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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

    „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

     

    145 politische Gefangene wurden seit Juli 2024 in Belarus freigelassen. Von einem Abflauen der Repressionen kann allerdings keine Rede sein. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna konstatiert in ihren monatlichen Analysen „ein unverändert hohes Niveau der politisch motivierten Repressionen“. Mit den bevorstehenden sogenannten Präsidentschaftswahlen zieht das Regime die Daumenschrauben wieder deutlich an. Allein seit Anfang November wurden über 100 Personen festgenommen

    Gleichzeitig werden auch Familien und Verwandte von politischen Gefangenen häufig Ziel der Sicherheitsbehörden. Eine solche Geschichte erzählt das Online-Medium Mediazona Belarus.  

    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat
    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat

    Mitte Sommer 2023. Der achtjährige Wanja, seine elfjährige Schwester Marija und der 16-jährige Daniil haben endlich Ferien. In ihrer Wohnung in Minsk finden regelmäßig Durchsuchungen statt. Weil eine Sonderkommission entschieden hat, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. 

    Ihre Mutter Galina Budai versucht bereits seit Monaten, der Kommission zu beweisen, dass mit ihrer Familie alles in Ordnung ist. Galina muss gleichzeitig die Formulare studieren, mit denen die Beamten sie überhäufen, die Kinder erziehen und ihren Mann in der Strafkolonie unterstützen. Im September 2022 wurde der 46-jährige Andrej im Fall Busly ljazjaz (dt. Die Störche fliegen) zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Behörden lassen keine Gelegenheit aus, daran zu erinnern, nach welchem Paragrafen Andrej verurteilt wurde, wie lange er sitzen muss und dass er auf der „Terrorliste“ steht. 

    Offiziell steht die Familie unter Beobachtung, weil Galina und Andrejs Kinder zu Hause unterrichtet werden. Dabei hat sich daran jahrelang niemand gestört. Bis eines Tages der damals 15-jährige Daniil kurz nach 23 Uhr in der Metro von der Miliz aufgegriffen wurde. Er fuhr ohne Begleitung eines Erwachsenen nach Hause. Die Beamten brachten den Teenager auf die Wache und durchsuchten sein Handy. Dort fanden sie ein Abo des Telegram-Kanals von Nexta

    „Sie fragten ihn aus, wo seine Eltern sind“, erzählt Galina. „Er sagte, wo ich bin, und dass sein Vater in Untersuchungshaft sitzt. Sie wollten wissen, weswegen, da hat er geantwortet: ‚Wegen nichts.‘ Die Antwort schmeckte ihnen gar nicht, sie fingen an zu brüllen und ihn zu beschimpfen. So was kennt er von zu Hause nicht. Sie haben ihm richtig Angst eingejagt, und mir auch, als ich ihn abholen kam. Zum Abschied sagten sie, so was verjährt nicht, und wenn er sechzehn wird, kommen sie ihn wegen diesem Kanal holen.“ 

    *** 

    Über den Vorfall wurde die Einzugsschule der Kinder informiert. Weil sie zu Hause unterrichtet werden, gehen sie dort nur für die Prüfungen hin. Die Eltern haben sich immer selbst um den Unterricht gekümmert: Galina ist diplomierte Pädagogin und hat eine entsprechende Zusatzausbildung abgeschlossen. Nach Daniils Verhaftung verlangte die Schulleiterin, dass die Kinder umgehend wieder die Schulbank drücken. Für Galina kam das gar nicht in Frage. 

    „Für mich sind die Mängel des belarussischen Schulsystems offensichtlich. Wir sind zum Beispiel gegen jeglichen Militarismus, gegen den Krieg und jede Form von Gewalt. Von Freunden wissen wir aber, dass diese Themen jetzt an den Schulen zum Alltag gehören.“ Weil Galina sich weigerte, die Kinder zur Schule zu schicken, wurde eine Sonderkommission darauf angesetzt, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. Über das Schicksal der Familie entschieden die Leiterin der Bildungsabteilung im Exekutivkomitee, die Schuldirektorin, eine Beamtin vom Sozialdienst, Milizionäre und aus irgendeinem Grund sogar Feuerwehrleute. „Die Dame vom Sozialdienst erzählte irgendwas von Pflegeeltern und Adoption“, erinnert sich Galina. 

    Dass die Kinder in einer akkreditierten Online-Schule angemeldet sind und ausgezeichnete Noten haben, dass die Mutter Pädagogin ist und keiner in der Familie je irgendwie auffällig geworden ist, interessierte die Kommission nicht im Geringsten. Die Familie wurde für drei Monate als „sozial gefährdet“ eingestuft. In dem Gutachten hieß es, die Eltern würden „den Grundbedürfnissen der Kinder nicht nachkommen und den Erhalt der obligatorischen allgemeinen Sekundarschulbildung (in jeglicher Form) verhindern“. Es wurden „Maßnahmen zur Beseitigung der Ursachen und Bedingungen, die zur Schaffung eines ungünstigen Umfelds für die Kinder geführt haben“ festgesetzt. 

    *** 

    Daraufhin begannen die ständigen Kontrollen – nicht nur durch die Schule, sondern auch durch den Sozialdienst, das Bezirkskrankenhaus und – seltener – durch die Polizei. „Ich saß nicht untätig herum, sondern versuchte, den Beschluss des Exekutivkomitees anzufechten, aber vergeblich“, sagt Galina. 

    Das Bildungsministerium, an das sich Galina ebenfalls wandte, äußerte sich widersprüchlich. Ein Anwalt, den sie konsultierte, sagte, das Dokument könne auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden: Es ließe offen, ob häuslicher Unterricht nun verboten oder erlaubt war. „Ich pochte auf mein Recht, meine Kinder zu Hause zu unterrichten, und sah seitens des Ministeriums oder der Schule keine Spur von Unterstützung. Keinen Funken Menschlichkeit. Die Schule interessiert sich nur für die Ideologie, die Zukunft der Kinder ist ihr völlig egal“, meint Galina. 

    Für die Kinder, die 70-jährige Großmutter, die in der Familie lebt, und für Galina selbst bedeutete die Aufmerksamkeit des Staates eine enorme Belastung. Die Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte und anderen Beteiligten kamen meist ohne jede Vorwarnung, höchstens ein Anruf 15 Minuten vor dem Besuch. Die Familie musste immer in Alarmbereitschaft sein. Die Kontrolleure überprüften, ob im Haus genug zu essen war, ob die Kinder Arbeitsplätze hatten, die richtigen Hefte und Lehrbücher. Sie durchwühlten die Dokumente und sahen nach, ob die Kinder alle vorgeschriebenen Impfungen hatten. Zu beanstanden gab es nichts – außer, dass der Vater im Gefängnis war und die Kinder zu Hause lernten anstatt in der Schule. Nach drei Monaten kam die Kommission wieder zusammen. Der Status als „sozial gefährdet“ wurde verlängert. 

    „Wir standen alle unter Schock, wir waren sicher gewesen, dass sie uns endlich in Ruhe lassen würden. Aber nein, es gab weder Mitgefühl noch Verständnis. Mir kam es damals vor, als hätte der Staat mehr Anrecht auf die Kinder als ich. Er wollte entscheiden, wie sie lernen, mit wem sie Umgang haben und so weiter.“ Wegen der fremden Leute im Haus standen die Kinder extrem unter Stress, sie machten sich Sorgen um die Mutter und vermissten ihren Vater, dem sie regelmäßig Briefe schrieben. 

    „Er hat immer sehr viel Zeit mit den Kindern verbracht. Er spielte mit ihnen, fuhr die Kleinen mit dem Fahrrad herum, machte Touren mit unserem Großen. Sie waren es gewohnt, dass Mama die Hausarbeit macht und sie unterrichtet. Papa war für sie Freizeit, Ferien. Er dachte sich immer Abenteuer für sie aus: bei Hitze im Springbrunnen baden, mit dem Großen nachts heimlich Schawarma essen fahren oder mitten in Minsk einen Igel aufspüren und ein Video von ihm machen. Er steckte voller verrückter Ideen.“ 

    Andrej Budai war Im Juli 2021 verhaftet worden. Nach der Festnahme kamen Mitarbeiter des GUBOPiK mehrfach zu ihm nach Hause, durchsuchten die Wohnung nach Waffen – alles vor den Augen der Kinder. Andrej Budai leitete zuvor ein Bauunternehmen. 

    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat
    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat

    *** 

    In der Zeit, in der die Familie als „sozial gefährdet“ galt, sprach Galina mehrfach mit dem Schulamt. Einmal sagte man ihr: „Ihnen ist doch wohl klar, dass Sie diesen Status nicht ewig behalten werden. Beim nächsten Mal übergeben wir Ihre Akte einfach der Staatsanwaltschaft, und dann geht es bis hin zum Kindesentzug.“ 

    „Man hat mir also zu verstehen gegeben, dass sie mir die Kinder wegnehmen, wenn ich nicht pariere“, erinnert sich Galina. Das war der Moment, in dem sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte, das Land zu verlassen. Für 2023 war bereits die dritte Sitzung der Kommission anberaumt. 

    „Im Herbst wollten wir Andrej in der Kolonie besuchen. Wir wollten ihn so gerne sehen, bevor wir wegziehen, aber die Lagerleitung hat uns nicht zu ihm gelassen. Diese Situation zog sich bis zum Winter hin, der Druck wurde immer größer. Dann brach der Kontakt zu meinem Mann ab.“ Später erfuhr Galina, dass Andrej in eine andere Kolonie verlegt worden war. 

    *** 

    Galina reiste mit ihren Kindern nach Litauen aus. Die Großmutter blieb und bekam noch mehrmals Besuch von diversen Behörden, die wissen wollten, wo die Kinder sind. Die Familie hatte immer noch den Status „sozial gefährdet“. „Aber das ist nicht mehr unsere Sache“, sagt Galina. 

    In Litauen hat die Familie nun eine Aufenthaltserlaubnis, aber vor Galina liegen noch viele Herausforderungen: Arbeit finden, in die Krankenversicherung aufgenommen werden, die Sprache lernen und den Kindern dabei helfen und darauf achten, dass sie ihren Vater nicht vergessen. „Wir beten für ihn und unterstützen ihn, so gut es geht. Wir erinnern uns an gemeinsame Momente mit ihm, was er zu wem gesagt hat. Denken daran, dass wir ein Team sind. Wie unser Team am Ende abschneidet, hängt davon ab, wie jeder einzelne von uns mit der Situation umgeht. Auch wenn mein Mann physisch nicht anwesend ist, sind wir trotzdem immer zusammen.“ 

    Der älteste Sohn Daniil ist in den letzten Monaten merklich erwachsener geworden, er möchte seiner Mutter eine Stütze sein. Marija und Wanja vermissen ihren Papa sehr. Wanja habe lange nicht darüber gesprochen, erzählt Galina, aber jetzt habe er ihr anvertraut, dass sein Papa ihm fehle und es ihm wehtue, andere Jungen mit ihren Vätern zu sehen. Zu Hause in Belarus hatte Wanja eine ganze Sammlung von selbstgezüchteten Veilchen, die er zurücklassen musste. Jetzt hat Wanja auch in der neuen Heimat sein Hobby wiederaufgenommen und kümmert sich um seine Blumen. 

    Andrej Budai befindet sich währenddessen in der Strafkolonie IK-2 in Bobruisk, wo er regelmäßig in den Strafisolator gesperrt wird. Am 23. September 2024 wurde eine neue Anklage gegen den Politgefangenen verhandelt: wegen „böswilligen Ungehorsams gegen die Lagerverwaltung“. 

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    Der Herrscher hat es eilig

  • Der Herrscher hat es eilig

    Der Herrscher hat es eilig

    Am 26. Januar 2025 sollen Präsidentschaftswahlen in Belarus stattfinden. Oppositionsparteien sind längst verboten, Gegenkandidaten wird es also kaum geben. Nach wie vor werden fast täglich Menschen festgenommen und weggesperrt, öffentlicher Widerstand und Protest sind de facto unmöglich. Es wird also keine Wahl sein, sondern die Inszenierung einer Wahl, bei der sich Alexander Lukaschenko abermals zum Sieger küren wird. Dennoch sind solche Ereignisse Stresstests für autoritäre Systeme.  

    Der Journalist Alexander Klaskowski erklärt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk, warum es die Machthaber eilig haben, die Wahlshow über die Bühne zu bringen.  

    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by
    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by

    Das war ganz bestimmt keine spontane Entscheidung. Man konnte sehen, dass der Herrscher seine Wahlkampagne bereits begonnen hatte. Indem er etwa die lokalen Erntefeste abklapperte, die Dаshynki, bei denen er die Dorfleute mit Lob überschüttete und ihnen alle möglichen Versprechungen machte. Auch die so schwierige Gruppe der Jugend hatte er im Blick: Er trat vor Studenten in Witebsk und Minsk auf. Gleichzeitig ging die groß angelegte Propagandashow Marathon der Einheit an den Start. 

    Zuvor hatte BYPOL, eine Initiative ehemaliger Silowiki, unter Berufung auf Insiderinformationen berichtet, dass die Wahlen für den 23. Februar angesetzt seien. Das mag zwar der Fall gewesen sein, aber „um seine Feinde zu ärgern“ beschloss Lukaschenko, den Termin auf Januar vorzuverlegen. Obwohl seine Amtszeit erst am 20. Juli 2025 abläuft. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Igor Karpenko erklärte diese „Phasenverschiebung“ auf der jüngsten Sitzung des Repräsentantenhauses damit, dass es für den Präsidenten einfacher sei, die neue fünfjährige Amtszeit zu planen, wenn er schon am Jahresanfang gewählt werde. 

    Das klingt ganz schön an den Haaren herbeigezogen. Ja, vielleicht wenn die Wahlen echte Wahlen wären und jemand Neues mit neuen Ideen an die Macht käme. Aber de facto geht es bloß darum, eine weitere Amtszeit für den alten Herrscher abzusegnen. Genauso bemüht klang auch Karpenkos Erklärung, die Präsidentschaftswahlen hätten ja auch 2006 schon einige Monate früher stattgefunden. „Die Praxis, Wahlen vor Ablauf der Amtszeit des Präsidenten abzuhalten, gibt es in etlichen Ländern, zum Beispiel in Kirgisistan, Usbekistan …“, führte er weiter aus. Klar, so wird es sein, Lukaschenko wird sich das in Kirgistan abgeschaut haben. 

    Dass die Wahlen 2006 vorgezogen wurden, war immerhin nachvollziehbar. Damals konnte sich die Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, Aljaxandar Milinkewitsch, dessen Umfragewerte rasant stiegen. Deswegen wollte das Regime seine Kampagne unterminieren und die Konkurrenz im Keim ersticken. Aus heutiger Sicht wirken diese Zeiten wie eine blühende Demokratie. Jetzt sind in Belarus alle Schrauben so fest angezogen, das politische Feld so gründlich gesäubert, dass von einem oppositionellen Kandidaten nicht einmal mehr die Rede sein kann. 

    Also wozu dann die Eile? 

    Trauma des Jahres 2020? 

    Mir scheint, einer der Hauptgründe für Lukaschenkos Vorgehen ist das Trauma des Jahres 2020. Ja, die Opposition ist entweder zerschlagen, eingesperrt oder ins Ausland vertrieben. Aber der Diktator sieht trotzdem überall feindliche Intrigen. So instruierte er Ende September seine Funktionäre: „Glaubt ja nicht, dass wir reinen Tisch gemacht haben, wie manche sagen. Die, die wir erwischen wollten, sind abgehauen. Ist ihr gutes Recht, sollen sie doch. Aber wir müssen wachsam bleiben.“ Also lieber beeilen, bevor die Feinde noch hinterrücks einen Plan aushecken. Lieber noch schnell eine Machtspritze, damit es sich wieder ruhig schlafen lässt. 

    Damit wird formal ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Propaganda wird verkünden: 2020 ist Geschichte! Vielleicht gibt es dann auch einen Hoffnungsschimmer, dass der Westen sich allmählich mit der Realität abfindet, der politischen Emigration weniger Aufmerksamkeit schenkt und Swetlana Tichanowskaja an Bedeutung verliert. 

    Und noch ein Grund für den Termin im Winter: Viele Kommentatoren weisen darauf hin, dass es in der kalten Jahreszeit schwieriger sei zu protestieren. Im kalten März 2006 und im Dezember 2010 waren die Plätze trotzdem voller Menschen. Natürlich gibt es Angenehmeres, als in der Kälte draußen rumzustehen. Aber auch, wenn die Feinde des Regimes überhaupt keine Proteste planen (die Hauptstrategie der demokratischen Kräfte besteht heute darin, die Belarussen aufzufordern, gegen alle zu stimmen) – Vorsicht ist besser als Nachsicht. 

    Überhitzte Wirtschaft?  

    Die Wirtschaft ist im Aufschwung, die Einkommen steigen. Das liegt jedoch in erster Linie an der Konjunktur: daran, dass Wladimir Putin sich die Beihilfe seines Verbündeten im Krieg einiges kosten lässt. Viele belarussische Waren werden von der russischen Militärindustrie nachgefragt und wegen der westlichen Sanktionen teuer gehandelt. Manches spricht jedoch dafür, dass der Krieg relativ schnell zu Ende sein könnte. Zumindest die heiße Phase. Und dann wird diese Konjunktur höchstwahrscheinlich einbrechen. Außerdem werden die Belarussen auf dem russischen Markt von den Chinesen bedrängt. 

    Zweitens behaupten unabhängige Ökonomen, dass in der belarussischen Wirtschaft das Ungleichgewicht zunimmt. Vor allem die drakonischen Preisregulierungen könnten schmerzhafte Folgen haben. Hinter den vorzeitigen Wahlen könnten also auch wirtschaftliche Erwägungen stehen. Denken wir nur mal daran, wie das Land nach den Wahlen im Dezember 2010 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde und der Rubel plötzlich nur noch ein Drittel wert war. Damals hatte Lukaschenko seine Wahlernte mit großzügig gedrucktem, aber wertlosem Geld eingefahren. Vielleicht will er das Eisen schmieden, solange es heiß ist, bevor sich die überhitzte Wirtschaft in Rauch auflöst. 

    Die Zeit des Diktators geht so oder so zu Ende 

    Ja, theoretisch wissen wir nicht, ob Lukaschenko überhaupt eine weitere Amtszeit anstrebt. Aber praktisch besteht daran kein Zweifel (es sei denn, es passiert etwas sehr Unerwartetes). Für die Einführung eines theoretischen Nachfolgers reicht die Zeit nicht mehr. Lukaschenko findet für sich auch keinen würdigen Nachfolger. Und er hat Angst, das Zepter abzugeben. 

    Der Kreml hat ihm offenbar seinen Segen für eine neue Amtszeit gegeben und dies symbolisch mit einem Orden illustriert. Moskau hat überhaupt kein Interesse daran, auf der Zielgeraden das Pferd zu wechseln. Für den Fall, dass Friedensgespräche über die Ukraine geführt werden sollten, säße der belarussische Herrscher außerdem gern mit einer frischen Krone am Tisch.  

    Gleichzeitig sind Kriege eine ziemlich unberechenbare Angelegenheit. Lukaschenko mag denken: Wer weiß schon, was diese Ukrainer im Schilde führen. Gestern sind sie in die Region Kursk einmarschiert, morgen greifen sie vielleicht die Ölraffinerie von Mozyr an – und so weiter und so fort. Dann kann man die Wahlen vergessen. 

    Und da ist noch etwas: Gerade hat das gemeinsame Gremium der Verteidigungsministerien von Russland und Belarus in Minsk eine strategische Übung namens Sapad-2025 (dt. Westen-2025) beschlossen. Was dahintersteckt, können wir nur vermuten. Erinnern wir uns: Im Februar 2022 waren die russischen Truppen unter genauso einem Vorwand gemeinsamer Manöver nach Belarus versetzt worden, um Kyjiw anzugreifen. Was, wenn Moskau das wiederholen will? Eine solche Aussicht ist für einen Wahlkampf ebenfalls wenig förderlich. Kurzum, es ist auch der Nebel des Krieges, der Lukaschenko dazu drängt, die Wahlen vorzuverlegen. 

    Und zu guter Letzt wissen wir nicht, wie es um seine Gesundheit wirklich steht. Klar ist nur: Er wird nicht jünger. Vielleicht ist das ebenfalls ein Faktor. Der Gedanke, dass die Zeit des Diktators auf die eine oder andere Weise sowieso zu Ende geht, wärmt die Herzen seiner politischen Gegner. Denn während Lukaschenko für die Konservierung des bestehenden Systems steht, gibt es nach ihm zumindest eine Chance auf Veränderung. 

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  • Trockene Dörfer

    Trockene Dörfer

    Jede vierte Straftat wird in Russland im alkoholisierten Zustand begangen. Um die Trunksucht zu bekämpfen, gehen die Behörden mit diversen Maßnahmen dagegen vor: In den meisten Regionen Russlands wird nachts und an Feiertagen kein Alkohol verkauft, sowie auch nicht in der Nähe von Schulen, medizinischen Einrichtungen und sportlichen Institutionen. In Jakutien (offiziell Republik Sacha) gibt es über 200 Dörfer, in denen grundsätzlich kein Alkohol verkauft wird. Nach Ansicht der Beamten hat sich seit diesem Verbot die Anzahl der Straftaten in der Region verringert, und das Straßenbild ohne Betrunkene hat einen positiven Einfluss auf die Jugend. Takie dela hat zwölf jakutische Dörfer besucht und sich ein Bild davon gemacht, wie die Bevölkerung das findet und wie effektiv diese Methode im Kampf gegen Alkoholismus ist.  

    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela
    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“ 

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt 120 Kilometer südlich von Jakutsk. Zwischen den bunten Holzhäusern sticht ein massives zweistöckiges Gebäude heraus, das mit blassgelben Wandfliesen getäfelt ist. Am Eingang hängt ein Spruchband: „Noruon norguj“ (jakutisch für „Herzlich Willkommen“). Das ist das Kulturhaus des Dorfes, wo es jetzt, an einem Dienstagnachmittag, ruhig zugeht. Nur von irgendwo aus dem oberen Stockwerk sind Geräusche zu hören. Als wir hochgehen, finden wir in einem kleinen Raum fünf Frauen vor, die konzentriert bei der Arbeit sind. 

    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela

     

    Ich grüße kurz und falle gleich mit der Tür ins Haus: 

    „Stimmt es, dass in Ihrem Dorf kein Alkohol verkauft wird?“ 

    Die Frauen drehen sich überrascht nach mir um, dann nicken sie zustimmend. 

    „Und trinken die Leute hier jetzt wirklich weniger?“ 

    „Das kann man wohl sagen!“, antworten sie fast im Chor.  

    „Früher konnte man überall Alkohol kaufen“, erklärt eine von ihnen. „Aber jetzt – keine Chance. Und dann beschäftigt man sich halt anders. Wenn von außen der Riegel vorgeschoben wird, hilft das natürlich.“ 

    Im Hintergrund sirrt ein elektrischer Rollschneider: Eine Frau, die grünen Stoff in lauter gleiche Streifen schneidet, lässt sich nicht von mir stören. Auch die anderen arbeiten weiter, während sie mit mir sprechen: Aus diesen Streifen knüpfen sie Tarnnetze für die Front. Es ist bereits das zweite Jahr, erzählen sie, dass mehrere engagierte Leute aus dem Dorf sich täglich dieser Arbeit widmen: 

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“

    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela
    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela

    In Bulgunnjachtach leben mehr als 1600 Menschen, doch die Straßen sind leer. Es gibt mehrere Schulen, ein paar Kindergärten, eine Sporthalle, eine Bibliothek, ein Kulturzentrum und Campingplätze für Touristen. Die Ortschaft ist der Ausgangspunkt für Exkursionen zu einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Jakutiens, den Lena-Säulen. Auf einem kleinen Fußballfeld kicken zwei Jungs einen Ball hin und her. Als wir sie ansprechen, erzählen sie uns, sie könnten sich nicht daran erinnern, dass im Dorfladen jemals Alkohol verkauft worden wäre.         

    Offiziell wird in Bulgunnjachtach seit 2016 kein Alkohol mehr verkauft. Laut der Gemeindevorsteherin (die entsprechende Verwaltungseinheit heißt in Jakutien nasleg) Ajtalina Wassiljewa war entscheidend, dass die Unternehmer bereit waren, sich darauf einzulassen und „auf diese Einnahmequelle zu verzichtet“. „Ohne deren Zustimmung wäre gar nichts passiert.“ Doch sie räumt auch ein, dass es anfangs nicht leicht war. Zwar war der Großteil der Bevölkerung für das Verbot, aber ganz ohne „Aufklärungsarbeit“ sei es auch nicht gegangen. Um den Leuten Alternativen zu bieten, wurden etliche Veranstaltungen organisiert. Experten auf verschiedenen Fachgebieten reisten aus der Stadt an, um Kurse abzuhalten. So seien nach einem Nordic-Walking-Workshop 80 Personen bei diesem Sport geblieben und marschierten regelmäßig durch die Gegend.

    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela
    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela

    „Na, und überhaupt, bei uns gibt es Kinofilme, Zeichentrickfilme …“, zählt Tatjana Jefremowa auf, die Direktorin des Kulturzentrums, „einen Chor, unsere bildenden Künstler, Ethnofitness …“ 

    Das glaubt man gerne: Mit meinem Besuch bin ich mitten in eine Sitzung geplatzt, in der gerade das nächste Fest geplant wurde. 

    „Als ich klein war, gab es hier viele Säufer, die betrunken rund vor den Einkaufsläden saßen“, erinnert sich Ajtalina Wassiljewa. „Heute trinkt keiner mehr in der Öffentlichkeit. Da wird die heranwachsende Generation ganz anders geprägt. Wenn da mal einer ein wenig herumtorkelt, sind sie schon peinlich berührt, fragen sich: Wie kann man nur?“ 

    Aber wie heißt es so schön? Wer sucht, der findet.

    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela
    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela

    Wer etwas trinken will, muss 15 Kilometer Richtung Jakutsk fahren, in das nächste Dorf Bestjach, oder noch weiter nach Mochsogolloch. Dort ist der Verkauf von Alkohol nicht verboten. Wer ein Auto hat, zahlt nur fürs Benzin, aber ein Taxi kostet je nach Tageszeit 300 bis 400 Rubel [ca. 3 – 4 Euro – dek.] pro Richtung. So ist eine Flasche Wodka am Ende dreimal so teuer. Und für die Landbevölkerung ist das ein empfindlicher Aufpreis.  

    „So lebt das Nachbardorf auf unsere Kosten“, sagt Ajtalina Wassiljewa. „Wir haben mit den Taxifahrern vereinbart, dass sie keine Alkohol-Lieferungen machen. Aber wenn sich einer ein Taxi ruft und damit Wodka holen fährt, dann können wir das nicht verbieten. Es gibt ein Kontingent von Leuten, die wollen, können und werden auch trinken. Ungeachtet der Verbote – und wenn sie nach Afrika müssen, um Schnaps zu kaufen. Aber das sind nicht viele, die kann man an einer Hand abzählen.“  

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela

     

    Meist seien das Leute ohne Familie und ohne Arbeit, sagt sie. Alkoholismus ist zwar kein billiges „Vergnügen“, doch auch da finden sich Wege. Wassiljewa erzählt, dass die Säufer im Dorf ihre Türen für alle öffnen würden, die zum Trinken kommen wollen, und der Wodka sei dabei eine Art Eintrittskarte. Im Volksmund heißen solche Häuser chata (dt. Bude). 

    „Dagegen können wir offiziell nichts tun, das ist ihr Privateigentum“, sagt sie. „Deshalb versuchen wir, bei denen anzusetzen, die dort hingehen. Das sind Quartalssäufer oder solche, die sich tagelang systematisch die Kante geben. Die haben Familien zu Hause, Ehefrauen, da gehen sie eben lieber in eine chata.“      

    Ajtalina Wassiljewa ist erst 28 Jahre alt. Sie ist klein und wirkt eher zierlich. Aber das scheint nur so. Im Laufe des Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass sie eine Frau ist, die auch mal mit der Faust auf den Tisch haut und, wie es bei Nekrassow heißt, imstande ist, ein Pferd im Galopp aufzuhalten. Hier ist das keine leere Phrase, sondern Realität: Pferde und Kühe sieht man hier überall, auf den Wiesen und auf den Straßen, sie gehören fast zu jedem Haushalt.       

    „Wenn ein Mann in die chata geht, ruft mich seine Frau an, und wir fahren gemeinsam hin und holen ihn raus“, erzählt Ajtalina. „Wir bringen ihn nach Hause, damit er sich ausschläft. Gleich am nächsten Morgen komme ich, packe ihn am Schlafittchen und fahre mit ihm und seiner Frau zum Amtshaus, da wird mal geredet. Da ist er noch beduselt, sagt zu allem ja – der beste Moment, um ihm Vernunft einzutrichtern. Sonst fängt er noch an, sich zu sträuben. Wir erklären ihm, was er jedes Mal riskiert, wenn er da hingeht: Es kann ja weiß Gott was passieren, und keiner kann ihm helfen. Wir fragen ihn: Wieso trinkst du, was fehlt dir? Und dann überlegen wir, was wir weiter tun können.“ 

    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela

    Der „emotionale“ Alkoholismus, sagt sie, sei in Bulgunnjachtach so gut wie verschwunden. Ob Streit mit der Frau oder, im Gegenteil, Anlass zum Feiern – da geht keiner mehr in den Laden an der Ecke, um das Ereignis zu begießen oder seinen Frust zu betäuben. „Ja, und dann beruhigen sie sich wieder, die Aufregung legt sich“, sagt Wassiljewa. 

    Es gebe aber auch Ausnahmesituationen, die die Leute aus der Bahn werfen würden: „Während der Corona-Pandemie waren es schon mehr, die getrunken haben. Auch, als diese großen Brände waren, und seit der Spezialoperation sowieso … Das sind natürlich alles sehr herausfordernde Situationen.“ 

    „Zu Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine verabschiedeten sich alle voneinander: ‚Ich muss wohl, ich bin ja Reserveoffizier‘“, erinnert sich Tatjana Jefremowa. „Als es dann hieß, es werde keine weitere Mobilmachung geben, da haben sich alle wieder entspannt. Im ersten Halbjahr waren natürlich alle ganz aufgekratzt.“

    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela
    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela

    „Jetzt kommen die zurück, die vom Militärdienst entlassen werden oder einfach Urlaub haben“, erzählt die Gemeindevorsteherin. „Noch nie ist es bei uns vorgekommen, dass sich einer schlecht benommen hätte. Wenn einer heimkommt, wird natürlich darauf angestoßen, aber das ist nie länger als ein Tag. Es gibt einen einzigen Mann, der das nicht im Griff hat, aber der ist alleinstehend. Familie und Arbeit sind eben doch die wichtigsten Stützpfeiler.“ 

    Gegen Ende unseres Gesprächs fügt Ajtalina Wassiljewa hinzu: „Wenn man das Dorf vor zwanzig Jahren mit heute vergleicht, dann ist das wie Tag und Nacht. Was ich Ihnen von unseren Problemen erzähle, betrifft nur drei oder vier Familien. Die kennen wir und wir haben ein Auge auf sie. Aber früher wurde bei uns durch die Bank gesoffen, das war Alltag.“ 

    Wie man in Russland und speziell in Jakutien trinkt 

    In der Russischen Föderation gibt es ein Gesetz, das es den Regionen überlässt, den Verkauf von Alkohol zu beschränken. Ausgenommen sind Gastronomiebetriebe. In Jakutien ist es beispielsweise verboten, Alkohol zwischen 20:00 und 14:00 Uhr des nächsten Tages oder in Geschäften zu verkaufen, die sich in Wohnhäusern befinden. 2015 beschlossen die regionalen Behörden, noch weiter zu gehen und so genannte „trockene“ Dörfer einzurichten – Orte, in denen überhaupt kein Alkohol verkauft wird. Heute gilt das für etwa jedes dritte der 600 Dörfer.   

    Eine genaue Statistik zu Alkoholismus in der Bevölkerung gibt es in Russland nicht. Rosstat sammelt nur Daten zu jenen Patienten, die mit dieser Diagnose erstmals in stationäre Behandlung kommen. 2010 waren das 108 Personen pro 100.000 Einwohner, 2023 nur 37. In Jakutien sind die Zahlen höher: 2010 sind dort pro 100.000 Einwohner 290 Personen an Alkoholismus und Delirium tremens erkrankt, 2023 waren es 119. 

    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

    Trotz der positiven Dynamik sind die realen Zahlen in den Regionen vermutlich deutlich höher. Das Amt für Hygiene und Epidemiologie in Jakutien betont in seinem Bericht: Die Diskrepanz zwischen den Daten und dem realen Bild sei dadurch zu erklären, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, der Drogen oder Alkohol missbraucht, gar nicht in der Statistik auftauche. 

    Laut Rossalkogoltabakkontrol, der Föderalen Kontrollbehörde für Alkohol und Tabak, haben die Russen in den vergangenen Jahren mehr Alkohol gekauft. 2022 betrug die Menge der im Einzelhandel verkauften Spirituosen – ausgenommen Bier, Biermischgetränke, Cider und Honigwein – 22,04 Millionen Hektoliter und damit um 3,6 Prozent mehr als im Jahr davor. 2023 waren es dann schon 22,95 Millionen Hektoliter.

    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela
    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela

    In Jakutien gehen jährlich rund 120.000 Hektoliter alkoholische Getränke über die Ladentische. „Während das Handelsvolumen hochprozentiger Spirituosen in den vergangenen sechs Jahren praktisch gleich geblieben ist, ist der Verkauf von Bier und Biermischgetränken auf das 1,6-Fache gestiegen“, erklärte im Frühjahr 2024 der stellvertretende Regierungschef der Republik Georgi Stepanow. „Die Zahl der Verkehrsunfälle mit Alkohol am Steuer liegt in unserer Region 28 Prozent über dem russischen Durchschnitt. Auch die Sterblichkeit aufgrund von Alkoholmissbrauch ist um 29 Prozent höher.“ 

    Laut Auskunft des jakutischen Innenministeriums wurden 2021 in den „trockenen“ Dörfern 96 Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, 2022 waren es 193 und 2023 immerhin 176. Meistens handelt es sich um vorsätzliche leichte oder mittlere Körperverletzung, Diebstahl und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung.    

    „Wer trinkt, der findet seine Wege“ 

    Von Bulgunnjachtach sind es 15 Kilometer bis zum nächsten Dorf, in dem man Alkohol kaufen kann: Bestjach. An der Hauptstraße befindet sich ein Laden namens Sibirjatschka (dt. Sibirierin), wo man zwischen 14:00 und 20:00 Uhr Bier bekommt. Nur zwei Meter weiter gibt es eine Bar, da wird von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachts Bier ausgeschenkt. Abgesehen von den Verkäuferinnen stört dieser Widerspruch keinen.         

    „Wir haben derzeit keinen Wodka, aber als wir ihn noch hatten, kamen sie praktisch jeden Tag (aus den Dörfern, in denen der Verkauf von Alkohol verboten ist – Anm. TD), aber nicht immer dieselben“, erzählt die Verkäuferin Natalja. „Es war nicht so, dass sie kistenweise eingekauft hätten. Wer was brauchte, ist gekommen und hat sich ein paar Flaschen geholt.“ 

    „Und wenn in Ihrem Dorf so ein Verbot verhängt würde?“ 

    „Ich halte das für Blödsinn“, winkt sie ab. „Ich trinke zwar selber nicht, aber wenn ich Gäste habe, brauche ich doch eine gute Flasche Wein oder Wodka. Soll ich dann deswegen ins nächste Dorf fahren? Außerdem, wer trinkt, der findet Mittel und Wege.“

    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela
    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela

    Hochprozentigen Alkohol bekommt man nur in einem Laden knapp einen Kilometer von hier entfernt. Doch der Mann, der gerade aus einem Taxi steigt, weiß das offenbar nicht. Er reißt die Autotür auf und torkelt in den Sibirjatschka. Ein paar Sekunden später ist er wieder raus und kriecht fast in die benachbarte Bar. Auch dort bleibt er erfolglos. Seine letzte Hoffnung ist der Einkaufsladen gegenüber, den er als nächstes ansteuert. Im Gegensatz zu ihm wissen wir bereits: Wein und Wodka gibt’s nur am anderen Ende von Bestjach.

    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela
    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela

    Fährt man noch ein paar Kilometer weiter, kommt man nach Mochsogolloch. In der sogenannten „Siedlung städtischen Typs“ gibt es eine Filiale einer Spirituosenhandelskette. Alla, die Verkaufsstellenleiterin, sagt, sie kenne persönlich einige Leute aus „trockenen“ Dörfern, die ständig bei ihr einkauften: „Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Nachbarn, manchmal kommen sie scharenweise. Manche decken sich wöchentlich ein, andere sind nur selten da. Es gibt auch die, denen man schon von weitem ansieht, was sie kaufen wollen. Wenn in Mochsogolloch ein Verbot verhängt würde, das wäre der blanke Horror.“ Und: „Bei uns gibt’s ein paar richtige Alkis, aber die verhalten sich ruhig, und man kann auch nicht sagen, dass es viele wären. Eigentlich trinkt die ganze erwachsene Bevölkerung ab und zu Alkohol. Aber auch, wer jeden Tag ein bisschen trinkt, geht morgens zur Arbeit. Man weiß, wann’s genug ist, verhält sich anständig, wozu dann ein Verbot?“

     „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela
    „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela

    Fast alle hier arbeiten in der Zementfabrik, für die die Stadt einst gegründet wurde. „Alkoholismus als solchen gibt es bei uns fast keinen, man muss ja zur Arbeit“, sagt Alla. „In den Dörfern wird vielleicht deswegen mehr gesoffen, weil es keine Arbeit gibt und die Leute nichts zu tun haben. Die saufen aus Langeweile.“ 

    „Man muss das selbst entscheiden dürfen. Aber hier wurde für uns entschieden“ 

    In allen „trockenen“ Ortschaften ist unser erstes Ziel der Einkaufsladen.  

    Das Dorf Ymyjachtach liegt 60 Kilometer nördlich von Jakutsk, es zählt rund 1.200 Einwohner. Bei einer Volksbefragung 2018 sprachen sich über die Hälfte der volljährigen Dorfbewohner für ein Alkoholverbot aus. Daraufhin schränkte die Regionalverwaltung den Einzelhandel stark ein. 

    Der unscheinbare kleine Dorfladen liegt etwas versteckt im Dorfkern. Wir geben uns als gewöhnliche Kunden aus:  

    „Kann man hier bei Ihnen Alkohol kaufen?“, wollen wir von der Verkäuferin wissen. 

    „Was brauchen Sie denn?“, fragt sie etwas verunsichert. 

    Ich bin überrascht. Bisher bekamen wir in allen Dörfern, die wir besucht haben, das Mantra „Nein-schon-lange-nicht-mehr“ zu hören. 

    „Na, Bier zum Beispiel …“ 

    Die Frau geht langsam zum Kühlschrank, in dem mehrere Bierdosen stehen, und streckt uns eine entgegen.  

    „Aber das ist alkoholfrei, oder?“ 

    „Nein, das hat 4,5 Prozent“, erwidert sie unsicher. 

    Ich spüre, dass es mit dem Theaterspielen reicht, und erkläre, wer wir sind und was wir wollen. 

    „Aber ich vertrete hier bloß eine Bekannte“, rechtfertigt die Arme sich nervös. „Ich werde gleich abgeholt, wir machen ein Picknick …“

    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela
    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela

    Nach etwa zehn Minuten gibt sie zu, dass sie die Einschränkungen nicht so toll findet. „Im ganzen Dorf trinken zwei, drei Leute“, erklärt sie. „Das sind Alkoholiker, sie sind krank. Aber es gibt ja auch eine Trinkkultur. Wir sind zivilisierte Menschen, wir wollen auch mal Feste zusammen feiern, Freunde einladen. Und dann müssen wir meilenweit fahren, um etwas zu trinken zu kaufen. Wer soll einen fahren, wenn man kein eigenes Auto hat? Das kostet 300–350 Rubel [ca. drei Euro – dek.] in eine Richtung, nur um zum Laden zu kommen, das geht doch nicht. Das ist Diskriminierung. Die Leute müssen eine Wahl haben, aber hier wurde alles für uns entschieden.“ 

    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela
    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela

    Mit dieser Meinung ist sie in den „trockenen“ Dörfern allerdings in der Minderheit. 

    „Man sieht hier keine Betrunkenen mehr, früher sind die hier rumgewankt“, sagt die Rentnerin Maria, die wir draußen vor dem Laden treffen. „Es ist wichtig, dass die Jugend nicht trinkt, den Alten kann man das nicht mehr abgewöhnen. Wenn es das Verbot nicht geben würde, würden alle trinken. Selbst wenn man das gar nicht vorhat – wenn man in den Laden geht, wird man verführt. Und wenn die Jakuten einmal anfangen, dann hören sie nicht mehr auf, bis sie umkippen. Die kennen kein Maß.“

    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela

     

    Maria ist klein und sieht viel jünger aus als 64. Sie sagt, sie müsse sich beeilen, eine Verwandte vom Bus abholen. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch mal um, offenbar hätte sie noch einiges zum Thema zu sagen. „Ich habe fünf Söhne geboren. Zwei von ihnen haben getrunken. Einer ist daran gestorben. So stand es in dem Bericht: Alkoholvergiftung.“ 

    Marias Mann habe früher auch getrunken, aber jetzt sei er „alt und krank“, deshalb wären tagelange Besäufnisse nicht mehr drin. „Und außerdem gibt es ja auch nichts zu kaufen“, sagt sie. „Aber wenn, dann würde er bestimmt noch mit seinem Krückstock dahin humpeln.“ 

    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela
    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela

    Fast alle, die wir draußen treffen, erzählen, sie würden nur zu feierlichen Anlässen mal ein Gläschen trinken oder dass sie dem Alkohol schon vor Jahren ganz abgeschworen hätten. Sobald wir länger als fünf Minuten mit jemanden reden, stellt sich heraus, dass jeder zweite – so wie Marija – am eigenen Leib erlebt hat, wie es ist, einen Alkoholiker in der engsten Familie zu haben. 

    Die 68-jährige Ljubow Kumitschko lebt mit ihrer 91-jährigen Mutter zusammen. Beide trinken höchstens ein paar Mal im Jahr ein Glas Sekt. „Bei uns auf dem Dorf trinken die Leute nicht so viel wie im Westen [des Landes – dek.]“, erzählt sie. „Ich habe in Irkutsk studiert, da haben alle ihren Schnaps selbst gebrannt. Das gibt es hier bei uns nicht.“ Einer von Ljubows beiden Brüdern ist alkoholkrank. Sie sagt, er hätte nach dem Armeedienst angefangen. Die ganze Familie habe mehrfach versucht, ihn mit Hilfe von Kodierung zu heilen, aber nach ein paar Monaten sei er wieder rückfällig geworden. 

    Im Moment wartet Ljubow darauf, dass ihr Bruder zu einem Fronturlaub von der „militärischen Spezialoperation“ zurückkommt. 

    „Haben Sie keine Angst, dass er danach noch mehr trinken wird?“, frage ich. 

    „Ich weiß nicht, was sein wird“, erwidert die Rentnerin nachdenklich. 

    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela
    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela

    Ymyjachtach gehört zum ulus Namski. Von 19 Landkreisen (nasleg) wird in nur zwei Alkohol verkauft: drei Geschäfte in Namzy und eines im Dorf Chomusty, etwa 15 km von Ymyjachtach entfernt. Dort leben 2.600 Menschen. Der stellvertretende Kreisvorsitzende Alexej Sacharow berichtet, dass manche selbst im Winter zu Fuß aus dem „trockenen Dorf“ kämen. Sie warten, bis der hiesige Spirituosenhandel um 14 Uhr aufmacht, decken sich ein und laufen wieder zurück. 

    Die Abgeordneten hätten den Verkauf auch in Chomusty verbieten wollen, aber nach den öffentlichen Anhörungen hätten sich die Einwohner für „die goldene Mitte“ entschieden, sagt Sacharow. Jetzt gibt es Alkohol nur zwischen 14 und 20 Uhr in einem einzigen Laden außerhalb des Dorfes, nahe der Schnellstraße. Sarachow zufolge seien die meisten Einwohner von Chomusty berufstätig, daher gebe es keinen „Massenalkoholismus“; die richtigen Alkis könne man an einer Hand abzählen. 

    „In den Nachbardörfern heißt es, die Leute trinken, weil man bei uns Alkohol kaufen kann“, sagt Alexej Sacharow kopfschüttelnd. „Sie geben uns die Schuld, als würden wir sie zum Trinken zwingen. Was wäre wohl, wenn wir den Laden zumachen würden?“ 

    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela
    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela

    Zur Illustration führt der Beamte verschiedene Szenarien an, die alle etwas aus der Luft gegriffen wirken. „Stellen Sie sich vor, eine Mutter lässt ihre Kinder zu Hause, fährt ins 70 km entfernte Jakutsk und kommt nicht zurück. Sie fällt hin, wird von einem Auto angefahren – und schon sind die Kinder Waisen. Oder ein Arbeiter hat etwas zu feiern. Er kommt her, betrinkt sich und treibt sich wochenlang hier rum, lebt auf der Straße. Wäre ein Laden in der Nähe, würde er einkaufen und wieder nach Hause gehen“. Sachrow fallen noch weitere Beispiele ein: „Oder einer hat seit einem Jahr nicht getrunken und will was feiern. Er setzt sich betrunken ans Steuer, um in Chomusty Nachschub zu holen. Er kommt in eine Kontrolle und ist prompt seinen Führerschein los. Nehmen wir an, er ist Taxifahrer. Schon hat die Familie kein Einkommen mehr.“ 

    Juri Djakonow, der stellvertretende Verantwortliche für soziale Fragen im ulus Namski, ist hingegen überzeugt, dass die Abwesenheit von einem fußläufig erreichbaren Spirituosengeschäft sich positiv auf die Bevölkerung auswirkt. „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt er. „Sie sind es gewohnt, dass es im Laden keinen zu kaufen gibt. Früher gab es regelrechte Besäufnisse in Diskotheken oder sogar in Schulen. Jetzt sieht man das alles nicht mehr.“ 

    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela
    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela

    „Wäre es nicht am effektivsten, Alkohol im ganzen Gebiet zu verbieten? Damit man zum nächsten Laden weit fahren müsste?“ 

    „Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht“, wundert er sich. „Diese Frage hat sich so nie gestellt. Es ist ja ein ganzer Unternehmenszweig …“ 

    „Das heißt, mit einem flächendeckenden Verbot für die ganze Republik ließe sich das Problem nicht lösen?“ 

    „Man könnte einen gewissen Prozentsatz eindämmen“, überlegt Djakonow. „Aber die Menschen passen sich an alles an. Ich glaube, sie würden sich Alternativen suchen, selbst brauen, oder etwas ganz anderes konsumieren.“ 

    „Wenn du nicht trinkst, denkst du, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen“ 

    Maragas liegt etwa 100 km westlich von Jakutsk. Hier lebt Anna Konstantinowna. Ihr  Ehemann hat viele der Häuser gebaut. Damals arbeitete er beim Sägewerk. Sie lernten sich kennen, als sie 18 Jahre alt war, aber als sie beschlossen zu heiraten, war das ganze Dorf dagegen. Es lag daran, dass er der einzige Russe im Dorf war, erzählt Anna. Er war zum Arbeiten aus der Oblast Gorki nach Jakutien gekommen. „Es gab sogar eine Versammlung, man hat mich dafür kritisiert, dass ich einen Russen heiraten will“, erinnert sie sich. „Sie sagten, er würde mich früher oder später sitzenlassen. Aber wir haben trotzdem ein Aufgebot bei unserem Standesamt bestellt. Einmal saß ich vor meiner Haustür und wusch Wäsche. Da kam der Sekretär und hat die Heiratsurkunde auf die Erde geworfen. So waren die Zeiten damals, 1973.“ 

    Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet: 45 Jahre Eheleben, acht Kinder und 27 Enkelkinder sind der Beweis. 

    Anna erinnert sich, wie erstaunt sie war, als sie bei den Verwandten ihres Mannes in dessen Heimat zu Besuch waren: „Wir kommen an, und das ganze Dorf ist am trinken. Sie machen Selbstgebrannten. Stellen den Bottich auf den Tisch und trinken immer weiter. So was hat es bei uns nie gegeben. Erst hatte ich Angst, ich wusste nicht, was man von denen zu erwarten hatte.“ 

    Annas Mann konnte zwei Tage lang durchtrinken, aber „nie einen dritten“. Ihre gemeinsamen Kinder trinken nur zu feierlichen Anlässen. 

    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela
    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela

    „Ich bin eine strenge Mutter, ich verlange von ihnen, dass sie nicht trinken.“ 

    „Haben Sie ihnen erklärt, dass das schlecht ist, als sie kleiner waren?“ 

    „Nein, das haben sie irgendwie von selbst verstanden.“ 

    Vor ein paar Jahren ist Annas Mann gestorben. Jetzt unterhält sie alleine ihren Hof mit zwei Kühen in Magaras. In ihrem Haus stehen fünf Eimer Milch, aus der sie Schmand und Butter macht, die schickt sie ihren Kindern. Im Haushalt helfen ihre Tochter und ihr Sohn, manchmal auch die Enkel. 

    „Natürlich ist es gut, dass sie nichts verkaufen“, ist die Rentnerin überzeugt. „Früher haben die Jugendlichen getrunken, aber jetzt gehen sie mit aufs Feld, helfen ihren Eltern.“ 

    Unsere nächste Gesprächspartnerin  möchte ihren Namen nicht nennen. Nennen wir sie Polina. Polina erinnert sich, dass noch vor zehn Jahren die Leute in Magaras Schlange standen, um Alkohol zu kaufen. „Ob aus der Verwaltung, der Schule, dem Kindergarten. Alle beeilten sich nach der Arbeit, um noch etwas zu kaufen, bevor der Laden zumacht.“ Nach der Einführung des Verbots entwöhnten sich die Leute langsam. Jetzt wollen die Einwohner sogar noch mehr: Die Läden sollen keinen Byrpach (milchsauer vergorenes jakutisches Nationalgetränk – dek.), mehr verkaufen. 

    „Das gilt nicht als Alkohol, aber ein geringer Prozentsatz ist darin enthalten“, erklärt sie. „Die Leute trinken das gegen den Kater, werden betrunken und besaufen sich weiter. Wir haben hier so ein junges Ehepaar, und der Mann streitet sich in der WhatsApp-Gruppe [mit den Ladenbesitzern – TD], dass sie seiner Frau keinen Byrpach mehr verkaufen sollen. Es wurden sogar Unterschriften für ein Verkaufsverbot bei uns in Magaras gesammelt.“ 

    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela

    Polina selbst trinkt nicht einmal an Feiertagen, sie sagt, die Gesundheit macht das nicht mehr mit – dabei ist sie erst 46. Früher hatte sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder ein Straßencafé betrieben. 

    „Wenn er getrunken hat, dann richtig: war dauerbesoffen, konnte nicht arbeiten“, erinnert sie sich. „Mal kam er drei, mal fünf Tage nicht zur Arbeit. Manchmal ist er auch in die Stadt gefahren und verschwand einfach. Dabei saß er bei uns an der Kasse. Wie soll man ein Café ohne Kassierer betreiben? Elf Jahre habe ich das mitgemacht. Die Kodierung hat maximal drei Monate gehalten. Wir waren auch beim Schamanen in Jakutsk, das ging auch nur drei Monate gut, danach ist er wieder rückfällig geworden. Ich weiß, dass manche nach einer schamanischen Sitzung sieben Jahre nicht trinken, das hängt also vom Einzelfall ab.“ 

    Jetzt versucht sie nicht mehr, ihren Bruder zu heilen: Er ist mittlerweile 62 und kann selbst nicht mehr regelmäßig und viel trinken. 

    „Mein Mann hat auch getrunken“, seufzt Polina. „Nach vier Jahren haben wir uns scheiden lassen. Genau aus diesem Grund.“ 

    Assyma ist ein weiteres „trockenes“ Dorf 120 km westlich von Magaras. Dazwischen liegt nur die Ortschaft Berdigestjach (das Verwaltungszentrum des Landkreises Gorni) und meilenweit nichts als jakutische Taiga. Eine halbe Stunde lang sehen wir rechts und links der Straße nichts als verkohlte schwarze Stumpen, die sich mit jungen Birkenbäumen abwechseln. Im Sommer 2021 haben in dieser Gegend schwere Waldbrände gewütet. 

    Nikolai ist 55. Wir treffen ihn in Assyma, wo er ein Sommerhaus baut. Eigentlich lebt er mit Frau und dem jüngsten Sohn in Berdigestjach. Früher war Nikolai Traktorfahrer in einem Sowchos in Kirow, aber nach dem Zerfall der UdSSR gab es keine Arbeit mehr, und er verfiel dem Alkohol. 

    Bei drei unterschiedlichen Schamanen war Nikolai. Keiner konnte ihn von seiner Alkoholsucht heilen 

     Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela
    Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela

    „Wollen Sie denn aufhören?“, frage ich. 

    „Natürlich!“ 

    Bei drei verschiedenen Schamanen war Nikolai. Das letzte Mal vor zehn Jahren. Damals habe das dreitausend Rubel gekostet, sagt er, jetzt natürlich mehr. „Der eine hat mit Kodierung gearbeitet, der zweite mit Nadeln, der dritte hat ein Foto von dem berühmten Schamanen Nikon aufgestellt und irgendwas gemurmelt“, erinnert er sich. „Es reichte mal für eine Woche, mal einen Monat. Wenn man nicht trinkt, denkt man, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen. Das längste war mal ein Jahr.“ 

    „Und wenn es in Berdigestjach, so wie hier, ein Verbot geben würde?“ 

    Nikolai lacht: „Das Dorf ist ja schon so gut wie trocken. Bis zum nächsten Spirituosengeschäft sind es zehn Kilometer. Wenn es verboten wäre … Das würde nichts ändern. Dann würde man eben woanders hinfahren. Im Gegenteil, die Leute sterben ja an den Entzugserscheinungen. Byrpach hilft vielleicht, bis zum Mittag durchzuhalten.“ 

    „Was würde Ihnen denn dabei helfen, aufzuhören, wenn Verbote nichts bringen?“ 

    Nikolai überlegt. „Wenn alle Arbeit hätten, würden sie weniger trinken. Selbst wenn ich zehn Tage lang durchtrinke, rapple ich mich danach wieder auf: Ich muss ja arbeiten. Außerdem kann man seinen Führerschein verlieren, oder sein Gewehr – wie soll man da jagen? Wenn ich kein Auto hätte, würde ich mehr trinken.“  

    Zum Abschied erkundige ich mich, wo ich im Dorf Menschen finde, die alkoholabhängig sind.  

    „Jetzt finden Sie niemanden. Wer [gestern – dek.] getrunken hat, ist jetzt beim Angeln draußen, um auszunüchtern. Ich bin der einzige hier, und selbst ich bin nüchtern. Außerdem sind meine Saufkumpanen an die Front. Manche liegen mit einer Verletzung in einer anderen Stadt. So sieht’s aus bei uns …“ 

    Als wir schon gehen, ruft Nikolai uns hinterher:  

    „Und Sie? Trinken Sie denn?“ 

    „Na ja, manchmal. Aber mittlerweile nur noch selten“, gebe ich zu. 

    „Das ist okay“, grinst Nikolai breit. „Trinken ist gut für die Seele.“ 

    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

     

    *** 

    Auf unserer Reise haben wir 12 Dörfer besucht, von denen sieben seit vielen Jahren alkoholfrei sind. Insgesamt ist unser Eindruck, dass die totalen Alkoholverbote hier funktionieren, auch wenn natürlich nicht zu hundert Prozent. In dieser ganzen Zeit ist uns nur einmal jemanden auf der Straße begegnet, der angetrunken war, und selbst das war in einem Dorf, in dem es kein Verkaufsverbot gibt. Die meisten Einwohner, mit denen wir gesprochen haben, erklärten, nur zu bestimmten Anlässen oder gar nicht mehr zu trinken. Die ältere Generation hat sich nach dem Verbot das Trinken als Lebensweise schlicht abgewöhnt. Die Jugendlichen treffen sich nicht, um zusammen zu trinken. Sie haben andere Hobbys – zum Beispiel Motorräder, die hier sehr beliebt sind. Und sie haben auch andere Sorgen, müssen den Älteren bei der Arbeit helfen. 

    Gut möglich, dass ein komplett „trockenes Dorf“ bei solchen Verboten nur eine Frage der Zeit ist. Und einige wenige, die trotzdem Alkoholmissbrauch betreiben, wird es immer, überall und unter allen Umständen geben. 

    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela
    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela

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  • Tote Seelen vor Gericht

    Wenn russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine getötet werden, steht ihren Familien eine Entschädigung von umgerechnet 150.000 Euro zu. Und den Kommandeuren ihrer Einheit – neuer Truppennachschub. Der russische Staat aber will solche Zahlungen, Soldatenersatz und besonders verräterisch negative Statistiken vermeiden. Also kursiert innerhalb der russischen Armee eine inoffizielle Order, besonders schwer Verwundete und Getötete lieber auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen. Dann kann der Tod nicht bewiesen werden und ein Verschollener ist kein Gefallener – und am Ende billiger. 

    Werden Ersatzansprüche geltend gemacht, muss ein Gericht entscheiden, ob – ohne Leiche – ausreichend Hinweise auf den Tod eines Soldaten vorliegen. Das russische Onlinemedium Verstka hat sich angeschaut, wie viele solche Anträge auf Anerkennung getöteter Militärangehöriger bei russischen Gerichten eingehen: seit dem russischen Überfall auf die Ukraine fast 3.000, zwei Drittel davon 2024. Die Gerichtsunterlagen zeigen auch, dass in der Hälfte der Fälle nicht die Familien den Antrag stellten, sondern die Kommandeure der Militäreinheiten – damit jene „toten Seelen“ auf dem Papier durch neue Kämpfer ersetzt werden können. 

    Verstka hat dafür aus 21.600 Fällen an russischen Bezirks- und Garnisonsgerichten, in denen Russen als tot oder verschollen anerkannt wurden, diejenigen Fälle seit Ende Februar 2022 herausgesucht, in denen eine militärische Einheit, das Verteidigungsministerium oder ein Militärstaatsanwalt beteiligt war. Von diesen 2.847 Fällen konnte die Redaktion die Urteile im Wortlaut zu fast 200 Fällen recherchieren. Dieser Datensatz verrät auch, welche Einheiten am häufigsten in diesen Verfahren figurieren – und offenbar die größten Verluste haben. 

    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka
    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka

    Seit März 2022 sind bei den Bezirks- und Garnisionsgerichten (Militärgerichte der ersten Instanz – dek) in Russland und der annektierten Krym mindestens 2.847 Klagen eingegangen, die das Ziel haben, Militärangehörige, deren sterbliche Überreste noch auf dem Schlachtfeld liegen, für tot oder verschollen zu erklären. Während 2022 nur vereinzelt solche Anträge eingingen, waren es ab Sommer 2023 monatlich bereits mehrere Dutzend.  

    2024 ging es, statistisch gesehen, schon bei jedem vierten Antrag auf amtliche Anerkennung als tot oder verschollen um Militärangehörige. Zwischen Juni und August 2024 registrierten die russischen Gerichte bereits über 1.300 Eingänge. Davon allein im August die bislang höchste Anzahl – mindestens 554. Rund drei Viertel der in diesem Sommer gestellten Anträge befinden sich noch in Bearbeitung, in 196 Fällen wurde der Klage bereits stattgegeben. 

    Spitzenreiter unter den Truppeneinheiten, aus denen solche Anträge eingehen, ist die Einheit Nr. 22179 in Nowotscherkassk (Oblast Rostow) mit insgesamt 221 Fällen. Hier ist eine Schtorm-Z–Einheit angesiedelt.  

    Andere Stützpunkte, die besonders häufig in den Verfahren zu gefallenen oder vermissten Militärangehörigen auftauchen, sind die Einheit Nr. 12721 in Klinzy (Oblast Brjansk) mit 119 Anträgen, Nr. 61899 in Moskau (mit 99), Nr. 06705 aus der Region Transbaikalien (mit 96) und eine weitere in Klinzy (Nr. 91704). 

    Wieso muss man für tote Soldaten vor Gericht ziehen? 

    Die russische Armee schafft es nicht, alle gefallenen Soldaten vom Schlachtfeld zu bergen. Das bringt sowohl für die Angehörigen wie für die Einheiten Probleme mit sich: Ohne Leichnam stellen die russischen Behörden keine Sterbeurkunde aus, und ohne juristisch bestätigten Tod gibt es keine Entschädigung. Zudem kann der Armeeangehörige nicht aus der Personalliste gestrichen werden. 

    Gibt es keinen Leichnam, kann ein Gericht einen Militärangehörigen erst für tot erklären, wenn es mindestens sechs Monate lang keine Nachricht von ihm gab. Verstka konnte allerdings keinen einzigen Fall finden, bei dem ein Soldat allein auf dieser Grundlage für tot erklärt wurde. In der Regel müssen Angehörige oder Vertreter der Einheiten für das Gerichtsverfahren Zeugenaussagen von Kameraden einholen, die den Tod des Betreffenden mitangesehen haben. 

    In den von Verstka recherchierten Fällen haben die Gerichte, wenn es keine Zeugen gab, die betreffenden Armeeangehörigen als verschollen [anstatt als tot – dek] eingestuft. Bei diesem Status kann man kaum mit einem „Sarggeld“ rechnen. Es kann aber beispielsweise Halbwaisenrente für die Kinder beantragt werden. In den zweieinhalb Jahren Krieg wird das Recht, einen gefallenen Armeeangehörigen als tot oder verschollen anerkennen zu lassen, sowohl von deren Familien wie auch von Kommandeuren aktiv genutzt. 

    „Wenn man die Leichen holen will,  
    kommen sofort Granaten geflogen“ 

    Einen Teil der Gefallenen lässt die russische Armee nicht bergen, wenn das betreffende Kampfgebiet von den ukrainischen Streitkräften beschossen wird. So erklärte im Mai 2024 ein Kämpfer der ehemaligen Gruppe Wagner, der vor einem Gericht in Saransk als Zeuge zum Tod eines Kameraden vernommen wurde: „Wenn man die Leichen holen will, kommen sofort Granaten geflogen, und dann sterben die Nächsten.“ Oder aus der schriftlichen Erklärung eines Feldwebels der Einheit Nr. 09332 vom Februar 2024 beim Bezirksgericht Adler: „Aufgrund des schwierigen Geländes und des dichten Feuers der überlegenen Kräfte des Feindes, erschien eine Bergung des Leichnams nicht möglich.“ Er habe gesehen, wie ein Gefreiter aus seiner Einheit „tot umfiel“, nachdem er am Kopf getroffen wurde.  

    In anderen Fällen gibt es nichts zu bergen, weil der Leichnam verbrannt ist oder vollständig vernichtet wurde. So stellte im Frühjahr 2024 ein Gericht in Stawropol zum Tod eines Schtorm-Z-Kämpfers fest: „Im Zuge der Kampfhandlungen verbrannte der Körper des Sohnes der Antragstellerin restlos unter direkter Einwirkung eines Explosivgeschosses, das von den Streitkräften der Ukraine abgefeuert wurde.“ 

    Es kommt auch vor, dass jemand einfach verschwindet und unklar ist, ob er gefallen ist oder nicht. So war es z. B. mit Major Lenar Karimow, der zehn Jahre in der Armeeeinheit Nr. 09332 im nordkaukasischen Adygeja gedient hatte und dann Kommandeur einer Funk- und Radarbatterie der Besatzungstruppen war. Im Zuge der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Cherson im Herbst 2022 musste Karimow mit seiner Einheit fliehen und ist seitdem spurlos verschwunden. Die Suche der Kameraden nach seinem Leichnam blieb vergebens. Niemand hat gesehen, was mit ihm geschah, seit anderthalb Jahren gibt es keinerlei Lebenszeichen. Der Kommandeur der Einheit zog vor Gericht, um Karimow für verschollen erklären zu lassen und ihn daraufhin aus der Personalliste streichen zu können.

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Warum schießen die Zahlen 2024 in die Höhe? 

    Die drastische Zunahme der Anträge, um Militärangehörige als gefallen oder verschollen anerkennen zu lassen, geht nicht nur auf den Wunsch von Angehörigen zurück, sondern oft auch auf das aktive Vorgehen der Einheiten. 

    Für die Kommandeure ist es wichtig, dass bei ihnen keine „toten Seelen“ gelistet sind. Sie können einen gefallenen Soldaten, der nicht geborgen wurde, nicht einfach streichen. Und solange jemand auf der Personalliste steht, kann er nicht „entlassen“, also aus dem Soldverzeichnis gestrichen und durch einen anderen ersetzt werden.  

    So erklärten im August 2024 Vertreter der Einheit Nr. 57367 vor dem Bezirksgericht Ussurijsk, dass sie den Unterfeldwebel mit Rufnamen „Deimos“, dessen Leichnam nicht geborgen werden konnte, aus der Liste streichen wollen, weil „die Einsatzfähigkeit der Einheiten in erster Linie von einer vollen Mannschaftsstärke abhängt“. Der Feldwebel war bereits im Oktober 2022 bei den Kämpfen um das Dorf Wolodymyriwka (Oblast Donezk) getötet worden. Seither, so die Annahme der Armee, liegt sein Leichnam auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Ein Kamerad des Feldwebels sagt vor Gericht aus, er habe einen Schrei gehört: „Deimos 200!“, und zwar wenige Minuten, nachdem die ukrainischen Streitkräfte das Feuer auf ihre Stellungen eröffnet hatten. Der Kommandeur der Kompanie habe den Befehl gegeben, den Toten zurückzulassen und sich zurückzuziehen. 

    Unseren Berechnungen zufolge wurden zwischen Januar und August 2024 insgesamt mindestens 2.303 Anträge gestellt, Militärangehörige als gefallen oder vermisst einzustufen. Die eine Hälfte wurde von Truppenstützpunkten gestellt, die andere von den Familien der Getöteten, entweder selbständig oder mit Unterstützung der Militärstaatsanwaltschaft. 

    „Wenn ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist,  
    kann man Aufstockung beantragen“ 

    Allein 70 Anträge sind 2024 von der Einheit Nr. 29297 eingegangen. Im September 2023 hatte der Telegram-Kanal Mobilisazija eine Videobotschaft veröffentlicht, die angeblich von Soldaten des 1008. Regiments jener Einheit aufgenommen wurde. Die uniformierten Männer berichteten von Regelverstößen und „kolossalen Verlusten“. Trotz allem habe die Einheit als einsatzfähig gegolten. 

    „Damit unsere Personallücken aufgefüllt werden können, muss aus den Unterlagen die Notwendigkeit dafür hervorgehen“, erklärt ein Vertragssoldat eines Bergungstrupps gegenüber Verstka; seine Leute sind für Suche und Abtransport von Verletzten und Getöteten zuständig. „Wenn etwa ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist, kann man eine Aufstockung beantragen. Bei Tschassiw Jar haben wir bis zu 60 Prozent verloren, aber die Leichname fehlen, wir können sie einfach nicht bergen. Wir versuchen, wenigstens die Dienstmarken zu holen, aber auch das ist nicht realistisch. Daher gibt es so viele Vermisste. Keiner mag es, so viele Vermisste nach oben zu melden, dafür kommen dann alle dran. Deswegen haben wir dort einen Monat lang unterbesetzt in der Luft gehangen. Dann brachten sie uns die Strafversetzten und die Häftlinge. Mit denen werden die Lücken gestopft.“ 

    Viele „Sturmtruppen“ bleiben auf dem Schlachtfeld 

    Der Stützpunkt Nr. 06705, der seinen Standort in der Stadt Borsja (Region Transbaikalien) hat, stellte im Mai und Juni 87 Anträge, Militärangehörige für gefallen oder verschollen zu erklären. Dabei wird bei sämtlichen Anträgen vom Juni eine andere Garnison als „interessierte Partei“ genannt: Nr. 22179. Auf deren Grundlage wurde eine Schtorm-Z–Einheit gebildet, die aus ehemaligen Häftlingen und strafversetzten Soldaten besteht. „Da sind nur lahme Kämpfer, Alkis, Junkies, Deserteure. Wenn der Kommandeur was gegen dich hat, kann der dich einfach da reinstecken. Wenn du nicht gehorchst oder widersprichst – zack, bist du weg. Im Grunde ist das ein Strafbataillon, nichts als Fleischwolf“, erklärte der Offizier Andrej (Name geändert) im Frühjahr 2024 gegenüber Verstka. Dass bei der Antragstellung zwei verschiedene Stützpunkte genannt werden, erklärt sich dadurch, dass die Kämpfer von Schtorm Z aus unterschiedlichen Einheiten kamen, um befestigte Stellungen des Feindes zu stürmen. 

    Die Beschlüsse zu den Anträgen von 2024 sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber Verstka konnte 15 frühere Fälle ausfindig machen, die jene Einheit Nr. 22179 betrafen. Daraus geht hervor, dass Soldaten dieser Garnison an diversen Sturmangriffen beteiligt waren und zu unterschiedlichen Zeitpunkten an unterschiedlichen Orten starben: zum Beispiel in Kämpfen bei Kyryliwka (Oblast Saporishshja), Awdijiwka, Oleksandriwka, Marjinka, Swjatohirsk, Dubowo-Wassyliwka (Oblast Donezk) und Bilohoriwka (Oblast Luhansk). 

    So wurde ein Gefreiter der 63. Schtorm-Z-Kompanie aus der Region Krasnojarsk seiner Mutter zufolge im April 2023 für den Armeedienst angeworben, als er auf Arbeitssuche war, und landete in der Einheit Nr. 22179. Er sollte einen Sold von monatlich 51.900 Rubel [ca. 500 Euro – dek] bekommen. Bereits im Mai 2023 stürmte er ukrainische Stellungen. Seit einem dieser Sturmangriffe ist er verschollen. Ein Kamerad erzählte dann den Angehörigen, er sei „in einem Sumpfgebiet gefallen“. Das Bezirksgericht Suchobusimskoje (Region Krasnojarsk) kam 2024 zu dem Schluss, dass er „bei der Erfüllung seiner Aufgaben im Zuge der militärischen Spezialoperation“ ums Leben gekommen war. 

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Wie die Familien vor Gericht ziehen 

    Familien, die ihre Angehörigen nicht beerdigen konnten, die die Hoffnung verloren haben, dass sie vielleicht doch noch am Leben sind, und die das „Sarggeld“ beantragen wollen, können sich zusammentun und gemeinsam vor Gericht ziehen. Im Sommer 2024 haben Verwandte von Angehörigen der Einheit Nr. 95383 gleich 54 Anträge eingereicht, um ihre Söhne als tot oder verschollen anerkennen zu lassen. Die Soldaten waren mutmaßlich während der Kämpfe um das Dorf Klischtschijiwka bei Bachmut ums Leben gekommen. 

    Im Frühjahr 2024 hatten die Familien dieser Soldaten eine Petition ins Leben gerufen, die bis dato von fast 300 Personen unterzeichnet wurde. Der Text besagt, die Familien hätten seit Juli 2023 nichts mehr von ihren Söhnen gehört. Damals hatten ukrainische Truppen russische Stellungen bei Klischtschijiwka angegriffen. Zuvor waren Einzelheiten zu den Kampfhandlungen bekanntgeworden: In einer Videobotschaft an den Präsidenten behaupten Angehörige der Soldaten, der Kommandeur habe diese „unter Todesdrohungen gezwungen, zu den Stellungen zurückzukehren, die mittlerweile vom Gegner eingenommen waren. Sie konnten nirgendwo in Deckung gehen und bekamen keinerlei Artillerieunterstützung.“ 

    Prozess für einen „Helden“ 

    Vor Gericht muss man selbst dann ziehen, wenn der Betreffende selbst Kommandeur war und nach Ansicht der russischen Armee Heldentaten vollbracht hat. So ging beispielsweise 2024 die Frau von Major Pawel Saran vor Gericht, der in der Einheit Nr. 21634 gedient hatte. 

    Der Major hatte das Kommando über ein Panzerregiment eines Sturmbataillons und fiel mutmaßlich am 5. Juni 2023 bei Kämpfen in der Nähe von Lewadne (Oblast Saporischschja). Nach offizieller Version hatte Saran seiner Einheit befohlen, die Verteidigungslinie zu halten, wofür er posthum mit dem Titel eines „Helden Russlands“ und der Medaille Solotaja Swesda (dt. Goldener Stern) ausgezeichnet wurde. Im Gerichtsbeschluss heißt es, der Major und neun weitere Militärangehörige hätten sich in einem Unterstand befunden, der von ukrainischen Panzereinheiten beschossen wurde. Durch den direkten Einschlag einer Granate kam es in dem Unterstand zur Explosion, wodurch alle zehn ums Leben kamen. Ihre Leichen konnten nicht geborgen werden.  

    Sarans Ehefrau, vertreten durch die Militärstaatsanwaltschaft, stellte daraufhin einen Antrag an das Bezirksgericht Ussurijsk, wo die Einheit ihres Mannes stationiert ist. Aufgrund von Zeugenaussagen kam das Gericht zu dem Schluss, dass Pawel Saran in der Nähe von Lewadne „in Ausübung seiner militärischen Dienstpflichten gefallen“ sei. 

    Familien gewinnen die Prozesse nicht immer beim ersten Versuch. 

    Es gelingt den Familien jedoch nicht immer beim ersten Versuch, das Gerichtsverfahren zu gewinnen. Viktoria Dikarjowa aus Polessk in der Oblast Kaliningrad erzählte Verstka bereits im Sommer 2023, ihr Mann, der als Freiwilliger in einer Reservisten-Einheit gedient hatte, sei vermutlich im August 2022 beim Sturm des Dorfes Wolodymyriwka (Oblast Donezk) gefallen. Wjatscheslaw Dikarjow hatte Frau und Tochter zurückgelassen, um – so Viktoria – im Krieg „ein paar Groschen zu verdienen“ und im Haus einen Gasanschluss legen zu können. Er war nur eine Woche an der Front. Von Kameraden hatte Viktoria gehört, dass ihrem Mann bei einem Angriff die Beine abgerissen wurden. Er konnte nicht gerettet und sein Leichnam wegen des starken Beschusses nicht geborgen werden. 

    Doch Viktoria verlor das Gerichtsverfahren, in dem ihr Mann für tot erklärt werden sollte. Der Kommandeur der Einheit Nr. 22179 (derselben, aus der sich auch eine berüchtigte Schtorm-Z–Einheit rekrutierte) teilte dem Bezirksgericht Polessk mit, er könne keine Informationen zum Schicksal von Dikarjow geben – jener sei nicht in den Personallisten seiner Garnison, sondern bei einer Freiwilligeneinheit registriert gewesen. Letztlich entschied die Richterin, dass es zu wenig Beweise für den Tod Dikarjows gebe. 

    „Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen.“ 

    Also klagte Viktoria ein zweites Mal, diesmal für den Verschollenen-Status. Und diesmal mit Erfolg. Ohne diese Entscheidung, sagte sie, hätte sie nicht einmal Waisenrente für ihre Tochter beantragen können. Mitte August 2024, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, will Viktoria aber doch noch einen zweiten Versuch unternehmen, ihn amtlich für tot erklären zu lassen. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie das Gericht entscheiden wird“, sagt sie. „Seit zwei Jahren kämpfe ich nun dafür. Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen. Sein Körper wurde immer noch nicht heimgeholt, wer weiß, ob das überhaupt je geschehen wird. Obwohl doch das Gebiet, in dem er gefallen ist, längst zu Russland gehört, sucht niemand nach ihm. Was kann ich jetzt noch tun? Ich kann jetzt nur noch auf dem Papier seinen Tod feststellen lassen und alle Zahlungen beantragen, die meiner Familie zustehen.“ 

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  • Wegschauen und Weiterleben ausgeschlossen

    Wegschauen und Weiterleben ausgeschlossen

    Im Oktober 2024 wurde bekannt, dass der russische Oppositionelle Ildar Dadin Anfang des Monats im Krieg gefallen ist. Er hatte an der Seite der Ukrainer gegen die russischen Invasoren gekämpft. Nach Bekanntwerden von Dadins Tod schrieb der renommierte russische Journalist Andrej Loschak auf Facebook einen kurzen Nachruf, der eine heftige Diskussion auslöste. Denn Loschak erwähnt darin auch, dass Dadin von den Zuständen in der ukrainischen Armee enttäuscht gewesen sei. Darf man als Unterstützer der angegriffenen Ukraine die Zustände dort mit denen in Russland vergleichen? 

    dekoder dokumentiert den umstrittenen Beitrag. 

    Ildar Dadin (1982-2024) protestierte in Moskau, schloss sich dem Freiheitskampf der Ukraine an und fiel an der Front / Foto © Komers Real / flickr / CC BY 2.0

    Ildar Dadin ist an der Front gefallen. Für mich war er immer ein leuchtendes Beispiel für einen Menschen, der Ungerechtigkeit nicht tatenlos hinnehmen konnte. Das Wort, das in seinen Interviews wahrscheinlich am häufigsten zu hören war, lautet „Gewissen“. So äußerte er sich zum Beispiel damals zu den Bolotnaja-Prozessen: 

    „Ich war erstaunt, dass die Bewegung sich auflöste, statt dass die Menschen erst recht auf die Barrikaden gehen. Wir haben einfach zugesehen, wie man die, die mit uns gemeinsam für faire Wahlen demonstriert haben, als Geiseln genommen und eingesperrt hat. Ihre gebrochenen Schicksale haben auch wir auf dem Gewissen. Ende 2012 waren wir höchstens noch 30 Leute. Die Luft war raus, das habe ich verstanden, es hatte praktisch keinen Sinn mehr, auf die Straße zu gehen. Aber ich bin trotzdem gegangen, das war eine Frage des Gewissens.“ 

    Dadin wurde nicht müde zu wiederholen, dass alle Russen Verantwortung für das totalitäre Regime tragen, in das Putins Herrschaft ausgeartet ist. Bereits seit Anfang der 2000er Jahre verwandelte sich das Land allmählich in einen riesengroßen Karzer, bis man nach 2012 nicht mehr die Augen davor verschließen konnte. Und trotzdem haben wir es geschafft. Die Menschen in der Provinz – weil sie schon immer an der kurzen Leine gehalten wurden und gar nicht wissen, dass es etwas anderes gibt. Die Großstädter aus Bequemlichkeit. Zumal der Karzer, zumindest am Anfang, noch ziemlich komfortabel war. Das machte ihn jedoch nicht weniger zum Karzer. 

    Dadins Kampf für Versammlungsfreiheit brachte ihn ins Gefängnis 

    2014 wischte sich das Regime wieder mal mit der russischen Verfassung den Arsch ab und schränkte die Versammlungsfreiheit noch krasser ein (damals ging es bereits nur noch um Einzelkundgebungen). Der erste, der gegen das Verbot verstieß und dafür ins Gefängnis wanderte, war natürlich Ildar Dadin. Deshalb trägt der entsprechende Paragraf seither seinen Namen: „Dadin-Gesetz“. Im Gefängnis, das in Russland nur dafür da ist, die Inhaftierten maximal zu erniedrigen und die Menschenwürde mit Füßen zu treten, musste Dadin leider Gottes Folter erleiden. 

    „Ich habe damals erfahren, dass Russland nicht nur das Land von Mördern ist, weil es ein anderes Land überfallen hatte, sondern auch ein Land der Folterknechte und Sadisten. Ich glaube, sie haben mich gefoltert, weil ich mich nicht brechen ließ. Sie wollten ein Exempel an mir statuieren, um zu zeigen, was mit denen passiert, die für ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einstehen, offen über die Verbrechen des Kreml sprechen und für die das eigene Gewissen die höchste Instanz ist. Sie mussten mich mit ihren Stiefeln in den Dreck treten, damit andere sehen und verstehen, dass es ihnen genauso ergehen würde.“ 

    „Ich kann mit dem Gedanken nicht leben, bei diesen Verbrechen Mittäter zu sein“ 

    Dadin schrie seit 2014 laut heraus, dass Russland einen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine führt. Als Putin 2022 die großangelegte Offensive begann, stand Dadin nicht wie die meisten von uns vor der Frage: gehen oder bleiben? Er stand vor einer viel unerbittlicheren Entscheidung: ins Gefängnis wandern oder auf Seiten der Ukraine kämpfen? 

    „Ich kann mit dem Gedanken nicht leben, Mittäter bei diesen Verbrechen zu sein. Das Einzige, was mir bleibt, ist entweder in Russland auf die Straße zu gehen und dafür eingesperrt oder getötet zu werden, oder in die Ukraine zu fahren und mit der Waffe in der Hand gegen das Böse zu kämpfen. Einen dritten Weg – wegschauen und mein Leben weiterleben – gibt es nicht. Ich verstehe nicht, wie man das tun kann.“ 

    In Dadins Worten steckt viel unbequeme Wahrheit. Er betonte immer wieder, er sei Humanist. Das Leben und die Menschenrechte hatten für ihn oberste Priorität, sein ganzes Leben vor dem Krieg ist Beweis genug dafür. Und genau deshalb musste er diese harte, paradoxe Entscheidung treffen und zur Waffe greifen. Etwas ähnliches muss Dietrich Bonhoeffer, einen zutiefst religiösen Mann, dazu bewogen haben, sich den Hitler-Attentätern anzuschließen. Manchmal muss man, um seine Menschlichkeit zu wahren, das Irdische vom Göttlichen trennen. Sich zwischen dem Gebot „Du sollst nicht töten“ und dem eigenen Gewissen entscheiden, das dir sagt, dieses Böse kann nur mit Hilfe von Gewalt gestoppt werden. Einen perfekten Weg, mit weißer Weste aus diesem Konflikt zu kommen, gibt es nicht. Alle anderen Strategien sind, was den Kampf angeht, sinnlos. Das können wir leider daran beobachten, wie sich die Opposition im Exil selbst zerfleischt. Dadin und Nawalny sind mit zwei extremen und gleichzeitig extrem konsequenten Strategien als Beispiel vorangegangen. Das Unbequeme daran ist, dass sie uns, die wir vor dem Bösen in sichere Länder geflohen sind, unsere Feigheit vorführen. Ohne jeden Vorwurf, ohne Belehrungen, einfach nur durch ihr persönliches Vorbild. Und das macht es nur noch schonungsloser. Wir haben, wie es Julija Galjamina in einem Interview ausdrückte, die Strategie der Selbstrettung gewählt. Familie, Kinder, Pazifismus, schöpferische Entfaltung – das ist alles schön und gut. Aber lasst uns ehrlich sein: Sie hatte vollkommen recht. 

    Nawalny wählte den Weg Gandhis, Dadin wählte den Weg des Kriegers 

    Die Bedeutung von Ildar Dadin wird unterschätzt. Ich denke, mit der Zeit wird er in den Pantheon der Helden unserer Zeit aufsteigen, ebenso wie Nawalny. Sie werden beide zu Symbolen des Widerstands gegen den Putinismus werden (Dadin bevorzugte den Begriff „Raschismus“). Beide sind heldenhaft in diesem Kampf gefallen. Nur dass der eine den Weg des Satyagraha gewählt hat, der Gewaltlosigkeit, und der andere Buschido, den Weg des Kriegers. Vielleicht wird man ihn einmal den „Dadin-Weg“ nennen, wie man es mit dem repressiven Gesetz gemacht hat. Auf dieser hohen Note könnte man den Nachruf beenden, aber in Dadins Geschichte gibt es ein letztes Kapitel, das nicht weniger unbequem und widerspenstig ist als sein ganzes Leben. 

    Kurz vor Dadins Tod hatte ein guter Freund von mir, der ihn flüchtig persönlich kannte, über einen Messenger Kontakt mit ihm aufgenommen. Auf das floskelhafte „Wie-geht-es-dir“ brach es aus Dadin heraus. Ich glaube, er fühlte sich von allen vergessen, und so ließ er alles, was sich angestaut hatte, bei dieser Gelegenheit raus. Es war die grausame, unerbittliche Wahrheit über den Krieg. Dadin litt zutiefst. Seine Ehre, sein Gewissen und seine Menschenwürde waren konfrontiert mit der „Wahrheit des Schützengrabens“, und er konnte sie nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Diese Wahrheit besteht darin, dass in der ukrainischen Armee der gleiche Scheiß los ist wie in der russischen. Demütigung, Korruption, Dummheit, Grausamkeit und die Selbstdarstellung der Kommandeure, die die Tatsachen vor der Obrigkeit verbergen. Mit einem Wort (das Dadin selbst verwendet): derselbe sowok wie auf der feindlichen Seite. Aber er betonte auch den einen prinzipiellen Unterschied: Dass nämlich die Ukrainer einen Befreiungs- und die Russen einen Besatzungskrieg führen. Ich kann hier aus verschiedenen Gründen nicht das gesamte Gespräch veröffentlichen, aber ein Zitat möchte ich bringen: 

    „Ich kann nicht als Sklave kämpfen“ 

    „Man muss den Raschismus bekämpfen. Denn wenn man nicht gegen das Böse kämpft, dann stellt man sich dem Bösen durch seine Untätigkeit in den Dienst, man ergibt sich ihm. Aber meine Menschenwürde sagt mir, dass ich nicht als Sklave kämpfen kann.“ 

    Vielleicht ist das Tragischste an der Geschichte, dass Dadin kurz vor seinem Ende offenbar bereute, in die Legion eingetreten und in den Krieg gezogen zu sein. Ja, das ist eine für viele unbequeme, bittere Wahrheit, die unter Umständen ein gefestigtes Weltbild zerstört, in dem das Licht gegen die Dunkelheit kämpft, aber schon aus Respekt vor Ildar muss ich diesen Teil der Wahrheit ebenfalls erzählen. Über ein Jahr lang kämpfte er in den Sturmtruppen an vorderster Front. Er war zweifellos emotional ausgezehrt und in einem depressiven Zustand, das geht aus seinen Worten hervor. Vielleicht war es eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie es in solchen Fällen vorkommt, aber das glaube ich nicht. Ich glaube, Dadins natürlicher, angeborener Instinkt für (Un-)Gerechtigkeit war untrüglich. 

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  • „Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt“

    Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland eine imaginäre „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Nun arbeitet die russische Führung an einem Verbot einer „Childfree-Bewegung“, die es ebenfalls nicht gibt. „Propaganda des freiwilligen Verzichts auf das Kinderkriegen“ wird damit unter Strafe gestellt. Darunter fallen nach Vorstellung der Initiatoren des Gesetzes Werbung für Verhütungsmittel oder Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch. Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass alle möglichen Informationen zu bewusster Kinderlosigkeit bestraft werden können. Zudem muss man befürchten, dass die Verabschiedung des neuen Verbots ebenso zu Diskriminierung und Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen führen wird wie das bestehende russische Gesetz über die sogenannte „homosexuelle Propaganda“

    Laut der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats, Valentina Matwijenko, ist die „Childfree-Ideologie“ als eine „Entartung des Feminismus“ im Westen entstanden. Sie sei gegen Männer und gegen die „traditionellen Werte“ gerichtet. Andere Politiker wollen mit dem Gesetz die demografischen Probleme des Landes angehen. Für den Journalisten Anton Orech von der Novaya Gazeta ist das Gesetz krude Biopolitik: „Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.“ 

     

    © Depositfoto / Imago Images

    In einer Schule in Ocha auf der Insel Sachalin mussten sich die Schüler in der Aula einfinden und sich einen Vortrag darüber anhören, wie schlecht Abtreibungen sind. Zwecks Veranschaulichung, damit die Jugendlichen es auch wirklich kapieren, zeigte man ihnen auf einer großen Leinwand den ganzen ungeschönten Vorgang. Videos von dieser Aktion gingen durch Kanäle und Accounts – verpixelt und mit der Warnung versehen, es handle sich um verstörende Bilder. Für die Kinder in der Sachaliner Schule wurden sie weder verpixelt noch beschönigt. Die Sache blieb zwar nicht ohne Folgen, es wurde ermittelt, wer das überhaupt erlaubt hatte und wer der Vortragende war – doch da war es bereits zu spät, der Schaden war bereits angerichtet.        

    Werbeverbot für Kondome? 

    Mir stellt sich vor allem eine Frage: Was die Kinder da gesehen haben – ist das nun Propaganda fürs Kinderkriegen oder für Childfree? Will man nach so einem Anblick überhaupt noch Kinder bekommen? Oder erreicht man mit solch entsetzlichen Bildern nicht vielmehr das Gegenteil von Fortpflanzungsfreudigkeit? Sodass das demografische Problem erst recht nicht gelöst wird?  

    Eine Abtreibung ist immer schlimm. Keine Frau würde so etwas aus Jux und unter normalen Umständen machen lassen. Und wer kein Baby kriegen will, kann ja verhüten – würde man meinen. Doch in der Duma wird bereits ein Werbeverbot für Kondome diskutiert, zur Bekämpfung von „Childfree“. Die Verbreitung von Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten wird die Gesellschaft natürlich viel weiter bringen. Wenn Frauen und Männer mit den Folgen von ungeschütztem Sex die Arztpraxen stürmen, wird es uns viel besser gehen. Es ist ja nicht nur der Tripper, der auf diesem Weg übertragen wird, da gibt es ja auch diverse andere Krankheiten.   

    In einem Land, in dem Hunderttausende Menschen das HI-Virus in sich tragen, ist es natürlich oberste Priorität, Kondome abzuschaffen! 

    Tja, und schwangere Teenager sind natürlich genau das, was uns allen noch gefehlt hat. Genau das scheint Senator Kutepow in Angriff zu nehmen: Er schlägt vor, Abiturientinnen bei der Aufnahmeprüfung zur Universität zusätzlich zu den üblichen Bonuspunkten für allerlei Olympiaden noch zehn weitere Punkte zu schenken, wenn sie im Jahr vor der Prüfung ein Kind gebären. In welcher Klasse muss man dann damit anfangen? Elfte, oder besser schon zehnte? Das sind völlig absurde Hirngespinste, doch eine einfache Wahrheit hat uns das Leben ja schon gelehrt: Es gibt kein Hirngespinst auf dieser Welt, das nicht irgendwann ein Gesetz in Russland werden könnte.  

    Die auf die Nachwuchsproduktion fixierte Regierung hat das Thema Childfree entschlossen im Visier. Worauf man sich verlassen kann: Bald wird diese „Bewegung“ verboten, ihre Anhänger mit Strafen belegt. Dass es gar keine entsprechenden Strukturen gibt, macht überhaupt nichts. Das hat ja auch keinen daran gehindert, die „internationale LGBT-Bewegung“, die angeblich seit 1984 aktiv ist, zu verbieten.  

    Bestrafung der Unterlassung 

    Was „Childfree“ betrifft, könnte es sogar noch absurder werden. Während das LGBT-Verbot eine Handlung bestraft, würde ein „Childfree“-Verbot eine Unterlassung bestrafen. In Russland kann man ohnehin bald jeden von der Straße weg vor Gericht schleppen, aber um wegen gleichgeschlechtlicher Liebe belangt zu werden, muss man diese immerhin entweder praktizieren oder Solidarität mit solchen Menschen zum Ausdruck bringen. Das heißt, wenn man absolut nichts über LGBT sagt und „es nicht macht“, dann hat man seine Ruhe. Aber soll jetzt jede kinderlose Person unter Generalverdacht stehen, einer imaginären Childfree-Bewegung anzugehören? 

    Sie sind verheiratet, aber haben keine Kinder? Soso, erklären Sie sich mal! Sie strengen sich an, aber es wird nichts? Wie können Sie Ihre Bemühungen beweisen? Sie haben gesundheitliche Probleme? Dann lassen Sie mal ein Attest sehen! Sie sind noch nicht bereit? Haben kein Geld? Keine Wohnung? Wollen erst Ihren Abschluss/Karriere machen? Das ist doch wohl alles kein Grund, sich nicht zu vermehren!  

    In der Sowjetunion wurde eine Steuer auf Kinderlosigkeit erhoben. Eine absolute Demütigung. Aber damals kam man auch wegen homosexueller Kontakte und antisowjetischer Propaganda und Agitation ins Gefängnis, und die Rolle der Partei als „unserem Steuermann“ war in einer Verfassung verankert, die insgesamt vor Kuriositäten strotzte. Können wir wiederholen? Zudem werden andauernd neue Steuern eingeführt, und trotzdem hat der Staat komischerweise kein Geld.        

    Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt 

    Die strafrechtliche Verfolgung von „Childfree-Propaganda“ eröffnet ein weites Feld für Improvisationen. Allein der Begriff der „Propaganda“ ist abstrakt und der Paragraf absichtlich schwammig formuliert. Klar, dann kann man jeden belangen, den man will. Jeden beliebigen Aktivisten zum Beispiel, wenn sich sonst gar nichts anderes gegen ihn finden lässt.   

    Aber noch viel wichtiger ist: Der Staat dringt buchstäblich in die Privatsphäre seiner Bürger und Bürgerinnen ein. Er legt sich zu ihnen ins Bett und macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt. Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen. 

    Aber der Russe ist ganz einfach gestrickt. Geht es um irgendwelche abstrakten Begriffe, um Freiheiten oder „allgemeinmenschliche Werte“, dann winkt er ab, als ginge es um Sachen, die niemand so richtig versteht oder braucht und die ihn nicht wirklich was angehen. Aber kaum ist er von etwas direkt betroffen, spürt es am eigenen Leib, da fängt er plötzlich an, ganz anders zu empfinden.    

    Lebensmittelpreise und steigende Wohnnebenkosten regen ihn viel mehr auf als jede Einschränkung von Freiheit. Die Frage nach Sex und Kinderkriegen ist allerdings maximal einfach zu verstehen, und die persönliche Betroffenheit könnte unmittelbarer nicht sein. Es ist äußerst schwierig, einen Menschen zum Kinderkriegen zu zwingen, wenn er nicht will. Und wenn ihm klar ist, dass er zwar von allen Seiten zur Fortpflanzung aufgefordert wird, es aber kaum Unterstützung für Familien mit Kindern gibt. Was hat er für Aussichten? Vermehrung in Armut? Fortpflanzung in der Schulzeit? Aber Wladimir Medinski hat die Lösung: Verkürzen wir doch einfach die Schulbildung, damit man nicht so viel Zeit mit Lernen verbringt, sondern schneller einen Beruf ergreift. Die Jungs in die Fabriken, die Mädels ins Geburtshaus. Und immer so weiter. Damit an „Childfree“ gar nicht mehr zu denken ist.     

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  • Schulen im Untergrund

    Die russischen Besatzungsbehörden setzen an ukrainischen Schulen in den okkupierten Gebieten zunehmend eigene Lehrinhalte durch: Ukrainisch als Unterrichtssprache stirbt, auf dem Programm stehen vermehrt Militarisierung und anti-ukrainische Propaganda. Es gibt zahlreiche Meldungen über Drohungen, Haft und Folter an Lehrpersonen und Lernenden, die sich geweigert hatten, die oktroyierten Änderungen umzusetzen. 

    Laut Schätzungen vom April 2023 leben rund eine Million ukrainische Kinder im schulpflichtigen Alter in den von Russland besetzten Gebieten. Die Russifizierung des ukrainischen Bildungssystems verstößt unter anderem gegen ihr Recht auf Bildung. Etwa 62.400 Kinder nehmen laut ukrainischem Bildungsministerium weiterhin am Online-Unterricht von ukrainischen Sekundarschuleinrichtungen teil. Sie begeben sich in unmittelbare Gefahr und müssen zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. iStories fragt, wie Kinder aus Nowa Kachowka und Melitopol weiterhin an ukrainischen Schulen lernen.

     Foto / Collage: istories
    Foto / Collage: istories

    In den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine gibt es 901 Schulen. Ein Teil davon wurde geschlossen, in anderen geht der Unterricht mit Lehrbüchern aus Russland weiter. Es gibt aber auch Schulen, in denen weiterhin nach den Standards des ukrainischen Bildungssystems unterrichtet wird, und zwar online.  

    Diese Schulen zu besuchen, wenn man sich in den besetzten Gebieten befindet, ist gefährlich. Deshalb verstecken die Eltern die USB-Sticks mit den Hausaufgaben und Lehrmaterialien und ziehen sogar aus der Stadt aufs Land, um den Kontrollen zu entgehen. 

    Wie sich für Kinder in den besetzten Gebieten seit 2022 das Schulwesen verändert hat, berichten die Direktorin eines Lyzeums in Nowa Kachowka und eine Lehrerin eines landwirtschaftlichen Lyzeums in Melitopol. 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht.“ 

    Iryna Dubas begann ihre Karriere als Lehrerin für Grundschulklassen und leitet jetzt das Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka. Als sie noch stellvertretende Direktorin des Lyzeums war, machte sie ein Volontariat in den USA, um die dortigen Methoden kennenzulernen. Sie war beeindruckt, dass die Kinder in amerikanischen Schulen selbst entscheiden, was sie lernen, und dass die Lehrkräfte ihnen wie auf Augenhöhe begegnen. Als Direktorin veränderte sie den Bildungsansatz in ihrer Schule. Sie begann mit der Inneneinrichtung: Die Gänge wurden neu gestrichen, es wurden Blumentöpfe aufgestellt, in den Klassenräumen bekamen die Schüler Einzeltische, damit jeder seinen persönlichen Bereich hat. 

    „Die Reinigungsfrauen haben sich heftig beschwert: ‚[Iryna] Petrowna, die Kinder haben alle Spiegel beschmiert!‘ und ‚Petrowna, die Kinder haben die Blumentöpfe umgeworfen!‘ Ich habe da immer ruhig reagiert: ‚Das ist normal. Das heißt nur, dass die Spiegel geputzt und die Pflanzen in Ordnung gebracht werden müssen. Wir werden das so lange machen, bis sich die Schüler dran gewöhnt haben.‘ Ein paar Monate später hat niemand mehr die Blumen angerührt oder etwas auf die Spiegel geschrieben.“ 

    Die wichtigste Veränderung war der Umgang mit den Schülern: „Ich wollte, dass die Kinder fröhlich sind, dass sie zu Hause erzählen, was sie gelernt haben und wie sehr ihnen das gefallen hat. Ich habe die Lehrerinnen eindringlich gebeten, mit den Kindern tolerant und diplomatisch umzugehen, sie wie gleichberechtigt zu behandeln, und ihnen mehr Freiheiten zu lassen. Den Lehrern der älteren Generation missfiel das, ein Teil von ihnen ging. Dafür waren die Kinder glücklicher.“ 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Anna But. Sie hat im Landwirtschaftlichen Lyzeum Melitopol Biologie, Deutsch und politische Bildung unterrichtet: 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht. Ich kann tausend Mal etwas aus dem Lehrbuch wiederholen, aber wenn die Kinder keinen Spaß am Unterricht haben, ist das nichts wert. Deswegen bin ich im Biologieunterricht mit den Kindern an den See neben dem Lyzeum gegangen, damit sie sich selbst alles ansehen können, anfassen können, begreifen können. Und bei der politischen Bildung sind wir ins Stadtzentrum gegangen, wo eine riesige Flagge hing. Ich fragte die Kinder, welche Emotionen das bei ihnen auslöst, und erzählte von meinen eigenen Gefühlen.“ 

    „Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘ “  

    Vom Beginn des großangelegten Krieges erfuhr Anna praktisch von den Schülern. Sie traf morgens auf dem Weg zur Arbeit einen Nachbarn, der sagte, dass die russische Armee den Flugplatz von Melitopol bombardiert. Anna glaubte ihm nicht, dachte nur, der Mann habe wieder mal einen über den Durst getrunken. Sie ging in ihre Klasse, schrieb auf Deutsch das Datum ‚24. Februar‘ und hörte Lärm aus dem schuleigenen Internat: ‚Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘. Ich geh zum Fernseher und sehe, dass es überall in der Ukraine brennt, überall gibt es Luftangriffe; die Sprecher reden von einer großangelegten Invasion.“ Die Direktorin stellte auf Online-Unterricht um, damit Schüler und Lehrer nicht ins Gebäude des Lyzeums kommen müssen. Am 26. Februar wurde Melitopol von der russischen Armee besetzt. 

    Ab dem 28. Februar ging sie zusammen mit ihrer Tochter, mit Kollegen, Schülern und anderen Bewohnern der Stadt jeden Tag zu den Protesten. Als das Militär begann, Aktivisten gefangen zu nehmen, und es nicht mehr möglich war, in Massen zu protestieren, verteilte Anna in der Stadt Flugblätter und Bändchen in den Farben der ukrainischen Flagge. Sie versuchte auch, ihre Schüler zu unterstützen: „Jetzt war ich nicht mehr Lehrerin, sondern Psychologin. Wir trafen uns mit den Schülern und ihren Eltern bei mir zuhause oder am See in der Nähe des Lyzeums. Ich sagte, alles werde gut, man müsse sich nur zusammenreißen und durchhalten. Mit denjenigen, denen die Flucht gelungen war, telefonierte ich. Ich habe den Schülern gut zugeredet, dass sie jetzt ruhig bleiben und auf sich aufpassen sollen.“ 

    Anna und ihre Tochter protestierten jedoch weiter. Sie machten keinen Hehl aus ihrer proukrainischen Haltung und berichteten in den sozialen Netzen, was in Melitopol vor sich geht. Nach einer Weile bekamen die Frauen Drohungen. Sogar Bekannte schrieben ihnen: ‚Schmort in der Hölle, ihr ukrainischen Schlampen.“ Zu jener Zeit wurden bereits proukrainische Aktivisten entführt, umgebracht und durch die „Keller“ geschickt. Als sie befürchten mussten, denunziert zu werden, verließen die beiden im April 2022 Melitopol. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    Iryna Dubas blieb bis zum August 2022 in Nowa Kachowka. Sie war am 24. Februar gerade in einem Krankenhaus bei Kyjiw gewesen, als ihr Stellvertreter anrief und sagte, in der Stadt gebe es Explosionen und die Kinder seien zusammen mit ihren Eltern zur Schule gekommen. Iryna ordnete an, alle aufzunehmen: In der Schule gab es einen großen Kellerraum, in dem man vor den Angriffen Schutz suchen konnte. 

    Am nächsten Tag wurde in der Schule der Unterricht offiziell eingestellt; der Keller fungierte aber weiter als Luftschutzraum. Iryna beschloss, in die Oblast Cherson zurückzukehren. „Ich musste stark sein. Mein Stellvertreter war in Panik, die Eltern riefen an, und ich sollte allen mit fröhlicher Stimme sagen, dass alles gut wird.“ 

    Die Oblast Cherson war bereits besetzt. Iryna konnte erst am 14. März nach Nowa Kachowka zurückkehren, als eine Überquerung des Dnipro möglich wurde. Zusammen mit den anderen Lehrerinnen ging sie täglich in die Schule. Sie machten mit dem Unterricht weiter, allerdings online. 

    Im April veranstaltete Wladimir Leontjew, das von den Besatzungsbehörden eingesetzte „Stadtoberhaupt“, eine Sitzung. Er versammelte die Direktoren aller Schulen und Kindergärten von Nowa Kachowka. Dort versprach er hohe Gehälter und erklärte, Bildung für die Kinder sei wichtiger als jeder Konflikt. Der Unterricht müsse jetzt aber in russischer Sprache erfolgen, und mit Lehrbüchern aus Russland. 

    Iryna lehnte das sofort entschieden ab. Im Juli, als sie die Schule auf das neue Schuljahr vorbereitete, kamen Vertreter der neuen, prorussischen Verwaltung zu ihr, begleitet von bewaffneten Männern. 

    „Das war [Wjatscheslaw] Resnikow, der ehemalige Direktor der Schule Nr. 10. Den hatten die Besatzer zum Leiter der Bildungsverwaltung ernannt. Mit ihm war Sorjana Us gekommen, die sogenannte Pressesprecherin des ‚Gauleiters‘ und dann drei Typen mit Maschinenpistolen, arme Bengel, die kaum so groß waren wie ihre Knarren. 

    Sorjana und Wjatscheslaw setzten sich, die mit den MPs bauten sich hinter mir auf. Resnikow fing an: ‚Sie sollten mitmachen, Iryna Petrowna. Bei Ihnen läuft alles so gut, sie sind so fortschrittlich. Unsere [die Russen] haben schon fast Mykolajiw und Odessa eingenommen, das ist halt so. Wir sind für die Bildung zuständig. Wenn Sie nicht wollen, werden das andere Direktoren machen.‘ Er gab mir zwei Wochen Bedenkzeit. Für mich war da gar nicht dran zu denken. Ich wollte auf keinen Fall dieses Russland; ich glaubte an den Sieg und war bereit, meine Schule bis zum Letzten zu verteidigen.“ 

    Den Sommer über sammelte das Lyzeum neue Schüler und bereitete den Online-Unterricht auf Ukrainisch vor. Dann wurde die Schule durchsucht und am 18. August wurde Iryna gefangengenommen. 

    Auf der Polizeiwache wurde sie in die „Zelle“ gebracht; in einen Raum wo früher die Passstelle war. Es gab auch andere Gefangene: die Direktorin des Lyzeums Nr. 2 in Nowa Kachowka, Oksana Jakubowa, und ehemalige Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung. Die Frauen hatten praktisch nichts zu essen und zu trinken. Ein altes Dreiliterglas diente als Toilette. Aus Gesundheitsgründen musste Iryna täglich Spritzen bekommen. Jakubowa half ihr dabei. 

    Jeden Tag wurde Iryna zu „Gesprächen“ mit einem Mitarbeiter des FSB geführt, der Umar genannt wurde. Seinen wirklichen Namen kennt Iryna nicht: 

    „Er fragte mich, ob ich nun endlich bereit sei, die Schule ins russische Bildungssystem zu überführen. Er drohte mir, sagte, dass ich 15 Jahre kriege, wenn ich in Russland ukrainische Bildung verbreite. Er beschuldigte mich, Artillerieziele auszuspionieren, und dass meinetwegen ein Dorf beschossen wurde. Mich haben sie zwar nicht angerührt, aber die anderen Frauen wurden mit Strom gefoltert; mir sagten sie, ich wäre als Nächste dran“, erinnert sich Iryna. 

    Am 23. August, am fünften Tag ihrer Gefangenschaft, holte Umar sie wieder zum Verhör: Sie solle alle Geräte (Fernseher, Tablets und Laptops) einsammeln und Lilija Grischagina übergeben, damit diese zum neuen Schuljahr das Lyzeum Nr. 1 aufmachen könne. Erst dann wurde Iryna freigelassen. Sie floh nach Kyjiw. 

    „Nach all dem wandte ich mich an eine Psychotherapeutin und Psychiaterin, weil es Dinge gibt, die ich nur einem fremden Menschen erzählen kann, der sie dann tief in sich vergräbt. Ich dachte, die Zeit würde den Schmerz lindern, aber der will nicht verschwinden“, erklärt Iryna. 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    „Es wird immer schwieriger, sich zu verstecken“ 

    Am 26. August, ihrem ersten Tag in Kyjiw, brach Iryna in Tränen aus – zum ersten Mal seit Beginn des großangelegten Krieges. Am Abend legte sie sich Teebeutel auf die geschwollenen Augen, nahm Baldrian und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen machte sie sich sofort wieder daran, ihr Lyzeum aufzubauen. 

    Sie erkundigte sich, wer von den Lehrkräften mitmachen will, fand neue Mitarbeiter, teilte Klassenlehrerinnen ein und kontaktierte die Eltern der Schüler. „Ich konnte meine Schule nicht im Stich lassen. Ich hatte das Gefühl: Ich habe Gefangenschaft und Besatzung überstanden, also schaffe ich alles auf der Welt“, sagt Iryna. 

    Bis zum 1. September 2022 hatte Irynas Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka 647 Schüler für den Online-Unterricht beisammen, von denen sich ein Großteil im Ausland oder unter Besatzung befand. Vor der Vollinvasion waren hier 637 Schüler zur Schule gegangen. 

    Fernunterricht hatte man schon während der Corona-Pandemie eingeübt, doch neue Herausforderungen kamen hinzu. Aus Sicherheitsgründen unterrichteten an diesem Lyzeum ausschließlich Lehrende, die sich auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet oder im Ausland aufhielten.  

    Die Familien in den besetzten Gebieten mussten lernen, für sich und ihre Kinder ein sicheres Lernumfeld zu schaffen, um nicht von russischen Sicherheitskräften entdeckt und verfolgt zu werden. Dafür zogen viele von der Stadt aufs Land, wo es praktisch keine Militärs und keine Hausdurchsuchungen gab.  

    Auch das Landwirtschaftliche Lyzeum von Melitopol setzte seinen Betrieb online fort, ebenfalls mit Schülern, die unter der Besatzung lebten. Zu persönlichen Treffen kamen die Lehrkräfte in Saporischschja zusammen. 

    Im Schulgebäude in Melitopol wird der Unterricht fortgesetzt, allerdings nach russischen Lehrbüchern. Bücher in ukrainischer Sprache sollen die russischen Soldaten gar zusammen mit der ukrainischen Flagge auf dem Schulhof verbrannt haben. Die Traktoren und LKW für das Fahrtraining der Schüler nahmen sie einfach mit. Vier von den in Melitopol verbliebenen Mitarbeitern des Lyzeums kooperieren jetzt mit dem Besatzungsregime. Der Rest nahm Abschied.  

    Wie genau das Lyzeum jetzt funktioniert, weiß Anna nicht. Bekannte berichten aber, dass man das „kaum Unterricht nennen“ könne. Der Sportlehrer Alexander Sidorow unterrichte plötzlich vier andere Fächer, darunter Geografie und Wirtschaftskunde. 

    Annas Bekannte erzählen, dass in Melitopol überall Georgsbänder und Schriftzüge hängen: „Russland ist der Heimathafen“, „Melitopol ist Russland“. „Tausende Bewohner von Melitopol sind entsetzt über diese Propaganda. Das Schlimmste ist, wir Erwachsenen wissen ja, dass das Agitation ist, wenn auch nicht alle das verstehen. Aber die Kinder durchschauen das nicht, und keiner ist da, der es ihnen erklärt. Es gibt Jugendliche, die schon in T-Shirts und Kappen mit dem russischen Wappen rumlaufen“, erzählt Anna, was sie von Bekannten gehört hat. „Aber das macht mir keine Angst. Sie können ja nichts dafür, dass ihre Eltern sie nicht weggebracht haben. Ich habe Kinder und Jugendliche sehr gern, und wenn wir zurückkommen, wird dieses Zeug wieder verschwinden. Weil wir Lehrer alles tun werden, damit die Kinder die Ukraine wieder lieben. Wir werden an ihre Herzen appellieren und sie öffnen.“ 

    In Melitopol ist der Besuch einer russischen Schule Pflicht [wie überall in den russisch besetzten Gebieten – dek]. Anna sagt, die meisten Lehrerinnen, die sie kennt, hätten sich aus dem Bildungsbereich verabschiedet: Der Unterricht sei zu einer Propagandaveranstaltung geworden, und sie hätten keine Lust, die Kinder russische Trikoloren malen zu lassen. Anna sind Fälle bekannt, wo bewaffnete Soldaten zu den Familien kommen und mit vorgehaltener MP verlangen, dass sie ihre Kinder in eine russische Schule schicken.  

    Trotz aller Risiken gibt es in Melitopol immer noch Eltern, die ihre Kinder in ukrainische Online-Schulen schicken. Meist haben die Kinder dort abends Unterricht, weil sie tagsüber in eine russische Schule müssen. Um sich vor den Razzien der Soldaten zu schützen, gehen die Eltern während der Schulstunden für alle Fälle mit ihren Kindern in eine andere Wohnung. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    „Es erfordert großen Heldenmut, unter der Besatzung weiterhin eine ukrainische Schule zu besuchen“, sagt Anna. „In Melitopol verraten sich die Leute gegenseitig. Jeden Moment kann dich ein Nachbar denunzieren, weil er gehört hat, dass du ukrainisch sprichst“. 

    Sich zu verstecken, wird immer schwieriger: Telefongespräche werden abgehört, auf der Straße können Eltern mit ihren Kindern jederzeit durchsucht werden, dann werden auch die Handys kontrolliert. Die Sticks mit dem Unterrichtsmaterial versteckt man in den hintersten Winkeln der Wohnungen.  

    „Die Kinder ergrauen unter der Besatzung. Das ist keine Übertreibung. Sie können einfach nicht wissen, wann das alles ein Ende haben wird.“ (Anna But, Lehrerin)  

    Deswegen haben die Kinder nach und nach aufgehört, am Unterricht [unseres Online-Lyzeums] teilzunehmen, wir mussten ganze Jahrgänge schließen. Am Ende des letzten Schuljahres [2023/24] hatten wir fast keine Schüler mehr.“ 

    Für 2024/25 hat das Landwirtschaftliche Online-Lyzeum gar nicht mehr genug Anmeldungen. „Diese Schule ist mein Leben, das ist für mich mehr, als meine Arbeit zu verlieren.“ Anna zufolge haben es nicht alle ihre Kollegen geschafft, bis zum Beginn des neuen Schuljahres an anderen Bildungseinrichtungen unterzukommen.  

    „Die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben“ 

    Wie Melitopol steht auch Nowa Kachowka unter Besatzung. Schulen gibt es dort aber so gut wie keine. Die von Russland eingesetzten Behörden haben Iryna zufolge den Schulbetrieb noch nicht in Gang gebracht. „2023 wurde in Nowa Kachowka nur die Schule Nr. 10 aufgemacht, und das nur online. Einige Eltern wurden genötigt, ihre Kinder dort anzumelden; dafür bekamen sie ein Lebensmittelpaket und zweitausend Rubel. Aber keiner kontrolliert, ob die Kinder dort am Unterricht teilnehmen.“ 

    Genau wie in Melitopol müssen Eltern es sorgfältig geheimhalten, wenn ihre Kinder online eine ukrainische Schule besuchen. Trotzdem hatte das Online-Lyzeum Nr. 3, das Iryna leitet, im Schuljahr 2023/24 ganze 568 Schüler und Schülerinnen. Zwei der fünf Absolventen mit Auszeichnung haben das ganze Jahr unter Besatzung verbracht. Zu ihrem Abschluss konnten sie in ukrainisch kontrolliertes Gebiet ausreisen (Details zur Strecke können aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden), um von Iryna ihre Zeugnisse und Medaillen entgegenzunehmen und sich an ukrainischen Hochschulen zu bewerben. 

    Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen im Krieg hat Dubas ihre Einstellung zur Schulbildung beibehalten: Oberste Priorität haben das Wohlbefinden und die Sicherheit der Kinder. „Seit der Befreiung von Cherson [am 1. November 2022] steht Nowa Kachowka unter ständigem Beschuss, sehr oft gibt es keinen Strom und kein Internet. Daher findet der Unterricht für die Kinder dann statt, wenn es wieder eine Verbindung gibt.“ 

    Das Thema Krieg vermeiden die Lehrenden während des Unterrichts. Sie erinnern nur an die Sicherheitsvorkehrungen: Sie bitten die Schüler in den besetzten Gebieten, auf der Suche nach Handyempfang, um die Hausaufgaben abzugeben, nicht auf Bäume zu klettern. So was ist nämlich schon vorgekommen. „Wenn ein Schüler seinen Test nicht besteht, ist das kein Drama. Wir wollen in Zeiten wie diesen die Kinder und Eltern nicht unter Druck setzen. 

    Ich schalte mich immer wieder zu den Online-Sitzungen dazu, um die Kinder zu sehen und einfach zu sagen ‚Passt auf euch auf‘. Die Kinder brauchen jetzt besondere Unterstützung, sowohl jene, die unter Besatzung leben, wie auch jene, die auf ukrainisch kontrolliertem Territorium immer wieder Beschuss erleben, und auch die, die fern von zuhause im Ausland sind. 

    Die Schüler sind ganz versessen auf den Unterricht. Sie wollen möglichst viel Zeit mit ihren Schulfreunden verbringen, wenigstens auf dem Bildschirm. Deswegen bieten die Klassenlehrerinnen auch Freistunden an, in denen die Kinder sich einfach unterhalten, und organisieren Feste für sie, um ihnen das zu geben, was der Krieg ihnen genommen hat: Spaß und Freude.“  

    Iryna steht auch den Lehrenden zur Seite, sie versucht nicht nur, Gehaltsaufbesserungen für sie herauszuschlagen, sondern kümmert sich auch um deren psychische Gesundheit: 

    „Eine Lehrerin muss ausgeglichen, gut gelaunt und für ihre Sache engagiert in den Unterricht gehen. Lernen muss für die Kinder interessant sein. Nach den Stunden können die Lehrkräfte so viel weinen und Angst haben, wie sie wollen, aber die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben. Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Nach dem Unterricht bekommt jede Lehrerin meine Unterstützung, ich rufe mindestens einmal im Monat jede einzelne an.“ 

    „Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist?“ 

    Für das neue Schuljahr 2024/25 hat das Lyzeum in Nowa Kachowka mehr Anmeldungen als vor dem großangelegten Krieg, nämlich 685. Viele der Schüler leben auf besetztem Gebiet [Iryna möchte keine Zahlen nennen, um die Familien nicht zu gefährden – Anm. d. Red.]: 

    „Die Lehrerinnen, die früher in Nowa Kachowka unterrichteten, haben unsere Schule ganzen Klassen empfohlen. Hinzu kommen die Erstklässler. Wir haben auf der Website und in sozialen Medien Werbung gemacht, ich habe alle Kindergärten der Stadt abtelefoniert, und die Eltern haben mir still und heimlich die Unterlagen geschickt. 

    Dieses Jahr werden wir als Experiment in der achten Klasse Finanzwissen einführen. Die Kinder haben sich dieses Fach selbst ausgesucht, dazu gab es am Ende des letzten Schuljahres eine Umfrage“, erzählt die Direktorin von den Plänen. 

    Anna But ist seit 1. September Dolmetscherin und Betreuerin der Hochschulgruppen an der Fachhochschule Melitopol, die zur Taurischen Staatlichen Universität in Simferopol gehört. Unterrichtet wird online, und die Lehrenden treffen sich wie die des Landwirtschaftlichen Lyzeums in Saporischschja. Auch in dieser Fachhochschule gibt es Studierende aus dem besetzten Melitopol.  

    Außerdem engagiert sich Anna weiterhin als Freiwillige. Seit 2014 knüpft sie Tarnnetze für die Armee. Solange sie in den besetzten Gebieten war, hat sie diese Tätigkeit unterbrochen. Für ihr ehrenamtliches Engagement und die Proteste in Melitopol hat ihr der Präsident der Ukraine die Auszeichnung „Nationale Legende der Ukraine“ verliehen: 

    Foto / president.gov.ua
    Foto / president.gov.ua

    „Es war schon die ganze Zeit so: Den halben Tag hab ich unterrichtet, die zweite Hälfte zusammen mit den Kindern Netze geknüpft. Das [die Unterstützung der Front] hat jetzt oberste Priorität. Wenn wir der Armee nicht helfen, dann wird es auch keine Bildung mehr geben. Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist? Danach werden wir Neuerungen beim Unterricht vornehmen.“ 

    Ehemalige Schüler von Anna und Iryna, unter anderem die, die 2021 ihren Abschluss gemacht haben, verteidigen jetzt die Ukraine. Manche von ihnen sind jetzt in russischer Kriegsgefangenschaft. 

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  • Hass im Donbas

    Hass im Donbas

    Dieses Warum beschäftigt mindestens Europa seit mehr als zehn Jahren: Warum haben russische Propaganda, Geld und Waffen in den ukrainischen Donbas-Regionen Donezk und Luhansk so viel stärker verfangen als in anderen Gebieten? Es kann nicht nur an der russischen Sprache oder dem früher hohen Anteil der sich als Russen identifizierenden Menschen liegen, betonen ukrainische Wissenschaftler und Publizisten. Denn dies trifft auch auf Teile der Regionen Odesa, Charkiw und Saporischschja zu.  

    Vielmehr sei schon der Begriff eines vermeintlich homogenen Donbas’ ein Teil der (pro-)russischen Propaganda, während die gesamte Region vielfältiger sei, sich im ländlichen Raum viel mehr ukrainische Traditionen und Sprache sowie Minderheiten wie etwa die griechische Gemeinschaft fänden. Das Warum-im-Donbas erklären sie mit einer besonders aggressiven Propaganda, die eine laute Minderheit zum Volkswillen erhebt.  

    Wie sich das genau entwickelt hat, skizziert auch Konstantin Skorkin: In seinem Artikel für die russischsprachige Ausgabe von The Moscow Times beschreibt er die Ursprünge und Entwicklungsstufen der russischen Einmischung in die politische Entwicklung der ostukrainischen Regionen bis zum Beginn des Kriegs 2014. Der Journalist Skorkin stammt selbst aus Luhansk und berichtet seit Jahren aus seiner Heimat, später aus Moskau, mittlerweile aus dem westlichen Ausland über den Donbas. 

    Graffiti mit dem Schriftzug Noworossija und PTN und den Farben der sogenannten Volksrepublik Donezk © ZUMA Press / Imago

    Dem Krieg im Donbas ab 2014 ist eine jahrelange mediale Hassspirale vorausgegangen. So sehr der Euromaidan selbst auch polarisiert haben mag, ohne ein schrittweise gefestigtes ideologisches Fundament hätte es nie zu diesem durch Russland militärisch unterstützten Separatisten-Aufstand kommen können. Der Donbas wird in die Geschichtsbücher eingehen als Paradebeispiel: So erzeugt man künstlich einen bewaffneten Konflikt – durch Missbrauch lokalpatriotischer Bewegungen und medialen Hass. 

    Bergmann im Donbas statt Bürger der Ukraine  

    Beim Referendum 1991 stimmte noch die Mehrheit der Bewohner des Donbas für die ukrainische Unabhängigkeit – jeweils fast 84 Prozent in den Oblasten Donezk und Luhansk. Doch diese anfängliche Unterstützung wich schnell einer wachsenden Unzufriedenheit. Dafür gab es mehrere Gründe:  

    Erstens litt der Donbas stärker als andere Regionen unter dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft. Viele Unternehmen hier waren stark auf den gesamtsowjetischen Absatzmarkt ausgerichtet und erwiesen sich als ineffizient für den geöffneten Weltmarkt.  

    Zweitens spielte – aufgrund der industriellen Prägung der Region [die viele Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion in die industriellen Zentren des Donbas’ brachte – dek] – die sowjetische Ideologie eine große Rolle. Später erfasste die verarmte Bevölkerung dann schnell eine UdSSR-Nostalgie. Bis 2004 galten die meisten Sympathien dort der Kommunistischen Partei der Ukraine.  

    Drittens: Es überwiegt eine russischsprachige Bevölkerung mit einer verwaschenen Identität, die stärker in einem lokalen oder beruflichen Selbstverständnis wurzelt – „Wir aus dem Donbas“, „Wir Bergleute“ – als in einer Identifikation mit der Gesamtukraine. Ebenso in Bezug auf Russland. 

    Der japanisch-amerikanische Historiker Hiroaki Kuromiya, der sich auf den Donbas spezialisiert, bezeichnete die Region einmal als „Problemkind“ von Kyjiw und Moskau. 

    Was lockt den Donbas gen Osten? 

    Bereits in den späten 1980er Jahren strebten im Donbas erste Organisationen eine Autonomie oder sogar Abspaltung der Region von der Ukraine an, etwa die Internationale Bewegung des Donbas in Donezk oder die Volksbewegung der Region Luhansk – häufig unterstützt von lokalen Gruppen der Kommunistischen Partei, die versuchten, ein Gegengewicht zur ukrainischen national-demokratischen Bewegung zu schaffen. Sie blieben jedoch eine marginale Kraft, die nach der Gründung der unabhängigen Ukraine wieder verschwand.  

    Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Mit der Zeit aber nutzten die lokalen Eliten die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Zwecke: Während der Bergarbeiterstreiks 1993/94 forderten sie unter anderem die Schaffung einer ostukrainischen Autonomie und die Erhebung des Russischen zur Amtssprache. Es gab sogar ein regionales Referendum zu diesen Fragen, dessen Ergebnisse jedoch nie offiziell anerkannt wurden. Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Später räumten die Donbas-Aktivisten selbst ein, dass der wichtigste Faktor für das Scheitern der ersten Abspaltungsversuche die fehlende externe Unterstützung durch Russland gewesen sei. In den Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau war in den 1990er Jahren eher die Krim der Zankapfel. Erst 2004 änderte sich die Situation dramatisch. 

    Wahlen, Angst und Hass im Donbas 

    Da standen sich bei den Präsidentschaftswahlen der regierungsnahe Kandidat Viktor Janukowytsch, ehemaliger Gouverneur der Oblast Donezk, und Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko gegenüber. Die Kandidaten verkörperten zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsrichtungen der Ukraine: Juschtschenko setzte sich für eine europäische Integration ein, während Janukowytsch sich an Russland orientierte.  

    Der Kreml machte Juschtschenko das Leben schwer: Ein Trupp Polittechnologen unter der Leitung von Gleb Pawlowski reiste nach Kyjiw. Da Juschtschenko in den westlichen Regionen der Ukraine mehr Unterstützung genoss, setzte Janukowytschs Stab unverfroren auf eine Spaltung des Landes, indem er den russischsprachigen Südosten gegen den national ausgerichteten Westen ausspielte. 

    Die Propaganda machte aus Viktor Juschtschenko – einem gemäßigt liberalen Banker mit einer Leidenschaft für ukrainische Geschichte – einen radikalen Nationalisten. Als Juschtschenko dann zu einem Treffen mit Anhängern nach Donezk kam, erwarteten ihn in den Straßen riesige Plakate, die ihn in Nazi-Uniform zeigten. 

    Ein regionaler Fernsehsender in Luhansk zeigte zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell.  

    Die Flut der „schwarzen“ Negativ-PR nahm nach Beginn der Proteste auf dem Maidan im Herbst 2004, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingehen sollten (Orange war die Wahlkampffarbe Juschtschenkos), noch weiter zu. Während die landesweiten Medien nach und nach auf die Seite der Revolution wechselten, verbreiteten die von Janukowytsch-Anhängern kontrollierten regionalen Fernsehsender in den südöstlichen Regionen Hass und Propaganda.  

    So zeigte beispielsweise ein formell staatlicher regionaler Fernsehsender in Luhansk zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell: Protestierende Ukrainer wurden mit wilden Tieren und Nazis verglichen. Bilder vom Maidan wurden zu einer suggestiven Videosequenz zusammengeschnitten. „Da wurden heulende Wölfe gezeigt, marschierende Militäreinheiten, eine Gottesanbeterin in Angriffshaltung, springende Affen, Obst, das im Zeitraffer verfaulte“, erinnert sich ein Luhansker Journalist. Viele zweifelten schon damals, ob solch ausgefeilte Beispiele hybrider Kriegsführung wirklich von einem Provinzsender produziert werden konnten. 

    Gleichzeitig wurden lokale Oppositionelle massiv unter Druck gesetzt. So wurde [Ende November 2004 – dek] Juschtschenkos Hauptquartier in Luhansk angegriffen. Einige Tage später ging eine Gruppe angeheuerter Hooligans mit Baseballschlägern auf eine „orange“ Kundgebung im Zentrum von Luhansk los. Im Grunde wurde im Donbas 2004 eine Strategie angewandt, die 2014 landesweit ausgeweitet wurde: Ihr Ziel war organisiertes Chaos und Polarisierung. 

    Trotz allem: Juschtschenko gewann die Wahlen, Janukowytsch verlor. 

    Die Spaltungsideen nahmen neue Formen an. Am 28. November 2004 fand in Sewerodonezk (Oblast Luhansk) ein Kongress mit Lokalpolitikern statt, auf dem eine neue autonome Südost-Republik konzipiert wurde – ihre vorgesehenen Grenzen deckten sich übrigens mit dem vom Kreml 2014 verkündeten Konzept Noworossija (dt. Neurussland). Am Kongress nahm auch der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow teil. Russische Sender, die im russischsprachigen Teil der Ukraine traditionell beliebt waren, präsentierten diesen Kongress als Ausdruck des Volkswillens.  

    Vom Maidan zum Euromaidan – eine Eskalation  

    Den Sieg des ersten Maidan fasste der Kreml als existenzielle Bedrohung auf. Der amerikanische Politikwissenschafter Paul D’Anieri schrieb, die orange Revolution habe der Erwartung vieler Russen, die Ukraine würde eines Tages doch „wieder heimkommen“, einen Dämpfer verpasst und ihren möglichen, unwiederbringlichen Verlust vor Augen geführt. Daher erhielten von nun an alle prorussischen und separatistischen Bewegungen im Donbas jede größtmögliche Unterstützung vonseiten Moskaus. Der Donbas gilt seitdem – wie die Krim – als Vorposten des russischen Einflusses. 

    Einschlägige Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden – wie Donezkaja respublika (dt. Donezker Republik) in Donezk, Molodaja gwardija (dt. Junge Garde) in Luhansk. Trotz ihrer verfassungsfeindlichen Rhetorik drückten die regionalen Behörden ein Auge zu und förderten sie sogar heimlich. Alle diese Organisationen bekamen Unterstützung von ultrarechten Bewegungen in Russland, die wiederum vom Kreml gesteuert wurden – allen voran von Alexander Dugins Eurasische Union. Pawel Gubarew, später Mitbegründer der selbsternannten „Donezker Volksrepublik“, ließ sich in Lagern der Russischen Nationalen Einheit ausbilden.  

    Die Region wurde von einer massiven Propagandawelle überschwemmt, die den lokalen Donbas-Patriotismus über den gesamtukrainischen Patriotismus setzte und ständig die angeblich besonderen Beziehungen des Grenzgebiets zu Russland unterstrich. So wurde zum Beispiel in Luhansk ein Denkmal für „die Opfer der UPA“, errichtet. Dabei waren OUN–UPA praktisch nie im Donbas aktiv gewesen (abgesehen von episodischen Ausflügen, die Vertreter dieser Organisation während des Zweiten Weltkriegs unternahmen). Das war eine zutiefst propagandistische Geste. Sie zielte darauf ab, die Bewohner des Ostens und des Westens, die die dunklen Kapitel der ukrainischen Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, gegeneinander aufzuhetzen.  

    Eine Partei provoziert medialen Schlagabtausch 

    Zur wichtigsten Plattform dieser spalterischen Ideen entwickelte sich die Partei der Regionen, die im Donbas praktisch ein Machtmonopol innehatte. Der Rat der Oblast Luhansk beschloss zum Beispiel das regionale Programm Patriot Luganschtschiny (dt: Patriot des Luhansker Landes), in dem eine ganze Reihe kultureller Symbole aus Sowjetzeiten als Alternative zum nationalen Projekt der Ukraine präsentiert wurden.  

    Solche lokalen Bemühungen stützten sich auf Beistand aus Russland: Regelmäßig fanden im Donbas runde Tische zu Themen wie „Föderalisierung des Landes“ [als Kontra-Forderung gegen den Euromaidan – dek] oder „Schutz der russischen Bevölkerung“ statt, an denen immer auch Gäste aus Moskau teilnahmen. Die Stiftung Russki Mir (dt. Russische Welt) eröffnete in Luhansk eine Filiale.  

    Die über die Jahre entstandene Entfremdung des Donbas und das hohe Maß an Identifikation mit der Region boten diesen polittechnologischen Übungen eine gute Angriffsfläche. 2014 verstanden sich laut einer Studie der Luhansker Nationalen Universität 35,8 Prozent der Bevölkerung der Oblaste Donezk und Luhansk in erster Linie als Bewohner ihrer Region, während sich nur 28,1 Prozent als ukrainische Staatsbürger fühlten. Ein weiterer beliebter Identitätsmarker war die Antwort „Sowjetmensch“ mit 14,4 Prozent.  

    Zur Verstärkung dieser Spaltung übten sich Wortführer der Partei der Regionen in einer Rhetorik der feindseligen und diskriminierenden Sprache. Der Regionen-Politiker Nikolaj Lewtschenko aus Donezk sagte: „Ukrainisch ist die Sprache der Folklore. Wenn Russisch Amtssprache ist, dann gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr, Ukrainisch zu sprechen. […] Seien wir doch realistisch. Die zweite Amtssprache ist lediglich pro forma. In der Ukraine soll es nur eine Amtssprache geben, nämlich Russisch.“ Sein Kollege Juri Boldyrew formulierte es noch radikaler: „Ich bin dafür, dass die Ukraine Galizien loswird. Wenn man Galizien aus meinem Land entfernt und die echte Ukraine mit dem Donbas und der Krim übrig lässt, dann wird sie jenes erste [und echte] Russland sein […] Galizien ist eine Geschwulst am Leib der Ukraine.“  

    Darauf folgte eine Welle negativer Reaktionen aus der patriotischen ukrainischen Intelligenzija und von Vertretern des westlichen Teils der Ukraine. Diese Konfrontation verhärtete sich besonders nach Janukowytschs erfolgreicher Revanche bei den Präsidentschaftswahlen 2010, die er größtenteils den Wählerstimmen aus dem Süden und Osten zu verdanken hatte.  

    Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ hatte Russland leichtes Spiel.

    Der prominente ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, gebürtig aus Iwano-Frankiwsk, erklärte 2010, die Ukraine solle eher den Donbas und die Krim abschütteln, deren Bevölkerung die Ukraine fremd sei. Sein mit dem Schewtschenko-Preis ausgezeichneter Kollege Wassyl Schkljar schlug noch schärfere Töne an: „Wenn die Nation krank ist und dieses Territorium nicht verträgt, nicht verdauen kann, dann ist es besser, sich davon zu verabschieden.“  

    Der Historiker Hiroaki Kuromiya sieht darum auch bei den ukrainischen Intellektuellen einen Teil der Schuld an der ukrainischen Spaltung: „Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ – als ob das, sozusagen, die unzivilisierten Hinterhöfe der Ukraine wären –, hatte Russland leichtes Spiel.“ 

    So verstärkte sich die Spaltung. Bis kurz vorm Euromaidan Russlands Bemühungen praktisch offene Formen annahmen: Im September 2013 fuhr Putins Berater Sergej Glasjew nach Luhansk zu einer bizarren Parade prorussischer Kräfte, nämlich einer Konferenz über die Perspektiven der Ukraine, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Die Veranstaltung wurde von Viktor Medwedtschuks Bewegung Ukrajinski wybor (dt. Ukrainische Wahl) organisiert. Viele der Delegierten sollten ein halbes Jahr später zum aktiven Kern der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehören. 

    Wichtigster Destabilisierungsfaktor: Russland 

    Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich im Donbas immer mehr Hass angestaut. Feindselige Rhetorik und eine Politik der Polarisierung führten zu einem bewaffneten Konflikt. Dabei trafen unterschiedliche Faktoren aufeinander: Politiker und Intellektuelle, die aus einem Zwiespalt politisches Kapital schlagen wollten, alte Traumata und Komplexe, Probleme bei der Entwicklung des ukrainischen Staates. Doch der schwerwiegendste Destabilisierungsfaktor war eine externe Macht: Putins Russland. Ohne dessen Einmischung hätten sich selbst die heftigsten Spannungen zwischen Kyjiw und dem Donbas, zwischen Osten und Westen gelöst – nämlich im Zuge der Evolution einer vielfältigen ukrainischen Gesellschaft. 

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  • „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    Zur Geschichte der linken Subkulturen im postsowjetischen Russland gehört viel Gewalt: von Straßenschlachten gegen brutale Neonazis bis zur zunehmenden Verfolgung durch den staatlichen Sicherheitsapparat. Der Krieg bietet den Antifa-Veteranen von damals nun eine Chance weiterzukämpfen. Viele nutzen sie und melden sich zur ukrainischen Armee, andere aber gehen für Russland an die Front. 

    Das russische Online-Portal no Future hat sich die Gewaltgeschichte der Antifa-Szene genauer angeschaut und mit einigen selbsterklärten Antifaschisten über ihre Motivation gesprochen, teils Seite an Seite mit russischen Neonazis in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. 

    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future
    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future

    Kaum jemand erinnert sich noch an die Antifa-Ära der 2000er und 2010er Jahre. Die Antifa selbst ist gealtert, hat sich Kredite und Bauchspeck zugelegt oder sitzt immer noch im Knast. Die mit Mutters billigem Haarspray aufgestellten Irokesen, der Straight-Edge-Lifestyle, die Nebelgranaten, die in die Stadtverwaltung von Chimki flogen, weil man den örtlichen Park abholzen wollte, die Demos im Moskauer Zentrum unter Antifa-Parolen wie „Nein zu Faschismus aller Art, vom Hinterhof bis zur Regierungsmacht“ – all das existiert nur noch in ihrer Erinnerung. Genau wie die Straßenkämpfe und bewaffneten Zusammenstöße mit Neonazis, die eingeschlagenen Schädel und toten Genossen, die wildesten Hardcore-Konzerte und die Bullen, die am Ende doch sämtliche Subkulturen plattgemacht haben.  

    Noch vor ein paar Jahren hörte man die Alt-Antifa sagen, das alles würde der Vergangenheit und einer fernen Jugend angehören, als alles noch einfacher, klarer, eindeutiger war: Die Einen schlachten Nicht-Russen ab und schüren Fremdenhass, die Anderen setzen sich zur Wehr und helfen den Schwachen. Manchmal unter Einsatz ihres Lebens. Doch der Krieg in der Ukraine hat nicht nur entlang der „Kontaktlinie“ für ein Aufflammen von Mord und Gewalt gesorgt, sondern auch auf Russlands Straßen. Wobei heute nicht mehr alles so klar und eindeutig ist. So manche, die vor 15 Jahren noch für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und gegen Faschismus protestiert haben, ziehen heute in den Krieg, um Ukrainer zu töten.  

    Anna Worobjewa hat für no Future mit selbsterklärten Antifaschisten – im Text sind alle Namen geändert – darüber gesprochen, warum sie Seite an Seite mit Neonazis in Schützengräben gegen sogenannte „Ukronazis“ kämpfen und darin nichts Schlechtes sehen.

    Irokesen, Hakenkreuze und Blut auf dem Asphalt 

    Eine kleine Kreisstadt an der Wolga. Eine verlassene Bauruine. Anfang der 2010er Jahre. Die Wände vollgeschmiert mit Hakenkreuzen, ein ebenso geformtes Lagerfeuer. Jeden Abend versammeln sich hier um die 30 Leute in schwarzen Bomberjacken mit orangefarbenem Innenfutter (so erkennt man im Kampf schneller die eigenen Leute) und Hosen mit heruntergelassenen Hosenträgern (ein Zeichen für Kampfbereitschaft), in DocMartens, Springerstiefeln oder Billigtretern vom Markt mit weißen Schnürsenkeln (heißt: Ich habe Nicht-Russen auf dem Gewissen). 

    Hier werden Attacken geplant: Wer ist als nächstes dran? Das „Schlitzauge“ vom Gemüsestand oder der obdachlose Usbeke, der auf der Bank am Bahnhof schläft? Jeden Tag konnte man zusammengeschlagene „Nichtarier“ auf den Straßen finden. Hier kloppte man sich mit den hiesigen Informellen, Alternativen, einer Handvoll Jugendlicher mit Irokesenschnitt, die bei den Zusammenstößen unweigerlich unterlegen waren und danach blutüberströmt nach Hause krochen. 

    Die Alternativen nannten sich Antifaschisten, oder kurz: Antifa. Eines Tages, nach einer weiteren Niederlage, baten die jungen Antifas die älteren und stärkeren um Unterstützung. Am Tag darauf fuhr im Morgengrauen ein nicht mehr ganz neuer Neuner [Lada – dek] an der Bauruine vor. Ein paar Typen mit Schlagstöcken und Leuchtpistolen stiegen aus. Ein Skinhead im „Ich bin Russe“-Shirt kam auf sie zu. Die Männer aus dem Neuner umzingelten ihn, zogen ihm das Shirt aus, verdrehten seine Arme, zerrten ihn unter Schlägen ins Auto und fuhren los. 

    Der Lada hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt.  
    „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. 

    Der erste Halt ist ein normaler Innenhof. An einem Hauseingang rauchen drei. Allesamt kahlrasiert. Der Neuner hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. Den ganzen Tag kreuzen sie so durch die Wohnviertel. Als es dunkel wird, bringen sie den „Führer“ zur Baustelle zurück. Bei der großen Versammlung, die dort geplant war, tauchen nach dem Streifzug nur wenige Leute auf, die die Antifa sogleich mit Schüssen aus den Leuchtpistolen und Schlagstöcken begrüßt. Der „Führer“ bettelt inzwischen um Gnade. Die Antifas lassen ihn erst gehen, nachdem er sich vor der Kamera entschuldigt und versprochen hat, dass er „nie wieder andere Leute belästigen und die Antifa beleidigen wird“. 

    Antifa schlägt zurück, bis Silowiki kommen 

    Einer jener jungen Antifas damals war Denis Chromow. Er ist in der Kreisstadt aufgewachsen und schon als Teenie zu der Clique gestoßen. Die nach außen hin so gefährlich wirkenden Punks verbrachten ihre Zeit meist mit harmlosen Dingen, besprühten Wände mit Antifa-Slogans, kochten und verteilten vegane warme Mahlzeiten an Obdachlose. Diese Aktion hieß Essen statt Bomben. So protestierten Antifaschisten in aller Welt gegen Krieg und Autoritarismus. Außerdem gingen sie viel auf Konzerte. Kein Gig lief ohne Angriffe bewaffneter Neonazis ab. Die wurden auch „Bones“ genannt, vom englischen „Bonehead“, das als „Glatze“ oder auch „Volltrottel“ übersetzt werden kann. 

    Die Bones bewarfen die Antifa mit Steinen und Flaschen, verdroschen sie mit allem, was sie finden konnten, sprühten ihnen Pfefferspray in die Augen. Sie machten weder vor Messern noch vor selbstgebauten Bomben halt. 

    Ende der 2000er Jahre verübten Neonazis bis zu 500 Morde im Jahr. Die Subkultur der Pazifisten begann sich zu organisieren und zu wehren, bis sie selbst gefährliche Straßenbanden hervorbrachte. Genau die wurden schließlich mit dem Begriff Antifa assoziiert. Die Bewegung entstand also als Reaktion auf die Aggression der Rechtsradikalen, die in den 2000er Jahren unkontrolliert im ganzen Land wütete.  

    Irgendwann übernahmen die Antifaschisten selbst die Initiative; mindestens ein Neonazi wurde dabei getötet. Innerhalb der Bewegung wurde die Gewalt verurteilt, aber Iwan Chutorskoi, genannt Kostolom (Knochenbrecher) – ein bekannter Antifa, der seinen Spitznamen dem erfolgreichen Einsatz in Straßenkämpfen verdankte – befand, es sei besser „jetzt als Unmensch zu gelten, als später vor der Tür zur Gaskammer über die richtige Taktik zu diskutieren“. 2009 wurde Chutorskoi am Eingang seines Hauses durch einen Genickschuss getötet. 

    Anfang der 2010er hörten die Schlägereien praktisch auf.  
    Es gab niemanden mehr, der sich hätte prügeln können. 

    Denis Chromow dagegen machte sich zu seinen Antifa-Zeiten keine Gedanken über Humanismus. Er ging regelmäßig „Glatzen klatschen“ und hielt das für den einzig richtigen Weg. Parallel schloss er die Berufsschule ab, verlobte sich, nahm in Moskau einen Schicht-Job auf dem Bau an.  

    Anfang der 2010er Jahre dann hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der sich hätte prügeln können: Die Silowiki hatten in dem Straßenkrieg zwischen Neonazis und Antifa bald eine handfeste Bedrohung erkannt und waren dazu übergegangen, die Einen wie die Anderen konsequent einzubuchten

    Wohin mit dem Hass der Antifa-Veteranen? 

    Die Frage war nun: Wohin mit der ganzen Energie und all den Überzeugungen? Die Einen verfielen dem Alkohol, die Anderen – so wie Denis – gingen in die politische Opposition. „Ich bin nach Moskau zu den ‚Märschen der Millionen‘ gefahren, lernte dort Anarchisten und Antifas kennen“, erzählt Chromow. „Ich hab schon als Kind die ganze Ungerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Sicherheitsorgane usw. kapiert. Ich hatte Hass auf die jetzige Regierung, das ganze Regime. Wirklichen Hass.“ 

    Den Krieg im Donbas [ab 2014 – dek] hat Chromow dann so ähnlich verstanden wie die Straßenschlachten mit den Neonazis: Mutige, knallharte Jungs organisieren sich und kämpfen gegen „Glatzen“, die sie allein deshalb vernichten wollen, weil es sie gibt. „Ich hatte dann im Fernsehen gesehen, dass Neonazis die Zivilbevölkerung angreifen und dass die Leute sich zu Bürgerwehren zusammenschließen und dagegenhalten. Also habe ich mich auch dazu entschlossen … Na, wegen der Faschos, Nationalisten halt, weiß nicht …“, erinnert sich Denis. Er fuhr im Herbst 2014 als Freiwilliger in den Donbas – ohne Vertrag, ohne Wehrpass, ohne ärztliches Attest, ohne Geld. Er war 20 Jahre alt. 

    Denis wurde der Drohnenaufklärung zugeteilt. Er soll feindliche Stellungen aufspüren und deren Koordinaten an die Artillerie übermitteln.  

    „Männer wie wir“ und „Vögel des Todes“ 

    Auf dem Laptop erscheint ein Bild: rechteckige Felder mit grünen Waldflächen. Über den Wäldern blinken blaue Symbole, dort sind Handys aktiv. Wenn es drei oder mehr sind, ist das eine „Anhäufung“. Eine Anhäufung im Wald bedeutet Schützengräben und Unterstände: Erdbunker, in denen die Soldaten an forderster Front leben. Um einen Treffer zu landen, muss man nun möglichst nah ran, dorthin, wo man vom Artilleriedonner fast taub wird. Dann einen guten Startplatz suchen, eine Wiese vom Gestrüpp befreien, eine möglichst ebene Fläche für besseren Halt schaffen. Dann bastelt man den „Vogel“ zusammen, schraubt die drei Meter langen Flügel an und den Schweif, legt einen Fallschirm hinein, um ihn später sicher zu landen, wenn das Ziel erledigt ist. Außen, vorne oder unten trägt der „Vogel“ eine Kamera, ein Wärmesichtgerät und einen Fotoapparat. Die Koordinaten der Handy-Signale werden an die Artillerie übermittelt. Die beschießt dann die Bunker mit Grad (Hagel, Mehrfachraketenwerfer – dek] oder Haubitzen wie der D-30er. Aus der Vogelperspektive sieht man, wie dicker Rauch aus den Schützengräben quillt, Bretter in die Luft fliegen, eine Hose sich in einem Baum verfängt. Man hört wildes Geschrei, einer ist bis zum Hals mit Erde verschüttet, aus einem anderen pulsiert eine Blutfontäne. Einem drittem hat es den halben Körper weggerissen.  

    „Wir wurden ganz nah bei den Ukropy abgesetzt, und dann ging die Arbeit los. Wir ließen den Vogel fliegen, holten ihn zurück, gaben die Koordinaten an die Artillerie weiter. Die machen ihren Job, wir schicken den Vogel wieder los und bestätigen“, berichtet Denis. 

    Ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht.

    „Und waren dort Nazis?“ 

    „Ich persönlich habe eigentlich keine gesehen … So eingefleischte wie die in Mariupol bei Asowstahl gab es da nicht [Die Rede ist hier von der Brigade Asow, die die russische Propaganda als „Nazis“ bezeichnet, für die ukrainische Seite sind sie die „Verteidiger Mariupols“ – No Future]. Dort kämpfen Männer wie wir, die wurden dorthin abkommandiert. Der Staat hat gesagt, die Donezker Volksrepublik will sich illegal abspalten usw. Die sind genauso kämpfen gegangen wie die Jungs, die nicht mehr zur Ukraine gehören wollten.“ 

    „Hast du den Sinn verstanden? Warum bist du dahin gegangen?“ 

    „Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wieder als Freiwilliger hinfahren. Mit denselben Jungs.“ 

    Solche wie Denis werden von vielen Antifas als „Z-niki“ „Watniki“ und „Raschisten“ bezeichnet. Der Großteil der Bewegung unterstützt im Krieg die Ukraine, einige haben sich sogar den Ukrainischen Streitkräften angeschlossen. 

    „Ich will Action“ 

    Igor Schmelew, der früher auch bei Straßenschlachten gegen Skinheads mitmischte, erklärt das damit, dass die meisten Beteiligten jung und auf Action aus gewesen seien. „Viele sind zur Antifa gekommen, weil sie den Kick suchten. Später hing die Position davon ab, welche Vorlieben man hatte. Die Einen sympathisierten mit der Ästhetik der Republiken [gemeint sind die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und ihre von Russland unterstützten und ausgerüsteten „Volksmilizen“ – dek], die gegen die ‚neonazistische Bandera-Junta‘ [Ausdruck der russischen Propaganda für die legitime ukrainische Regierung – dek] aufbegehrten. Anderen war die Ästhetik des Volksaufstands näher, der die Regierung gestürzt hatte und nun sein Land gegen das imperialistische Russland verteidigt“, sagt Schmelew. „Manche finden im Krieg einfach sich selbst, einen Lebenssinn. Manche glauben aufrichtig an dieses ganze Zeug. Welchen Sinn hat es da, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen?“ 

    Für die Antifaschisten, die für Russland kämpfen, gehört auch die proukrainische Antifa an die Front – vom Sofa aus könne ja jeder klug daherreden. Einer von ihnen ist Wadim Krasnow. Er nimmt in Kauf, dass er an der Front seine ehemaligen Kumpels erwischen könnte. 

    „Man kann viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Sollen sie doch zur ukrainischen Armee gehen, wenn sie sich trauen.“ 

    „Das tun sie doch. Du könntest also auch Antifa aus Wolgograd oder Kaliningrad treffen …“ 

    „Tja, dann haben sie Pech gehabt.“ 

    Propaganda trifft Mitleid 

    Wadim hat im Herbst 2023 einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben. In den wilden 2000ern war er zur Antifa gegangen, weil er „die Nazis nicht hinnehmen“ wollte. Als die Silowiki später für Ordnung gesorgt hatten, distanzierte er sich von der Subkultur und wurde Elektriker in einer kleinen russischen Provinzstadt. 

    Die Ereignisse von 2014 im Donbas betrachtet Wadim als „Säuberungsaktionen durch ukrainische Nationalisten“ [ein beliebtes und weltweit verbreitetes Narrativ der (pro-)russländischen Propaganda – dek]. „Das war quasi der Anfang. Wir müssen jetzt die russischsprachige Bevölkerung mit der Waffe beschützen. Wir haben nur auf die Situation reagiert. Acht Jahre haben wir gewartet, und dann ist endlich was passiert“, sagt Krasnow. Als seine Heimatstadt 2022 beschossen wurde, zog er in den Krieg. „Ich habe begriffen, dass ich selbst 700 Kilometer von der Front entfernt nicht mehr sicher wäre. Es war ein spontaner Impuls“, erklärt er. 

    Zunächst diente Wadim als stellvertretender Stabschef eines Panzerbataillons bei Kreminna. „Fünf Kilometer von uns stand Asow. Aber ich habe keine ‚Asowzy‘ gesehen. Die ukrainische Armee besteht nicht nur aus Nazis. Leider haben sie dort Leute mobilisiert, die nicht freiwillig dort sind, die genauso wenig auf diesen Krieg vorbereitet waren, irgendwelche Pazifisten, also Leute, die nicht kämpfen können und wollen. Die wurden eingezogen und hatten keine Wahl. Ich habe solche Leute gesehen. Sie waren verängstigt, weinten. Das ist ein schrecklicher Anblick. Für solche Menschen empfinde ich keinen Hass, nur Mitleid“, sagt Krasnow. 

    „Was ist das Schlimmste am Krieg?“ 

    „Die Toten.“ 

    „Auf unserer Seite?“ 

    „Ganz egal, auf welcher Seite. Auf unserer, auf der ukrainischen. Ich weiß, dass man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern muss, aber ich kann mich nicht freuen. Ich könnte ihm nicht die Ohren abschneiden oder irgendwas in dieser Richtung, oder seinen Anblick genießen.“  

    „Warum muss man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern?“ 

    „Weil er mich nicht mehr umbringen kann. In diesem Sinne. Ist doch klar, dass ich das gut finde.“ 

    Langeweile in der Kriegsbürokratie 

    In den ersten Monaten war Wadim nicht im Kampfeinsatz, sondern kümmerte sich in der dritten Verteidigungslinie im Hauptquartier um Papierkram. Er sagt, er habe sich den Krieg wie einen Blockbuster vorgestellt, aber in Wirklichkeit war es nur ein Hin- und Herschieben von Dokumenten. 

    Der bürokratische Aufwand ist enorm: Auszahlung von Militärgehältern, Transport von Lebensmitteln und Granaten zu den Stellungen. Und von den Stellungen kommen die Toten zurück. Sie werden von der Front in Säcken geliefert, manchmal direkt in die Einheit, wo sie identifiziert werden müssen. Aus den zerbombten Panzern werden die Leichen an Seilen herausgezogen. Mit geschwollenen, dunkelvioletten Beinen, die in grotesken Winkeln verdreht sind, die Uniformen zerfetzt. Die schwarzen Nasenlöcher, Ohren und Münder mit einer dicken Blutkruste verklebt. Manchmal gibt es nur noch Asche und Knochen, manchmal auch gar nichts: Ein Panzer brennt wie eine Fackel, und wenn die Munition explodiert, werden die Menschen aus dem Fahrzeug geschleudert und bleiben auf Stromleitungen oder Dächern der benachbarten Häuser hängen. 

    Zwei Monate nach unserem Gespräch schrieb mir Wadim, er habe einen Antrag auf Versetzung in eine Sturmkompanie gestellt. 

    „Warum willst du da hin?“ 

    „Ich will Action.“ 

    „Hast du keine Angst?“ 

    „Ein bisschen vielleicht. Aber ich langweile mich hier zu Tode.“ 

    „Und wenn du ohne Beine im Krankenhaus liegst, und der mobilisierte Ukrainer, mit dem du, wie du sagst, Mitleid hast, im Sarg? Macht das dann Spaß?“ 

    „Vielleicht bin ich frustriert oder so. Ich weiß nicht. Mein Leben war echt ziemlich langweilig. Ich will irgendwie nützlich sein. Von jemandem gebraucht werden.“ 

    Wadim ist jetzt seit Monaten verschwunden. Er antwortet nicht auf Nachrichten, auf Telegram war er „zuletzt vor langer Zeit online“. Drei Monate vor Erscheinen dieses Texts habe ich zum letzten Mal von ihm gehört: 

    „Haben sie deinen Antrag genehmigt?“ 

    „Ja, ich bin versetzt worden.“ 

    „Und, Schluss mit Langeweile?“ 

    „Das kannste laut sagen …“ 

    Von „No Putin, No War“ zur Söldnertruppe Wagner 

    „Wir leben einfach in einer anderen Welt als die Zivilbevölkerung. Vor allem die, die lange an der Front sind. Das verändert das Denken. Und manchmal verstehen wir euch nicht mehr richtig. Wir sind froh, wenn wir noch leben. Und wenn wir von einem Einsatz lebendig wiederkommen, wenn sogar niemand verletzt wurde – weder man selbst, noch ein Kamerad – dann ist das das Größte. Und ihr sitzt einfach rum und beschwert euch“, sagt der Antifaschist Sergej Sashin.  

    In seiner „Straßenkampfzeit“ war Sergej oft aktiv auf Neonazis losgegangen, hatte in einer Punk-Band gespielt. 2014 sprach er sich noch öffentlich für den Maidan und die ukrainische Antiterroroperation aus, demonstrierte mit „No Putin, no War“-Plakaten. „Ich habe Leute unterstützt, die für die Freiheit und für Veränderungen zum Besseren waren. Die Fortschritt wollten. Ist doch super, oder? Nur, was bringt’s im Endeffekt? Das ging vom Regen in die Traufe. Nur, dass die Traufe noch schlimmer war“, sagt Sashin. „Warum haben die Donezker überhaupt rebelliert? Na, fahrt doch mal hin und seht euch an, was sich da seit dem Ende der Sowjetunion getan hat. Gar nichts nämlich! Ich bin vor 2014 in Kyjiw gewesen – da war alles superschick renoviert. Die anderen Städte auch: Tipptopp saniert! Nur Donezk, Luhansk, der ganze Osten, der das Land ja ernährt hat, der hat die Riesenarschkarte gezogen.“  

    Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, die tagsüber soffen und sich abends prügelten. 

    2015 ist Sergej als Freiwilliger in den Donbas gefahren. Er war in eine „krasse Gang“ diverser Antifas geraten, die an die Front wollten, und ist einfach mitgezogen. Gefechte erlebte er aber keine: Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, erzählt Sashin, die tagsüber zusammen soffen und sich abends prügelten. Sashin blieb zwei Wochen. Anfangs wartete er noch darauf, dass Waffen verteilt würden, dann reichte es ihm. Er packte seine Sachen und fuhr nach Hause.  

    2022 zog er wieder in den Krieg: Zuerst schloss er einen Vertrag mit der Gruppe Wagner, dann mit einer anderen Söldnertruppe, deren Namen er nicht nennen will. Auf die Frage, ob er Menschen getötet habe, antwortet Sergej: „Wahrscheinlich schon.“ 

    Im August 2022 kämpfte Sergej bei Saizewe, 20 Kilometer südöstlich von Bachmut. Die Russen bereiteten ihren Vormarsch vor, es gab schwere Grabenkämpfe, die Wagner-Truppe stürmte Positionen der ukrainischen Streitkräfte. Am 22. September wurde Sergej bei einem solchen Sturm schwer verwundet, musste lange behandelt werden, zog dann aber wieder an die Front.

    „Ich war eigentlich immer gegen Krieg gewesen, aber wenn er, wie man so sagt, nun schon mal da ist – sorry, da gibt es kein ‚Aaaa, ich will keinen Krieg!‘ mehr. Die Fahne schwenken, das ist für’n Arsch. Das machen nur Debile.“  

    „Aber wenn Krieg ist, heißt das doch nicht, dass man unbedingt daran teilnehmen muss?“ 

    „Wie soll man ihn sonst beenden?“ 

    „Darüber könnten wir uns stundenlang unterhalten. Wie hast du dich für die russische Seite entschieden? Du hast sicher keine Münze geworfen?“ 

    „Sorry, aber ich bin in Russland geboren, das ist mein Land … Das war sozusagen nicht meine Entscheidung.“  

    Der Gute, der Böse und der Nazbol 

    Sergej ist Anarcho-Nationalist. Er ist gegen den Staat, aber für die Nation. Mitte der 2010er Jahre war er bei der nationalistischen Bewegung Narodnaja wolja (dt. Volkswille). Dort herrschte die Auffassung, dass zur Nation nur die Arbeiterschaft, die Werktätigen gehören. Die Parasiten an der Spitze, die sich auf deren Kosten bereichern, seien Volksverräter. Die Anarcho-Nationalisten unterstützten lokale Proteste, positionierten sich öffentlich gegen die Staatsmacht, wollten sie stürzen. Manche Antifas waren der Meinung, dass in ihrer Bewegung für solche Leute kein Platz sein sollte – sie seien zwar anarchistisch eingestellt, aber doch zu sehr rechts. 

    Die Antifa war allerdings nie eine politische Bewegung, sondern eher eine Plattform, auf der sich Leute ganz unterschiedlicher Anschauungen versammelten: Kommunisten, Sozialisten, Marxisten, Anarchisten und sogar Nationalisten. Alle waren auf die eine oder andere Weise gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Herrschaft, gegen Ungleichheit und Diskriminierung. Für manche von ihnen war die Unterstützung für Russland im Krieg eine Frage der Ideologie.  

    „Für mich ist Nationalismus die Liebe zur Heimat, zum eigenen Land. Das ist gut und richtig. Ich lebe in diesem Land, ich liebe die Menschen hier. Alle meine Mitbürger. Ich wünsche mir für alle Wohlergehen. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, dass es anderen schlecht geht. Ich finde nicht, dass Russen, Weiße oder wer auch immer besser sind als Mexikaner, Amerikaner oder sonst jemand – das wäre dann schon Nazismus, wenn du nämlich deine Nation über alle anderen stellst. Das ist bescheuert, totaler Blödsinn“, sagt ein anderer Antifa namens Oleg Kotow, der sich selbst als Nationalbolschewik bezeichnet. Kurz: Nazbol.

    Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum

    Deren Losung ist: „Russland ist alles! Der Rest ist nichts!“ Sie finden, dass alle Territorien mit russischsprachiger Bevölkerung an Russland angegliedert werden sollen. Oleg fährt öfter mit den Interbrigady 2022 in den Donbas, einem militanten Flügel der nationalbolschewistischen Partei Das andere Russland E. W. Limonows. Er sieht keinen Widerspruch darin, gleichzeitig Antifa und Nationalist zu sein. Er hat sich schon mit Bones geprügelt und für Tierschutz eingesetzt. Szeneinternes Geplänkel zum Thema „Wer ist die echte Antifa“ interessiert ihn nicht. Seit fast anderthalb Jahren bringt er humanitäre Hilfe in das Dorf Toschkowka in der Oblast Luhansk, das von der russischen Armee kontrolliert wird. „Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum“, meint Kotow. „Die Leute haben nichts zu essen, sie frieren in ihren zerstörten Häusern, weil sie keinen Strom, kein Gas und kein Wasser haben. Manchen muss man eben helfen, wo man kann, die müssen einem leidtun, auf die anderen können wir alle scheißen.“  

    In Toschkowka ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Dorf wurde schon ab 2014 beschossen, und seit Juni 2022 hält es die russische Armee besetzt. Im Herbst brachte Oleg zum ersten Mal Kissen und Decken hin, Taschenlampen und Generatoren zur Stromerzeugung, damit die Menschen in ihren Häusern ohne Dach den Winter überleben konnten.  

    „Wir helfen auch den freiwilligen Kämpfern. Aber vor allem den Mobilisierten – ihr wisst ja, wie das bei uns läuft mit der Ausstattung der Mobiki. Die werden ohne Schutzwesten gleich in den Sturm geschickt, gehen dort allesamt drauf. Das sind doch meine Nachbarn, auch ein entfernter Verwandter von mir wurde eingezogen“, sagt Oleg. „Zu denen kannst du doch nicht sagen: ‚Pech gehabt, du bist kein Freund, keiner von uns, du bist nur ein Raschist, ein Faschist.‘ Nach Kasachstan flüchten wollte er nicht, das würde seiner Erziehung widersprechen. Ihm muss man doch helfen, ihn unterstützen, den kann man doch nicht im Stich lassen.“ 

    V wie ReVolution 

    „Wie sieht es bei uns überhaupt mit Nazis aus? Gibt es noch welche?“, frage ich Oleg. 

    „Natürlich gibt es noch welche. Rennen doch genügend Sieg-Heil-schreiende Kids voller Aufnäher rum, so als Straßen- und Subkultur.“ 

    „Aber finden Sie nicht, dass auch der Kreml einen Rechtsdrall hat? Wir haben ja den Sänger Shaman, der da singt: ‚Ich bin Russe, ich gebe nicht auf. Ich bin Russe, mit dem Blut meines Vaters‘ …“ 

    „Das ist widerlich. Mein Sohn kommt jetzt in die zweite Klasse, die hatten da auch schon diese ‚Gespräche über Wichtiges‘ und so, müssen irgendwelche Lieder lernen. Wie eine Parodie auf die Oktjabrjata, also so Brigaden, bei denen sie mitmachen sollen, aber das ist pure Idiotie. Die Pioniere waren stolz, Pioniere zu sein. Heute gibt es leider absolut keinen Grund, stolz zu sein.“  

    „Wie soll man damit umgehen?“ 

    „Keine Ahnung, ich bin ja kein Politiker. Hab noch nicht mal drüber nachgedacht. Zuerst muss der Krieg vorbei sein, erst danach kann man bei uns was Ordentliches aufbauen.“ 

    Ein Antifaschist mit dem Spitznamen „Communist Sam“ sagt: „Im Fall einer Niederlage wird es in Russland keine Revolution geben, findet euch damit ab! Wenn Russland verliert und schwächer wird, oder schlimmer – wenn es auseinanderfällt, dann entsteht auf unserem Gebiet, auf dem aktuellen Territorium des russischen Staates, ein ‚weißes Afrika‘. Im Vergleich zu dem, was dann passiert, werden uns die Neunziger wie ein Muster an Ordnung und Rechtsstaatlichkeit vorkommen. Ich will Russland rot sehen, weil Russland stark genug sein muss, um die Revolution zu erleben, sie zu verteidigen und ihr Bollwerk zu werden. Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Ich diene der Sowjetunion.“ 

    Schützengräben sind der beste Ort für Gespräche über Politik, der Krieg ist ein unbestelltes Feld für revolutionäre Agitation.

    Sam ist der Meinung, momentan könne von einer Revolution keine Rede sein, weil die Arbeiter mit ihrer Situation zufrieden seien. Solange genug Brot da sei, würden sich die Massen nicht zum Aufstand erheben. Er sagt, die Schützengräben seien der beste Ort für Gespräche über Politik, und nennt den Krieg ein „unbestelltes Feld“ für revolutionäre Agitation: „Da bist du in einem Kollektiv, in dem du dich beweisen kannst. Und dann bedeutet deine Meinung auf einmal etwas für Leute, die gestern noch über nichts anderes als ihr täglich Brot nachgedacht haben. Dann ist es auch an der Zeit zu fragen, wozu und warum wir überhaupt da sind. Man darf sich für seine Kraft nicht schämen, man darf keine Angst haben, sie einzusetzen.“ 

    Fraglich bleibt, ob diejenigen, in die Sam den Keim der Revolution säen möchte, diese dann noch erleben werden. 

    Am Ende das Blut im Schützengraben 

    Denis Chromow ist nicht mehr erreichbar. Beim letzten Gespräch Mitte Februar 2024 sagte er, dieser Bericht sei „vielleicht das Letzte, was je über mich erscheinen wird“. Denn Chromow ist krank. 

    Er hat sich 2014 an der Front mit Tuberkulose angesteckt. Das erfuhr er vom Arzt in der Musterungsbehörde. Drei Jahre später zog er wieder in den Krieg. Er sagt, im Zivilleben konnte er nicht zu sich finden. „Es hat mich da hingezogen, und Punkt. Wahrscheinlich ist das wie eine Droge. Wenn du mit den Jungs zusammen im Schützengraben sitzt, wenn du unter Beschuss handeln musst, wenn alle mit demselben Löffel essen, keine Ahnung … Man hilft einander. Und zwar nicht aus irgendeinem Eigeninteresse, sondern aus reiner Kameradschaft. Hier draußen musst du dich ständig mit Arbeit und wegen der Kohle rumplagen, mit den sauren Visagen der Chefs, den ätzenden Kollegen. Na ja, hab ich gedacht, was soll ich machen? Ich musste wieder hin“, erzählte Denis. Er nahm Medikamente, die wirkten aber nicht: Das Röntgenbild war unverändert. Um wieder an die Front zu kommen, besorgte er sich ein fremdes, gesundes Bild.  

    Beim zweiten Einsatz kämpfte Denis acht Monate lang für die Donezker Volksrepublik. Dann kehrte er nach Hause zurück, weil es ihm nicht gefallen habe: „Da ist nichts mehr wie früher. Lauter hirnrissige Befehle, die Waffen waren der reinste Schrott, und dieses ‚das [die Waffen – dek] könnt ihr euch im Gefecht besorgen’, fickt euch. Die Stabsoffiziere tun nichts anderes als sich den Wanst vollzufressen und zu ficken, was ihnen über den Weg läuft. Du kommst fix und fertig zurück, hast zwei Tage nicht geschlafen, aber meinst du, dann ist Ruhe? Denkste, sie brummen dir irgendeine Kacke auf. Sagt mal, habt ihr sie noch alle?“, sagt Chromow. 

    Danach schlug sich Denis irgendwie durch: Er verlegte Stromleitungen und Parkettböden, bekam mit seiner Freundin einen Sohn. Er fühlte sich gesund, bis auf einen schleimigen Auswurf: Kaum hatte er den abgehustet, setzte sich der nächste Klumpen in der Kehle fest. Als er zum dritten Mal an die Front wollte, wusste er bereits, wo er ein manipuliertes Röntgenbild bekommen würde.  

    Seinen ersten offiziellen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnete Denis am 10. August 2023, doch er blieb nicht bis zum Schluss. Eines Tages wurde er „gestrichen“ und bei Luhansk direkt aus dem Schützengraben geholt. Davor hatte er einen Monat lang mit seinem Zug im Wald Gräben geschaufelt und auf Befehle von oben gewartet. Sein Tagesablauf sah so aus: Nachts im Schlafsack auf gefrorener Erde liegen, von früh bis spät mit der Schaufel hacken. „Wie ein verfickter Maulwurf“, schimpft Denis, „und für wen, wozu? Einfach, um die Soldaten zu schikanieren.“  

    Als er zum ersten Mal Blut auf dem Boden sah, dachte er, es käme von einem Zahn. Dann stieg das Fieber, er stützte sich schweißgebadet auf die Schaufel, konnte nicht mehr. Er sagte allen, er sei einfach völlig fertig. Kein Wort von der Tuberkulose. Mit jedem Tag wurde der Husten stärker, das Blut immer mehr. Ein Röntgenbild, das Denis im Krankenhaus in Rostow am Don machen ließ, zeigte riesige Entzündungsherde in der Lunge. Er wurde in seine Heimatstadt geschickt und musste Bedaquilin nehmen, ein Tuberkulosepräparat neuerer Art. Denis sagt, es sei das stärkste Medikament, das es gibt.  

     Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt?

    In den Krieg wird er nie wieder ziehen. Selbst wenn er wollte, würde er mit seiner Diagnose nicht genommen. Denis will aber auch gar nicht: „Ich hatte einfach eine Überdosis Zombieglotze und wollte dieses Abenteuer. Und dann war ich da ganz in diesen Zusammenhalt der Männer eingetaucht. Aber das war einmal, jetzt ist alles ganz anders.“  

    Am meisten ärgert sich Denis über den Staat. Und er findet, dass es für die Russen keinen Ausweg gibt. „Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Erinnerst du dich an den Bolotnaja-Platz? An die ‚Märsche der Millionen‘. Ich war selber dabei, als so wahnsinnig viele Leute in Moskau demonstriert haben. Und dann auf einmal der Maidan. Und im Fernsehen immer nur: Krieg! ‚Da seht ihr, was ihr habt von euren Umstürzen!‘ Und dann kamen heimlich, still und leise die Demonstrationsgesetze, wo es verboten ist, was verboten ist … Weil ihnen klar war, diesen Arschlöchern, dass das Volk sich echt zusammentut und sie so langsam die Kontrolle verlieren. Und dann haben sie alles so eingefädelt: Ihr habt es nicht anders gewollt – dann kämpft eben und geht drauf dabei. Diese dummen Wichser – die Freiwilligen und Vertragssoldaten –, die kapieren nicht, dass das nichts als ein verdammter Fleischwolf ist. Um solche wie uns loszuwerden, die bei den ‚Märschen der Millionen‘ mitmarschiert sind – damit wieder alles schön still ist. Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt? Ich bin enttäuscht, echt.“ 

    Zum Abschied bat uns Denis, seinen Namen nicht zu nennen, weil er für das, was er im Interview gesagt hat, eingebuchtet und als „Vaterlandsverräter“ gelten würde: „Sorgt bitte dafür, dass ich wenigstens zum Schluss noch meine Ruhe habe.“  

    Seitdem herrscht Funkstille. 

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  • „Unser liebster, wundervoller Don Quichote“

    „Unser liebster, wundervoller Don Quichote“

    Am 27. Juli verstarb in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan der 39-jährige russische Pianist, Schriftsteller und Antikriegs-Aktivist Pawel Kuschnir, offizielle Todesursache: Folgen eines fünftägigen trockenen Hungerstreiks. Verhaftet wurde Kuschnir wegen seines YouTube-Kanals mit vier Videos und fünf Abonnenten. Der Vorwurf lautete „öffentliche Anstiftung zu Terrorismus“.


    In den Medien tauchte der Name Kuschnir erst nach seinem Tod auf. Bis dahin waren seine Geschichte und die Umstände der Verhaftung der breiten Öffentlichkeit unbekannt gewesen.   


    Katya Kobenok hat mit Angehörigen von Pawel Kuschnir und Menschenrechtsaktivisten gesprochen. Auf Takie Dela erzählt sie, was für ein Mensch er war und warum es niemandem gelungen ist, seinen Tod zu verhindern.
     

    Pawel wurde Ende Mai 2024 verhaftet. Ein Post in einem inoffiziellen Telegram-Kanal der Silowiki dazu lautete: „‚Gerechtigkeitskämpfer‘ hat sich um Kopf und Kragen geredet.“ 

    „Experten zufolge hat der Angeklagte genug für ein Strafverfahren wegen Anstiftung zu Terrorismus von sich gegeben. Der Paragraf sieht bis zu sieben Jahre Haft vor“, hieß es in dem Post weiterhin. Kuschnir habe „regelmäßig Material veröffentlicht, in dem er zum gewaltsamen Sturz der Verfassungsordnung der Russischen Föderation durch Revolution aufrief.“ 

    In Wirklichkeit hatte Pawel einen YouTube-Kanal mit vier Videos, in denen er das herrschende Regime in Russland kritisierte. Zum Zeitpunkt der Verhaftung hatte der Kanal fünf Abonnenten. 

    Pawel Kuschnir ist in Tambow geboren und aufgewachsen, studierte an der Rachmaninow-Musikhochschule in Tambow und am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Nach seinem Abschluss war Kuschnir sieben Jahre lang Pianist an der Philharmonie in Kursk und drei Jahre an der Philharmonie in Kurgan. 2014 verfasste er einen dystopischen Roman mit dem Titel Russkaja Nareska (Russischer Aufschnitt). Seit 2022 war Kuschnir Pianist an der Philharmonie in Birobidschan

    Seine berühmteste Aufnahme ist ein Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, den der Musikwissenschaftler Michail Kasinik mit den folgenden Worten lobte: „Kuschnirs Interpretation der 24 Präludien – was so schon mal niemand macht, weil diese Präludien aus verschiedenen Zeiten und Werken stammen – ist kristallklar. Der Zyklus zeichnet die Entwicklung von Rachmaninows Ideen nach, die Kuschnir von allen Überlagerungen und Volkstümlichkeiten befreit hat.“ 

     
    Kuschnirs Aufnahme des Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, Tambow, 2010

    Olga Schkrygunowa, Pianistin, enge Freundin 

    „Pascha Kuschnir ist tot. Unser liebster, wundervoller Don Quichote, ein Kämpfer bis zum letzten Atemzug. Ich will daran glauben, dass der Tod nur den Besten vorbehalten ist“, schrieb Olga auf Facebook

    „Von klein auf war er für sein unglaubliches musikalisches Gehör bekannt. Für mich war er immer ein Genie, sowohl als Mensch als auch als Musiker. Ein genialer Idealist, der keine Kompromisse kannte. Ein Kämpfer für die Liebe, die Kunst und die Freiheit“, berichtet sie. 

    2022, noch vor seinem Umzug nach Birobidschan, habe Pawel überall in der Stadt Flyer mit Friedensaufrufen aufgehängt. Er sei schon vor seiner Verhaftung mehrmals in den Hungerstreik getreten, in der Hoffnung, dass sich auch andere dieser friedlichen Form des Protests anschließen würden. Sein längster Streik habe 100 Tage gedauert, sei jedoch von der breiten Masse unbemerkt geblieben. 

    Anton Wesselowski, Journalist aus Tambow, Freund 

    „Zuerst dachte ich, sie hätten ihn in der U-Haft ermordet. Dann hörte ich die offizielle Version mit dem Hungerstreik. Ich halte das durchaus für möglich: Pascha hatte einen starken Willen und feste Prinzipien. 

    Am 9. Mai 2023, noch vor seiner Verhaftung, hatte Pawel auf Facebook angekündigt, in den Hungerstreik zu treten. Er forderte das Ende des Kriegs, die Abschaffung des Regimes und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Seine Freunde in Tambow versuchten, ihn davon abzuhalten, andere hofften das Beste und dachten, er würde die Idee von alleine aufgeben. 

    Nach seiner Verhaftung im Mai 2024 griff er dann zu radikalen Mitteln: Zunächst hat er Nahrung verweigert, dann auch Wasser. Jetzt fragen viele, warum niemand davon gewusst hat. Unsere heutige Realität war für Pascha unerträglich, er wollte auf diese Weise ein Ultimatum setzen. Es gibt Dutzende Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, aber so radikal war in letzter Zeit niemand. Pascha hat immer vom Kampf gegen das Böse in der Welt und den Faschismus in sich selbst gesprochen. 

    Er war ein stiller Mensch, aber seine Taten waren laut. Er konnte zwei Monate lang verschwinden, um sich auf ein Konzert vorzubereiten, und dann ein ewig langes Stück aus dem Kopf spielen. 

    Paschas Statements hatten immer Strahlkraft und konnten jemanden verändern oder bekehren. Mir war immer bewusst, wie wertvoll der Kontakt mit Pascha ist, ich habe ihn oft zu diversen Veranstaltungen eingeladen. Seine Aktionen haben immer polarisiert, aber sie waren immer konzeptuell begründet, selbst wenn es sich um spontane Performances handelte. 2010 haben seine Freundin und er zum Beispiel einen Flashmob gegen die Hitze veranstaltet, bei dem sie bei 40 Grad in Winterklamotten durch die Stadt gezogen sind. 

    Im selben Jahr hat Pascha seine Gedichte bei einer Literaturveranstaltung auf Na’vi gelesen, der Sprache im Film Avatar, die er sich beigebracht hatte. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, um zu schreiben und zu üben. Warum er immer wieder umgezogen ist, weiß ich nicht genau. Er interessierte sich für neue Orte, ist viel gereist. 

    Seine Freunde traf er, wenn er nicht gerade arbeitete oder mit Auftritten durchs Land tourte. Seit Ende der 2010er Jahre hat sich Pascha kaum noch in seiner Heimatstadt blicken lassen. Zum letzten Mal habe ich ihn 2018 gesehen.“ 

     

    Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73; Mendelssohn Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56

    Marina Shemtschugowa, ehemalige Studentin, Konzertbesucherin 

    „Ich habe zusammen mit anderen Studierenden und Pädagogen häufig Pawels Konzerte besucht. Das war vor acht, neun Jahren. Damals war er Pianist an der Kursker Philharmonie und gab regelmäßig Solokonzerte oder beteiligte sich an anderen musikalischen Projekten.  

    Manchmal kamen Freunde von mir mit, denen die Welt der akademischen Musik ansonsten fremd ist. Heute weiß ich, was für ein Privileg und Geschenk es für uns alle war, Pawel spielen zu hören.  

    Ich kann mich erinnern, wie wir nach den Vorlesungen zur Musikgeschichte zum Konservatorium eilten, um Pawels Interpretationen von Chopin, Schubert, Purcell, Scarlatti und Bach zu lauschen.  

    Pawel war eine besondere, einprägsame Erscheinung: hager, ein wenig gebückt, in sich gekehrt.  

    Er spielte gerne Barock und Romantik, war ein couragierter und feinfühliger Musiker, der jedes Stück durch sich hindurchließ. Er suchte immer seinen persönlichen Zugang, auch zu berühmten Werken. Zum Beispiel unterschied sich seine Interpretation von Chopins 24 Präludien von der Tradition: Er wählte mal ein langsameres, mal ein schnelleres Tempo, fügte Pausen ein und veränderte somit die Wirkung.“ 

    Irina Michailowna, Mutter  

    „Pascha ist in einer Musikerfamilie geboren: Ich bin Musikwissenschaftlerin, Paschas Vater, mein Mann, hat an einer Musikschule Kinder unterrichtet. Er ist 2020 gestorben. Pawels Großvater väterlicherseits war Gesangslehrer und Intendant des Volksbildungshauses der Oblast Tambow, wo er einen Kriegsveteranenchor leitete.  

    Pascha wuchs in der Welt der Musik auf und ging früh darin auf. Die Liebe zur Musik hat er mit der Muttermilch aufgesogen, könnte man sagen.  

    Am liebsten mochte er die Komponisten der Romantik, vor allem Schumann. Pascha spielte gerne seine Fantasie in C-Dur, die Sinfonischen Etüden und die Kinderszenen. Auch Chopin schätzte er sehr, und von den russischen Komponisten – Rachmaninow. Pascha gab manchmal Konzerte mit allen seinen 24 Präludien. Und wie er spielte! Sehr expressiv, er hatte ein tiefes Verständnis für die Musik. 

    Ich bin jetzt 79, am 5. Dezember werde ich 80. Paschas Tod ist ein schwerer Schlag für mich, ich weiß nicht, ob ich meinen 80. Geburtstag noch erleben werde.“ 

    „Extremer Protest“ 

    Vor Gericht habe Pawel Kuschnir keine Verteidigung und keinen Rechtsbeistand gehabt, erzählt die Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa. Im Nachhinein hätten die Menschenrechtler erfahren, dass Pawel ein Anwalt an die Seite gestellt worden war, der sich „überhaupt nicht um seinen Mandanten gekümmert“ habe. 

    „Er starb zu einem Zeitpunkt, als andere politische Häftlinge befreit wurden. Sein Fall ist nicht der erste und wird leider auch nicht der letzte sein“, beklagt sie.     

    Bei Weitem nicht alle könnten sich einen Anwalt leisten, erklärt die Juristin Olga Sadowskaja von Komanda protiw pytok (Team gegen Folter): Die Menschenrechtler hätten erst von Pawels Tod erfahren und nicht schon von seinem Hungerstreik, als sie ihm noch hätten helfen können.  

    Ihr zufolge hätten die Menschenrechtsaktivisten heute keinerlei Zugang zum System des Strafvollzugs (FSIN). Niemand bekomme Zutritt zu einer Untersuchungshaftanstalt, einer Strafkolonie oder einem Gefängnis. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass die Informationen über Pawel zu spät nach außen gelangt seien: erst, als er bereits tot war.  

    „Wir hätten es wissen müssen. Der Staat hätte uns unterrichten und Zugang zu ihm verschaffen müssen“, betont Sadowskaja. 

    Sie ist überzeugt, dass Kuschnirs Tod im direkten Zusammenhang damit steht, dass Menschenrechtlern der Zugang zu den Haftanstalten verwehrt werde. Früher hätten sich die Häftlinge an die Obschtschestwennaja nabljudatelnaja komissija (Gesellschaftliche Beobachterkommission) wenden können, deren Kontakte in den Gefängnissen und Straflagern an den Wänden gehangen hätten. Heute gebe es das alles nicht mehr, sagt sie.     

    „Die ONK hat früher regelmäßig Strafkolonien und Untersuchungsgefängnisse besucht, und wenn das immer noch so wäre, hätten wir früher von Pawel erfahren und dieses Problem angehen können: Wir hätten ihn überreden können, den Hungerstreik zu beenden, hätten durchsetzen können, dass er in ein richtiges Krankenhaus kommt, hätten die Medien eingeschaltet“, erklärt Sadowskaja. 

    Der frühere Zugang zu den Informationen hätte ihm das Leben retten können, ist sie sich sicher.  

    „Keiner der Menschenrechtsaktivisten hat von ihm gewusst – das lässt sich in der Datenbank von OWD-Info überprüfen, die eine der größten ist. Von diesem Hungerstreik wusste niemand außer den Mitarbeitern des Untersuchungsgefängnisses.“ 

    Ein trockener Hungerstreik sei eine extreme, kurzzeitige Form des Protests, bei der nicht nur die Nahrung, sondern auch Wasser verweigert werde, erklärt Sadowskaja. Normalerweise sterbe man in acht bis zehn Tagen an Dehydrierung, wenn nicht schon früher an Organversagen. „Das ist ein qualvoller Tod, begleitet von geistiger Verwirrung, Wahnstörungen und Halluzinationen“, fügt sie hinzu.     

    Nach internationalen Standards gelte eine Zwangsernährung bei Hungerstreik aus Protest nicht als Folter, wenn sie zum Ziel habe, das Leben der betreffenden Person zu retten.  

    „Mir ist nicht bekannt, ob Pawels Hungerstreik eine Form des Protests war oder er wirklich sein Leben beenden wollte. Wenn es eine Protestaktion war, dann hatte die Gefängnisverwaltung ab dem Zeitpunkt, wo sein Leben in Gefahr war, die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen“, erklärt Sadowskaja.  

    Auch bei anderen politischen Gefangenen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass niemand die Gefängnisleitung über einen eventuellen Hungerstreik informieren würde. „Niemand hat ihren Zustand im Blick. Ich hoffe, dass Pawels Geschichte für andere Häftlinge Signalwirkung hat und sie davon abhält, ihn nachzuahmen. Das ist nicht nur lebensgefährlich, sondern bedeutet den sicheren Tod“, betont sie.      

    Davon, dass an Kuschnirs Tod das Personal der Haftanstalt mindestens erhebliche Mitschuld trägt, ist auch die Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Komitees Grashdanskoje sodejstwije (Zivile Zusammenarbeit) Swetlana Gannuschkina überzeugt. Für sie bedeutet Kuschnirs Tod auch den Verlust eines Mitstreiters. „Ich habe ihn nicht gekannt und zum ersten Mal von ihm gehört, als er nicht mehr lebte. Das weist darauf hin, dass Menschenrechtsverteidiger bei Weitem nicht von allen wissen, die sich gegen den Krieg aussprechen, sich für Menschenrechte einsetzen und deshalb in Russland strafrechtlich verfolgt werden. Das soll uns allen eine Lehre sein. Wir müssen lernen, nicht nur berühmten, prominenten Persönlichkeiten unsere ständige Aufmerksamkeit zu schenken“, bilanziert Gannuschkina. 

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