stütze für die Bevölkerung sein. So hat beispielsweise der einzige unabhängige Abgeordnete in meinem Bezirk geschafft zu verhindern, dass das Parken in den Innenhöfen kostenpflichtig wird. Auch wenn nur wenige handeln, schöpfen viele daraus Hoffnung. Deshalb muss man weiter mit gutem Beispiel vorangehen, in Übung bleiben und die über Jahre gesammelte Erfahrung mit Wahlkampagnen wachhalten.~~~Мне кажется, участие в выборах важно, потому что это один из способов сопротивления авторитаризму. Мы не можем и не должны терять надежду и использовать все возможности для продвижения своих ценностей, таких как мир, демократия и политическое участие. Сегодня с двух сторон нам навязывается двойственное видение мира: страшная тьма и прекрасный свет. Только стороны света и тьмы меняются в зависимости от того, чья это пропаганда. Но нужно противостоять этой большевистской логике. В любой ситуации, в любом контексте можно и нужно продвигать свои ценности и действовать, а не просто ждать.

    Можно выделить три главных смысла участия в выборах: поддержание активной части политического спектра России, реполитизация общества и локальное воздействие в каждом городе. Пример кампании, которую показывают, например, кандидаты от «Яблока» в Великом Новгороде (участники Земского съезда) становятся известными во всей стране и дают луч надежды всем — и активистам, и простым избирателям.

    Ситуация с количеством и регистрацией кандидатов на муниципальных выборах различается по регионам. В Красноярске, например, кандидаты были зарегистрированы, но их количество оставляет желать лучшего. Одна из причин — отсутствие сложившейся культуры политических партий и действующих игроков, которые работали бы системно, не только в период выборов. А вот в Екатеринбурге и упомянутом Великом Новгороде, в Новой Москве, где велась постоянная системная работа, — кандидатов много и большинство из них зарегистрировали. В Самаре и Воронеже, несмотря на системную работу оппозиции, просто мало мест разыгрывается, так как проводятся довыборы, поэтому кандидатов не регистрируют. В Белгороде немногочисленных независимых кандидатов тоже не зарегистрировали, но там ситуация тоже очень напряженная.

    В общем, независимых депутатов сейчас и выдвигается и регистрируется не так много. Но я не согласна, что это капля в море. В конкретном городе даже один депутат может стать большим подспорьем для местных жителей. Например, единственный депутат в моем районе смог остановить введение платных парковок во дворах. Пусть немногие действуют, но многие испытывают надежду. Поэтому важно продолжать показывать пример, сохранять практики, навыки и предвыборный опыт, наработанный годами.[/bilingbox]


    Übersetzung: Ruth Altenhofer und Jennie Seitz

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    Googelt man „Putins Krieg“, dann bekommt man zehntausende Ergebnisse. Dabei sagen rund 70 Prozent der Menschen in Russland bei Meinungsumfragen, dass sie die „Spezialoperation“ unterstützen. Demnach ist die russische Aggression gegen die Ukraine also nicht das Werk eines einzelnen Mannes, auch der überwiegende Großteil der Russen trägt ihn mit. „Das einfache Volk ist dumm“ heißt es da nicht selten in staatlichen und auch in unabhängigen russischen Diskursen: Von der Propaganda gehirngewaschen, obrigkeitshörig, kollektivistisch, konformistisch – die Liste der Zuschreibungen ist lang, oft kommt man überein, dass der sogenannte Sowjetmensch einfach nie überwunden wurde, und dieser sei nunmal kaum ohne den Krieg denkbar. Dies bildet für viele die gesellschaftliche Stütze des Kriegs. 

    Die russische Propagandamaschinerie läuft tatsächlich auf Hochtouren. Was sie in den Köpfen ihrer Adressaten anstellt, ist ein intensiv diskutiertes Thema. Für einen Moskauer Soziologen, der aus Sicherheitserwägungen anonym bleiben will, verdeckt diese Intensität aber ein anderes Problem: Auf Meduza argumentiert er, dass nicht so sehr der „einfache Russe“ den Krieg unterstützt, sondern die informierten und globalisierten Eliten – reiche Russen, deren Aufstieg noch während der Sowjetunion begann. 

    „Wie kann das verfickt nochmal sein?“, wiederholt Rapper Vladi immer wieder in seinem gleichnamigen Song, geschrieben 2022, nach Kriegsbeginn. Und der Fußball-Shootingstar Alexander Kershakow sagt in einem Interview: „Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Wie so etwas in einer modernen und progressiven Gesellschaft möglich ist. Es will mir einfach nicht in den Kopf. Ich habe versucht, mir das alles irgendwie zu erklären, aber ich finde keine Antworten.“ Selbst anderthalb Jahre nach dem 24. Februar [2022] entziehen sich die Ereignisse unserem Begreifen, wirken surreal wie ein schlimmer Traum. Aber was genau begreifen wir nicht, und woher kommt das Gefühl, als würden wir träumen?

    Auch wenn der blutige Krieg gegen die Ukraine weder Grund noch Ziel hat, folgt er einer eigenen historischen und sozialen Logik. Erstens lässt sich der Krieg aus dem Weltbild Wladimir Putins und seiner Umgebung heraus erklären – diesem eigentümlichen historischen Messianismus der politischen Diktatur, die auf dem Nährboden von Geopolitik und Verschwörungen gewachsen ist. Weitere Erklärungen finden sich in den gesellschaftlichen Vorstellungen und Praktiken der russischen Bevölkerung, die, wie wir landläufig annehmen, in Ressentiment, Imperialismus und antiwestlichen Stimmungen gefangen ist und zu Gewalt neigt. Genau diese Einheit von Staatsmacht und „Volk“ wirkt über die Köpfe der prowestlichen Minderheit hinweg und lässt die irrationale russische Aggression in der Ukraine möglich (manche denken sogar folgerichtig) erscheinen. Mit diesen oder jenen Ausflüchten oder Details erklären wir uns diesen Krieg.

    Aber irgendetwas passt hier nicht zusammen. Der unaufgeregt alltägliche Grundton des gesellschaftlichen Lebens in Russland nach dem 24. Februar entspricht so gar nicht jenem Bild von Mobilisierung und Einheit, das wir mit einer Nation assoziieren, die einen totalen Krieg wie Mitte des letzten Jahrhunderts führt. Die Diskussion über die Faschisierung der russischen Gesellschaft, mit der im Frühjahr 2022 die Einordnung des russischen Einmarsches in die Ukraine begonnen hatte, ist schnell und unbemerkt verebbt. Wenn man nicht gerade in Frontnähe lebt, findet man auf den Straßen Russlands – von den Werbebannern für den Eintritt in die Armee abgesehen – kaum Spuren des Krieges.

    Das Z ist vor allem ein Symbol für sozialen Revanchismus

    Wenn Sie jemanden mit einem Z auf dem T-Shirt oder der Heckscheibe seines Autos sehen – also einen aktiven Unterstützer des Einmarsches in die Ukraine und des Kampfs gegen den Westen – und es handelt sich dabei nicht um einen hohen Beamten, einen Mitarbeiter der Propagandaorgane oder den Schauspieler Wladimir Maschkow, dann haben Sie es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem gesellschaftlichen Verlierer zu tun. Einem Nationalgardisten, der einen LADA Granta fährt, einem Z-Poeten, der über die mangelnde Unterstützung des Staates und den fehlenden Zugang zum Druckwesen und Fernsehen klagt, oder einem patriotischen Blogger beziehungsweise seinem Follower, die sich gegenseitig bemitleiden, dass der Staat von ihrem Patriotismus nicht endlich Gebrauch machen will. Das Z ist vor allem ein Symbol für sozialen Revanchismus.

    Die breite russische Gesellschaft zeigt keine klare Unterstützung für den Krieg, sondern versteht ihn als Teil einer natürlichen sozialen Ordnung. Soziologen sprechen von einer „Mehrheit der Nicht-Ablehnung des Kriegs“.

    Aber wer steht für diese Ordnung, ihre Reproduktion und ihre Legitimierung? Das sind die Eliten, die Schicht der gesellschaftlich Erfolgreichen. Und was sind die Eliten? Diese Schicht ist besser ins System integriert als der Durchschnitt. Ihr Kapital, sei es sozial, finanziell, administrativ oder ein Kapital von Symbolen, besitzt einen hohen Grad an Liquidität, ist also frei konvertierbar. 

    Nach dem 24. Februar hat ein Teil der russischen Elite das Land verlassen, aber der Großteil ist geblieben. Mittlere und kleinere Beamte, die die politisch-militärische Maschine des Kreml am Laufen halten; staatsnahe Unternehmen, die jetzt mit Importsubstitution und dem Umgehen von Sanktionen beschäftigt sind; die obere Mittelschicht und die Leitungsebene der aus dem Staatshaushalt bezahlten Institutionen, die der Staatsmacht gegenüber auf die eine oder andere Weise Loyalität demonstrieren müssen – das sind mehrere Millionen Menschen, die sich ohne erkennbaren Willen, aber auch ohne erkennbaren Widerstand in die moralische Ökonomie der militärischen Aggression einfügen. Das Leben ist nicht stehen geblieben, es gab kaum Rücktritte von Vorstandsposten, der Optimismus der Unternehmer ist ungebrochen.

    Aber wie kann das verfickt noch mal sein? Die Leichtigkeit, mit der der Großteil der russischen Eliten den Krieg akzeptiert hat – eben darin scheint das Rätsel zu liegen, von dem Rapper Vladi und Fußballer Kershakow sprechen.

    Die unsichtbaren Eliten und die Ethik der Bereicherung

    Über die postsowjetischen Eliten wissen wir erstaunlich wenig – aus unserem soziologischen Blickfeld wurden sie völlig verdrängt durch die Gestalt des einfachen Bürgers, jenes „Volks“, mit dessen Hilfe sich die russische gebildete Klasse seit Jahrhunderten das Auf und Ab der Geschichte erklärt. Die Tendenz zu solch groben soziologischen Verallgemeinerungen wird heute auch durch Umfrageergebnisse genährt. So scheint beispielsweise die Feststellung, die Mehrheit der Russen (70 bis 80 Prozent) würde den Krieg unterstützen, die Frage nach den Gründen dafür zu erübrigen. Man nimmt einfach als gegeben hin, dass es sich wohl um eine Manifestation des nationalen Charakters handeln muss.

    Doch die Fixierung auf das große Ganze verstellt den Blick auf die Details. So weisen die Ergebnisse derselben Umfragen darauf hin, dass in der Gruppe der Unterstützer die Hauptrolle nicht, wie man vielleicht vermuten würde, die Armen spielen, sondern die Reichen. Laut dem unabhängigen soziologischen Projekt Russian Field, das die Ergebnisse seiner Umfragen systematisch in Bezug auf die finanzielle Situation der Befragten veröffentlicht, korrelieren die erklärte Unterstützung für Wladimir Putin, die „militärische Spezialoperation“ und die „Teilmobilmachung“, das Vertrauen in offizielle Erklärungen und sogar die Bereitschaft, persönlich in den Krieg zu ziehen, direkt mit dem Wohlstand der Befragten: Die Loyalität derjenigen, die ihre finanzielle Situation als „gut“ einschätzen, liegt seit Kriegsbeginn unverändert im Durchschnitt 15 bis 25 Prozentpunkte höher als die derjenigen, die ihre finanzielle Situation als „schlecht“ oder „sehr schlecht“ einschätzen.

    Wir können insgesamt annehmen, dass das Einkommensniveau, unabhängig von den politischen Einstellungen, mehr oder weniger dem Grad an sozialer Integration und dem Eingebundensein ins große Ganze entspricht. Und obwohl die Wohlhabenden besser vor wirtschaftlichen Erschütterungen geschützt sind als die, die weniger besitzen, sollte man annehmen, dass sie die Ereignisse gleichzeitig pragmatischer betrachten und die Auswirkungen der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Situation auf die eigenen Perspektiven deutlicher spüren. Doch den Umfrageergebnissen nach zu urteilen, scheint genau dies nicht der Fall zu sein. Die wichtigsten Befürworter und Förderer des Kriegs in Wort und Tat sind nicht, wie es sich die gebildete Klasse gewöhnlich ausmalt, die von der Propaganda korrumpierten Vertreter des „gemeines Volkes“, die nie einen Reisepass besessen haben – sondern die informierten und globalisierten Eliten.

    Wer sind die Wohlhabenden in der postsowjetischen Gesellschaft?

    Aber was für Menschen sind das? Wie gestaltet sich ihr Erfolg in der postsowjetischen Gesellschaft? Paradoxerweise ist die markanteste Eigenschaft der postsowjetischen Eliten gerade ihre Unsichtbarkeit, ihre Unterrepräsentiertheit im öffentlichen Leben (abgesehen von der obersten Führung). Die russischen Eliten sind zunächst einmal keine verdienstvollen, keine gesellschaftlich anerkannten Eliten – sie sind Eliten der Korruption, also der heimlichen Errungenschaften, der Vermögen unklarer Herkunft und der hohen Zäune, die sie vor der Öffentlichkeit abschirmen. Diese Eliten existieren in einer patronal-bürokratischen Logik, selbst wenn sie nicht unmittelbar in die Staatsbürokratie eingebunden sind: Die obere Spitze der russischen Gesellschaft ist von einem dichten Netz des Bürokratie- und Silowiki-Klientel durchzogen, wobei sich die bürokratischen Muster längst über den eigentlichen Bürokratieapparat hinaus verbreitet haben. Die russischen Eliten erhalten ihren Status in der Regel von einem Gönner oder einem Vorgesetzten, und daher ist ihr Ruf nicht öffentlich; es existiert schlichtweg keine soziale Mythologie, die ihre Erfolge in den Augen der Gesellschaft, ja sogar in den eigenen Augen legitimieren würde. Die postsowjetischen Eliten sind eine Klasse der Unsichtbaren.
     

    „Ein Merkmal der postsowjetischen Eliten ist ihre totale ideelle Prinzipienlosigkeit, die ausschließlich das Recht des Stärkeren und die Macht des Geldes akzeptiert“ / Foto © UPI Foto/imago images

    Ein weiteres Merkmal dieser Eliten ist ihre totale ideelle Prinzipienlosigkeit, die ausschließlich das Recht des Stärkeren und die Macht des Geldes akzeptiert. Die russischen Eliten sind Eliten der Bereicherung und des Konsumismus, die zu einer Weltanschauung wurden. Der persönliche materielle Wohlstand ist hier der Idee des Gemeinwohls und jeglichem Idealismus demonstrativ entgegengesetzt. Dass solche Werte für die russischen Eliten absolut keine Rolle spielen, erkennt man leicht an der Qualität der sozialen Infrastruktur in Russland, angefangen bei Wohnungs- und Kommunaldienstleistungen bis hin zu den Bestattungen.

    Das Fehlen von Idealen kombinieren sie mit Hyperloyalität: Die russischen Eliten bestehen aus überzeugten Anhängern des Regimes. Nur dass sie nicht etwa deshalb loyal sind, weil sie den ideologischen Pathos des bestehenden Regimes teilen, sondern weil es die Stabilität der sozialen Ordnung gewährleistet, deren Nutznießer sie sind. Die unverhüllte und kulturell legitimierte Praxis dieser Eliten besteht in ihrer Heuchelei, die an das Orwellsche Doppeldenk erinnert: Erklärte Antiwestler investieren in die Ausbildung ihrer Sprösslinge im Ausland und Immobilien in eben jenem Westen, das Rechtswesen ist mit Schutzgelderpressung und Terror beschäftigt, und die Zahlen in den Steuererklärungen bilden nur einen Bruchteil des realen Kapitals ab. Worte und Taten klaffen radikal auseinander, und das ist die soziale Norm.

    In gleichem Maße trifft [die Heuchelei] auch auf die Staatsideologie selbst zu. Wie auch immer die Ideologie lautet, ihr Inhalt tritt für die Eliten hinter ihre soziale Funktion zurück: Der Eid auf die „offiziellen Werte“ ist lediglich ein Loyalitätsritual, der Preis für den Wohlstand.

    Die unzivile Gesellschaft und der nicht-einfache sowjetische Mensch

    Der Gedanke liegt nahe, dass diese „unsichtbaren Eliten der Bereicherung und Heuchelei“ aus den sogenannten wilden Neunzigern emporgekommen sind – der Epoche des frühen russischen Kapitalismus, der seinerzeit den sozialistischen Idealismus von der Bildfläche verdrängt hat. So sieht es zum Beispiel der vielleicht beste Kenner der postsowjetischen Bürokratie, Alexej Nawalny („Putin ist die Neunziger“). Und die heutigen Linken würden diese Eliten als Eliten des globalen Neoliberalismus bezeichnen (so beschrieb es unlängst der Soziologe Grigori Judin in einem Beitrag für Meduza). Beide Hypothesen sind jedoch falsch: Die postsowjetischen Eliten sind das spezifische Erbe einer spätsowjetischen Gesellschaftsordnung.

    Vor zehn Jahren haben der US-Historiker Stephen Kotkin und der berühmte polnisch-amerikanische Holocaust-Forscher Jan Gross das Buch Uncivil Society: 1989 and the Implosion of the Communist Establishment über den Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa geschrieben. Die „uncivil society“ – das ist die sowjetische Nomenklatura: der obere Teil des Staatsapparats, die Partei- und Militärspitze und das offiziöse Kulturestablishment, die einen geschlossenen sozialen Organismus mit gemeinsamen Werten und sozialen Strategien herausgebildet hatten. Die plötzliche Abkehr der „uncivil society“ von der Loyalität gegenüber der sowjetischen Ideologie Ende der 1980er Jahre habe die kommunistischen Regime in Osteuropa genauso zerstört, wie die Bankenpanik, der „bank run“, das Bankensystem zerstört, schreiben Kotkin und Gross. Sie stellen den Opportunismus der sozialistischen Eliten 1989 dem gewohnten Bild des Triumphs der antikommunistischen Opposition auf den Überresten der Berliner Mauer gegenüber.

    Die postsowjetischen Eliten als spezifisches Erbe einer spätsowjetischen Gesellschaftsordnung.

    Wir sollten den so treffenden Terminus „unzivile Gesellschaft“ weiter fassen und nicht nur auf die sowjetische Nomenklatura beziehen, sondern auch auf die Eliten der spätsowjetischen Gesellschaft insgesamt: die sozial fortgeschrittene urbane Klasse, die großen und kleinen Manager, die in den Kreislauf des administrativen, finanziellen und des Austauschs von Symbolen eingebunden sind. Diese Eliten formieren sich quasi in der Gegenphase zum erlöschenden sowjetischen Projekt, ihr Auftreten selbst ist eine Form des Erlöschens: Die Abneigung gegen die rhetorische Exaltiertheit und ideologische Ritualisiertheit des Sowjetischen brachte in den 1970er Jahren eine neue, anti-idealistische soziale Ethik hervor, einen eigentümlichen sowjetischen Utilitarismus. Befeuert wurde er durch den Erdöl-Boom, der Geld in die sowjetische Wirtschaft pumpte, sowie die Entspannungspolitik, die den Eisernen Vorhang, der das rasante Wachstum der Konsumwirtschaft im Westen vor den Augen der Bevölkerung der UdSSR verborgen hatte, durchlässig machte. In der Folge wurde dieser Utilitarismus zu einer Art Parallel- beziehungsweise Schattenethik der spätsowjetischen Gesellschaft und ihrer Eliten – eine Ethik des Konsumismus, die in der Welt des sozialistischen Defizits eine besondere symbolische Aufladung erfuhr.

    Aber die öffentliche Bühne der UdSSR war komplett von der sowjetischen Ideologie und dem Kampf gegen sie besetzt, weshalb es nie zu einer sozialen Mythologisierung des Kults um den persönlichen sozialen und wirtschaftlichen Erfolg kam, die ihn legitimiert hätte. Während sie nach außen hin weiter brav die Rituale der Sowjetideologie ausführte, erlebte die „uncivil society“ des späten Sozialismus im Schatten des öffentlich sanktionierten sozialen Handelns ihre Evolution.

    Eliten des spätsowjetischen Konsumismus und die postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ sind so ähnlich, weil sie ein und dasselbe sind

    Dass sich die Eliten des spätsowjetischen Konsumismus und die postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ bis zur Ununterscheidbarkeit ähneln, hat eine einfache Erklärung: Es handelt sich um dieselben Eliten und dieselbe Ethik. Ihre Apostel sind die Emporkömmlinge der 1970er Jahre, die mit dem Aufblühen der Ethik der Bereicherung groß geworden sind und in den 2000er Jahren auf die historische Bühne traten, als sie die idealistische Generation der Tauwetterperiode endgültig verlassen hatte. Einer Studie von Maria Snegowaja und Kirill Petrow zufolge sind etwa 60 Prozent der heutigen politischen Elite in Russland unmittelbar aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen, und einer ihrer typischen Vertreter ist ihr Präsident geworden.

    Einer ihrer typischen Vertreter ist Präsident geworden

    Dabei dominiert in unserer Gesellschaft eine ganz andere Vorstellung vom sowjetischen Erbe. Diese Vorstellung hängt mit der vorherrschenden und längst zum Allgemeinplatz gewordenen soziologischen Hypothese von der Existenz eines speziellen und dominierenden Homo sovieticus zusammen. Sie wurde ausführlich in dem Buch Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls (der russische Titel lautet wörtlich: Der einfache sowjetische Mensch) beschrieben, das 1993 von Juri Lewada und seinen Kollegen aus dem damals gerade gegründeten WZIOM, dem Vorgänger des heutigen Lewada-Zentrums, herausgegeben wurde. 

    „Der einfache sowjetische Mensch“, wie ihn die Soziologen Anfang der 1990er Jahre sahen, ist ein beschränkter, infantiler und neidischer Mensch, der sein Schicksal dem Staat überlassen hat, nicht auffallen will, biegsam und hinterlistig ist, Angst vor Verantwortung hat und allzeit damit beschäftigt ist, irgendwie zu überleben. 1993 schien es, als würde er die gesellschaftliche Bühne verlassen, aber die weiteren Beobachtungen zwangen Lewada und seine Ko-Autoren dazu, diesen Schluss radikal zu überdenken: Sie kamen zu der Erkenntnis, dass die Anpassungsfähigkeit und Zähigkeit des Homo sovieticus sich als so hoch erwiesen hatten, dass sie ihn ins Zentrum nun auch der postsowjetischen Gesellschaftsordnung stellten. Dies wiederum habe den Weg geebnet für die Hemmung des Demokratisierungsimpulses während der Perestroika und das spätere Abgleiten Russlands in den Autoritarismus. 

    Später fügten die Soziologen den Hauptmerkmalen des „einfachen sowjetischen Menschen“ das einst von Nietzsche erfundene Ressentiment hinzu – eine Art sozialer Minderwertigkeitskomplex, der sich selbst kompensiert, indem er erfolgreichere Gesellschaftsmodelle (den „Westen“) aktiv ablehnt oder ihnen gegenüber sogar aggressiv auftritt. Das ist es, woraus die berüchtigte „Putin-Mehrheit“ besteht, die zu dem Meme „86 %“ wurde.

    Die Frage nach der realen Existenz des Homo sovieticus ist, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt, eine Geschichte für sich, die längst zum Thema einer wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion geworden ist. Und dennoch, es ist erstaunlich, wie unähnlich sie sich sind: dieser „einfache sowjetische Mensch“ der russischen Soziologie, eine Geisel des Paternalismus und Ressentiments, und der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ der spät- und postsowjetischen Eliten. Anstelle des Paternalismus steht bei diesem das administrative Unternehmertum, Geschäfte mit Hilfe und im Umfeld des Staates, und anstelle des Ressentiments die Defizite von Symbolen, das heißt die fehlende Möglichkeit, die eigenen sozialen Erfolge zu legalisieren (hieraus erklärt sich auch die Neigung der Führungsspitzen zu wissenschaftlichen Titeln, die ebenfalls auf die spätsowjetischen sozialen Moden und ihre Denkmalwut zurückgeht).

    Man muss jedenfalls klar sehen, dass hinter den heutigen Eliten Russlands eine starke, tief verwurzelte spät- und postsowjetische soziale Moral steht, die eine beständige soziale Ordnung formiert hat, welche sich seit nunmehr einem halben Jahrhundert erfolgreich evolutioniert. Im Grunde ist die postsowjetische Epoche die Epoche des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“: Die Korruption wurde zur faktisch legitimierten Basis des polit-ökonomischen Systems, während die Ethik der Bereicherung die Werte des sozialen und politischen Idealismus verdrängt hat, den die Generation der 1960er gepredigt hat (und dessen Sternstunde die Perestroika war).

    Trotz aller Probleme um die Anerkennung und die Öffentlichkeit besetzen heute der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ und die „unzivile Gesellschaft“ praktisch die komplette soziale Bühne in Russland. Folglich ist das Wichtigste, das die postsowjetische Gesellschaft von der sowjetischen geerbt hat, nicht Ressentiment und Paternalismus, ja nicht einmal das imperiale Denken, sondern die spezifische Verbindung von einem sozial-bürokratischen Unternehmertum mit politischem Konformismus, also mit einer Depolitisierung.

    Die Folgen der Depolitisierung und die moralische Katastrophe

    Das Weltbild des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“ negiert den Wert der politischen Teilhabe. Die demokratische Maschinerie ist für ihn kein Mechanismus, sondern reine Dekoration. Die fehlende Nachfrage der postsowjetischen Eliten nach Demokratie hat dazu geführt, dass die demokratischen Institutionen im neuen Russland schnell zu einer Imitation verkommen sind und die Fälschung der Wahlergebnisse zu einer sozialen Massenpraxis, in der die Hauptrolle wiederum jene „unzivile Gesellschaft“ spielt: kleinere Führungskräfte, Schuldirektoren und Leiter anderer staatlicher Unternehmen und so weiter. So kam es, dass die Basis der postsowjetischen sozialen Ordnung nicht die öffentliche, sondern eine bürokratische Konkurrenz wurde und der zentrale Hebel nicht die öffentliche Anerkennung, sondern die Loyalität gegenüber der Obrigkeit.

    Die apolitischen Einstellungen der spät- und postsowjetischen Eliten sind das Misstrauen in die Politik als solche oder ihre Verwandlung in ein Mittel der Bereicherung. Diese Einstellungen haben das politische Regime in Russland von den Systemen der Kontrolle und Gegengewichte befreit. Das Vakuum an Symbolen, in dem diese Eliten existieren, wurde gefüllt mit Verschwörungen und antiwestlichen Stimmungen, die so ungehindert zur Staatsideologie werden konnten.

    Die Abkehr der „Eliten der Bereicherung“ von jeglichen politischen und intellektuellen Ansprüchen machte es möglich, dass sich das politische Regime in Russland in eine personalisierte Diktatur verwandeln konnte, die sich schließlich von der Realität lossagte und einen blutigen Krieg gegen die Ukraine entfesselte. Genau das ist die Formel, die die Kontinuität zwischen der postsowjetischen Welt und unserem tragischen Heute erklärt – das Bindeglied ist die gemeinsame soziale Moral: die Moral der Bereicherung und der Teilnahmslosigkeit. Der Begriff „moralische Katastrophe“ scheint auf den ersten Blick eine ausgelutschte publizistische Plattitüde, aber im Fall Russlands im Jahr 2023 besitzt sie einen konkreten soziologischen Inhalt: Die Gründe für den Krieg in der Ukraine liegen in der sozialen Ethik.

    Die Grenzen der Loyalität und die Stabilität des Regimes

    Die Loyalität der „unzivilen Gesellschaft“ gegenüber dem Regime ist begrenzt: Genau wie in der postsowjetischen Zeit ist der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ und die aus solchen wie ihm bestehende „unzivile Gesellschaft“ völlig befreit von jedem ideologischen Pathos; hinter vorgefertigten Formeln verbirgt sie ihre Korruptions- und Bürokratie-Erfolge. Zehntausende große und kleine Führungskräfte, Beamte, Manager, Staatsunternehmer, die in das bürokratische Milieu eingebunden sind, ökonomisch erfolgreiche, „respektable“ Leute, die ihre Erfolge nicht legalisieren und der Öffentlichkeit präsentieren können – sie alle sind bereit, ihren Eid auf einen noch so menschenfressenden „nationalen Führer“, jede „militärische Spezialoperation“ und weiß der Teufel was zu schwören, solange diese ihre gesellschaftliche Stellung sicherstellen und sie mit immer neuen administrativen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ausstatten.

    Es wird zu einer Abwendung kommen von dem radikalisierten Regime, das den Wohlstand in Gefahr bringt

    Das bedeutet wiederum, dass hinter dem hohen Grad der Unterstützung des Krieges unter den russischen Eliten, von dem die Umfragen zeugen, keine ideologische Mobilisierung steht, sondern ein Loyalitätsreflex. Noch ist sich der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ sicher, dass die Macht Wladimir Putins seine „unzivile Gesellschaft“ schützt und als Garant für seine Prosperität fungiert. Aber irgendwann kommt es zu einem Umbruchmoment, in dem er sich, wie immer schweigend, von dem radikalisierten Regime abwendet, das seinen Wohlstand in Gefahr bringt, und dann bringt ein neuer Anfall von „Bankenpanik“ das scheinbar unerschütterliche politische System zu Fall.

    Das Regime scheint allerdings selbst sehr wohl zu verstehen, worauf seine Unterstützung beruht, und versucht, seine wahnwitzigen Ambitionen mit den Interessen des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“ ins Gleichgewicht zu bringen. Die Metropolen und Großstädte, die seinen hauptsächlichen Lebensraum darstellen, bleiben von der „Teilmobilmachung“ (und der Kriegspropaganda insgesamt) weitgehend verschont. Seit Kriegsbeginn werden verstärkt Antikorruptionsgesetze abgeschafft, sogar eine Aufhebung des Vergaberechts wird diskutiert. Eine Umweltschutzorganisation nach der anderen wird kriminalisiert, weil sie Unternehmern und Beamten ein Dorn im Auge sind.

    Die Frage, ob Putin in der Lage sein wird, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ist nicht leichter zu beantworten als jede andere Frage bezüglich unserer Zukunft. Noch schwieriger ist es jedoch, sich vorzustellen, wie das Schicksal der russischen Gesellschaftsordnung und ihres Herrschers, eines „nicht-einfachen Sowjetmenschen“, auf der nächsten Windung der Geschichte aussehen wird, der wir uns im Eiltempo nähern.


    Leseempfehlungen

    Projekt: Die Hunde des Krieges. Russische Oligarchen der Kriegszeit.

    Die russischen Geldeliten unterstützen den Krieg nicht nur, sie verdienen auch daran, wie eine Recherche des gemeinnützigen Investigativ-Onlineportals Projekt zeigt. 

    „Mindestens 83 Personen aus dem letzten Forbes-Vorkriegs-Ranking der 200 reichsten Russen waren offen an der Versorgung der russischen Armee und der Rüstungsindustrie beteiligt.

    Gegen 82 von ihnen sind Sanktionen verhängt worden, aber nur 14 dieser 82 sind in allen Gerichtsbarkeiten der pro-ukrainischen Koalition sanktioniert. Und 34 überhaupt nur in der Ukraine. Die Gesamtsumme der offen zugänglichen Verträge, die die Unternehmen dieser Geschäftsleute während des Kriegs in der Ukraine (seit 2014) mit der russischen Rüstungsindustrie abgeschlossen haben, ist riesig – nicht weniger als 220 Milliarden Rubel, also fast drei Milliarden US-Dollar (im Durchschnittskurs von 2021).“

    russisches Original (vom 31.07.2023) / englisches Original (vom 31.07.2023) / Übersetzung aus Google Translate


    iStories: Wie russische Milliardäre die Armee mit Söldnern versorgen

    Die russischen Oligarchen gehören zu den größten Unterstützern des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Laut einer Recherche des gemeinnützigen Investigativ-Onlineportals Projekt gehören sie auch zu den größten Profiteuren. iStories hat zudem herausgefunden, dass viele ihrer Unternehmen auch ziemlich direkt an dem Krieg teilnehmen: Die Firmen von Oleg Deripaska, Leonid Mikhelson und anderen Geschäftsleuten heuern Söldner an, setzen sie auf ihre Gehaltslisten – und entgehen trotzdem teilweise den westlichen Sanktionen. 

    russisches Original (vom 01.08.2023) / englisches Original (vom 01.08.2023) / Übersetzung aus Google Translate

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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