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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Gibt es Leben in Donezk?

    Gibt es Leben in Donezk?

    Über die vergangenen Monate ist es in den Medien stiller geworden um den Osten der Ukraine, auch, weil seit Oktober 2015 der russische Einsatz in Syrien ins Zentrum des internationalen Interesses getreten ist. Das russische Internetportal SLON veröffentlicht nun einen Text, der die derzeitigen Zustände in der selbstproklamierten Donezker Volksrepublik aus erster Hand schildert.

    Doch zuvor eine kurze Chronik der Ereignisse: Im November 2013 begannen die Proteste gegen die Regierung Janukowitsch in der Ukraine, im Februar 2014 zerfiel die alte politische Führung. Im März folgte die russische Annexion der Krim, im April besetzten prorussische Demonstranten Verwaltungsgebäude in mehreren Gebieten der Ostukraine und riefen die Volksrepublik von Donezk, später die von Lugansk aus. Mithilfe der Armee versuchte die ukrainische Führung die Gebiete wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Während die militärischen Konflikte andauerten, wurden im September 2014 und im Februar 2015 die beiden Minsker Abkommen ausgehandelt, ab September 2015 auch der Waffenstillstand in groben Zügen umgesetzt, wenngleich weiterhin vereinzelte Kampfhandlungen stattfinden. Genauere Informationen und Hintergründe zu diesen Themen bieten unsere Texte zur Annexion der Krim, zum Krieg im Osten der Ukraine und zur selbstproklamierten Donezker Volksrepublik DNR.

    SLON leitet seinen aktuellen Beitrag folgendermaßen ein:

    „Der Autor dieses Texts, ein in Donezk lebender und arbeitender Journalist, bat uns darum, seinen Namen in der Veröffentlichung nicht zu nennen. Obwohl es in diesem Artikel so gut wie nicht um Politik geht, sondern lediglich um den Alltag in der durch Separatisten von der Ukraine abgetrennten Region, könnten beim sogenannten Ministerium für Staatssicherheit (MGB) der Donezker Volksrepublik (DNR) Fragen aufkommen. Zumal es in der DNR in jüngster Zeit vermehrt zu Festnahmen von Aktivisten und Ehrenamtlichen gekommen.

    ‚Donezk ist ein Keller, aber hier wird hin und wieder gefeiert, geheiratet, kommen Kinder zur Welt. Menschen sind seltsame Wesen, sie überleben immer‘, bemerkt der Autor. Was von außen betrachtet wie dunkelste Vorzeit wirkt, empfindet man unter kriegsähnlichen Bedingungen irgendwann als Normalität – sowieso ist der Begriff der Normalität im postsowjetischen Raum durch Revolutionen, Kriege, Totalitarismus und den Schock des Übergangs zur Marktwirtschaft ja stark ins Wanken gekommen. Nicht von ungefähr meinen die in diesem Artikel beschriebenen Pensionäre, sie wären ‚wieder in der UdSSR gelandet‘.“

    Die Frage: „Gibt es Leben in Donezk?“ ist merkwürdig und verrät einen sofort als Ortsfremden, einen, der nicht mit den hiesigen Realien vertraut ist. Leben gibt es immer, wo noch Menschen leben. Sogar in Stalingrad im Dezember 1942 oder in Berlin wie im April 1945. Warum dann nicht auch im jetzt verhältnismäßig friedlichen Donezk, in dem laut verschiedenen Schätzungen circa 600.000 Menschen leben, oder im gesamten von der DNR kontrollierten Gebiet, in dem 700.000 Menschen ihre Rente in Rubel erhalten und insgesamt fast zwei Millionen leben.

    Diese Menschen müssen Tag für Tag irgendwas essen, irgendwo arbeiten, zur Schule und zum Arzt gehen, heiraten, und manchmal sterben sie auch an ganz friedlichen Krankheiten. Und dann werden auch sie feierlich auf Friedhöfen in Särgen verschiedener Preis- und Qualitätsklassen beigesetzt und mit Trauerfeiern verabschiedet. Alles wie im 530 Kilometer entfernten Woronesch, bloß ein bisschen komplizierter.

    Zunächst einmal: Die Stadt ist tadellos sauber, die kommunalen Dienste arbeiten einwandfrei. Ebenso regelmäßig und ohne Störungen funktioniert der gesamte öffentliche Verkehr. Eine Fahrt mit dem Trolleybus oder der Tram kostet anderthalb Rubel (wobei der Preis für den Trolleybus allerdings gerade auf drei Rubel erhöht wurde), die Fahrscheine sind farbig bedruckt, das Design ändert sich praktisch jeden Monat. In den Bussen gibt es keine Fahrscheine, die Fahrt kostet drei Rubel.

    Der Krieg ist nicht mehr zu spüren. Besonders, wenn man ihn nicht spüren will. Bewaffnete Menschen sieht man seit den radikalen Säuberungsaktionen gegen die hiesigen Kosaken im April letzten Jahres so gut wie keine auf den Straßen, betrunkene Volksmilizen erst recht nicht. Schüsse sind zu hören, aber die hier lebenden Menschen unterscheiden zwischen Beschuss und Anflug. Jede Rentnerin im Trolleybus kann bei weit entfernten Schießgeräuschen großkalibriger Maschinengewehre sagen: das ist am Flughafen, oder: das sind Übungen auf dem Schießplatz in Durnaja Balka.

    Und dann ist da natürlich noch die Sperrzeit. Von 23:00 Uhr bis 5:00 Uhr früh. Sie wird streng eingehalten – nach 22:00 Uhr ist es schwer, ein Taxi zu bestellen, besonders in der Innenstadt. Die Taxifahrer sind auch nur Menschen, auch sie müssen rechtzeitig zu Hause sein, und die meisten Patrouillen sind im Zentrum unterwegs.

    Naja, und aus verständlichen Gründen gibt es weder einen Flughafen noch Eisenbahnverbindungen.

    Die Bevölkerung

    Wie viele Menschen leben in Donezk? Ein endloses Thema, heute genauso wie vor dem Krieg. Früher lag die Stadt knapp unterhalb der Millionengrenze. Eine zuverlässige aktuelle Statistik gibt es nicht. Der vom Oberhaupt der DNR Alexander Sachartschenko ernannte Bürgermeister Igor Martynow (ehemals Direktor eines Parks für Kultur und Erholung) behauptete eine Zeitlang, gemessen an der Menge des hergestellten Brotes würden in Donezk etwa 600.000 Menschen leben, und ließ, wie zuvor die gewählten Bürgermeister, wöchentliche Geburtsstatistiken drucken. Die Statistiken zeigten, dass die Geburtenrate um die Hälfte oder gar ein Drittel gesunken war.

    Laut einer ukrainischen Statistik haben 1,7 Millionen Menschen „einzelne Regionen“ der Gebiete Lugansk (Anfang 2014 bewohnt von 2,2 Millionen Menschen) und Donezk (Anfang 2014: 4,3 Millionen) verlassen und sich in anderen Gegenden der Ukraine angesiedelt. Fast 1 Million Menschen sind nach Russland ausgereist und etwa 400.000 nach Belarus. Besonders unter der Ausreise von Unternehmern, Professoren, Ärzten und Ingenieuren hat die Stadt zu leiden. Unter den Gebildeten und gut Situierten lag der Anteil der Ausgewanderten sicher bei über 50 Prozent. Nach fast zwei Jahren des Exils haben viele von ihnen in Lwiw, Kiew oder Dnipropetrowsk Fuß gefasst und nicht vor, in die geschundene Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren.

    In Donezk selbst jedoch sind Unterhaltungen darüber, wie sehr sich die Stadt zum Besseren gewandelt habe und wie viele Menschen zurückkehren würden, zum Volkssport und geworden und gelten als Zeichen, „dass es bald Frieden geben wird”. Beurteilt wird das zum Beispiel an der Menge von Autos auf den Straßen. Teure Autos gibt es im Vergleich zum Vorjahr wesentlich mehr. Manchmal bilden sich sogar Staus.

    Die Stadt

    Am meisten haben in Donezk die Außenbezirke gelitten, die an Kampfschauplätze grenzen – die Umgebung des Flughafens, die Vororte Peski, Marjinka. Man kann durchaus mal eben eine Spritztour in die halbverlassenen und beschädigten Viertel des Kiewski Rajon unterhalb der Putilowski-Brücke unternehmen und nach einer kurzen Exkursion in zehn Minuten wieder am Puschkin-Boulevard sein, dem Ballungszentrum der besten (regulär arbeitenden) Restaurants der Stadt. In den betroffenen Bezirken sind vor allem kaputte Fenster und ausgebrannte Buden und Verkaufspavillons zu sehen.

    Überall sind die Schulen und Kindergärten geöffnet. Schon im August und September des vergangenen Jahres waren mit zwei humanitären Konvois 1000 Tonnen neuer russischer Schulbücher gekommen. Ukrainische Geographie und Geschichte wurde verboten, jetzt ist das erste Thema nach der Heimaterdkunde die Waldtundra. Zu Beginn des Jahres wurde zusätzlich das Fach Staatsbürgerliche Erziehung zum Donbass-Bürger eingeführt. Für alle, von der ersten bis zur elften Klasse. Der Kurs ist in drei Abschnitte unterteilt: Donbass – mein Heimatland, Selbsterziehung zum Bürger der Donezker Volksrepublik, Donbass und Russki Mir. Um im Stundenplan Platz zu machen, hat man die Ukrainisch-Stunden reduziert und das Fach Ethik abgeschafft. Außerdem ist das Essen in den Kindergärten und Schulen seit dem 1. Januar kostenfrei. Eine extrem wichtige Erleichterung.

    Es gibt Kinderfeste, Pionierhäuser, Arbeitskreise und Tanzschulen. Adressen von zurückgekehrten Yogalehrern kursieren wie früher die Valuta. Schwimmbäder und Sportclubs sind wieder in Betrieb. Die Theater geöffnet. Alle sind bemüht, den Krieg nicht zu bemerken und alle möglichen „genauen Angaben“ über einen baldigen Frieden aufzuschnappen.

    Stromausfälle gibt es in Donezk und Makejewka so gut wie keine. Nur in der direkten Einschlagzone kommt es manchmal dazu, wenn eine Stromtrasse getroffen wird – in der sogenannten grauen Zone (ein neutraler Streifen zwischen den Kriegsparteien, der nach dem Abzug der Waffen von der Demarkationslinie entstanden ist, wie im Minsker Abkommen vereinbart).

    Bis zuletzt wurden sogar, anders als in der Ukraine, die Tarife für kommunale Dienstleistungen nicht erhöht. Wobei die Preise nach dem auf eins zu zwei festgesetzten Wechselkurs von Griwna zu Rubel berechnet und fixiert sind.

    Probleme gab es mit der Heizung und dem Benzin. Benzin wird aus Russland eingeführt, doch das Jahr 2015 stand ganz im Zeichen der Benzinkrisen. Mal gab es schlicht keinen, mal lag der Preis für einen Liter 95er bei 57 Rubel [0,70 Euro; zum Vergleich: in Moskau kostet der Liter circa 40 Rubel]. Benzin und Gas kamen über Briefkastenunternehmen des Oligarchen Sergej Kurtschenko in die DNR, der als Janukowitschs Brieftasche gilt. Die intransparenten Versorgungswege führten zu einer Reihe von Konflikten und organisierten Demonstrationen gegen ukrainische Oligarchen in Donezk, woraufhin in den Gasleitungen schlagartig der Druck abfiel. Heute ist die Wärmeversorgung stabil.

    Geld und Lebensmittel

    Die Gespräche der Menschen, die in der Stadt geblieben sind, drehen sich heute weniger um Politik als vielmehr ums Geld. Ärzte und Lehrer bekommen erst seit letztem Sommer regelmäßig Gehalt. Damals wurde der Wechselkurs von Rubel zu Griwna per Befehl auf zwei zu eins festgelegt (auf dem freien Markt liegt der Kurs bei drei zu eins). Die Gehälter rechnete man einfach um, indem man die ukrainischen mit zwei multiplizierte und in Rubel auszahlte. Lehrer und Ärzte hatten zuvor um die 4000 Griwna [im Juli 2015 etwa 170 Euro] verdient, jetzt bekommen sie im Monat also alle etwa 7000 bis 8000 Rubel [85 bis 100 Euro]. Dieses Gehalt gilt als gut. Etwa genauso viel verdienen zum Beispiel Mitarbeiter von lokalen Fernsehsendern. Für einen Job in einem Unternehmen mit einem Gehalt von 5000 Rubel [62 Euro] stehen die Leute Schlange. Aber es gibt auch nicht gerade viele funktionierende Unternehmen.

    Einige wenige Fabriken und Bergwerke sind in Betrieb, deren Prozessketten mit der Ukraine verbunden sind. Das sind Fabriken von Rinat Achmetow und Zechen, die Kohle an die Ukraine liefern. Ich hatte Gelegenheit, mit Mitarbeitern des Potschenkow-Bergwerks in Makejewka zu sprechen. Die dortigen Grubenarbeiter bekommen ihr Gehalt regelmäßig in Griwna auf ukrainische Konten gezahlt – im Durchschnitt etwa 10.000 [circa 340 Euro]. Nach hiesigem Maßstab sind sie reich. Ähnlich sieht es im Sassjadko-Bergwerk aus. Aber das sind einzelne Glückspilze.

    Ansonsten ist eine Deindustrialisierung im Gange. In Sneshnoje wurde eine bekannte Fabrik stillgelegt, die Schaufeln für Hubschrauberturbinen herstellte, in Donezk steht das Topas-Werk still, das früher das Funkmess-Überwachungssytem Koltschuga produzierte, in Makejewka ruht das Eisenhüttenwerk, stillgelegte Fördertürme werden zu Metallschrott verarbeitet.

    Die Preise für Lebensmittel sind in der DNR niedriger als auf der Krim, aber höher als im benachbarten ukrainischen Mariupol, an das die nicht anerkannte Republik unmittelbar grenzt. Urteilen Sie selbst: Schweinefleisch kostet 250 bis 320 Rubel [3 bis 4 Euro], fetter Speck 300 bis 320 Rubel [3,70 bis 4 Euro], tiefgefrorenes Hühnerfleisch 120 Rubel [1,50 Euro], Reis 60 Rubel [0,75 Euro] das Kilo. Das sind Lebensmittel, die nicht für jeden zugänglich sind. Wozu jeder Zugang hat, sind die humanitären Hilfspakete. Das Vorhandensein eines Autos oder eines Mannes, der von Montag bis Freitag zum Beispiel im besagten Mariupol Arbeit gefunden hat, ist ein bedeutender Vorteil. Viele Familien leben ausschließlich von ukrainischen Lebensmitteln, und von Sonntag auf Montag sowie freitags sind die Schlangen entlang der Blockposten für Ausreise aus oder Einreise nach Donezk besonders lang. Benzinkosten werden mithilfe des Internets gespart. Sehr beliebt ist die Seite BlaBlaCar, Mitfahrer bezahlen 150 bis 200 Griwna [5 bis 7 Euro] pro Kopf.

    In den letzten Monaten wurde es sehr beliebt, die Rolle Russlands bei der Sicherstellung des Lebens der Republik hervorzukehren. Früher sprach man in Donezk nur ungern über die „Kuratoren aus dem Kreml“ und darüber, woher die Rubel in der DNR kommen. Doch als im Herbst vorübergehend der Minsker Friedensprozess in Gang kam, als mit harten Maßnahmen ein zweimonatiger beidseitiger Waffenstillstand durchgesetzt wurde, machte sich gewisse Ratlosigkeit breit: „Lassen die uns etwa im Stich?!“ Wenn jetzt weiter über „russische Experten“, russische Armeeangehörige oder russisches Geld geredet wird, dann ist das daher auch ein Anzeichen dafür, dass Russland nicht vor hat, die Republiken aufzugeben.

    Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, welcher Anteil des hiesigen Haushalts durch eingeführte Rubel abgedeckt wird. Laut Nachforschungen deutscher Journalisten handelt es sich um circa 80 Millionen Euro pro Monat, die Russland als Hilfe bereitstelle. Das ergibt knapp eine Milliarde Euro im Jahr.

    Humanitäre Hilfe

    Noch ein Vorteil im Rennen ums Überleben ist die Möglichkeit, humanitäre Hilfspakete zu erhalten. Am weitesten verbreitet und am magersten sind die aus dem Fonds Wir helfen, der dem ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow gehört. Sein Fonds ist der größte Abnehmer von Nahrungsmitteln aus der Ukraine. Pro Monat werden circa 20.000 Tonnen Nahrungsmittel nach Donezk und Makejewka gebracht (nur dort läuft die Ausgabe der Hilfsgüter). Freiwillige Helfer sortieren in der Donbass Arena Monatsrationen in Tüten mit Firmenaufdruck, versehen sie mit „Nicht zum Verkauf“-Aufklebern. Die Freiwilligen arbeiten ehrenamtlich, bekommen dafür aber üppigere Lebensmittelrationen.

    Fette humanitäre Hilfe kommt aus Israel und Russland. Die israelische kommt über die Sochnut, die Jewish Agency for Israel und steht jedem zu, der jüdische Wurzeln nachweisen kann. Hier bilden sich ebenfalls stattliche Schlangen, auch Damen in Nerzpelzen sind zu sehen – in Donezk ist es keine Schande, humanitäre Hilfe zu bekommen. Die Tüten aus Russland und Israel sind besser bestückt und enthalten Fleischkonserven. Mit der Hilfe aus Russland ist es komplizierter. Die berühmten weißen Konvois helfen eher auf staatlicher Ebene – mit Lebensmitteln für Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, mit Benzin für Fahrzeuge der Ambulanz, Polizei und des Katastrophenschutzministeriums sowie mit Baumaterial und Schulbüchern. Dass Hilfsgüter in Tüten ausgegeben werden, kommt eher selten vor. Ich kenne persönlich nur zwei Familien, die von sozialen Einrichtungen russische Hilfspakete erhalten. In einem Fall handelt es sich um die Familie eines Volksmilizen, sie sind Aussiedler aus Slawjansk, in dem anderen um eine alleinerziehende Mutter mit vielen Kindern.

    Am wohlhabendsten, wenn man das so sagen kann, sind in der DNR die Rentner. Darunter finden sich – kein Scherz – einige, die nichts dagegen hätten, wenn so ein Krieg ohne Geschützfeuer noch eine Weile andauern würde. Überhaupt ist alles wie zu Sowjetzeiten: Es gibt keine erkennbare soziale Ausdifferenzierung, und die Kinder und Enkel suchen die Nähe der Alten – denn die haben Geld. Die allermeisten Pensionäre erhalten ukrainische Renten. Die Mittel aus dem Rentenfonds der DNR werden dafür diskret „Hilfe aus Russland“ genannt. Die Summe ist für alle gleich: um die 2500 Rubel im Monat.

    1220 Griwna [circa 40 Euro] im Monat bekam früher, in der Ukraine, eine alte Dame aus einer der Siedlungen in Makejewka, mit der ich einmal ausführlich über das Leben debattierte. Die Unterscheidung in Reich und Arm verläuft jetzt entlang ganz anderer Grenzen. „Bei uns im Haus wohnt ein ehemaliger Grubenarbeiter“, erzählte sie. „Der bekommt 4000 Griwna [circa 135 Euro] ukrainische Rente. Dazu die Hilfe aus Russland. Und dann bekommt ja auch noch seine Frau Rente, so kommen sie zu zweit auf 20.000 Rubel [circa 245 Euro]. Solche Leute eben. Essen sogar Fleisch.“

    Ukrainische Renten bekommen die Menschen, indem sie sich im benachbarten Mariupol oder Pawlograd als temporäre Aussiedler registrieren lassen – selbst oder mit Hilfe einer der zahlreichen Firmen, die sich dem Thema „Rententourismus“ widmen. Neben Rentnerfahrten in die Ukraine gibt es auch das sogenannte Karten-Business, das heißt, jemand fährt mit zwei Dutzend Kreditkarten auf die ukrainische Seite und hebt am Bankautomaten gegen eine gewisse Provision die Renten ab.

    Auch Geschichten im Geiste von Gogols Toten Seelen gibt es: Weil die DNR von allen elektronischen Registern abgekoppelt ist, fließt weiterhin Geld auf die Rentenkonten, auch wenn der Inhaber bereits verstorben ist.

    Die medizinische Situation ist schwierig. Viele Ärzte sind schlicht ausgewandert. Was noch existiert und funktioniert sind das Zentrum für Brandverletzungen, die regionale Unfallchirurgie und die neuro- und herzchirurgischen Zentren der Kalinin-Klinik. Das ist im Moment der einzige Ort im ganzen Donbass, an dem noch Herzoperationen durchgeführt werden. Vor dem Krieg gab es vier solcher Abteilungen – eine in Lugansk, zwei in Donezk und eine in Mariupol.

    Die medizinische Versorgung in der DNR ist ausdrücklich kostenlos. Medikamente kommen aus Russland. Es gab einen Fall, da wurde das Forschungslabor der medizinischen Hochschule, das beste in der ganzen Region, von bewaffneten Leuten geschlossen, nachdem man für eine Kontrolluntersuchung Geld genommen hatte. Wo das Labor das Geld für die Chemikalien hernehmen soll, das ist seine eigene Sache.

    Business

    Man soll nicht glauben, dass es in schwierigen Zeiten allen schlecht geht. In Donezk gibt es eine Menge Menschen, die sich ziemlich gut eingerichtet haben.

    In erster Linie gehören dazu die Volksmilizen. Sie sind jetzt alle unter Vertrag und bekommen Gehalt. Im Schnitt 14.000 Rubel [170 Euro]. Dazu kommen Uniform, Verpflegung im Verband und manchmal Lebensmittelhilfen für die Familien. Dabei ist der „große“ Krieg seit einem Jahr vorbei – seit Debalzewo.

    Es gibt auch lokale Unternehmer. Die Geschäfte drehen sich hier vor allem um die Geldflüsse in Rubel. Erfolgreich läuft der Einzelhandel mit Lebensmitteln. Die nationalisierte Supermarktkette ATB ist der Kette „Supermarkt der Republik Nr. 1“ (Perwy respublikanski supermarkt) gewichen.

    Kleine Läden finden Wege, Waren aus der Ukraine einzuführen. Leute, die häufig über die Grenze müssen, bringen im Kofferaum Fleisch, Milchprodukte, Kosmetik, Unterwäsche und Haushaltschemie mit. Fast alles davon ist Mangelware.

    Es gibt viele Bargeldservice-Firmen. Für das Abheben von ukrainischen Karten streichen sie mitunter bis zu 30 Prozent ein. Der Prozentsatz für russische Konten ist bedeutend kleiner: Mit einer Karte der Sberbank kostet das Abheben sechs Prozent, bei größeren Summen ab 10.000 Rubel verringert sich der Kommissionssatz auf fünf Prozent.

    In meinem Lieblingscafé Gastropub am Prospekt Mira wurde letzte Woche eigens für mich das Licht angemacht. Ich war tagsüber der einzige Gast. Aber die Restaurants auf dem Puschkin-Boulevard sind in der Regel gut besucht. Es gibt jetzt auch viel Werbung mit Flyern, die werden einem packenweise ins Autofenster gereicht. Beworben wird alles Mögliche: Saunen, Massage- und Friseursalons, Tätowierstudios, Ankauf von Gebrauchtwagen mit ukrainischer Registrierung, KFZ-Werkstätten.

    Die ukrainischen Multiplex-Kino-Ketten sind in Donezk nicht in Betrieb, aber alte Kinotheater haben geöffnet – hierher schaffen es russische Uraufführungen und sogar ukrainisch synchronisierte Weltpremieren. Bei Letzteren sind sogar die Plakate in ukrainischer Sprache bedruckt.

    Das Echo des Krieges: Dienstleistungen wie die Rücksetzung von IMEI-Codes auf Handys zwecks Abhörverhinderung (300 Rubel [3,70 Euro] auf dem Markt für Radiotechnik) oder die Herstellung von exklusiven Schall- und Mündungsfeuerdämpfern für Kalaschnikow-Maschinengewehre durch in Fabriken angestellte Dreher.

    Das Leben in Donezk pulsiert den ganzen Tag und verhallt gegen 19:00 Uhr, um in der Nacht vollkommen stillzustehen. Die Menschen leben allen Widrigkeiten zum Trotz und vermeiden es, über schlechte Nachrichten zu sprechen. Für schlechte Nachrichten kommt man unter Umständen ins Ministerium für Staatssicherheit.

    Wollte man es auf eine Formel bringen: Angst, Geldlosigkeit und die Hoffnung, dass die Kanonen stumm bleiben – das ist es, was das Leben in Donezk aktuell ausmacht.

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  • Wie Boris Nemzow ermordet wurde

    Wie Boris Nemzow ermordet wurde

    Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow war die aufsehenerregendste und symbolträchtigste Straftat der vergangenen Jahre in Russland.

    Obwohl bald tschetschenische Tatverdächtige ausfindig gemacht wurden, blieb ein gewaltiger Kreis von Fragen offen: War der Mord eine Rache für die politische Tätigkeit Nemzows? Spielten persönliche oder gar religiöse Motive eine Rolle (Nemzow hatte mehrfach den tschetschenischen Republikchef Kadyrow verbal angegriffen und den islamistischen Terrorangriff auf Charlie Hebdo öffentlich verurteilt)? Wieso wurde ein Hauptverdächtiger von den Ermittlungsbehörden überhaupt nicht befragt?1 Wie war es überhaupt möglich, dass praktisch vor den Kremlmauern eine wichtige Person des öffentlichen Lebens regelrecht hingerichtet wurde?

    Noch nie ist dieser Fall so detailliert rekonstruiert worden, wie in diesem Material der Novaya Gazeta, das zum ersten Jahrestag des Nemzow-Mordes (am 27. Februar) erscheint. Das Investigativ-Ressort der Zeitung, in dem auch die ebenfalls von tschetschenischen Auftragsmördern umgebrachte Anna Politkowskaja gearbeitet hatte, trägt alle bekannten Fakten zusammen, ergänzt sie durch eigene Recherchen und Wissen aus Insiderquellen und bietet so ein umfassendes Bild des Tathergangs und möglicher Motive.

    Ein Schlüsselartikel zur politischen Gewalt in Russland, der in kürzester Zeit Hunderttausende von Lesern im russischen Internet fand.

    Wer es war, der am 27. Februar 2015 an der Großen Moskwa Brücke, dreihundert Schritte vom Kreml entfernt, Boris Nemzow ermordet hat – darüber wurde der Russische Präsident bereits am 2. März informiert.

    Im Bericht des FSB-Chefs Bortnikow heißt es: Die Attentäter waren eine Gruppe tschetschenischer Silowiki aus dem Bataillon Sewer (Nord) der Inneren Truppen des Innenministeriums der Russischen Föderation (WW MWD RF), vermutlich unter der Leitung des stellvertretenden Bataillonsführers Ruslan Geremejew.

    Hotel Ukraina am Tag vor dem Mord: zwei mutmaßlich an der Tat Beteiligte, in der Mitte Ruslan Geremejew, im Vordergrund Tamerlan Eskerchanow – Novaya Gazeta

    Am 5. März wurden festgenommen: Saur Dadajew, die Brüder Ansor und Schadid Gubaschew, Tamerlan Eskerchanow, Chamsat Bachajew. Beslan Schawanow kam bei seiner Festnahme ums Leben.

    Drei von ihnen sind Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitsorgane. Dadajew und Schawanow gehören zum Bataillon Sewer, Eskerchanow ist ein entlassener Mitarbeiter der örtlichen Polizeidienststelle im Schelkowski Rajon (ROWD) [in Grosny – dek.], das von Wacha Geremejew geleitet wird – einem Verwandten von Ruslan Geremejew und von dem Staatsdumaabgeordneten Adam Delimchanow. Dazu kommen Bachajew und der jüngere Gubaschew-Bruder, die beide keiner offiziellen Arbeit nachgehen.

    Dass die Tat so schnell aufgeklärt wurde, liegt an zwei Dingen: Am „Wer hat es gewagt?“ des Präsidenten und am endlich mal funktionierenden Spionagenetz in der Führung der Tschetschenischen Republik. Die Moskauer Silowiki haben nämlich deren Vorgehen – das nur allzu oft tödlich endet – katastrophal satt.

    Allem Anschein nach hat der Mord an Boris Nemzow das Fass auf allen Seiten zum Überlaufen gebracht – noch nie hat es das gegeben: Innenministerium (MWD), FSB, das Russische Ermittlungskomitee (SKR), der Föderale Dienst für Rauschgiftkontrolle (FSKN) und die Generalstaatsanwaltschaft – sonst permanent verfeindet – ziehen hier anfallsartig an einem Strang.

    Und es ist auch klar, warum: Mehr als einmal waren kurz vor dem Schuldspruch stehende Strafverfahren gegen tschetschenische Silowiki, die wegen schwerer Verbrechen eingeleitet wurden, ins Leere gelaufen – und die Angeklagten belegt mit Meldeverpflichtungen bei sich zu Hause oder gar im Donbass aufgetaucht.

    Warum haben die Mörder Spuren hinterlassen?

    Im Grunde haben sich die Attentäter, die bald vor ein Geschworenengericht kommen, nicht besonders viel Mühe gemacht, unterzutauchen – offenbar in der Annahme, dass sie wegen eines „Auftrags des Vaterlands“ nicht verfolgt würden. Keiner von ihnen hat die Patronenhülsen am Tatort aufgesammelt. Keiner hat sich vor den Überwachungskameras versteckt. Selbst das Fahrzeug, ein Saporoshez, wurde vor dem Mord gewaschen und nicht danach. So konnte man genetisches Material, Spuren von Pulvergas sowie eine Dashcam sicherstellen, von der nichts gelöscht worden war. In der Wohnung, die die Verdächtigen angemietet hatten, fand man SIM-Karten, die offensichtlich keiner geplant hatte, wegzuwerfen.

    Die verhafteten Personen waren offenbar so schockiert über ihre Verhaftung, dass sie quasi sofort vor laufender Kamera ein Geständnis ablegten. Dabei ist auf diesen Videos bei keinem von ihnen ein blaues Auge erkennbar oder eine leere Sektflasche, die im Hintern steckt (beides haben die Tatverdächtigen später behauptet, nachdem sie sich besonnen hatten).

    Mehr noch, diese ursprünglichen Aussagen wurden im Zuge eines speziellen Ermittlungsvorgangs, bei einem Ortstermin, bestätigt: Vor laufender Kamera erzählen Dadajew & Co rege und detailliert, wo sie gestanden haben, wo sie langgelaufen sind, wie sie ihr Opfer beobachtet und ermordet haben. So liegen dem Ermittlungskomitee Geständnisse von Saur Dadajew, Ansor Gubaschew und Tamerlan Eskerchanow vor – die die Verhörten plötzlich widerriefen, als neue Anwälte eingeschaltet wurden. Nun, die Glaubwürdigkeit der ersten wie auch der späteren Aussagen werden die Geschworenen beurteilen, uns soll zunächst genügen, dass es sie gibt.

    Was machen tschetschenische Offiziere im Hotel President?

    Es stellt sich die Frage: Was machen Offiziere aus Truppen des Innenministeriums, die in einer vollkommen anderen Region Russlands dienen, in Moskau? Diese Frage hängt schon seit gut zehn Jahren in der Luft. Tschetschenien ist das einzige Subjekt der Föderation, dessen Führung in der Hauptstadt eine Gruppe eigener Silowiki unterhalten darf; offiziell sollen sie die Sicherheit hochrangiger Beamter gewährleisten, die aus verschiedenen Gründen nach Moskau reisen.

    Bedenkt man, dass selbst das tschetschenische Oberhaupt Ramsan Kadyrow eher selten in Moskau anzutreffen ist, ist das alles noch befremdlicher: Was machen diese Leute hier, die mit Stetschkin-Knarren behangen und mit Dienstausweisen ausgestattet sind, die zudem noch die Durchsuchung ihrer Fahrzeuge verbieten? Hat man jemals von einem Sondereinsatzkommando aus, sagen wir, dem Gebiet Jaroslawl gehört, das den Gouverneur während seines Aufenthalts in der Hauptstadt beschützt?

    Nemzows Grab auf dem Trojekurowski Friedhof in Moskau - Novaya Gazeta
    Nemzows Grab auf dem Trojekurowski Friedhof in Moskau – Novaya Gazeta

    Nicht zufällig erwähnen wir Jaroslawl: Schon anderthalb Tage nach dem Mord an Boris Nemzow wurde das Oberhaupt dieser Region, in der das Mordopfer die Wahl ins Regionalparlament gewonnen hatte, zügig verhört – er kam von sich aus, gleich nach der ersten Aufforderung, und das nicht zu irgendwelchen angereisten Moskauer Ermittlern, sondern zu seinen eigenen, einheimischen.

    Kadyrow hingegen, trotz seines Wissens um die Ermordung und um die Verdächtigen, das er mehrfach auf seiner Instagram-Seite demonstrierte, ist bis heute nicht befragt worden. Und das trotz eines Antrags seitens der Anwälte der Geschädigten – der Familie Boris Nemzows.

    Die „für die Sicherheit von hochrangigen Beamten der Republik Tschetschenien zuständigen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane“ sind im Hotel President gleich gegenüber dem Innenministerium stationiert. Dort haben sie irgendwann sämtliche Hotelgäste verjagt, mit ihren ausgebeulten Trainingsanzügen, über denen man alle möglichen Waffenarten zu sehen bekommt – von Dolchen bis hin zu Maschinenpistolen.

    Es sind allerdings nur die privilegierten Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitskreise, die durch die Flure des VIP-Hotels an der Ecke zur Jakimanka Straße wandeln. Die taktisch-operativen Gruppen tschetschenischer Silowiki hingegen arbeiten in Moskau im Rotationsprinzip: einige Monate vor Ort, dann kommt eine Ablösung. Sie mieten in der Regel Wohnungen am Stadtrand und bleiben dort unter sich. Sie sind zuständig für die besonders delikaten Aufträge. Dazu gehören: Entführungen, Morde, Erpressungen. Bis zu ihrem nächsten derartigen Einsatz zur Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung machten es sich die obengenannten Personen im inzwischen geschlossenen Restaurant Prag gemütlich. Dorthin bestellten sie leichte Mädchen, die danach lange wegen unterschiedlicher physischer Leiden in Moskauer Kliniken behandelt werden mussten.

    Delikate Aufträge bespricht man in der Regel in der Lobbybar des Hotels Radisson Slawjanskaja, im Restaurant Tatler oder dem Hotel Ukraina oder auch in diversen anderen überteuerten Lokalitäten, deren Besuch sich die Majore und Offiziere der russischen Innenministeriums-Truppen mit ihren Mercedes-Schlitten leisten können.

    In eben diesen Lokalen wurden zwischen September 2014 und Februar 2015 auch mehrfach die jetzigen Tatverdächtigen gesichtet, in Gesellschaft von Ruslan Geremejew, dem stellvertretenden Anführer des Bataillons Sewer. Zu ihnen gesellten sich immer wieder Leute, die mit Taschen kamen und dann wieder gingen – mit denselben Taschen, nur dass diese sichtlich leichter geworden waren.

    Unseren Recherchen zufolge haben die Kämpfer der taktisch-operativen Gruppe unter Geremejew einen dieser delikaten Aufträge (den Mord an Boris Nemzow nicht eingerechnet) mit Bravour ausgeführt: Aus einem Flugzeug, das auf der Landebahn des Business-Aviation-Flughafens Wnukowo-3 stand, wurde ein Topmanager von Gazprom entführt, der sich reichlicher bedient hatte, als ihm zustand. Innerhalb eines Tages gab er das Geld zurück.

    Laut unseren Quellen in Tschetschenien soll übrigens der mutmaßliche Mörder Saur Dadajew eine Zeit lang den Personenschutz des Abgeordneten Delimchanow geleitet haben.

    Vorbereitung auf den Mord

    Im September 2014 wurden in der Wejernaja Straße in Moskau zwei Wohnungen angemietet. Mieter der einen war Artur Geremejew, ein Verwandter von Ruslan Geremejew. Die andere mietete Ruslan Muchutdinow, der Fahrer von Ruslan Geremejew und selbst ebenfalls Mitarbeiter des Bataillons Sewer. (In dieser Wohnung wurde übrigens noch ein weiterer Offizier des tschetschenischen Innenministeriums gesehen, mit dem Namen Chatajew, aber er taucht bislang nicht im Verfahren auf). In der von Muchutdinow angemieteten Wohnung richteten sich dann Dadajew und seine Truppe ein und begannen ihre Arbeit gemäß der bestehenden „Ausschreibung“.

    Was ist in diesem Zusammenhang eine „Ausschreibung“? Wenn es ein unerwünschtes „Objekt“ gibt, dessen Existenz entscheidenden Leuten das Leben schwer macht, erhebt sich in den taktischen Kampftruppen, die sich in Moskau verborgen halten, ein Ruf: Der und der für so und so viel. Und wer es dann als erster schafft, die Sache zu erledigen, bekommt das Geld.

    Im August 2014 wurden vier Namen ausgeschrieben: Boris Nemzow, Michail Chodorkowski, Alexej Wenediktow und Xenija Sobtschak. Die Liste erstaunt insofern, als dass diese Personen in keine finanziellen oder politischen Reibereien mit der Republik Tschetschenien verstrickt waren. Wie dem auch sei, was wir kennen, ist der Preis: 15 Millionen Rubel [etwa 220.000 Euro].

    Nach dem Flop auf der Großen Moskwa Brücke (Nemzows Mörder wurde festgenommen) wurde die restliche Ausschreibung zurückgezogen, doch für wie lange, das ist eine offene Frage.

    Boris Nemzow entpuppte sich als unbequemes „Objekt“ für die Killer. Zum einen führte er kein geregeltes Leben nach dem Schema: zum Arbeitsplatz und dann nach Hause. Er blieb manchmal tagelang in seiner Wohnung, oder er fuhr plötzlich ins Ausland oder nach Jaroslawl, wo er als Abgeordneter arbeitete, und nicht zuletzt fuhr er unglaublich gern mit der Metro. So kostete es viel Zeit, die Kenndaten des Objekts ausfindig zu machen – Zeit, die man viel lieber in den Bars von Moskau verbrachte.

    Die Leute, die hinter der Ausschreibung standen, machten allmählich Druck – allem Anschein nach war das die Botschaft, mit der Ende Februar der Offizier des tschetschenischen Innenministeriums Schawanow auftauchte. Also wurde beschlossen, zur Tat zu schreiten, komme was wolle. Ein Detail: Für die Beschattung kamen vier Fahrzeuge zum Einsatz, darunter ein Mercedes mit dem Kennzeichen A007AR, der vermutlich von Ruslan Geremejew genutzt wurde.

    Die Ausführung des Mordes

    Überwachungskamera des Kaufhauses GUM
    Überwachungskamera des Kaufhauses GUM

    Am 27. Februar gegen 11.00 Uhr positionierten sich die Mörder auf der Malaja Ordynka Straße, wo Boris Nemzow wohnte, und begannen zu warten. Von Nemzow keine Spur. Sein Auto gondelte zum Supermarkt, doch der Besitzer des Wagens blieb daheim. Später dann fuhr Nemzow zum Rundfunk für die Acht-Uhr-Sendung von Echo Moskwy. Um 21.45 Uhr verließ das „Objekt“ gemeinsam mit einer Dame erneut sein Haus und fuhr in Richtung Roter Platz. Boris Nemzow und, wie später bekannt wurde, Anna Durizkaja aßen gemeinsam im Bosco Café zu Abend, einem Café im Kaufhaus GUM. Ansor Gubaschew und Beslan Schawanow schlichen derweil um das Gebäude herum (wie aus den Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras hervorgeht). Nemzow und seine Begleiterin gingen dann zu Fuß zur Malaja Ordynka Straße zurück, über die Große Moskwa Brücke. Dort geschah dann alles. Dadajew kam die Treppe hoch, schoss Nemzow fünf Mal in den Rücken (kein einziger Schuss ging daneben – die langen Trainingsjahre waren nicht umsonst), die Begleiterin des „Objekts“ ließ er unbeschadet, setzte sich in den von Ansor Gubaschew gesteuerten Saporoshez und fuhr davon.

    Zwei Schusswaffen waren im Spiel: eine hatten sie zur Absicherung dabei, falls sie verfolgt worden wären. Mit der anderen Waffe – umgebaut aus einer nicht-tödlichen Verteidigungspistole [non-lethal-weapon] – wurde die Tat ausgeführt. Die Patronenhülsen stammten aus verschiedenen Serien, und es ist auch klar, weshalb: trainiert wird auf „wilden“ Schießübungsplätzen (das Ermittlungskomitee hat sie in der Umgebung Moskaus ausfindig gemacht) und die Waffen dabei mit Patronen aus unterschiedlichen Chargen geladen.

    Gubaschew und Schawanow haben dann am 28. Februar Moskau über den Flughafen Wnukowo verlassen, das zeigen die Videoüberwachungskameras. Dadajew und Geremejew sind, nachdem sie im Odinzowski-Bezirk im Moskauer Umland an einem sicheren Ort abgewartet hatten, am 1. März abgeflogen. Zum Flughafen fuhr sie Muchutdinow. Er hat dann auch, vermuten die Ermittler, die Waffen mit dem Auto wieder nach Tschetschenien gebracht.

    Um einer Überreaktion ihrer Anwälte vorzubeugen, werden Bachajew, Eskerchanow und Schadid Gubaschew nicht der unmittelbaren, sondern nur der mittelbaren Beteiligung am Mord beschuldigt: Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten Beweisstücke unterschlagen, Personen ausgespäht, in ihren Fahrzeugen Mitglieder der Gruppe transportiert – und sie mit Bratkartoffeln verpflegt.

    Die Verhaftung und danach

    In den Führungsetagen der russischen Ordnungsbehörden [Justiz- und Innenministerium – dek.] war man außer sich über eine derart laxe Strafverfolgung, von noch weiter oben [Putin – dek.] machte die zornige Frage „Wer war es?“ den Beamten zusätzlich Beine. Also wurde eine Spezialoperation in Gang gebracht.

    Man schickte eine Einsatztruppe der Sondereinheiten nach Tschetschenien und Inguschetien, mit dem Auftrag, die Verdächtigen festzunehmen.

    Die stellten sich aber selbst ein Bein, indem sie nach Inguschetien fuhren, um Drogen zu besorgen. Ansor Gubaschew und Saur Dadajew wurden auf frischer Tat von Mitarbeitern der Föderalen Drogenbekämpfung Inguschetiens ergriffen und der örtlichen Polizeidienststelle des Bezirks überstellt. Anschließend wurden sie vom Sonderkommando übernommen und nach Moskau auf den Weg gebracht. Gleichzeitig wurden im Odinzowski Bezirk im Moskauer Umland, wo sich die Verdächtigen nach dem Mord versteckt hatten, weitere Mitglieder der Gruppe festgenommen. Übrigens: die Gubaschew-Brüder sind Verwandte von Dadajew. Es ist ein charakteristisches Merkmal von „Tschetschenenmorden“, Leute aus dem eigenen Umkreis zu rekrutieren, damit mehr für einen selbst abfällt (wie auch im Fall Anna Politkowskaja).

    Eine Panne gab es nur bei der Festnahme von Schawanow, der sich in seiner Wohnung in Grosny versteckt gehalten hatte. Ein stellvertretender Innenminister Tschetscheniens (der Familienname ist der Redaktion bekannt) ging durch die von den föderalen Sicherheitskräften geschützte Absperrung, danach erfolgten zwei Explosionen und die Verlautbarung, Schawanow habe sich mit einer Handgranate in die Luft gejagt.

    Einige Tage nach den Festnahmen gab es in Dshalka, dem Heimatort der Geremejew-Familie, ein Treffen von hochrangigen Personen. Neben Ramsan Kadyrow nahm daran vermutlich der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow teil, außerdem der stellvertretende tschetschenische Innenminister Alaudinow, Senator Sulim Geremejew, Schaa Turldajew, gegen den ein Haftbefehl wegen der Ermordung eines tschetschenischen Oppositionellen in Wien vorliegt, weitere Personen und, selbstverständlich, Ruslan Geremejew.

    Die Stadt Dshalka wurde für dieses Treffen von den Truppen des Bataillons Sewer abgesperrt, nur einzelne Angehörige der staatlichen Organe, vermutlich mit Beziehungen zu den Inneren Truppen und föderalen Sicherheitsdiensten, wurden hineingelassen. Alles deutet darauf hin, dass genau bei diesem Treffen auch eine allgemeine Vereinbarung über das weitere Vorgehen getroffen wurde.

    Insgesamt beschränkte sich die Ausbeute der Moskauer Silowiki in Tschetschenien auf eine Befragung der Verwandten der Verdächtigen und eine Zusammenstellung allgemeiner Informationen: wann geboren, wann geheiratet.

    Nach dem Mord

    Ruslan Geremejew verließ Dagestan über die Stadt Kaspisk, offiziell als Betreuer von Kadyrows Rennpferden, und begab sich in die Arabischen Emirate. Und obwohl noch Anfang März 2015 eine Anordnung nach Tschetschenien geschickt wurde, dass er festzunehmen und einer gerichtlichen Befragung zu unterziehen sei, hatten die tschetschenischen Geheimdienstler und Mitarbeiter der Polizei bereits große Schwierigkeiten mit der Antwort auf die Frage, in welchem Haus der Verdächtige in Dshalka überhaupt lebe. Kurz darauf reiste auch Muchutdinow in die Vereinigten Arabischen Emirate aus.

    Unmittelbar nach der Befragung des mutmaßlichen Mörders Saur Dadajew wurde das Video mit allen Aufzeichnungen durch jemanden aus dem Ermittlungkomitee Ramsan Kadyrow, dem Staatsoberhaupt Tschetscheniens, zur Verfügung gestellt. Kadyrow trat dann an die Öffentlichkeit mit Statements wie dem, dass Dadajew ein echter Patriot sei. Zwei Аnträge auf Anklageerhebung gegen Geremejew in Abwesenheit und die Ausschreibung seiner Fahndung scheiterten am Chef des russischen Ermittlungskomitees, Bastrykin, der sie nicht unterschrieb.

    Am Ende tauchte eine Anklageschrift auf, in der als Organisator des Verbrechens der Fahrer von Geremejew, Ruslan Muchutdinow, genannt wird, bei dem sich irgendwie 15 Millionen angehäuft hatten und der deshalb zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Und alle Verdächtigen änderten ihre Aussagen: Nun hatte angeblich der tote Schawanow geschossen, und er hatte sich angeblich auch alles ausgedacht. Aus dieser Ecke ist also keine Antwort zu erwarten. So wie auch aus den Emiraten nicht, wo sich Muchutdinow versteckt hält. Es ist ja kein Zufall, dass Kasbek Dukusow, der mutmaßliche Mörder von Paul Chlebnikow, dem Chefredakteur der russischen Redaktion der Forbes, seine Strafe für Raub in den Vereinigten Emiraten abgesessen hat und dann ungehindert nach Tschetschenien zurückgekehrt ist, ungeachtet drohender Auslieferungsanträge durch das Justizministerium und die Generalstaatsanwaltschaft.

    Was die Verdächtigen betrifft, denen die „richtigen“ Anwälte zur Verfügung gestellt wurden, so sind deren Versuche, sich ein Alibi zu verschaffen, nach hinten losgegangen: Ihre genauen Angaben zu Aufenthaltsorten in Moskau brachten mehr und mehr Verstrickungen der fraglichen Personen ans Licht und führten zwangsläufig zu der Annahme, es seien noch ganz andere, nicht wirklich legale Angelegenheiten in ihren Aufgabenbereich gefallen.

    Bedeutung und Einfluss von Geremejews Familie haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen. Sogar in der weiblichen Linie: Die Schwester von Ruslan, Cheda, hat die Leitung des Sozialamts im Bezirk übernommen. Das führte – absolut nachvollziehbar – zu einem Aufstand Unzufriedener, die versicherten, dass angeblich 70 Prozent der Gelder dort irgendwo versickerten. Und Wacha Geremejew wurde als Chef der örtlichen Polizeidienststelle zum mächtigsten Mann im Bezirk.

    Zu den Mordmotiven

    Die Version, die die Verteidigung öffentlich vertritt, hält einem kritischen Blick nicht stand. Etwa die Behauptung, die Tat sei religiös motiviert, weil Nemzow sich nach den Schüssen auf die Mitarbeiter von Charlie Hebdo negativ zum Propheten und zu Allah geäußert hatte – eine klare Lüge. Erstens hatten die Verdächtigen, laut ihren eigenen Aussagen, mit den Mordvorbereitungen schon lange vor den Schüssen auf die Mitarbeiter der französischen Zeitschrift im Januar begonnen. Außerdem haben die Verdächtigen bei der Erklärung ihrer Motive immer wieder auf Folgendes hingewiesen: Nemzow sei ein Oppositioneller gewesen, der dabei war, „irgendeinen Marsch“ vorzubereiten, zweitens habe er die Ukraine unterstützt, drittens habe er „auf der Gehaltsliste von Obama“ gestanden, viertens habe er den Führer Russlands vulgär beschimpft. Wie, wo und auf welche Weise er all das gemacht haben soll, konnten die Befragten nicht erklären – offensichtlich, weil sie wohl irgendwelcher Propaganda aufsaßen.

    Solche wirren Erklärungen werfen jedoch neue Fragen auf: Wer hat diesen Personen solches Gedankengut eingepflanzt? Wer hat eine „Ausschreibung“ beauftragt mit Namen, die nicht auf der tschetschenischen Tagesordnung stehen?

    Was weiß General Solotow, der frühere, stellvertretende Leiter des föderalen Sicherheitsdienstes FSO und derzeitige Befehlshaber der Inneren Truppen? Dessen Untergebene waren vermutlich beim Treffen in Dshalka dabei, aber gegenüber dem Ermittlungskomitee gab er lange Zeit keine Auskunft auf die Frage nach deren Status.
    Warum hat der Sicherheitsdienst Russlands keine Aufzeichnungen der Videokameras vom Roten Platz und der Kremlmauer zur Verfügung gestellt, von denen es dort nur so wimmelt? Stattdessen müssen sich die Ermittler mit einem einzigen Video begnügen, das von einer Kamera des Senders TVZ aufgenommen wurde (die städtische Kamera auf der Brücke war offensichtlich gen Himmel gerichtet).

    Und schließlich: Warum will sogar Bastrykin, der Chef des Ermittlungskomitees, nicht zulassen, dass Ruslan Geremejew vernommen wird? (Geremejew ist übrigens nicht nur nach Tschetschenien zurückgekehrt, sondern hat sich zum Mord an Boris Nemzow bereits dahingehend geäußert, dass Dadajew ihn nicht begangen haben kann: Denn der habe sich die ganze Zeit bei ihm, Geremejew, aufgehalten und sei mit der Bewachung sagenhafter, hochrangiger Mitarbeiter der tschetschenischen Regierung beschäftigt gewesen.) Soll Bastrykin das ruhig mal öffentlich sagen. Zumal Geremejew (nach Angaben der Presseagentur Rosbalt) sowieso nichts anderes sagt, als dass er sich frage, was Schawanow überhaupt in Moskau zu suchen hatte. Dann würde endlich die Leitversion der Verteidigung – der tote Schawanow hat geschossen, der unerreichbare Muchutdinow war der Auftraggeber – auch ganz offiziell anerkannt.


    1.Nach einer Meldung vom 26.02.2016 hat sich der verdächtige Offizier des tschetschenischen Bataillons ​Sewer​ Ruslan Geremejew nun zu einer Aussage bereiterklärt, die er allerdings ausschließlich in schriftlicher Form leisten will. Er streitet weiterhin jede Verstrickung in den Fall Nemzow ab. Rosbalt.ru: Ruslan Geremejew nameren dat pokasanija na sluschanijach po „delu Nemzowa“

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  • Die Kirche des Imperiums

    Die Kirche des Imperiums

    Im vergangenen Monat musste der langjährige Chefredakteur der offiziellen Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, Sergej Tschapnin, seinen Posten räumen. Der Grund für die Entlassung dieser wichtigen Persönlichkeit des kirchlichen Lebens (Tschapnin hatte im Moskauer Patriarchat auch andere Ämter inne) wird in einer Reihe analytischer und durchaus kritischer Äußerungen zur jüngsten Geschichte der Kirche gesehen, mit denen Tschapnin in letzter Zeit hervortrat. Eine besondere Rolle spielte dabei nach Tschapnins eigenen Vermutungen der vorliegende Artikel über den Wandel der Kirche seit den Zeiten der Perestroika, der zunächst in der amerikanischen Religionszeitschrift first things erschien und nun in einer neuen Fassung des Autors bei Colta.ru veröffentlicht wurde.

    Ich trat Ende 1989 in die Kirche ein und begann Anfang 1990, mich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen. Die Zeiten damals – zwei Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion – waren hart: Inflation, tiefgreifende Wirtschaftskrise, leere Regale in den Geschäften. Unsere Gemeinde bekam in der Stadt Klin, 85 Kilometer nordwestlich von Moskau, eine alte verfallene Kirche im Stadtzentrum zugesprochen. Die enthauptete Kirchenruine auf Bergen städtischen Mülls, der erstmal weggeschaufelt werden musste, wurde für uns zum Symbol der neuen Zeit. Es war das erste Gotteshaus in der Moskauer Umgebung, das der Kirche zurückgegeben, und das einem Bekenner aus der Zeit der Kirchenverfolgung geweiht wurde, dem Heiligen Patriarchen Tichon von Moskau und Russland.

    Um den Kirchenvorsteher, einen jungen tatkräftigen Priester, versammelte sich eine junge Gemeinde, die von der Hoffnung einer Wiedergeburt Russlands lebte. Der Priester hatte noch den Druck der sowjetischen Geheimdienste zu spüren bekommen – er wurde überwacht, da er zwei Jahre zuvor in seiner damaligen Kirche gewagt hatte, einen Kinderkirchenchor zu gründen.

    Damals, Anfang der 1990er-Jahre, zweifelte niemand daran, dass die Entwicklung des Landes, die Erfolge der kirchlichen Wiedergeburt und der Weg in die Zukunft unmittelbar mit der Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit zusammenhingen. Wir wussten und verstanden vieles nicht, aber wir fühlten es klar: Um das Land zu verändern, mussten wir uns selbst verändern und vor allem mussten wir aufhören, sowjetisch zu sein. Die innere Umkehr (Metanoia) war die zentrale und zugleich eine unbeschreiblich schwierige Aufgabe. Doch wir – damals Studenten und Schüler der höheren Klassen – lebten von der Hoffnung.

    Nach dem Untergang der Sowjetunion geriet Russland in eine langanhaltende Identitätskrise. Zwei Wege standen zur Wahl: entweder die europäische Demokratie oder die eurasische Autokratie. Anfang der 1990er fiel die Wahl der Menschen eindeutig auf die Demokratie. Die Gesellschaft bewegte sich weg vom sowjetischen Imperium, sie stieß es regelrecht von sich weg.  

    Die kirchliche Wiedergeburt nahm in jenen Jahren äußerlich gesehen demokratische, ihrem Wesen nach aber regelrecht kanonische Formen an. Es entstand eine breite Laienbewegung, die zahlreiche Initiativen in den verschiedenen damals noch zur Sowjetunion gehörenden Regionen vereinte. Bereits im Herbst 1990 entstand aus dieser Bewegung der Bund der orthodoxen Bruderschaften. Eine Reihe von Eparchien in den Staaten, die nach der Auflösung der Sowjetunion unabhängig geworden waren, erhielt den Status autonomer Kirchen. Es begann die Verehrung von Neomärtyrern und russischen Bekennern aus der Zeit der Kirchenverfolgung. Wenige Jahre zuvor noch war die bloße Erwähnung der Verfolgung oder der Namen von Betroffenen nicht ungefährlich gewesen. Langsam und tastend entstand wieder ein Gemeindeleben. Und die lebendige kirchliche Predigt war gerichtet an die Herzen der Menschen, war Aufruf zu einem Leben in Christus.

    Als eine Gemeinschaft, die so lange unterdrückt worden war und trotz brutaler Verfolgung überlebt hatte, erhielt die Kirche von der Gesellschaft und später auch vom Staat einen enormen Vertrauensvorschuss. Nicht nur die Orthodoxe Kirche insgesamt, sondern buchstäblich jeder einzelne Priester, jeder Träger von Kutte oder Talar, erhielt diesen enormen Vertrauensvorschuss.  

    Im ersten Stadium spielte das Konzept der kirchlichen Wiedergeburt – nennen wir es kirchliche Wiedergeburt 1.0 – eine wichtige Rolle bei der ideellen und kulturellen Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit. Viele schauten auf das, was die Kirche allem Anschein nach hatte bewahren können: die traditionelle russische Kultur, also die andere, nicht die, die jedermann bekannt war, – nicht die sowjetische. Die Kirche zog sogar die Aufmerksamkeit derer auf sich, die sich nicht für Glaubenslehre und Gottesdienst interessierten. Und alle wollten irgendwie teilhaben an dieser Kultur, doch die überragende Mehrheit hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Eben in dieser Verwirrtheit der Mehrheit sind die Gründe für die ganz und gar beispiellose Hochachtung zu suchen, die die orthodoxe Geistlichkeit genoss. Für viele wurde der Priester zu einer Art Lotse auf dem Weg in die unergründete Welt eines anderen Russland.

    Doch Wunsch und Wirklichkeit klafften stark auseinander. Die Kirche war unterdessen bereits ziemlich sowjetisch. Die höchste Geistlichkeit war Teil des sowjetischen Establishments, und die Priester erhielten – sofern sie sich bei ihrer Tätigkeit streng auf das Abhalten von Gottesdiensten beschränkten – erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Auch nach dem Niedergang der Sowjetunion gab es viele, denen der stillgelegte Zustand der Kirche à la Sowjetunion gelegen kam. Mitte der 1990er Jahre gab es die ersten Anzeichen dafür, dass das Episkopat beschlossen hatte, nicht mit neuen Tendenzen herumzuexperimentieren – und das Gemeindeleben zurück in die gewohnten sowjetischen Bahnen zu lenken. 1994 fasste die Synode den Beschluss, das Wachstum der Laienorganisationen bzw. der Bruderschaften zu begrenzen und unterstellte sie rigoros den Kirchenvorstehern. Viele Bruderschaften mussten aufgelöst werden.

    In dieser Zeit begann auch die für das ideologisierte sowjetische Denken charakteristische Suche nach Feinden innerhalb der Kirche. Als erstes geriet die Gemeinde- und Katechesearbeit des Priesters Georgi Kotschetkow in die Schusslinie. Seine Widersacher bezeichneten ihn und seine Bewegung als Neo-Erneuerer, womit sie ihre kirchengeschichtliche Unwissenheit offenbarten, und versuchten, ihn als antikirchlich zu brandmarken. Eine offizielle Verurteilung seitens der Kirche konnten sie letztlich nicht erwirken – das Episkopat entschied, in der Angelegenheit zu schweigen. Doch seit jener Zeit besteht innerhalb der Kirche eine offene Spaltung in Liberale und Konservative.

    Bei aller Bedingtheit dieser Begriffe im kirchlichen Kontext bleibt es eine wesentliche Tatsache, dass die Liberalen über die Katechese-Praxis und die Rolle des Gottesdienstes im Gemeindeleben nachdachten, während die Konservativen die althergebrachte Praxis als unabänderlich und nicht verhandelbar betrachteten. Sie sahen daher ihre Hauptaufgabe darin, sich in den gesellschaftlich-politischen Raum zu begeben und eine rechtgläubige [sprich: orthodoxe – dek] Ideologie zu etablieren.

    Eine Zeitlang hielten sich die Kräfte die Waage. Das Episkopat war im Großen und Ganzen bemüht, in diesem Streit keine klare Position zu beziehen. Die Konservativen betrachteten sich als die Hüter des Glaubens und übten scharfe Kritik nicht nur an Laien und Priestern, sondern auch an Bischöfen (als einem der ersten – an dem heutigen Patriarchen, und dem damaligen Metropoliten von Smolensk und Kaliningrad, Kirill) für ihre „Abweichung vom orthodoxen Glauben“ und beschuldigten sie sogar der Häresie.

    Seit dem Jahr 2000 änderte sich die Situation allmählich, als sich nämlich die Regierung mehr und mehr vom demokratischen Modell entfernte und zunächst autokratische, und dann auch autoritäre Züge annahm. Im Zuge dieser Wandlung änderten sich die Prioritäten im Konzept der Wiedergeburt der Kirche schlagartig. Die erste Etappe war abgeschlossen, als die Arbeit mit den Gemeindemitgliedern in den Hintergrund trat und das Zusammenwirken von Staat und Kirche zur zentralen Aufgabe wurde. Konkret ging es um

    1) die Herausbildung einer neuen Identität durch das Predigen von Patriotismus und traditionellen Werten in voller Übereinstimmung mit der Innen- und Außenpolitik der Regierung und

    2) die Verwaltung von Grundbesitz sowie die Einwerbung von staatlichen Mitteln für Bau und Restaurierung von Immobilien.

    Gleichzeitig liefen Bürokratisierungsprozesse in der Kirche, neue Kirchenämter wurden geschaffen, der Dokumentenverkehr und die Zahl der Kirchenbeamten nahmen rasant zu.

    Eine neue Etappe war angebrochen – die Wiedergeburt der Kirche 2.0. Dabei kommt mit der Kirche des Imperiums ein mächtiger und klar umrissener Archetyp ins Spiel, der unmittelbar auf Byzanz verweist und auf das ganze Feld weltanschaulicher Positionen um die Ideen vom Orthodoxen Reich und vom Dritten Rom. In diesem Konzept liegt zum einen ein großes Mobilisierungspotential – die Orthodoxe Kirche fügt sich bündig ein in das System der postsowjetischen Staatsführung, und zwar an der Leerstelle, die zuvor von der Kommunistischen Partei besetzt war. Das war für jeden offensichtlich, selbst für die kirchenfernen Staatsbeamten. Zum anderen ist dieser Archetypus auf emotionaler und ideologischer Ebene sehr attraktiv für viele Kirchenmitglieder – sowohl Laien als auch Amtsträger –, die sich für die wortgetreue Auslegung der Ideen von der Heiligen Rus und Moskau als dem Dritten Rom begeistern.

    Das neue Imperium braucht gleichermaßen die Religion (als Form der Legitimierung einer nicht-demokratischen Regierung) wie auch die sowjetische Vergangenheit (als eine mythologische Zeit der großen Helden – darum ist auch der Tag des Sieges in den letzten Jahren zum wichtigsten Feiertag des Landes avanciert). Auch die Kirche bringt auf dieser Etappe durchaus ihre Sympathie für alles Sowjetische zum Ausdruck. Zum einen zeigt das ihre Solidarität mit der Staatsgewalt, zum anderen ist es ein Bekenntnis, dass die prosowjetischen Stimmungen innerhalb der Kirche sehr stark sind. Letzteres lässt sich durchaus erklären.

    Die Wiedergeburt der Kirche 1.0 war außerstande, die drängendsten Aufgaben der Kirche zu bewältigen: Die Massen-Taufen der 1990er Jahre haben die Menschen nicht auf eine bewusste Teilnahme am Gemeindeleben vorbereitet. Das belegen nicht nur soziologische Umfragen, sondern auch die Priester selbst. Bezeichnend sind hierfür die Beobachtungen des Bischofs von Smolensk und Wjasemski (heute Orechowo-Sujewsk) Panteleimon: „Anfang der 1990er Jahre gab es einen regelrechten Ansturm von Gemeindemitgliedern auf die Gotteshäuser … Die Menschen gingen damals nicht in die Kirche, sie stürmten sie buchstäblich. Leider blieben nur wenige dort, und die Zeit des aktiven Interesses am Gemeindeleben, der Verkirchlichung war relativ schnell wieder vorbei … Der Anteil derjenigen, die am Sonntag in die Kirche gehen, macht nach meiner Einschätzung höchstens ein Prozent der Landesbevölkerung aus.“

    Abgesehen von den Besucherzahlen der Kirchen, ist auch Folgendes zu erwähnen: Die sowjetischen Menschen empfingen zwar die Taufe, aber sie erlangten kein Wissen über die Grundlagen des Glaubens. Die Kirche nahm sie so auf, wie sie waren, und ging davon aus, dass die Verkirchlichung von alleine geschehen würde, auf einem irgendwie gearteten „natürlichen“ Weg. Aber in der überwältigenden Mehrheit empfanden die sowjetischen Menschen keinerlei Bedürfnis sich zu ändern, sie blieben genau so, wie sie waren … Veränderungen gab es freilich trotzdem: Es war die Kirche selbst, die durch die „Neugläubigen“ verändert wurde.

    Und in dieser Situation vollzog sich unbemerkt ein wesentlicher Wandel. Der wichtigste Appell, den die Kirche sowohl an den Einzelnen wie auch an die Gesellschaft als Ganzes gerichtet hatte, klang lange Zeit attraktiv: „Lasst uns die Traditionen wahren!“, „Die Missachtung von Traditionen ist gefährlich!“ Auf den ersten Blick geht es hier um einen gesunden christlichen Konservatismus, doch im russischen Kontext muss man unbedingt nachfragen: Welche Traditionen genau meinen wir?

    Riesige moralische und intellektuelle Anstrengungen sind im heutigen Russland nötig, um einen Blick tief in die Geschichte zu werfen – in die Zeit vor dem Oktoberumsturz, vor 1917, in die Geschichte des Russischen Reiches. Zu viel Zeit ist vergangen, zu viele Generationswechsel haben stattgefunden, zu viele Träger vorrevolutionärer Traditionen wurden bewusst vernichtet. Und so wird die Rückbesinnung auf kirchliche Traditionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unweigerlich zu einer Nachstellung historischer Ereignisse, zu einem Amateurtheater.

    Aus der Behauptung, die Traditionen des Christentums seien aus dem russischen Alltagsleben verschwunden und in Vergessenheit geraten, lassen sich zwei praktische Schlüsse ziehen:

    1) Man sollte sich auf die Suche nach einer noch erhaltenen lebendigen Tradition begeben.

    2) Es muss eine Basis geschaffen werden, auf der neue Traditionen wachsen können, die unseren heutigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen entsprechen.

    Als Christ ist diese Einsicht für mich besonders bitter, aber von einer lebendigen Tradition können in Russland nur diejenigen sprechen, die von der sowjetischen sprechen. Darin liegt das eigentliche Geheimnis der Anziehungskraft von allem, was mit der Sowjetunion und der kommunistischen Vergangenheit zu tun hat, nicht nur für die Rentner, sondern auch für die Jugend. Das heutige Gepäck Russlands – kulturell, geschichtlich, gesellschaftlich, philosophisch und religiös – besteht nicht in der Vielfalt, sondern in einer einzigen lebendigen Tradition, an die sich alle erinnern, die alle kennen und die alle an ihre Kinder weitergeben können. Das ist die sowjetische Tradition. Und ihre triumphale Wiederkehr in den letzten Jahren – sie ist das Eingeständnis, dass in Russland nichts anderes übrig geblieben ist.

    So wurde die Wiedergeburt der Kirche 2.0 zu einem zentralen Element bei der Herausbildung einer postsowjetischen Zivilreligion, die dem Staat als ideologische Stütze dient. Und das hat Formen und ideologische Konstruktionen maßgeblich vorgezeichnet, die für das geltende Modell staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung tragend sind.

    Obwohl sich die Kirche nicht auf die schöpferische Erschließung der zeitgenössischen Kultur konzentriert hat, sondern auf die Anrufung der Vergangenheit, die Rekonstruktion von Praktiken des 17.–19. Jahrhunderts, ist einiges für den Weg nach vorn getan worden. Der Historiker Alexej Beglow erkennt an dieser Stelle: „Es geht hier nicht um die mechanische Wiederherstellung von etwas einst Verlorengegangenem, sondern um einen Prozess der Inkulturation, um ein schöpferisches Eintreten der Kirche in die zeitgenössische – moderne und postmoderne – Kultur Russlands und aller Staaten des postsowjetischen Raums.“ Dass die Kirche nicht die richtigen Worte gefunden hat, um das zu erklären, ist eine andere Sache.

    Warum ist dann die Wiedergeburt der Kirche abgeschlossen? Die Wiedergeburt oder auch die Renaissance der Kirche markiert eine Übergangsperiode, eine Zeit der Unbestimmtheit. Die Wahl zugunsten der Kirche des Imperiums ist bereits getroffen, und die entsprechenden kirchlichen Formen und Institutionen sind geschaffen. Gut möglich, dass man die neue historische Phase der Orthodoxie in Russland genau so wird bezeichnen können – als neoimperal, oder vielleicht sogar als neosowjetisch.

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  • Aus der Tiefe

    Aus der Tiefe

    „Szenen aus der Tiefe“ – so lautet der Untertitel von Maxim Gorkis berühmtem Theaterstück „Nachtasyl“ (1902). Gorkis Helden sind allesamt einmalige, einprägsame Charaktere, die unter fürchterlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft ein Leben ohne Zukunft führen. Auch heute sind Außenseiter und Obdachlose im russischen Alltag sehr präsent. Maria Tarnawskaja tauchte in St. Petersburg an den Grund und spürte ihrem Schicksal nach.

    Es ist drei Uhr nachmittags an einem Dienstag, ich stehe in einem kleinen Park bei der Metrostation Tschkalowskaja. Vor mir hocken zwei Männer gekrümmt auf allen Vieren und übergeben sich direkt auf meine Schuhe.

    Das sind Wladimir Leonidowitsch und Dima, sie sind 56 und 27 Jahre alt, vor einer Stunde haben wir uns zum ersten Mal im Leben gesehen und vor fünf Minuten die Kantine verlassen, wo ich sie zum Mittagessen eingeladen habe.

    Wladimir Leonidowitsch und Dima sind obdachlos. Wladimir mit zehnjähriger Erfahrung: Er ist gebürtiger Moskauer, wuchs im Viertel um die Patriarchenteiche auf, die Eltern starben, er heiratete ein junges Mädel, reiste für längere Zeit dienstlich nach Sibirien, die Frau war, wie sich herausstellte, ein Luder und brachte es während seiner Abwesenheit irgendwie fertig, ihn aus der Wohnung abzumelden, sie zu verkaufen und sich in unbekannte Richtung abzusetzen.

    Dima ist erst im Januar zu Wladimir Leonidowitsch gestoßen, als dieser sich dank einer glücklichen Fügung mit seinen Leuten zerstritten und beschlossen hatte, lieber komfortabel im Wartesaal des Moskauer Bahnhofs zu übernachten – dank Beziehungen brauchte er ein paarmal im Monat nur die Hälfte oder überhaupt keinen Eintritt zu bezahlen. Dima war ihm sofort aufgefallen: Er war der einzige, der nicht lag, sondern saß. Aber er saß so kerzengerade da und riss die Augen so unnatürlich auf, dass Wladimir Leonidowitsch sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei, worauf er zur Antwort bekam: „Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts.“

    Der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima

    Das erwies sich als die reine Wahrheit – der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen und nicht einmal seine Lieblingsfarbe oder sein Lieblingsessen. Er hatte keinerlei Papiere, Fahrscheine oder sonstige Dinge bei sich. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima, „nach dem einsamen Mammutkind aus dem Zoologischen Museum, über das sie sogar einen Trickfilm gedreht haben“, und beschloss, dass Dima 27 ist.

    Sie waren auf der Polizei, wo man allerdings noch nie etwas von einer Suchdatenbank gehört hat; Foto und Fingerabdrücke einer Person werden mit einem lokalen, ebenfalls unvollständigen Fahndungskanal abgeglichen – und da sollte man besser gar nicht auftauchen, weil der hauptsächlich für die Suche nach flüchtigen Verbrechern gedacht ist.

    Jetzt bleiben die beiden immer zusammen: Dima hat Angst, sich zu verlaufen und sein neues Gedächtnis zu verlieren, und Wladimir Leonidowitsch hatte in seinem früheren Leben zwar Literatur unterrichtet, wollte aber immer Psychologe werden. Dima ist sein idealer Gefährte – es sei hochinteressant, zu entschlüsseln, wer er sei, und gleichzeitig aus ihm einen neuen Menschen zu machen. „Dima ist meine Galateia, Tscheburaschka, mein Sancho Panza, mein Freitag und Doktor Watson“, sagt Wladimir Leonidowitsch stolz über seinen Freund.

    Die Notschleshka (ru. für „Nachtasyl“) bietet Chancen, Gemeinschaft und ein Bett – Foto © Alexej Loschtschilow
    Die Notschleshka (ru. für „Nachtasyl“) bietet Chancen, Gemeinschaft und ein Bett – Foto © Alexej Loschtschilow

    Und jetzt reiern mir die beiden auf die Schuhe. Ich hoffe, dass sie einfach zu viel gegessen haben. Denn Wladimir Leonidowitsch hat zwei Suppen, Hering im Pelzmantel, Frikadellen mit Kartoffelpüree, Teigtaschen und ein Stück Sandkuchen genommen, und Dima hat ihm alles nachgeplappert. Ich hatte noch gedacht, es könnte in Anbetracht ihrer körperlichen Konstitution zu viel des Guten sein – beide sind eher klein, dünn, hager –, sagte aber nichts, um nicht als geizig dazustehen, und ich wollte sie auch nicht in Verlegenheit bringen. Wladimir Leonidowitsch hatte mich gestern angerufen: „Ich habe Sie neulich gesehen, Sie suchen Obdachlose, weil Sie sehen wollen, wie wir leben – ich bin bereit, mich mit Ihnen zu treffen.“

    Als er nicht mehr erbricht, blickt mich Wladimir Leonidowitsch von unten an, wischt sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und sagt: „Der Sandkuchen war zu viel. Dafür darfst du mich jetzt Wolodja nennen.“

    Vor ein paar Tagen habe ich mich tatsächlich nach Obdachlosen umgesehen und damit im Nachtasyl der 1990 eröffneten Wohltätigkeitsorganisation Notschleshka begonnen. Die städtische Liegenschaftsverwaltung KUGI vermietet ihnen das baufällige Gebäude zu sozialen Sonderkonditionen, das ist ein Fünftel des eigentlichen Preises, aber auch noch durchaus beträchtlich. Die Energie- und Wasserversorger Lenenergo und Wodokanal gewähren keinen Rabatt. Renoviert hat man selbst: Das Baumaterial wurde von hilfsbereiten Organisationen gebracht, was noch fehlte, kaufte man, und nicht nur Profis, sondern auch die Bewohner waren aufgefordert, das Dach neu zu decken und die Zimmer zu streichen.

    Kleines Päuschen im Hof der Notschleshka nach getaner Arbeit – Foto © Alexej Loschtschilow
    Kleines Päuschen im Hof der Notschleshka nach getaner Arbeit – Foto © Alexej Loschtschilow

    „Es ist überaus wichtig, dass man Leute von der Straße in einen sozialen Kontext einbezieht. Obdachlose verlieren ziemlich schnell ganz normale Fähigkeiten: Verantwortung für etwas zu übernehmen, etwas zu vereinbaren – sie brauchen das nicht. Auf der Straße sind andere Fertigkeiten gefragt: Wichtig ist, dass man sich bei Minus zwanzig richtig anzieht und mit zwei Stunden Schlaf am Tag auskommt“, erzählt der Leiter der Notschleshka Grigori Swerdlin.

    Grischa ist 36 und arbeitet schon ein Drittel seines Lebens hier. Sein Arbeitstisch steht in der Mansarde des Heims neben denjenigen der Fundraiser und Geschäftsführer. Insgesamt sind sie zusammen mit den Sozialarbeitern, Psychologen, Juristen, Verwaltungsmitarbeitern und Fahrern zwanzig Leute. Alles angenehme, lächelnde, charmante Menschen mit höherer Bildung, allesamt um die dreißig. Ihre Schützlinge sind durchschnittlich fünfundvierzig, zwei Drittel von ihnen männlich.

    Die Obdachlosen kommen jeden Tag ins Haus an der Borowaja. Die Sozialarbeiter hören jedem zu und versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen: Der eine braucht einen einfachen Rat, ein anderer juristische Hilfe, und manche sind es einfach müde, auf der Straße zu leben. Mit letzteren stellen die Sozialarbeiter eine Art Betreuungsplan auf, in dem sie Punkt um Punkt vereinbaren, was in den nächsten Monaten zu erledigen ist: einen neuen Pass besorgen und sich temporär in der Notschleshka anmelden, eine Arbeit finden, ab dem zweiten oder dritten Gehalt ein Bett in einem Wohnheim oder ein Zimmer mieten – langsam, Zentimeter um Zentimeter, wieder hochkommen.

    Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher

    „Obdachlose lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen“, sagt Grischa. „Am häufigsten hängt die Obdachlosigkeit mit Familienangelegenheiten zusammen: eine Wohnung wurde nicht aufgeteilt, ein Mann verlässt seine Frau ins Nichts, dazu kommen schauderhafte Geschichten von herangewachsenen Kindern, die ihre eigenen Eltern rauswerfen. Die zweite Gruppe sind Abgänger aus Waisenhäusern. Die haben gesetzlichen Anspruch auf Wohnraum, viele werden aber betrogen oder haben einfach keine Ahnung, wie man Geld verdient oder einen Haushalt führt, sie kennen die Preise von Dingen nicht. Wir hatten hier einen Jungen, der sein Zimmer verspielt hat, an Spielautomaten , weil er davon ausging, dass man ihm nach dem ersten auch ein zweites Zimmer geben würde, wie vorher. Die dritte große Kategorie sind Opfer von Wohnungsschwindlern. Eine Wohnung wiederzubekommen, gelingt uns höchstens fünfmal im Jahr, meistens ist alles so verworren, dass es unmöglich ist, die Immobilie zurückzukriegen.“

    Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher. Oder Leute aus der Provinz, die zum Geldverdienen in die Großstadt fahren, und dann geht etwas schief, die Papiere kommen abhanden, es gibt keinen Ort zum Schlafen und man schämt sich, nach Hause zurückzukehren oder wenigstens anzurufen und zu sagen, dass man in Not geraten ist.

    Ein Leben auf zwei Quadratmetern: Mit ihren wenigen Habseligkeiten richten sich die Obdachlosen ihre Schlafstatt in der Notschleshka ein – Foto © Alexej Loschtschilow
    Ein Leben auf zwei Quadratmetern: Mit ihren wenigen Habseligkeiten richten sich die Obdachlosen ihre Schlafstatt in der Notschleshka ein – Foto © Alexej Loschtschilow

    „Ja, merkwürdigerweise schämen sich die Leute vor ihrer Familie über ihren Misserfolg.“ Die Sozialarbeiterin Valentina Marjanowa sieht aus wie eine Absolventin des Smolny-Instituts für höhere Töchter: graues Haar, Hochsteckfrisur, aufrechte Haltung, Anstand, Brosche. „Sie kennen nicht mal ihre Grundrechte. Doch leider sind wir gezwungen zu wählen: Wenn wir ein freies Bett haben, wählen wir zwischen einem Anwärter, der vor fünf Jahren auf der Straße gelandet ist, und einem, der seit drei Monaten auf der Straße lebt, den letzteren – die Wahrscheinlichkeit, dass er zu einem normalen Leben zurückfindet, ist sehr viel größer.“

    Sie helfen auf jede erdenkliche Weise, geben einen Platz in einem Gemeinschaftszimmer, Kleidung, Essen, schicken die Leute zum Arzt, holen zusammen Stempel und Unterschriften ein, sorgen für Unterhaltung: Einmal im Monat gibt es einen Ausflug in die Eremitage, Konzerte werden organisiert, in der Bibliothek gibt es viele gute Bücher, und dort stehen auch drei Computer und ein Fernseher mit einer Filmsammlung.

    Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle

    Durchschnittlich bleiben die Leute fünf Monate in der Notschleshka – das ist gewöhnlich lange genug, um in jeder Hinsicht zu Kräften zu kommen. Wer keinen Umbruch seiner Situation herbeizuführen versucht und das Heim stattdessen als Umschlagplatz missbraucht, wird mehrmals ermahnt und schließlich weggeschickt, damit ein Platz für einen motivierten Obdachlosen frei wird.

    An solchen mangelt es nicht. Einer von ihnen kam vor vier Jahren in miserablem Zustand zu einer der Aufwärmestellen, die die Notschleshka den Winter über an mehreren Stellen in der Stadt einrichtet. Er meldete sich im Heim an. Besorgte sich neue Papiere, fand Arbeit, mietete sich eine Schlafstatt, sparte genug für einen kleinen LKW. Begann, Transporte durchzuführen, heiratete eine Ärztin aus der staatlichen Übernachtungsstelle Dom notschnowo prebywania. Unterdessen haben sie mit einem Kredit eine Wohnung gekauft.

    Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle.

    Witali ist 28, er kommt aus dem Verwaltungsgebiet Nishni Nowgorod. In St. Petersburg fand er Arbeit als Schießtrainer und lebte in einem Hostel. Dann stahl man ihm die Tasche mit Geld, Sachen, Papieren – und Witali landete auf der Straße. Am Bahnhof warb ihn eine Organisation an, die ihm versprach, bei der Besorgung neuer Papiere und einer Arbeit zu helfen.

    Letztlich arbeitete Witali ein paar Monate als Lastenträger. Nach der Trillerpfeife aufstehen, nach der Trillerpfeife schlafengehen, zum Frühstück Brei, zum Mittagessen eine dünne Suppe, zum Abendessen eine Kinderportion von etwas Undefinierbarem. Weder Geld noch Papiere, nur Versprechen. Als er gehen wollte, bedrohten sie ihn. Und als er sich schwer am Bein verletzte, jagten sie ihn weg.

    In der „Notschleshka“ ist er seit zwei Tagen: Er war schon beim Arzt, hat einen Pass beantragt und sich in der Bibliothek Anna Karenina, Die Stechfliege und Das Ende einer Utopie: Aufstieg und Zusammenbruch der Finanzpyramide ausgeliehen.

    Katerina ist von ihren Cousins aus der Wohnung geworfen worden

    Katerina ist von ihren Cousins, mit denen sie viele wunderbare Erinnerungen an Sommer, Erdbeeren und frischgemolkene Milch verbindet, aus der Wohnung geworfen worden. Die Großmutter, bei der Katerina von klein auf gelebt hat, hatte zwei Testamente hinterlassen: die Wohnung war für Katerina, das Haus und Grundstück außerhalb der Stadt für die Cousins. Ins Testament für die Cousins hat sich das Wort „sämtlich“ eingeschlichen, statt „Hausbesitz“ hieß es dort „sämtlicher Hausbesitz“. Und die Cousins konnten beweisen, dass sich „sämtlicher Hausbesitz“ auf das ganze unbewegliche Vermögen bezog, also auch auf die Wohnung. Katerina schubsten sie einfach zur Tür hinaus.

    Laut Statistik gab es im letzten Jahr in St. Petersburg 60.000 Obdachlose. Mit jedem Jahr werden es mehr. Und jedes Jahr ändert sich die Belegschaft – das bedeutet, dass Menschen sterben, verschwinden, und an ihre Stelle treten andere. Dieser gruselige Umstand fällt besonders Igor, dem Fahrer des Busses der Notschleshka, auf: Jeden Abend fährt er zusammen mit Freiwilligen warme Mahlzeiten in die vier Bezirke, mit deren Verwaltungen Vereinbarungen getroffen werden konnten, und versorgt dort Obdachlose mit Essen.

    Der Bus heißt zwar Nachtbus, eigentlich ist er aber abends unterwegs: Die erste Station ist um sieben Uhr am Rangierbahnhof, die letzte um halb elf am Bahnhof Nowaja Derewnja. Das Essen wird von Kantinen, Cafés und Restaurants kostenlos zubereitet. Jeden Tag gibt es einen Eintopf auf Fleischbasis, süßes Gebäck und Tee.

    Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten. Wie sie im Winter neben Essen auch warme Mützen verteilten und ein junger Kerl gleich mehrere unterschiedliche haben wollte, um in dem Haus, das er sich zum Überwintern gesucht hatte, nicht die Aufmerksamkeit der Wachfrau zu erregen. Wie manchmal Verlage der Notschleshka Bücher spenden und sie immer sofort weg sind – nicht um Papirossy zu drehen, sondern wirklich zum Lesen. Wie ein sehr bescheidener Obdachloser plötzlich Nachschlag wollte und sich herausstellte, dass er drei Kätzchen zu sich genommen hatte, die auch etwas zu essen brauchten.

    Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten

    Das Publikum unterscheidet sich von Haltestelle zu Haltestelle. Am Rangierbahnhof sind es größtenteils Alkis. Im Bezirk Ligowo kommen nicht nur Obdachlose, sondern auch Rentner, die zwar eine Wohnung haben, aber unterhalb der Armutsgrenze leben.

    Auf der Wassiljewski-Insel gibt es viele Punks und Alternative – sogenannte Neformaly. Und in Nowaja Derewnja Kranke, Behinderte und Heimkinder. Überall geht das Abendessen äußerst höflich vonstatten: Man bildet eine Schlange, lässt die Frauen vor, führt gepflegte Gespräche, bedankt sich für das Essen, sammelt die gebrauchten Teller in eine Tüte und bringt sie zum Müllcontainer. Betrunkene gibt es zwar, aber nicht sehr viele, und die verhalten sich ruhig. Im Grunde sehen alle so aus, dass sie in einer Menschenmenge nicht sehr auffallen würden – wie ganz normale Menschen.

    Bei der Suppenküche trifft sich ein buntes Völkchen – Foto © Alexej Loschtschilow
    Bei der Suppenküche trifft sich ein buntes Völkchen – Foto © Alexej Loschtschilow

    In Nowaja Derewnja hält der Bus an einer Nachtunterkunft mit einem Malteser-Zelt davor. In einem kleinen Raum hängt ein strenger männlicher Geruch, hier wohnen sechs oder sieben Menschen, zwei von ihnen haben keine Beine. Der Zimmer-Chef ist Wassili, ein sehr sympathischer Mann, der Anfang der 1990er im Gefängnis landete, und als er rauskam, war es, als hätte es ihn nie gegeben: Er tauchte in keiner Datenbank auf, keinem Dokument, weder beim Standesamt noch bei seinen ehemaligen Arbeitgebern noch in der Poliklinik – nirgends. Seitdem versucht Wassili zu beweisen, dass es ihn gibt, doch die Sache läuft schleppend.

    Von Beruf ist Wassili Schneider, aber jetzt beschäftigt er sich mit etwas ganz anderem: Zusammen mit den Obdachlosen hat er eine Genossenschaft zur Herstellung von Birkenwaren gegründet. Er ist sehr geschickt darin, Ikonen, Ausweishüllen und märchenhaft verzierte Schatullen aus Birkenrinde zu fertigen. Wassili ist verantwortlich für Gestaltungskonzept und Ästhetik, seine Kumpel für die kleineren, aber wichtigen Arbeiten – Igor, einer der Invaliden kann zum Beispiel sehr gut kleben, ist schnell im Flechten. Igor hat seine Beine unlängst im Donbass verloren, doch darüber will er nicht reden.

    Ich gebe allen einfach so meine Telefonnummer, vielleicht entschließt sich jemand, in einem anderen Rahmen mit mir zu sprechen. Und ein paar Tage später bekomme ich tatsächlich einen Anruf – von Wladimir Leonidowitsch, der nun mit dem gedächtnislosen Dima im Park an der Metrostation Tschkalowskaja vor mir kniet. „Wir sollten uns erst mal ausschlafen“, sagt Wladimir Leonidowitsch. „Wir können uns dann morgen treffen.“ Geld für das Ticket lehnen sie ab und verschwinden in der Metro.

    Die eine betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld

    Am nächsten Morgen gehen wir ins Botkinski-Krankenhaus, wo es eine Erste Hilfe eigens für Obdachlose gibt. Hier ist alles wie im Bilderbuch: Es versammeln sich Obdachlose, auf die schon eher der Begriff Penner, Bomsh, passt – mit eingeschlagenem Schädel, faulenden Gliedern, pilzschwarzen Nägeln, ausgeschlagenen Zähnen, eingedrückten Augen und umgeben von schwerem Gestank nach billigem Sprit, Dreck und Fäkalien. Diese Patienten machen etwa die Hälfte aus, die andere Hälfte – Obdachlose, die aussehen wie der Durchschnittsrusse – gehen in dieser Menge lebender Bruegel-Figuren schlichtweg unter.

    Die eine Krankenpflegerin betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld. Sie geht zwischen ihnen hin und her, trägt bei dem einen eine Salbe auf, gibt einem anderen eine Tablette. In der hintersten Ecke sitzt ein schmächtiger Jugendlicher mit blutverschmiertem Gesicht. Wladimir Leonidowitsch steuert geradewegs auf ihn zu.

    „Hier, eine Geschichte für Sie“, sagt er und deutet auf den jungen Mann. „Darf ich vorstellen – Wladik, desertierter Soldat.“ Vor Entsetzen werden Wladiks graue Augen schwarz, er springt auf, will die Flucht ergreifen, aber Wladimir Leonidowitsch packt ihn geschickt am Kragen und flüstert ihm ins Ohr: „Keine Angst, du Depp, hat doch niemand gehört, wir verraten dich nicht, ist für die gute Sache.“ Nicht sofort, aber bald, entspannt sich Wladik, kommt mit uns nach draußen, bittet uns, ihn weder bei seinem Namen noch reale Orte zu nennen und auch sein Äußeres nicht zu beschreiben.

    Das Reden fällt Wladik schwer, er ringt mit den Worten: „Vor vier Jahren hat mich der Kompanieälteste im Suff vergewaltigt und mir befohlen zu schweigen, dann hat er mich nochmal vergewaltigt und mich gezwungen, ihm die Stiefel zu lecken. Ich hab’s nicht ausgehalten, bin weggerannt. Hab mich im Wald verlaufen, Wölfe und Bären gesehen, einmal habe ich die abgefressene Leiche eines Jägers gefunden und mir sein Gewehr geschnappt, ging sofort leichter mit der Essensbeschaffung. Dann bin ich auf eine Bahnstrecke gestoßen, durchs ganze Land bis nach Petersburg gefahren. Habe immer davon geträumt, es einmal zu sehen. Jetzt bin ich hier, was ich tun soll, weiß ich nicht, wahrscheinlich buchten sie mich ein als Vaterlandsverräter. Zum ersten Mal seit zwei Jahren habe ich meine Mutter angerufen, die ist am anderen Ende in Ohnmacht gefallen. Dann kam meine Schwester ans Telefon, ich sag zu ihr: ‚Ljuba, ich bins, ich bin am Leben.‘ Sie hat geweint und geantwortet: ‚Ich rufe gleich die Polizei! Wir haben Wladik vor zwei Jahren in einem geschlossenen Sarg beerdigt. Er ist bei Übungen umgekommen! Wer bist du?!‘ Wobei ich gehört habe, dass sie mich an der Stimme erkannt hat. Aber am meisten mache ich mir Sorgen, dass ich jetzt schwul bin.“

    Dima hört mit offenem Mund zu. Genau wie ich. Wladik verstummt. Wladimir Leonidowitsch holt aus seiner Tasche ein iPhone 5 und schaut nach, wie spät es ist. Als er meinen verwirrten Blick bemerkt, sagt er: „Ach das … Komm, ich zeigs dir. Ich hab es ehrlich gegen eine Uhr getauscht, und die Uhr habe ich gefunden.“

    Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren

    Wir gehen über den Apraschka, und ich verliere inmitten dieses orientalischen Basars vollkommen die Orientierung: Gassen, Korridore, Lagerräume – nie im Leben würde ich den Ort, zu dem wir jetzt gehen, wiederfinden. Wladimir Leonidowitsch scheint sehr zufrieden: „Gut, dass du dir nichts merken kannst, dann bleiben wir heil. Überhaupt, sei vorsichtig beim Schreiben. Keine Namen, Adressen, Behörden, und versuch gar nicht erst Fotos zu machen. Dir ists egal, aber wir müssen so leben. Irgendeine kleine Beamtin Anna Iwanowna könnte ihren Namen in deinem Artikel entdecken und wütend werden. Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren. Aber wegen diesen kleinen Häkchen führen sie sich auf wie die Lenker des Schicksals. Und wenn sie morgens Streit mit ihren Mann hatte, diese kleine Sadistin, kann ich meine Bescheinigung erstmal vergessen.“

    Wir bleiben vor einer Tür zu einem Halbkeller stehen. Wladimir Leonidowitsch sagt: „Den Mann hier nennen wir mal Hasan“, und klopft ein Geheimzeichen an die Tür. Ein paar Sekunden später macht uns ein orientalisch aussehender Mann auf. Die Szene gleicht eins zu eins der Episode mit dem Nazi im Film Brat-2. Der Orientale sieht mich ohne zu blinzeln an und fragt: „Wer ist das?“ „Sie gehört zu uns“, entgegnet Wladimir Leonidowitsch. Der Orientale zieht eine Augenbraue hoch, wiegt den Kopf, aber gibt die Tür frei und lässt uns herein.

    Im flackernden Licht trüber Glühbirnen öffnet sich vor mir Ali Babas Höhle 2.0. Berge von iPhones und Tablets, ausgeschüttete Ray-Ban-Brillen, die coolsten Bikes – das verlorene, oder besser: das gestohlene Hipster-Paradies. Irgendwo hier steht mit Sicherheit auch das Fahrrad meines Bekannten, das ihm vor ein paar Tagen vor der Tür einer angesagten Bar geklaut wurde. Hasan hält mir ein iPhone mit einem holographischen Kätzchen-Aufkleber hin: „Hier, gehört dir, wenn du willst. Dreitausend.“ Ich will nicht, aber Wladimir Leonidowitsch streckt Hasan eine kleine Tüte entgegen. Der wirft einen Blick hinein und gibt ihm zum Tausch ein iPad.

    Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen

    Am nächsten Tag laufe ich mit Wladimir Leonidowitsch und Dima durch die Randbezirke. Wladimir Leonidowitsch erzählt mir von den vielen Obdachlosen, die in die Fänge von Zigeunern, Dagestanern, Landwirten und Organisationen geraten, die sich als „Rehabilitationszentren“ ausgeben. Die kenne ich bereits: In Igors Nachtbus habe ich Dutzende Visitenkarten gesehen, bedruckt mit orthodoxen Kreuzen und hübschen Stadtansichten, und auf jeder von ihnen ein Spruch wie: „Dein Weg in die Freiheit!“, „Werde ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft!“, „Arbeit, Wohnung, Zukunft!“, „Der Beginn deines Siegeszugs!“

    Die Namen der Organisationen unterscheiden sich nur unwesentlich von den Slogans: Lebenslinie, Perspektive, Land der Zukunft – Dutzende gibt es davon. Ihre Autos warten direkt an den Haltestellen des Nachtbusses. Als ich mit Igor unterwegs war, bin ich einmal hingegangen, um mit einem von ihnen zu sprechen. Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen.

    „Die Rechnung ist simpel“, klärte Igor mich danach auf. „Sie sammeln Hunderte von Leuten ein, stecken sie wie die Schweine in Scheunen oder Baracken und fahren sie jeden Tag zum Bau, zum Verladen und zu anderen Arbeiten. Sie füttern sie mit Versprechungen über Pässe und Geld, aber nichts davon passiert, sie kassieren nur das Geld von den Auftraggebern. Die Arbeit eines Menschen bringt im Durchschnitt 1.000 Rubel pro Tag. Du kannst dir selbst ausrechnen, wie viel das zusammen macht, wenn in einer Baracke rund 500 Menschen leben. Kein schlechtes Business, oder?“

    An einem der nächsten Tage gehe ich zu einer der vielen Banjas, die im Branchenbuch für Obdachlose aufgeführt sind. Heute ist ermäßigter Eintritt – Baden zum Preis von zwanzig Rubel. Die nette Frau am Telefon sagt mir, sie verstehe natürlich, dass es in der Stadt viele Mittellose gebe, und wer in annehmbarem Zustand komme, den lasse man nicht nur sich, sondern auch seine Wäsche waschen.

    Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat

    Am Abend des ermäßigten Tages wird der Waschraum von oben bis unten desinfiziert. Ich setze mich auf die Bank am Eingang und beobachte die Leute. Aus der Tür kommt eine reizende kleine Alte, ich habe sie schon an der Nachtbus-Haltestelle auf der Wassiljewski-Insel gesehen. Reingewaschen, rotwangig und mit frisch hennagefärbten Haaren. Ich komme leicht mit ihr ins Gespräch, offenbar freut sie sich über jedes Gramm Aufmerksamkeit. Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat.

    Nicht nur Galinas Sohn wurde auf dem Friedhof in Kolpino bestattet - täglich werden hier Unbekannte beerdigt — Foto © Alexej Loschtschilow
    Nicht nur Galinas Sohn wurde auf dem Friedhof in Kolpino bestattet – täglich werden hier Unbekannte beerdigt — Foto © Alexej Loschtschilow

    Die Geschichte der alten Frau ist die herzzerreißendste, die ich in der letzten Zeit gehört habe. Die Frau heißt Galina, hat früher als Buchhalterin in Jekaterinburg gearbeitet, lebte mit ihrem Mann und den Söhnen in einer Dreizimmerwohnung. Ihr Mann, ein passionierter Wettangler, starb an einem Herzinfarkt, kurz vor Silvester 2006, direkt über seinem Eisloch. „Alle haben dagesessen, auf Fische gewartet, und niemand hat mitbekommen, dass er tot ist. Erst am nächsten Tag, als sie wiederkamen und sahen, dass er immer noch dasaß.“

    Ein halbes Jahr später, im Sommer, verschwand der jüngste Sohn, Galinas Liebling. Hatte gesagt, er würde für ein paar Tage zu Freunden fahren, und kam nicht wieder. Mehrere Monate suchte Galina nach ihm, lag mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus, schickte eine Suchanzeige in die Sendung Warte auf mich, ging zu Hellsehern – vergebens. Dann erinnerte sie sich, dass er immer von St. Petersburg geträumt hatte, aber sie ihn nie hatte gehen lassen. Sie ließ alles stehen und liegen, kam hierher, klapperte sämtliche Polizeireviere und Leichenschauhäuser ab und fand ihn schließlich auf einem Foto, das den stark verstümmelten, verwesenden Körper eines „Unbekannten, etwa zwanzig Jahre alten Mannes“ zeigte, mit einer Nummer darauf, wie bei allen nicht identifizierten Toten. Ihr Sohn hätte eine charakteristische Narbe gehabt, „wie Harry Potter“ – daran habe sie ihn erkannt. Auf der Bescheinigung aus der Pathologie stand, dass er an einer schweren Vergiftung gestorben war, und dann, als er bereits tot war, von einem Auto, dessen Halter nicht ermittelt werden konnte, angefahren wurde.

    Galina machte sich auf die Suche nach dem Grab, das diese Nummer trug. Der Friedhof in Kolpino ist übersät mit gleichförmigen nummerierten Hügeln. Täglich werden hier Unbekannte beerdigt – Bomshi und solche, deren Identität aus irgendwelchen Gründen nicht festgestellt werden konnte. Am nächsten Tag sah sie, wie irgendwelche Eltern buchstäblich mit bloßen Händen die gefrorene Erde aufkratzten, um zu einem Sarg vorzudringen. Eben diese Menschen riefen den Krankenwagen, als Galina dort in Ohnmacht fiel. Nach einer Weile im Krankenhaus wurde ihr klar, dass sie keine Kraft hatte, ihren Sohn noch einmal zu bestatten. Sie rief ihren Ältesten in Jekaterinburg an, der sagte: „Oh, hallo Mama! Hast du mich doch nicht ganz vergessen! Übrigens, ich habe dich aus der Wohnung abgemeldet“, und legte auf.

    Der Friedhof ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses

    Galina blieb in St. Petersburg, ihr Pass ging verloren, sie zog auf den Friedhof – das ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses. Die Bewohner haben Mitleid mit ihr und vertreiben sie nicht.

    In der Grabkammer ist es auf ganz eigene Art heimelig: In einem Glas stehen ein paar Blumen, auf der Grabplatte ist eine verhältnismäßig frische Tischdecke ausgebreitet, darauf alte Ausgaben der Zeitschriften Sem dnej [Sieben Tage] und Cosmopolitan. In der Ecke liegt eine ordentlich zusammengerollte Matratze.

    Galina schlägt vor, auf „den Seelenfrieden der Entschlafenen“ zu trinken, ich lehne so delikat wie irgend möglich ab. „Rate mal, wie alt ich bin?“, fragt Galina zum Abschied. Ich will ihr ein Kompliment machen und sage „60“, obwohl ich sie auf knapp 70 schätze. Galina seufzt traurig: „56.“

    Am Tag darauf ruft mich ein gewisser Fjodor an, ein paar Stunden später Sinaida, dann Roma, Shanna und noch jemand. So geht das einige Tage lang weiter. Alle wollen mir ihre Geschichte erzählen, laden mich ein zum Besuch auf eine Müllhalde, zu einer geheimen Abtreibung, zum Angeln oder zur Erdbeerernte. Jemand weint und schreit in den Hörer: „Versteh doch, wir sind auch Menschen! Nicht alle verstehen das! Versteh du es bitte!“ Ich stehe da und schweige.      

               

     

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  • Sprache und das Trauma der Befreiung

    Sprache und das Trauma der Befreiung

    Zum Jahresende ein nachdenklicher Longread. Was haben Deutschland und Russland aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen, mit all den Gräueln, die es beiden Ländern bereitet hat und die von ihnen ausgingen? Und wie prägt der Umgang mit diesem Erbe die russische Gegenwart und die Verhältnisse in Europa? Der Kulturhistoriker und Philologe Gasan Gusejnov, einer der originellsten Intellektuellen des heutigen Russland, betrachtet diese Fragen in ihrem sprachlichen Spiegel. In dem zieht wieder und wieder der Schriftzug von der „größten geopolitischen Katastrophe“ vorüber … Ein grundlegender Text, der den Geist einer Epoche einfängt und eine Fülle jener Themen berührt, die dekoder 2015 an den Start gehen ließen.

    Wir veröffentlichen Gusejnovs Aufsatz in einer Version des Literaturjournals NLO, die in Abstimmung mit dem Autor neu überarbeitet wurde.

    1.

    Nicht umsonst hat Platon zum Nachdenken über Sokrates’ Ausspruch aufgefordert, die erste und wichtigste Eigenschaft des Philosophen sei die Furchtlosigkeit. Wenn du nicht in Kauf nimmst, dass das Ergebnis deines Denkens dir ein Trauma zufügt (sei es ein seelisches oder ein äußerlich sichtbares), dann lohnt es sich gar nicht erst, damit zu beginnen. Doch auch die Umkehrung gilt: Jahrzehntelang totgeschwiegene Traumata und der einer Gesellschaft dadurch zugefügte psychische Schaden lassen die Menschen panisch werden, und in der Panik ballen sie sich zu Horden zusammen und kehren sich selbst von dem Wissen ab, das noch gestern, ungeachtet von Leid und Kränkung, mehr oder weniger von allen geteilt wurde.

    Wollte man lediglich die Kriegstraumata auflisten, die die seit Mitte des 20. Jahrhunderts geborenen oder aufgewachsenen postsowjetischen Generationen sich selbst zugefügt haben, so würde diese Liste in erster Linie die Langzeiterfahrung des Totschweigens und der Verdrängung erlebter nationaler Katastrophen verzeichnen.

    Das erste Totschweigen betrifft die Ausmaße der Verluste im Zweiten Weltkrieg. Für jeden Krieg bezeichnende und unvermeidliche Phänomene wie Gefangenschaft und Plünderei, Korruption und sexuelle Gewalt, Verrat und Betrug wurden unter ideologischen und künstlerischen Mythen begraben. Die äußerst seltenen erfolgreichen Versuche, unter dem Joch der Zensur hervorzukriechen, wurden durch Repression und psychische Traumata zweiter Ordnung unterbunden.

    Die durch die ebenso unangebrachte wie unqualifizierte Lenkung des Massenbewusstseins beim sowjetischen Menschen verursachten psychischen Traumata haben die Menschen so weit gebracht, dass sie aufgehört haben, das im Zuge der sogenannten Nachkriegskonflikte Erlebte als stark traumatische Erfahrung wahrzunehmen – das betrifft sowohl Konflikte außerhalb der Grenzen der UdSSR (der Krieg in Afrika und im Fernen Osten, die militärische Intervention in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und schließlich in Afghanistan 1979) als auch die im postsowjetischen Raum (der von 1991 bis 2009 andauernde Krieg im Kaukasus, die Kriege in Zentralasien, in Moldau und Transnistrien und seit 2014 in der Ukraine).

    Das traditionelle russische Verständnis von Geschichte als etwas, das mit der Vergangenheit und mit Volksmassen zu tun hat, und nicht als etwas, das in der Gegenwart von einzelnen Individuen erlebt wird, hat zu einer traumatischen Spaltung im Bewusstsein des sowjetischen Menschen geführt – einer Spaltung zwischen dem unmittelbar alltäglichen Selbstverständnis des Menschen und einem mit diesem Selbstverständnis nicht in Zusammenhang gebrachten Gesamtweltbild.

    Auf der persönlichen Ebene kann so jemand seinen Status, seine Ressourcen und Perspektiven zutreffend oder zumindest plausibel einschätzen und dabei selbst im Fall eines extrem geringen Selbstwertgefühls eine erstaunliche Gelassenheit bewahren. Geht es aber um den Platz seines Landes in der Welt, darum, wie die Führung des eigenen Staates beurteilt wird, geht es um die symbolische Bewertung seines Landes, dann kommt diesem Menschen das Maß abhanden, er wird zum Träger eines schimärischen geopolitischen Bewusstseins, dazu bereit, sich an die phantastischsten Verschwörungstheorien zu klammern.

    Die kulturelle Dimension dieser Spaltung oder, genauer gesagt, dieses sich vielfach wiederholenden Traumas, lässt sich auf eine äußerst einfache Formel bringen: Die Menschen haben ihre Toten nicht beweinen dürfen, und letzten Endes, in unserem konkreten Fall mit dem beginnenden Zerfall des sowjetisch-russischen Imperiums, kam ihnen die für ein erträgliches Zusammenleben unabdingbare Empathie abhanden, also die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen.

    Ein Beleg für diese Behauptung ist die hohe Wirksamkeit plumper Propaganda, der selbst die vergleichsweise gebildeten Schichten der Bevölkerung nicht imstande sind, zu widerstehen. Als wären es die eingefrorenen und wieder aufgetauten Melodien aus einem Rabelais-Roman oder die Geschichten von Baron Münchhausen, brechen auf den heutigen Russen ideologische Klischees von anderthalb Jahrhunderten herein, die man schon seinen Vorfahren aufgetischt hat, angefangen vom Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zu Stalins zehn Schlägen gegen das verendende Dritte Reich.

    Dieses ganze kakophone Getöse vermag allerdings nicht die zentrale, aufgestaute Kränkung zu dämpfen, die aus dem Begreifen der Tatsache resultiert, dass die Mehrheit der Nachbarn im Großen Europa sowie in einem beträchtlichen Teil Eurasiens die Ereignissen in der heutigen Russischen Föderation als den fortgesetzten Zerfall des Imperiums sieht und ganz und gar nicht als das Werden eines neuen freien und starken Staates.

    Man kann noch beliebig oft und beliebig laut erklären, das ist uns alles total egal. In Wirklichkeit liegt genau darin der Kern des Traumas – und es ist ganz und gar nichts total egal. Der Groll auf die anderen, seien sie real oder eingebildet, ist nichts weiter als eine Emotion, die das eigentliche psychische Geschwür verdeckt: die nicht vollzogene Beweinung der Toten.

    Es gab eine Zeit, in der man das noch hätte tun können. Doch der Reueton der Perestroika wurde als Schwächlichkeit verworfen. Viele waren der Ansicht, der wirtschaftliche Aufschwung würde sie ganz von allein der Notwendigkeit entledigen, sich mit den Traumata der Vergangenheit auseinanderzusetzen, die den Menschen von ihren eigenen Leuten zugefügt worden waren.  

    Doch diese Annahme erwies sich als Illusion, denn traumatische Erfahrung lagert sich in der Sprache ab. Werden die Schlüsselwörter nicht reflektierter Epochen in das Spiel einer neuen Zeit eingeworfen, befördern sie darum unvermeidlich, wie ein unglücklich geworfener Angelhaken einen alten Schuh, das ganze für immer auf dem Grund der Geschichte begraben geglaubte Material wieder an die Oberfläche.

    Wer von den Bandera-Faschisten der 1940er und der Kiewer Junta der 2010er Jahre anfängt, der muss damit rechnen, dass man ihn an den Holodomor der 1930er und den Emser Erlass der 1870er Jahre erinnert.

    Die Aktualisierung früherer Kränkungen verstärkt den Schmerz und verlagert das Trauma auf eine neue Ebene, nämlich in die Zukunft, denn der nächste Schritt besteht in der Rache an all denen, die vermeintlich verantwortlich sind für deine Kränkung. Und weil du das selbst ja nicht sein kannst, sind alle anderen schuld. Die Besonderheit der gegenwärtigen Rachepraxis liegt darin, dass ephemere Verwünschungen und Beleidigungen besonders lange haltbar sind.

    2.

    1967 erschien in Deutschland Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich1, eines der wichtigsten Bücher zum kollektiven Trauma der Deutschen und dessen Heilung, das die westdeutsche Gesellschaft vermutlich nicht weniger beeinflusst hat, als die Studentenrevolution von 1968. Dieses und weitere von den Eheleuten Mitscherlich sowie von Alexander Mitscherlich allein verfasste Bücher besaßen die erforderliche Sprengkraft, um die Mauer des Schweigens einzureißen, die die kaum erst ins aktive Leben eingetretene erste Nachkriegsgeneration und ihre stumm gewordenen Eltern trennte. Paradoxerweise wurde die Verständigung der Generationen um den Preis eines lautstarken und für viele endgültigen Bruchs mit der Vergangenheit erreicht. Dieser Bruch verhalf den Deutschen zu einer gemeinsamen politischen Sprache, und diese Sprache wurde zur Sprache der westdeutschen Zivilgesellschaft, in der der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede 1985 den 8. Mai 1945 zum ersten Mal als Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnete und damit die Bedeutung dieses Tages für sein Land definierte. Bis zu dieser heute allgemein gültigen deutschen Formel mussten 40 Jahre vergehen.

    Die „Befreiung“, von der Weizsäcker sprach, und die „Trauer“, von deren Notwendigkeit die Mitscherlichs gesprochen hatten, wurden zu Schlüsselbegriffen eines langen historischen Weges. Man kann die Befreiung nicht verstehen, solange nicht die ganze Trauer ausgedrückt ist. Aber trauern muss man lernen.

    Die erste Aufbauphase des bundesrepublikanischen Staates (1945–1955) wurde mit dem Schlüsselwort Wunder belegt. Nach der totalen Zerschlagung Deutschlands waren nach Ansicht der Menschen zwei Wunder geschehen. Das erste war natürlich das unter der Führung des von 1949 bis 1963 amtierenden Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard erreichte Wirtschaftswunder. Das zweite ist in die deutschen Geschichtsbücher und Lexika eingegangen als das Wunder von Bern: Gemeint ist der Sieg der [bundes]deutschen Nationalmannschaft über Ungarn bei der Fußballweltmeisterschaft am 4. Juli 1954; die bundesweite Begeisterung über diesen Sieg war die erste Äußerung von Enthusiasmus der Westdeutschen nach der jahrelangen Nachkriegsdepression.

    Warum hat die Gesellschaft, nachdem sie vom emotionalen und materiellen Aufschwung gekostet hat, dann doch vom Wunder als politischem Ideologem Abstand genommen? Weil hinter dem Rücken dieses Wunders weiterhin die auch durch dieses Wunder keineswegs zu erklärende Wirklichkeit der nicht weit zurückliegenden Vergangenheit stand – nicht einfach die Besonderheit im Verhältnis der europäischen Nachbarn zu Deutschland, sondern die Realität dessen, was tatsächlich geschehen war. Denn genau das war es, was die Menschen mit der Zeit immer mehr beschäftigte.

    Das Ideologem des Wunders erwies sich als psychologische Falle, geistreich verspottet in der bekannten Filmkomödie Das Spukschloss im Spessart. Die Sowjetunion befand sich zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt der Entstalinisierung, die Entfernung von Stalins Mumie aus dem Mausoleum stand bevor, und der Film über die im Wirtschaftswunder-Deutschland ausgegrabenen Skelette trug, wie es schöner nicht hätte sein können, zu einer Art westlicher Ausleuchtung dieses (nach 1953 und 1956) dritten Versuchs bei, sich von Stalin und dem Stalinismus zu verabschieden. Offiziell galt das „Spukschloss“ in der UdSSR als gegen den „Revanchismus in der BRD“ gerichtete Komödie, doch den Silberpreis des Moskauer Filmfestivals von 1961 bekam der Film nicht allein hierfür.

    Unterdessen setzte die sowjetische Propaganda alles daran, das westdeutsche Entnazifizierungsprogramm vor der Gesellschaft zu verheimlichen. Aus der Vielzahl der politischen Debatten in Deutschland wählte man lediglich das aus, was für die sowjetische Propaganda relevante Gegenstände betraf (unter anderem den Revanchismus). Keine Beachtung fand in der sowjetischen Zeit auch das Schlüsselthema der Mitscherlichs – das Trauma, das sich der Täter selbst zufügt, aber auch die Mitglieder von verbrecherischen Organisationen, und nicht nur die allein. Die meisten Deutschen hätten sich nämlich, so Mitscherlich, so weitgehend mit dem Regime abgefunden, dass sie auch nach dem Krieg, in der Adenauer-Ära, „politisch erstarrt“ gewesen seien. Die Generation, die sich mit Hitler und den Nazis, also den Kriegsverlierern, identifiziert hatte, versperrte sich instinktiv dem Konzept der Befreiung, das erst dann annehmbar wurde, als die westdeutsche Gesellschaft sich grundlegende demokratische Werte zu eigen gemacht und entsprechende Normen etabliert hatte.

    An dieser Stelle wird nun die Rolle der Schlüsselbegriffe, anhand derer nicht nur der politische Diskurs rekonstruiert, sondern auch die Überwindung des Traumas durch Narration beschrieben wird, besonders wichtig. Zwischen den kritischen Debatten der Intellektuellen und einer breiten Einbeziehung der „erstarrten“ Bevölkerungsmehrheit in das politische Leben über die Artikulation eines unmittelbaren Zusammenhangs, etwa zwischen dem Wirtschaftswunder und der politischen Freiheit vom Nationalsozialismus, vergeht einige Zeit.

    3.

    Betrachtet man die historische Bahn, auf die die Russische Föderation derzeit geraten ist, wird jedoch klar, dass kein Vergleich die Situation in unserem Land auch nur annähernd vollständig beschreiben kann. Einige generelle Fixpunkte lassen sich dennoch herausstellen. Es geht ja um die Reaktion der Träger einer Sprache auf die gesellschaftlichen Traumata, die manchem vielleicht doch vergleichbar erscheinen mit denen, die die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Den gewohnten Disziplinkategorien folgend, sollen im Folgenden kurz und knapp einige Realien der russischen Politiksprache beschrieben werden, die jemand einmal treffend als „Schlüsselwörter des historischen Augenblicks“2 bezeichnet hat. Die im Grenzgebiet zwischen Literatur, Sozialpsychologie und Politik verhandelten Schlüsselbegriffe entfalten sich zu Phrasen der besonderen Art. Daran, wie das gesellschaftliche Umfeld sie entfaltet, lässt sich erkennen, wie sich das Verhältnis der Sprachträger zu ihrem kollektiven historischen Trauma entwickelt.

    Dabei klingt nur ein einziges Trauma, gewissermaßen die Spitze des Eisbergs, deutlich hervor, eben jenes, das aus der Statusveränderung des Landes und somit der Veränderung der Situation jedes einzelnen Bewohners resultiert. Auf der Ebene der politischen Rhetorik ist dieses Trauma durch drei selten öffentlich angefochtene Phrasen markiert, nämlich: den Zerfall der UdSSR als die „größte geopolitische Katastrophe“, das „Chaos der 1990er“ oder die „wilden Neunziger“ (die Jelzin-Zeit) und die „Erhebung von den Knien“ (die gegenwärtige Phase). Die allgemein angenommene Übersetzung dieser emotional gefärbten Ideologeme besagt in etwa Folgendes: Das goldene Zeitalter, das sich zusammensetzt aus einem Mosaik von Ereignissen der russischen Geschichte seit 1612 (oder bei Bedarf auch seit den Zeiten Alexander Newskis) bis zum Ende der 1980er Jahre, wurde quasi hinweggefegt durch die „geopolitische Katastrophe“ der Perestroika und die Auflösung (sprich: den Zerfall) der UdSSR, wonach eine Zeit der Wirren anbrach. Wenn, so will man uns glauben machen, diesen Wirren nicht just an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert durch das neue Regime Einhalt geboten worden wäre, hätten jene Kräfte, die es angeblich geschafft haben, die Sowjetunion zu zerstören, längst auch die Russische Föderation zerstört – das letzte Bollwerk des zerfallenen sowjetisch-russischen Imperiums.

    Offenbar ist das der grundlegende Legitimierungsmythos des Regimes, der mit den Mitteln der Propaganda verbreitet wurde und für einen großen Teil der aktiven Bevölkerung der Russischen Föderation allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Wenn man die Mitscherlich-Konzeption anwendet, fällt einem das zentrale Drama des Augenblicks auf: Die Kette aus Russland-Mythen verfälscht den Inhalt des Traumas, das die ehemaligen Bürger der UdSSR erlitten haben. Das tatsächliche Trauma (Jahrzehnte der Unfreiheit, die physische Vernichtung ganzer Bevölkerungsschichten, die komplette Deportation ganzer Völker, ohne Gerichtsverfahren verhängte, gesetzeswidrige Repressalien gegen die Menschen unter beliebigem Vorwand) wurde ersetzt durch das frische emotionale Trauma des Zerfalls einer Staatsmaschine. Man muss bloß hinzufügen: eben jener Staatsmaschine, die für das ursprüngliche Trauma verantwortlich ist.

    Das echte Trauma, das der Mehrheit in der UdSSR und im Russischen Reich über das 20. Jahrhundert zugefügt worden ist, wurde einfach so durch die Schlüsselphrase der „größten geopolitischen Katastrophe“ ausgetauscht. Der Beginn einer schmerzhaften Diskussion über das Trauma, eines öffentlichen Diskurses über die den Systemzusammenbruch begründenden Mechanismen, die das Trauma ausgelöst hatten – all das wurde erfolgreich gestoppt, vor allem mit ziemlich primitiven Propagandatricks, die an die Gefühle der Bürger appellierten.

    Durch die Mitscherlich-Brille betrachtet wird deutlich, wie Russlands heutige politische Elite – jene soziale Schicht, die bei der Überwindung ihres Narzissmus und beim Erlernen der Fähigkeit zu trauern am meisten Hilfe benötigt hätte – sich die Ratlosigkeit der gerade erst zum politischen Leben erwachten Bevölkerung zunutze machte und die Rolle des gesellschaftlichen Psychotherapeuten an sich riss. Die Mitscherlichs wussten nichts von Öl- und Gaspreisen im beginnenden 21. Jahrhundert, aber sie beschrieben die Steigerung des ökonomischen Wohlstands als den wichtigsten „Verdränger“ von Reflexion. Ihrer Meinung nach war es gerade das Wirtschaftswunder, das die unausweichliche Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit um zehn Jahre verzögerte.

    Die Jahre der Entstehung eines Trauma-Narrativs und der sie begleitenden Diskussionen zu dem Thema fielen mit dem wirtschaftlichen Durcheinander und den schwierigen administrativ-territorialen, teilweise zu lokalen Kriegen führenden Konflikten der ausklingenden 1980er und 1990er Jahre zusammen. Dieser Umstand ermöglichte es Ende der 1990er Jahre dem aktiven Teil der postsowjetischen Gesellschaft, die Initiative zu ergreifen – den zahlreichen Mitarbeitern der früheren Straf- und Ideologie-Organe, die selbst zutiefst traumatisiert waren von der Unfähigkeit, die eigenen Opfer zu betrauern.

    Dieser Kreis hatte sich für eine gewisse Zeit sogar die Kontrolle über wichtige Machtzentren zurückgeholt, angefangen von den hauptsächlichen Rohstoffquellen bis hin zu den wichtigsten Medien. Doch die einzige Ideologie, zu der die neue Generation der Kreml-Chefs sich als fähig erwies, erschöpfte sich in der Konservierung des Traumas.

    Kontrolliert durch fremde Armeen, hatten die Deutschen es leichter, sich auf ihr Trauma zu konzentrieren, sich darüber auszutauschen und allmählich aus der Sackgasse herauszufinden, in die sie sich unter der Führung der Nationalsozialisten verirrt hatten. Die Notwendigkeit, den Staat von Grund auf neu zu errichten, war den Menschen sowohl im Westen wie im Osten Deutschlands bewusst. Dass die eigenen Tschekisten Kontrolle bekamen über die Situation, in die sie selbst und ihre ehemaligen Chefs Russland geführt hatten, konnte nur mithilfe der entsprechenden ideologischen Klischees aufrechterhalten werden. Die aus diesen Klischees erwachsende geopolitische Schimäre zieht diejenigen in ihren Bann, die in der Sprache leben.

    Am Tag der Einheit des Volkes, am 4. November 2008, hörte ich gemeinsam mit Millionen Passagieren in der Moskauer Metro die schmissigen Reden über die Befreiung der Hauptstadt von den „polnischen Besatzern“ im Jahre 1612, las an den Wänden und Türen der Waggons den höhnischen Spruch: „Die Behutsamen behütet die Bank“, wurde eingeladen, den neuen Agitationsstreifen Der Admiral im Kino zu bewundern (während man am Abend desselben Tages im TV dazu eingeladen wurde, sich zum wiederholten Male den Film 1612 anzuschauen) und verstand, dass man den Passagieren auf diese Weise nahelegte, sich so weit wie möglich weg von der politischen Moderne und dem sowjetischen 20. Jahrhundert in eine galvanisierte Vergangenheit der einen oder anderen Zeit der Wirren zu versetzen. Gleichzeitig geschieht eine bewusst-unbewusste Außerbetriebsetzung des einzigen Erkenntnisinstruments, über das die Menschen verfügen – ihrer Sprache. Doch auch wenn die Frage, wie bewusst oder unbewusst die Operationen an der Sprache in den letzten zehn Jahren durchgeführt wurden, eine interessante und wichtige ist, ist das ein eigenes Thema.

    Das Hauptproblem bleibt die Verstärkung des sozio-historischen Traumas bei den Patienten infolge der massenhaften Verbreitung von falschen Informationen bezüglich ihrer Leiden. Warum wurde die offizielle Rhetorik der ersten postsowjetischen Jahre zur doppelten Befreiung Russlands von der Ideologie des Kommunismus und von der Praxis des Kolonialimperialismus an der Jahrtausendwende so entschieden eingestampft?

    Wie die genannten deutschen Wissenschaftler in ihren sozialpsychologischen Arbeiten zeigen konnten, ist das Prozedere der kollektiven Traumatherapie vernunftbasiert. Der emotionale Faktor wird selbstverständlich berücksichtigt, ist aber nicht der wichtigste. Es geht um die Suche nach einem allgemeingültigen Ausweg aus einer unerfreulichen Situation. Die Rationalisierung der Gefühle muss gekoppelt sein an Beherrschtheit innerhalb des politischen Diskurses. Dort, wo die Zensur auf der inhaltlichen Ebene aufgehoben ist, ist sie auf der Ebene ihrer stilistischen Gestaltung unabdingbar. Der Stil ist in der Lage, jede Kommunikation, nicht einmal nur in traumatherapeutischen Kontexten, zu blockieren und außer Kraft zu setzen.

    Damit der Akt der politischen Kommunikation selbst nicht zu einer Quelle neuer kollektiver Traumata wird, befindet sich eine freie Gesellschaft in einem ständigen Diskurs über politische Korrektheit. Durch allgemeingültige und akzeptable, maximal leidenschaftslose Schlüsselbegriffe wird der Prozess der Konsenssuche rationalisiert und entemotionalisiert. Im Gegensatz dazu wird hier bei uns, alten sowjetisch-russischen Klischees folgend, einer politkorrekten Heuchelei die Wahrheit des freimütigen Sprechakts entgegengestellt. Sei es die apolitische Zügellosigkeit eines Wladimir Shirinowski oder die öffentlichen Entgleisungen populärer TV-Moderatoren. Das Fernsehen präsentiert Alexander Gordon, Wladimir Solowjow, Lolita und ihresgleichen als Meister der maximal freimütigen Verkündung von Binsenweisheiten.

    In den Sprechakten dieser öffentlichen Autoritäten mit ihrer äußersten rhetorischen Schärfe (sprich: Unbändigkeit) wird ein Bouquet abstrakter Drohgebärden bei gleichzeitigem Verschweigen eines konkreten Sinngehalts versprüht. Die inakzeptable Grobheit der Äußerung substituiert nämlich ihren Sinngehalt, mit anderen Worten: Sie ist bereits der ganze Sinngehalt der Äußerung, und nicht zufällig wurde die diffuse Drohung, jemanden „im Klo abzumurksen“ zur faktischen Devise der ersten Amtszeit von Wladimir Putin.3 Diese Drohung war an mutmaßliche Terroristen gerichtet, aber in den aktuellen Sprachgebrauch fand sie in einer erweiterten Bedeutung Eingang – als Universalformel für den Umgang mit Widersachern.

    Der Zuschauer oder Zuhörer, der die Drohreden von Politikern oder Medienleuten geduldig ertragen muss, überlässt ihnen Stück für Stück sein ganzes politisches Subjekt-Sein. Die minimale passive Reaktion auf solche TV-Sendungen könnte in einer gebildeten Gesellschaft ein Zuschauer-Boykott sein. Der minimale Ausdruck einer auf Vernunft gründenden Aktivität in einem Rechtsstaat wäre die Diskussion über die Verantwortung von Moderatoren und Redakteuren des TV-Senders für das emotionale Stimulieren von sozialem Zwist. Dort aber, wo weder das eine noch das andere geschieht, kommt es zum „politischen Stillstand“, wie er in anderer Spielart von den Mitscherlichs für die deutsche Gesellschaft zu Adenauers Zeiten diagnostiziert wurde. Um seine Mitbürger dazu zu bewegen, sich als selbständig politisch Handelnde zu begreifen, wird Kanzler Konrad Adenauer 1966 vor der Klagemauer in Jerusalem auf die Knie gehen, genau wie Kanzler Willy Brandt 1970 und Boris Jelzin 1993 in Warschau vor dem Denkmal-Kreuz für die Erschossenen von Katyn.

    4.

    Im Unterschied zu den Deutschen nach der unmissverständlichen Zerschlagung des Nationalsozialismus, ging die Bevölkerung der Russischen Föderation während der Auflösung der UdSSR über den Zerfall des Russischen Reichs und der dahinter stehenden politischen Strategie einfach hinweg. Die spontane, heilsame und vernunftbasierte Rhetorik vom Ende der UdSSR als Befreiung vom Totalitarismus empfanden nur diejenigen als Kapitulation im globalen Kalten Krieg, die diesen Krieg tatsächlich verloren hatten – Geheimdienstleute sowie Partei- und Staatsapparat. Für die allgemeine Bevölkerung aber war es ein Signal für den Zerfall des Russischen Reiches, der zu Beginn der 1920er Jahre in die Gründung der Sowjetunion umgelenkt worden war. Doch dann traf es sich so, dass sich die Bürger der Russischen Föderation durch die Verwendung der Bezeichnung Russland dem Verständnis verschlossen, ja, sich sogar selbst das Nachdenken über eine offensichtliche Tatsache verboten: dass einige andere ehemalige Republiken der UdSSR ebenfalls ein „anderes Russland“4 sind. Eben deswegen ist auch die formal korrekte Eigenbezeichnung der heutigen Russischen Föderation in gewisser Hinsicht ein Substitut für den geschichtlichen und politischen Sinn hinter dem Begriff, ein Substitut, das einer kollektiven Reflexion bedarf. Durch die historische Verbindung des Russischen Reichs beispielsweise zur heutigen Ukraine mit ihrer sich von Russland unterscheidenden, selbst gewählten Ausrichtung des gesellschaftlich-historischen Weges, wird das zweisprachige Land zu einer maximalen Quelle des Ärgers für alle Politiker, die nostalgische Gefühle für die UdSSR hegen. Die bloße Tatsache der Existenz eines anderen Russland, eines Kiewer Russland, in dem weder das Merkmal Sprache noch das Merkmal Kultur eine eindeutige Unterscheidung in sogenannte ethnische Russen und ethnische Ukrainer zulässt, ruft in der unmittelbaren Nähe zum Russland Moskaus bei der gesamten Führungsschicht der Russischen Föderation einen ausgeprägten politischen Minderwertigkeitskomplex hervor.

    Auf sprachlicher Ebene äußert sich dieser Komplex, der genereller Natur und nicht auf die unmittelbar mit der Ukraine zusammenhängende Situation beschränkt ist, schon in den Namen der Organisationen, die für sich die volle Macht in der Russischen Föderation beanspruchen: Einiges Russland, Gerechtes Russland – all diese Bezeichnungen sind ja nichts als unfreiwillige Enthüllungen, die den Mangel an globaler politischer Legitimität zeigen. „Russland“ und russisch“ ersetzen oder bedeuten hier „UdSSRund „sowjetisch“. Und genau deshalb erscheint alles, was früher sowjetisch war, heute jedoch juristisch gesehen nicht russisch ist, in der Phantasie der Elite des Moskauer Russland als Irrtum oder heimtückische Bedrohung, als Objekt rechtmäßigen Misstrauens oder offener Feindschaft.

    Einmal freiwillig in die Rolle der retrospektiven Beschützerin der UdSSR geschlüpft, verbreitet die politische und Medienelite der heutigen Russischen Föderation ihre Sprache des Hasses sowohl auf ehemalige Teile des Imperiums („das georgische Regime“, wie der russische Außenminister despektierlich zu sagen pflegte) als auch auf den großen Widersacher: den Sieger des Kalten Krieges. Die Vertreter der Straforgane, die bis heute nicht, nicht einmal nach ihren eigenen Gesetzen, für die Niederlage der UdSSR in jenem Krieg zur Verantwortung gezogen wurden, konservieren die Gesellschaft im Zustand des Traumas – als wollten sie sich nachträglich dafür rächen, dass der wiederholte Zerfall des Russischen Reiches 1991 vergleichsweise friedlich ausfiel.

    Wenn die Position der Russischen Föderation gegenüber den USA formuliert wird, beruft sich die herrschende Klasse der heutigen Russischen Föderation ständig in der Art auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, als wäre sie der Rechtsnachfolger der UdSSR, der dazu verdammt ist, die historische Mission der Verliererseite weiterzuführen. Betrachtet man einmal die USA und die UdSSR provisorisch als zwei Dritte Roms, ein republikanisches und ein imperiales, so zeigt sich, dass der Niedergang unseres, des imperialen, Teils die Bevölkerung des größten Fragments der ehemaligen UdSSR, also die Menschen der Russischen Föderation, an eine Weggabelung gebracht hat. Auf der einen Seite Freiheit und Bündnissuche mit den USA, auf der anderen Revanche-Versuche eines autoritären Zentralstaates.

    Diejenigen, die der Bevölkerung der Russischen Föderation Revanche, antiamerikanische und NATO-feindliche Rhetorik nahegelegt haben, handeln offenbar instinktiv. Die Ironie der politischen Geschichte Russlands offenbarte sich in einem zentralen Schimpfwort für die Amerikaner und Amerika: Pindossy und Pindossija. In vorrevolutionären Zeiten waren Pindossy eine abfällige Bezeichnung für die Griechen (angeblich nach dem Namen des Berges Pind), wobei die Etymologie dieses ethnischen Schmähausdrucks nicht ganz klar ist. Womöglich haben sich die Amerikaner diesen Spitznamen nach dem Krieg um die jugoslawische Erbfolge im Zuge der Überschneidungen der Friedenseinsätze der Russischen Föderation und der USA auf dem Balkan eingehandelt.5 Doch woher auch immer die Bezeichnung kommt, zwingt uns der Gebrauch eines verallgemeinernden Schimpfwortes zu einem genaueren Blick auf den psychologischen Kontext dieser xenophoben Rhetorik.

    Warum findet unsere Gesellschaft auch 20 Jahre nach der Auflösung der UdSSR keine klare, deutliche, politische Formulierung für die Quelle des eigenen Traumas? Die Bevölkerung der Russischen Föderation versteht, dass der reale Status eines neuen, jungen, demokratischen, russischen Staates nicht mit dem Phantom einer Supermacht Russland vereinbar ist, aber sie will nicht verstehen, warum das so ist. Alexander Mitscherlich sagt, dass ein Trauma nur mithilfe von gewissenhaft angeeignetem Wissen überwunden werden kann, darunter auch solchem, dessen sich das eigene Bewusstsein schämt. Dabei müssten die intellektuellen und moralischen Einstellungen selbst radikal überwunden werden, die zu Hitler geführt hätten, „da das, was geschah, nur geschehen konnte, weil dieses Bewusstsein korrumpiert war“6, schreibt Mitscherlich. Genau vor diesem Wissen fürchten sich die der UdSSR nachtrauernden russischen Politiker wie vor dem Feuer.

    Natürlich kann man das als eine äußerst strittige Frage bezeichnen. Schließlich wurde auch die Diskussion um die Buße, die während der Perestroika in Gang gekommen war, gewaltsam beendet, und zwar aus Angst, das Land könnte unter all denjenigen verteilt werden, die irgendwann einmal vom Russischen Reich gekränkt wurden. Oder dass es unter dem Deckmantel von Kontributionszahlungen an all die Letten, Tschurken, Chatschen und Schlitzaugen ausverkauft wird, und an die ganzen Pindossija- und NATO-Huren entlang der neuen russischen Grenzen. Und hier betreten wir ein höchst schwieriges linguistisch-politisches Feld: Je durchsichtiger seine Logik, umso nebulöser die politischen Folgen.


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    1.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart
    2. Šmeleva, T. V. (1993): Ključevye slova tekuščego momenta, in: Collegium: Meždunarodnyj naučno-chudožestvennyj žurnal, Nr. 1, S. 33-41
    3.Camus, R. (2006): “We’ll whack them, even in the outhouse”: on a phrase by V.V. Putin, in: Gusejnov, Gasan (Hrsg.): Language and Social Change: New Tendencies in the Russian Language, kultura, Nr. 10, S. 3-8
    4.siehe auch: Gusejnov, G. (1992): Istoričeskij smysl političeskogo kosnojasyčija: Ukraina i russkoje obščestvo, in: Znamja, Nr. 9, S. 191; Guseinov, G. (1993): The Russian-Ukrainian Conflict: Tradition and Prospects, in: Anthropology and Archaeology of Eurasi:. Sociolinguistics, Semiotics, and Society, Vol. 32 (1), Washington, S. 53-65
    5.Offenbar ist der Begriff pindos in dieser modernen Bedeutung erstmals am 7. November 1999 im Fernsehen in einer Reportage aus dem Kosowo aufgetaucht. Ein Soldat sagte in einem Interview, dass man dort mit diesem Wort die amerikanischen Friedenstruppen bezeichnete – NLO
    6.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart. S. 82

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    Die brennende Tür der Lubjanka – nichts als Provokation … Der Journalist Oleg Kaschin widerspricht dem vehement. Nicht der Tabubruch macht Aktionisten wie Pjotr Pawlenski zu Künstlern, sondern ihr bewusstes Interagieren mit der Angst – derselben, die den Nicht-Künstler vor jeglichem Handeln zurückschrecken lässt. Die Furchtlosigkeit, sagt Kaschin, ist Pawlenskis Koautor.

    Das Russland der 10er Jahre – das sind Woina, Pussy Riot und Pawlenski. Einen vierten Namen gibt es nicht, aber auch drei sind schon viel. Drei Mal so viel wie einer und unendliche Male so viel wie null.

    Die Erklärungsversuche der Kunsthistoriker, hey Leute, das ist Aktionskunst, eine Tradition, die zum Dadaismus und zu Jackson Pollock hinaufreicht – das alles lenkt nur vom Wesentlichen ab. Wie man in der Wikipedia oft lesen kann: „Dieser Artikel beschreibt ein aktuelles Ereignis.“ Wenn das Ereignis nicht mehr aktuell ist, wird jemand einen Fachbegriff erfinden, so etwas wie Russischer Aktionismus der 2010er Jahre, nur kürzer (vielleicht Woinismus?), jemand wird eine Doktorarbeit schreiben, der nächste ein Buch, der dritte wird die heute einmaligen Aktionen bis ins Abgeschmackte kopieren, und erst dann wird man sagen können, was das eigentlich genau war und worin der Wert liegt – vorerst gibt es hier einfach ein paar Anmerkungen eines Zeitgenossen.

    Im spätputinistischen Russland mag vielleicht keine Hochkultur entstehen, aber zumindest bietet es als Raum und Zeit ideale Bedingungen für einen kulturellen Durchbruch. Wir erleben eine Übergangsphase zwischen Autoritarismus und Totalitarismus (der freilich nicht unbedingt kommen muss), in der sich offenbart, dass die normalen sozialen Verhältnisse bereits dabei sind, den vom Staat aufgezwungenen Platz zu machen, aber noch gibt es weder Massenverhaftungen noch totale Zensur. Minütlich verändert sich die Lage zum offensichtlich Schlechteren, das kollektive Bewusstsein und mit ihm die einstige Kunst kommen nicht mehr hinterher und werden somit minütlich altmodischer und archaischer, so wie jener Bürger, der dort drüben erbost in dem Kragen Nase und Kinn versteckt.* Die gesellschaftliche Unfreiheit hat noch nicht den Grad erreicht, dass sie jede nicht sanktionierte Aussage verunmöglichen würde. Im Russland des Jahres 1991 (das freiste unserer Generation bekannte Land) wäre ein Pawlenski gleichermaßen undenkbar wie im heutigen Turkmenistan oder Nordkorea (offenkundig die unfreisten Länder überhaupt).

    Die spannende Periode der russischen Geschichte, die wir gerade miterleben, könnte vermutlich großes Kino, große Literatur oder Musik hervorbringen, doch die größten Chancen auf einen Durchbruch hatte von Anfang an das, was wir zeitgenössische Kunst nennen, denn eine niedrigere Erwartungshaltung bedeutet immer auch ein Mehr an Möglichkeiten: Einer, von dem man nichts erwartet, ist immer im Vorteil gegenüber den Favoriten. Das postsowjetische Russland fand von Anfang an einen Konsens in Bezug auf moderne Kunst – Schwindelei bis hin zum Betrug sah man darin, nach dem Motto: „Mal hängt eine Installation rum, mal gibts eine Performance.“ Jemand stellt was Seltsames in der Gelman-Galerie aus, ein geldschwerer Depp kommt vorbei, bekommt erklärt, das sei genial, und kauft es – das ist die ganze Kunst. Schock, Provokation und was man sonst für Begriffe im Zusammenhang mit zeitgenössischen Künstlern verwenden mag – jedenfalls ist schon im Voraus klar, was man von so jemandem zu erwarten hat. Was kann da schon Interessantes kommen? Lieber schnell vorbeilaufen.

    Foto © Ilya Varlamov

    Doch an Woina, Pussy Riot und jetzt auch Pawlenski kommt man nicht einfach so vorbei und das sicher nicht, weil hinter der brennenden Tür ein imaginierter FSB-Wachmann hätte versteckt sein können (auf den Klageruf dieses Wachmanns, er hätte verbrennen können, baute die Hauptargumentationslinie der Pawlenski-Kritiker in den sozialen Netzwerken – fast wörtlich wie in dem Märchen von der dummen Else, die bittere Tränen vergoss, als sie sich vorstellte, wie sie einmal heiraten würde, einen Sohn gebären, wie dieser dann heranwachsen, in den Keller steigen und sich dabei das Genick brechen würde). Der Erfolg dieser Künstler besteht in der richtigen Synthese aus einem gesellschaftlich emotionsgeladenen Thema und der Art seiner Darbietung, aber als entscheidenden Faktor (und falls das ein alter Hut ist, sollen die Kunsthistoriker hier intervenieren) betrachte ich eine dritte Komponente ihrer Aktionen. Herkömmliche Vertreter der zeitgenössischen Kunst brechen Tabus, sie brechen mit Moralvorstellungen und einigem mehr, aber unsere Aktionskünstler dringen in einen Bereich ein, der weder durch Moral noch durch kollektiv empfundene Grenzen des Akzeptablen geschützt ist, sondern durch Angst. Die Angst – sie ist die dritte Komponente, ohne die die neue russische Kunst schlicht nicht existieren würde.

    Der herkömmliche Künstler weiß, dass er mit dem Raum, seiner Umgebung, den Passanten, mit was auch immer interagieren muss. Pawlenski aber (genau wie Woina und genau wie Pussy Riot) interagiert darüber hinaus mit der Angst der russischen Bevölkerung vor den Sicherheitsorganen, vor der Kirche, vor der Regierung, vor dem Bullen. Schon längst hat der Spießbürger gelernt, über das Schwarze Quadrat zu sagen, das sei ja keine Kunst, das würde er auch noch hinbekommen; aber das, was Pawlenski gemacht hat – kriegst du das hin? Nein, kriegst du nicht, weil du Angst hast. Angst vor dem Gaischnik auf der Lubjanka, Angst vor dem Gefängnis, Angst vor einem Prozess. Pawlenski hat keine Angst, die Furchtlosigkeit ist sein Koautor. Woher sonst kommen die ewigen, seit den Zeiten von Woina unablässigen Gerüchte und gegenseitigen Beschuldigungen innerhalb der Szene, man würde für die Sicherheitsorgane, die Polizei oder den Kreml arbeiten? Warum sonst sollte er keine Angst haben? Es fällt uns leichter, Furchtlosigkeit auf Verschwörungstheorien zu schieben. Der Gedanke an echte Furchtlosigkeit ist schier unerträglich.

    Unter Kritikern ist es mittlerweile ein Allgemeinplatz zu sagen, Pawlenski würde keinen solchen Erfolg haben, wenn der Staat sich anders verhielte. Sicher, aber man sollte auch bedenken, dass die Gerichts-Rituale, in denen seine Aktion ihre Fortsetzung finden, nur ein kleiner Teil jenes Verhaltens staatlicherseits sind, das Pawlenski zu Pawlenski macht. Die staatliche Sphäre, mit der er in seinen Aktionen interagiert, ist riesig und hat mit ihm selbst kaum Berührungspunkte, aber die von ihm in Brand gesteckte Tür brennt überall: In Kaliningrad, wo das Gerichtsverfahren gegen Aktivisten, die über einer Geheimdienst-Garage die deutsche Flagge gehisst hatten, mehr als anderthalb Jahre andauerte; in Wladiwostok, wo der Prozess gegen die Partisanen von Primorsk noch immer läuft; und im gesamten Gebiet zwischen Kaliningrad und Wladiwostok, wo es genau die gleichen Gerichte, genau die gleiche Polizei und überhaupt genau das gleiche von allem gibt. Die zweiflügelige massive Eingangstür zu 63.050 Rubel und 19 Kopeken [905,27 EUR], die lichtreflektierende Polizeiweste, der doppelköpfige Blechadler auf dem staubig-roten Samtstoff und davor eine Frau mit Robe, die etwas herunterleiert, das dein Schicksal für die nächsten Jahre bestimmt – so sieht Russland wohl heute aus. Und was den Künstler von uns, von den Bürgern unterscheidet ist Folgendes: Er macht aus diesem Russland mit seinen eigenen Händen etwas, das selbst die konsequentesten Regimekritiker in angstbeladene Hysterie versetzt, etwas, das zum Streiten zwingt, zum Nachdenken, zum Verrücktwerden. Es gibt die Meinung, dieses Russland tauge ohnehin zu nichts anderem – dann wäre Pawlenski überhaupt der Einzige, der es schafft, diesem Land etwas abzuringen.



    *aus dem Gedicht Zwölf von Alexander Blok, Übers. Alfred Edgar Thoss: Der Bürger dort drüben versteckt erbost / in dem Kragen Nase und Kinn; bei Paul Celan: Drüben der Burschui, Nas’ im Mäntlein

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    „Lena, suchst du mal die Musik für das Trio raus?“

    Lena drückt auf eine Taste der Anlage, und plötzlich erklingt in dem Zimmer mit Aussicht auf einen Plattenbauwohnblock der sanfte, beseelte Gesang von Bono. Drei junge Frauen verschmelzen zur Musik in ein Knäuel, ihre Körper werden eins. Sie gleiten, türmen sich übereinander, geben einander Bewegungsimpulse, fangen die Partnerin mit ihren Körpern auf, wenn die das Gleichgewicht verliert.

    Das Trio besteht aus einer stützenden Basis und einem fragilen Element. Die Basis – das sind Lena und Wika, Natalja Popowas Mitarbeiterinnen. Und Miriam nimmt Tanzstunden in Natalja Popowas Studio. Sie hat eine schwer auszusprechende psychiatrische Diagnose. In ihrer Improvisation agiert sie mit den beiden anderen zusammen, aber geschehen tut das alles hier um ihretwillen.

    In einer Ecke des Zimmers sitzt Natalja Popowa, die Gründerin und Leiterin des Studios Krug [dt. Kreis], auf einem Stuhl. Neben ihr, auf den Matten entlang der Wand, verfolgen Katja, Klawa, Sascha, Ljoscha, Anton und die anderen Schüler und Mitarbeiter des Studios die Improvisation.

    Körperbewusstsein ist der erste Schritt. Und dann entsteht allmählich eine Komposition

    „Die jungen Leute müssen das Gewicht ihres Gegenübers spüren, seine Bewegungen vorausahnen, sie steuern“, erklärt mir Popowa leise. „So entwickeln sie ein Körperbewusstsein. Das ist der erste Schritt. Und dann entsteht allmählich eine Komposition. Das Gefühl für die Komposition ist ein soziales Gefühl. Durch die Übungen lernen sie, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren, Menschen anhand ihrer Körperreaktionen zu verstehen. Diese Fähigkeit kompensiert ihre intellektuellen Schwächen, sie fangen an, sozial adäquat zu reagieren. Oft zeigen sie dann sogar ihren Angehörigen, wie man richtig kommuniziert. Sie sagen zum Beispiel: ‚Du verstehst mich nicht, so muss man das machen.‘ Das kommt alles durch ihre Erfahrungen mit der Improvisation.“

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Heute sind die älteren Tänzer des Studios hier versammelt. Jeder hat seine eigene Diagnose, jeder war bereits in Therapie. Alle sind jenseits der Zwanzig. Am meisten Erfahrung hat Sascha, der bereits seit elf Jahren tanzt. Ein sympathischer junger Mann, der lächelt, als hätte er ein Geheimnis. Fast alle hier habe ich schon in dem Stück Slash gesehen, als es im Meyerhold-Zentrum aufgeführt wurde.

    Außer den Studioschülern sind auch ein paar Jüngere anwesend. Sie leiden an psychischen Problemen, ohne eine Behinderung zu haben: Serjosha kann sich nicht konzentrieren, Lena ist derart schüchtern, dass sie im Leben schlecht zurechtkommt.

    Die Mitarbeiter des Krug sind ehrenamtlich tätig. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt an anderer Stelle, verbringen aber bis zu zwanzig Stunden die Woche im Studio. Viele von ihnen – so wie Lena – waren früher selbst Schüler im Krug.

    Auf eine Übung folgt die nächste. Insgesamt wirkt das Ganze wie ein Abend mit zeitgenössischem Tanz – ziemlich professionell und ausgefeilt.

    „Ist Ihnen klar, welch Grazie hier geweckt wird?“ Nataljas Augen leuchten. „Sehen Sie? Das sind denkende Bewegungen! Sie denken, während sie sich bewegen. Fühlen und Denken im selben Moment; sie erforschen ihre Körper, die Beziehung zum Partner, neue Bilder entstehen. […]“

    Das Ganze findet im Kinder-Kreativ-Zentrum im Moskauer Bezirk Strogino statt, in einem leuchtend blau gestrichenen umzäunten zweistöckigen Gebäude. Die Mütter schlendern durch den Hof, während sie auf ihre Kinder warten. Am Eingang ein Wächterhäuschen und ein Drehkreuz. Ein Junge mit zerebraler Kinderlähmung hat sich mit seiner roten Jacke im Drehkreuz verfangen und lacht. Die Mutter ruft ihn sanft: „Sascha, wart mal, ich will dir noch die Schnürsenkel zubinden!“

    ***

    Natalja Popowa, die Gründerin und Leiterin des Krug, ist eine herausragende Persönlichkeit. Ihre Organisation heißt in voller Länge Regionale gemeinnützige Gesellschaft künstlerisch-sozialer Rehabilitation für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen sowie ihre Familien. In Natalja Popowa fließen die Bewegungen des inklusiven und besonderen Theaters des Landes zusammen. Sie und ihre Kollegen organisieren Proteater, das wichtigste Festival für das besondere Theater in Russland.

    Die besten inklusiven Theater Europas werden dazu nach Moskau eingeladen. Sie bringen theoretisch und praktisch Arbeitende zusammen, organisieren wissenschaftlich-praktische Konferenzen, publizieren Literatur, veranstalten Workshops, Sommerschulen und vieles mehr. Dabei leitet Popowa seit einem Vierteljahrhundert tagtäglich Kurse für Kinder und junge Erwachsene mit gesundheitlichen Einschränkungen.

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Hier, im Innersten ihres Kreises, ist auch das unter Theaterleuten wohlbekannte Krug II entstanden: das Andrej-Afonin-Theaterstudio, das mit dem wichtigsten Theaterpreis des Landes, der Solotaja Maska, ausgezeichnet wurde. Erhalten hat das Theater diesen Preis für das Stück Entfernte Nähe, das Afonin in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Gerd Hartmann, dem Leiter des Berliner Thikwa-Theaters, inszeniert hat.

    Ich erinnere mich noch, wie ich das Stück vor zwei Jahren […] im Zentrum für Dramaturgie und Regie an der Begowaja-Straße sah. Ihrer Form nach war die Inszenierung modern, und zugleich war sie erfüllt von echter Menschlichkeit. Es gab darin etwas, wonach man sonst bei hellichtem Tag mit Fackel auf der Bühne vergeblich sucht, das, wovon Stanislawski, Artaud und Grotowski geträumt haben: den eigentlichen Menschen, den Menschen an sich.

    Dann entdeckte ich, dass Entfernte Nähe nur die Spitze des Eisbergs war. Es stellte sich heraus, dass im Land Hunderte von inklusiven Theatern aktiv sind. Die einen arbeiten, wie das Krug, mit geistig eingeschränkten Menschen. Andere, so wie der Petersburger Zirkus Upsala, mit Straßenkindern. Die nächsten wiederum nehmen sich Menschen mit Bewegungseinschränkungen an – so das Shest [Geste] in Nishni Nowgorod. Tausende von weiteren inklusiven Theatern arbeiten in ganz Europa.

    Das war im Jahr 2014. Die darstellende Kunst erlebte einen Aufschwung. Zwei Jahrzehnte nach der Perestroika waren die Grenzen des Theaters sehr weit über den Sozialistischen Realismus hinaus erweitert worden. Im Zuge der Bolotnaja-Proteste begann sich das Theater nicht bloß als Kunstform, sondern auch als öffentliches Forum, zivilgesellschaftliches Institut und soziales Instrument zu begreifen. Schon seit einem guten Jahrzehnt riefen das zeitgenössische Drama und junge Regisseure den Wohlsituierten die Existenz derjenigen in Erinnerung, die weniger Glück hatten. Das inklusive Theater ging noch weiter: Es zeigte die Probleme nicht nur, es packte sie auch an.

    In jenem Jahr leitete ich den Expertenrat der Goldenen Maske, und dabei stellte sich heraus, dass die Experten, bei allen unterschiedlichen Vorlieben in Sachen Ästhetik, sich in einem Punkt einig waren: bei der Begeisterung für soziales Theater. So kam es, dass 2014 in der Kategorie „Experiment“ das soziale Theater in allen seinen möglichen Formen vorgestellt wurde. In Entfernte Nähe tanzten besondere Darsteller im Duett mit Laiendarstellern ohne Behinderung, sie trugen Monologe vor und kochten gemeinsam Suppe, die im Finale unter den Zuschauern verteilt wurde. Auf dem Programm standen außerdem das Meyerhold-Zentrum mit dem Bildungsprojekt Alice und der Staat, das Liquid Theatre mit einem nonverbalen Stück über Alkoholabhängigkeit und das Stück Akyn Opera des Teatr.doc, in dem vier Tadshiken von ihren Abenteuern in Moskau erzählen und auf traditionellen Instrumenten spielen. Nicht unbedingt außergewöhnlich, aber erkenntnisfördernd: Diese Menschen in orangefarbenen Westen, die einige der Zuschauer, wenn man mal ehrlich ist, nicht einmal für Menschen halten, sind in Wirklichkeit Nachfahren einer großen Kultur, die um ein Vielfaches älter ist als unsere.

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Etwas ganz Bestimmtes hob Akyn Opera und Entfernte Nähe von den anderen sozialen Theaterstücken ab: die ungekünstelten, echten Menschen auf der Bühne. Und genau die wurden zu den Siegern gekürt: Das Teatr.doc erhielt den Jurypreis für Akyn Opera, und Afonin konnte die Goldene Maske in der Kategorie „Experiment“ mit nach Hause nehmen – die Theaterwelt hatte das besondere Theater als Teil der großen Kultur anerkannt. […]

    ***

    Das besondere Theater als solches gab es schon in der UdSSR, es war aber nie dem Kulturamt unterstellt, so wie dies z. B. beim Gehörlosen-Theater der Fall war. In den 1960er Jahren wurde dank der Förderung des Komponisten Solowjow-Sedoj, dessen Tochter gehörlos war, das Mimik- und Gestik-Theater in Moskau gegründet. Die Darsteller des russland- und weltweit ersten professionellen Gehörlosen-Theaters lernten an der Schtschukin-Schauspielschule bei Boris Sachawa. Finanziert wurde das Theater aus dem Budget des Allrussischen Gehörlosenverbands und hatte in den ersten zehn Jahren einen dermaßen durchschlagenden Erfolg, dass es nahezu unmöglich war, an Karten zu kommen.

    In den 90er Jahren, nachdem der Gehörlosenverband eine ganze Reihe von Privilegien erhalten und kriminelle Züge angenommen hatte, verkam das Theater zu einer Art Diebesnest. Die Legende von einer Liebschaft zwischen der Schauspielerin Swetlana Wakulenko und dem Banditen Lewoni Dshikija, die später als Vorlage für den Kinofilm Land der Gehörlosen diente, machte die Runde. Es heißt, er hätte sieben Mal um ihre Hand angehalten und sie sieben Mal abgelehnt. Und als sie endlich einwilligen wollte, erfuhr sie, dass er bei einer Schießerei ums Leben gekommen war.

    Das Mimik- und Gestik-Theater existiert auch heute noch, aber es ist unwiederbringlich im Verfall begriffen. Dafür hat das Sachawa-Studio an der Schtschukin-Schauspielschule die Staatliche Spezialisierte Kunstakademie in Moskau hervorgebracht. Und die Akademie hat wiederum zwei bedeutende Theater hervorgebracht: das Sinematograf und das Nedoslow. Beide werden finanziell von der Akademie getragen. Mit dem Theater Piano von Wladimir Tschikischew an der Internatsschule für gehörlose Kinder gibt es in Nishni Nowgorod ein weiteres erstklassiges Gehörlosen-Theater.

    ***

    Der Aufschwung des sozialen Theaters in Russland kam mit den Bolotnaja-Protesten, als das zivilgesellschaftliche Selbstbewusstsein erwachte und einzelne Künstler erkannten, dass sie der Gesellschaft gegenüber eine Verpflichtung hatten. Denn Fakt ist: Vier Prozent der russischen Bevölkerung gehen regelmäßig ins Theater, finanziert wird es aber zu hundert Prozent durch den Steuerzahler. Was bekommen diejenigen zurück, die nicht die Möglichkeit haben, ins Theater zu gehen, oder die es einfach nicht gerne tun? Was kann Theater für diese Menschen leisten? Das junge Theater fand in ganz unterschiedlichen sozialen Projekten Antworten auf diese Frage. Den Anfang machten die freien Theater: Hier brachte Jelena Gremina, die Gründerin und Leiterin des Teatr.doc, den Stein ins Rollen. Sie rief das Projekt Theater plus Gesellschaft ins Leben und berichtete darüber im Jahr 2011 bei einem Treffen des damaligen Präsidenten Medwedew mit Kunstschaffenden. Im Kern ging es um staatliche Unterstützung für nicht-staatliche Theater im Gegenzug für verschiedene soziale Aufgaben. Medwedew reichte das Projekt ans Kulturministerium weiter und die Idee nahm Gestalt an. Neun Theater in ganz Russland arbeiteten drei Jahre lang mit Menschen, die auf die eine oder andere Weise vom kulturellen Leben ausgeschlossen sind. In Komsomolsk-am-Amur nahm sich Tatjana Frolowa alter Menschen mit Alzheimer an, im Zentrum für zeitgenössische Choreografie Dialog Dance in Kostroma unterrichteten professionelle Tänzer modernen Tanz für gehörlose Kinder und deren Eltern; das Liquid Theatre führte in einer Beratungsstelle einen Therapiekurs für Drogen- und Alkoholabhängige durch, das Rostower Theater 18+ brachte Intensivtätern szenisches Schreiben bei, das Teatr.doc selbst ging in eine Strafkolonie für Jugendliche etc. Nach den freien Theatern begannen bald auch die staatlichen, sich sozialen Projekten zu widmen. So ist ganz ohne staatliche Einflussnahme in Russland ein Theatermodell entstanden, bei dem das Künstlerische und das Soziale sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. […]

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    „Womit wir uns hier beschäftigen?“, sagt Natalja leise, während die Tänzer bei der nächsten Übung sind. „Nicht so sehr mit den Grundlagen der Schauspielkunst. Eher mit dem, was Grotowski als Präexpressivität bezeichnete. Wir erarbeiten ein ästhetisches, außeralltägliches Verhalten, lernen, das eigene Verhalten zu kontrollieren. Auf diese Weise bekommen die Schüler einen Zugang zu kultiviertem Sein, und zwar über die Sprache der Symbole, darüber, dass sie das primäre Symbol zu verstehen lernen – ihren Körper. Normalerweise geschieht das in der Kindheit, noch bevor man schreiben, malen etc. lernt. Unsere jungen Leute haben in der Kindheit keine Methode an die Hand bekommen, die ihnen beim Verstehen der Welt geholfen hätte. Man erklärt dir etwas, obwohl du nicht siehst, nicht hörst, nicht verstehst. Und hier eröffnet sich dir plötzlich ein Instrument, die Fähigkeit, die Welt auf anderem Wege als dem des Verstandes zu begreifen.“

    „Ich möchte noch einmal herumgewirbelt werden!“, bittet Klawa zum x-ten Mal.
    „Ok, aber nicht kreischen.“
    „Ich versuch’s!“
    „Klawa übt Hebefiguren“, erklärt mir Natalja beiläufig.
    Alexej hebt Klawa behutsam auf seine Schulter und dreht sich langsam im Kreis.
    „A-a-a-a!“, ruft Klawa.
    „Sie kreischt schon wieder!“, rufen die anderen.
    „So wird eine Nummer geboren“, lacht Natalja. „Aus Fehlern, Problemen, Zufällen. Jedes mal wenn ich zuschaue, denke ich: Wie schön sie doch alle sind. So organisch. Dieses Organische muss bewahrt und gefördert werden – dann entsteht das besondere Theater und besondere Symbole. Dann wird es auch für die große Kultur interessant. Das ist doch wie ein Naturschutzgebiet, in dem alles gerade erst entsteht. Ein Naturschutzgebiet der Kultur.“

     

    Text gekürzt – dek

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  • Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert

    Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert

    Wirtschaftsexperte Jewgeni Gontmacher, stellvertretender Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) und Mitglied beim Komitee für Bürgerinitiativen, sprach mit der Novaya Gazeta über die drohende Krise beim Rentensystem und Russlands Verortung in der modernen Welt. Seine Diagnose: Russland versäumt dringend notwendige Reformen und könnte so hinter das wirtschaftliche Niveau von anderen Regionalmächten wie Indien oder Brasilien zurückfallen. Die Senkung des Rentenanpassungssatzes ist bereits aufgrund von Sparmaßnahmen im Haushalt nicht mehr zu verhindern, nur die konkreten Zahlen sind noch fraglich. 

    Bei einer faktischen Inflationsrate von 11,9 % wird innerhalb der Regierung gestritten: Soll man die Renten um 4,5 % erhöhen oder doch um 7 %, dann aber den vermögensbildenden Anteil erneut konfiszieren. Was könnte ein derartiger Schlag gegen die Rentner nach sich ziehen – einer für die Regierung nach wie vor wichtigen Wählerschaft?

    Bereits in diesem Jahr sinkt das reale Rentenniveau, obwohl im Februar eine Anhebung in Höhe der Inflation des vergangenen Jahres durchgeführt wurde – 11,4 %. Wobei die Rentner in gewisser Hinsicht eine eigene Inflation haben: Ihr Warenkorb sieht anders aus als der, nach dem die offizielle Inflation berechnet wird. In diesem Warenkorb finden sich naturgemäß mehr Lebensmittel, in der Regel einfachste Grundnahrungsmittel, höher ist der Anteil der Ausgaben für Medikamente. Die Preissteigerungen bei diesen Waren lagen sowohl in diesem wie im letzten Jahr über dem Durchschnitt. Der Warenkorb des russischen Amtes für Statistik Rosstat bezieht sich gesellschaftlich gesehen auf die gehobene Mittelklasse: Es finden sich darin Fleisch- und Fischdelikatessen, relativ teure Kleidung und Dienstleistungen, die viele Rentner nicht in Anspruch nehmen.

    Nun zum nächsten Jahr. Ich denke, die Sache ist so gut wie entschieden – die Rentenerhöhung zu Beginn des Jahres 2016 wird unterhalb der faktischen Inflation liegen. Wir gehen zu einer Rentenanpassung über, die sich nach der prognostizierten Inflation richtet. So war das bereits Ende der 90er Jahre, als die wirtschaftliche Lage sehr kritisch war. Das ist übrigens interessant, weil die Regierung damit indirekt gesteht, dass wir, was die Wirtschaftslage betrifft, in die damaligen Zeiten zurückgekehrt sind. Wobei die Regierung sehr optimistisch in die Zukunft blickt: Für das nächste Jahr wird uns eine Inflationsrate von 7 % vorausgesagt, für das Jahr 2017 sogar nur 4 %. Doch bislang geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung.

    Unter den Rentnern gibt es verschiedene Gruppen: Zum Beispiel gibt es Arbeitnehmer, die neben der Rente ein Einkommen haben. Dies sinkt real zwar auch, aber immerhin haben diese Rentner zusätzliche Einkünfte. In Russland allein von der Rente zu leben ist, gelinde gesagt, sehr schwierig. Zu dieser Gruppe zählt etwa ein Drittel aller Menschen im Ruhestand – ihr Lebensstandard verschlechtert sich ebenfalls, aber sie gelangen nicht an den Punkt, wo das Leben zum Überlebenskampf wird. Außerdem lebt ein beträchtlicher Teil der Rentner bei der Familie, das hat sich in Russland historisch so entwickelt. In den USA und in Europa leben die Generationen nicht zusammen und wirtschaften getrennt. In Russland ist das wegen des Mangels an erschwinglichem Wohnraum für junge Menschen und dank bestimmter kultureller Traditionen anders. Das mildert die Situation teilweise etwas. Am schlimmsten wird es alleinstehende Rentner und Rentner-Ehepaare treffen – das sind etwa 15–20 % aller alten Menschen.

    Die heutigen Rentner gehören in ihrer Mehrheit zu den ersten Nachkriegsgenerationen. Sie haben sich eine noch aus der Sowjetzeit stammende Widerstandskraft angeeignet: Immer das Schlimmste zu erwarten. In den Genuss eines mehr oder weniger guten Lebens sind nur die jüngeren Generationen gekommen, die in den 90er Jahren irgendwie den Wechsel geschafft, ein Geschäft gegründet haben und dann in den 2000ern auf der Welle des Wirtschaftswachstums mitgeschwommen sind. Es entstand  eine Mittelschicht. Deren Angehörige sind bisher nicht an eine konstant sinkende Lebensqualität gewöhnt. Die älteren Generationen erinnern sich noch allzu gut und reagieren in diesem Sinne weitaus flexibler auf die Krise.

    Sind die anhaltenden Debatten über das Schicksal der Rentenrücklagen und seit einiger Zeit auch über die Rentenanpassung gewöhnliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden mit unterschiedlichen Funktionen oder ein Zeichen für die Hilflosigkeit der Regierung angesichts der Haushaltskrise?

    Sie sind eine direkte Folge der Krise, die bereits 2008 begonnen hat. Nach einer kurzen regenerativen Wachstumsphase geht es bei uns wieder bergab. Das Problem ist sehr einfach: Unser Rentenfonds geht ohne die Unterstützung aus föderalen Haushaltsmitteln am Stock. Der föderale Transfer in den Rentenfonds beträgt mehr als eine Billion Rubel [14,3 Milliarden Euro], und er wächst von Jahr zu Jahr. Für das Staatsbudget ist das eine gewaltige Last, besonders angesichts des ausbleibenden Wirtschaftswachstums.

    2012–2013 wurde deutlich, dass das bestehende Wirtschaftsmodell ausgereizt ist, aber Reformen durchführen wollte niemand, also war die Regierung meines Erachtens vor eine rein pragmatische Aufgabe gestellt: Die Sozialleistungen mussten leicht gedrückt werden. Denn dem Staatshaushalt geht es ja schlecht, er muss Geld für die Verteidigung und andere wichtige Dinge ausgeben. Da hat man sich dann ein Punkte-Modell ausgedacht: Rein formal wird der Rentenfonds in zwei bis drei Jahren zur Selbstfinanzierung übergehen. Der Gegenwert der Punkte wird ausgehend von den Gesamteinnahmen des Fonds berechnet. Der fetteste Happen ist unter diesen Bedingungen der vermögensbildende Anteil mit 6 Prozentpunkten des Rentenbeitrags, die aus dem Solidaranteil unseres Rentensystems abgezogen werden, wenn die Auszahlung der Renten aus den laufenden Beiträgen der Arbeitnehmer erfolgt. Paradoxerweise kamen gerade die Ministerien mit sozialem Portfolio in Versuchung, diesen Anteil aus dem Solidarsystem zu entnehmen. Für gewöhnlich kennt man einen derartigen Appetit vom Finanzministerium, das sich um das Haushaltsgleichgewicht zu kümmern hat. In diesem Fall entschied sich das Finanzministerium aber für ein vor allem strategisches Vorgehen. Und legte Protest ein, als die Idee aufkam, den vermögensbildenden Anteil zu liquidieren, indem man ihn sozusagen in die laufenden Ausgaben des Rentenfonds einfließen lässt. Zumindest im Moment sieht es so aus, als würden die Zentralbank und das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung sowie die Mehrheit der unabhängigen Experten diese Position des Finanzministeriums teilen.

    Der vermögensbildende Anteil bleibt also fürs Erste erhalten, aber im föderalen Haushalt gibt es schon jetzt kein Geld mehr für nichts, deshalb werden wieder Stimmen lauter, ihn das dritte Jahr in Folge einzufrieren. So gesehen hat das Finanzministerium also keinen endgültigen Sieg eingefahren, denn alleine die Tatsache des Einfrierens diskreditiert das gesamte Rentensystem in höchstem Maße. Es bedeutet, dass es keinerlei Spielregeln gibt. Menschen, die 1966 und später geboren wurden, wissen schlicht nicht, was sie tun sollen, denn das Vertrauen in die Renteninstitute war ohnehin nicht sehr stark. Aber das Ersparte ist ja nicht einfach irgendwo auf den Konten eingefroren – es existiert gar nicht mehr. Und diese zig hundert Milliarden Rubel müssen irgendwie wieder her.

    Der Erhalt des vermögensbildenden Anteils wurde offenbar aus dem Grund durchgesetzt, dass man auf ein Wirtschaftswachstum im Jahr 2016 setzte – damals waren die Prognosen noch entsprechend. Heute wird von Seiten der Makroökonomie auf der Idee des vermögensbildenden Anteils ziemlich herumgehackt. Die aktuellen Zahlen für den August zeigen: Die Produktivität der Wirtschaft sinkt, und es geht weiter abwärts. Selbst die offizielle Prognose verspricht einen Anstieg des BIP erst für 2017 – und das ist ein sehr optimistisches Szenario. Übrigens, 1–2 % Wirtschaftswachstum ändern rein gar nichts.

    Das Finanzministerium ist in eine schwierige Lage geraten: Ein weiteres Einfrieren des vermögensbildenden Anteils wird das Vertrauen der Menschen in das Einlagesystem endgültig zerstören, und dann wird man im Arbeits-, Gesundheits- und Bildungsministerium wieder davon sprechen, dass es ratsam wäre, ihn komplett abzuschaffen. Man wird entweder anstelle dieses Anteils staatliche Verpflichtungen erbringen müssen – zum Beispiel Anleihescheine erstellen, sie den Leuten geben und ihnen sagen, dass sie ihr Geld in 20 Jahren wiederbekommen. Genau wie damals bei den Abgaben für die Sanierung von Wohnungen wird das Schicksal dieser Mittel absolut ungewiss sein.

    Sehen Sie, in einem Land, in dem es keine vernünftigen Institutionen gibt, in dem die Wirtschaft absolut archaisch ist, kann man unmöglich einen einzelnen Bereich nehmen und dort effektive Reformen durchführen.

    Wie stehen die Chancen, dass zur Senkung des Rentenanpassungssatzes und einer erneuten Konfiszierung des vermögenswirksamen Anteils im nächsten Jahr auch noch eine Anhebung des Renteneintrittsalters hinzukommt?

    Das Rentenalter erhöhen wird ganz offensichtlich im nächsten Jahr niemand. Das Finanzministerium sondiert nur die Lage und bringt die Diskussion innerhalb der Regierungskreise wieder in Gang, wenn auch diesmal öffentlich. Aber alle wissen sehr gut, dass ein Anheben des Renteneintrittsalters einer enormen Vorbereitung bedarf. Früher oder später wird das in Russland natürlich geschehen, aber vorher müsste man das Frühberentungssystem umstrukturieren. Wenn man das Rentenalter anhebt, werden die Menschen mit 60 (Männer) und 55 (Frauen) einfach Erwerbsunfähigkeit anmelden und so weiterhin dieselbe Rente bekommen. Auch mit dem Arbeitsmarkt muss etwas geschehen, denn wir haben viele arbeitende Rentner. Im Moment kann man mit einer kleinen Rente plus einem kleinen Einkommen im Rentenalter wenigstens irgendwie existieren, ohne täglich einen Überlebenskampf zu führen. Aber wenn wir das Rentenalter anheben und diesen Menschen ihre Rente auch nur für 2–3 Jahre wegnehmen, dann erschaffen wir schlicht eine neue Gruppe von Armen. Schließlich rein pragmatisch gesehen: Die Machthaber im Land, jedenfalls die Politiker unter ihnen, agieren im Rahmen von Wahlperioden. 2016 gibt es wieder Dumawahlen, die die Partei Einiges Russland unbedingt gewinnen will, und 2018 Präsidentschaftswahlen, an denen Wladimir Putin sehr wahrscheinlich teilnehmen wird. Deshalb wäre ein Beschluss über die Anhebung des Renteneintrittsalters zum 1. Januar 2016 ein Schlag in die Magengrube der Regierung. Solch eine Maßnahme würde äußersten Unmut in der Bevölkerung auslösen.

    Die gesamte aktuelle Sozialstatistik – angefangen bei der Zahl von Russen, die unter der Armutsgrenze leben, bis hin zur Sterblichkeitsrate – sieht ziemlich düster aus. Wie weit ist Russland hinsichtlich der Lebensqualität in die Vergangenheit zurückgeworfen?

    Es gibt den Begriff des Lebensstandards – das sind konkrete Parameter von Einkommen und Konsum. Und es gibt den Begriff der Lebensqualität – das ist ein bisschen was anderes. Manchmal ist alles eigentlich ganz gut, aber glücklich ist man nicht. Bei uns haben die Menschen intuitiv schlechte Erwartungen an die Zukunft. Momentan leben 16 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und doch sind soziale Notstände nicht einmal in der Provinz offenbar: Auf den Straßen laufen keine hungernden Menschen herum. Aber eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung hat eine pessimistische Einstellung. Alle erwarten eine Verschlechterung der Situation, Arbeitslosigkeit rangiert ganz vorne auf der Liste der negativen Erwartungen.

    Ein sehr beunruhigendes Syndrom ist der Selbstwert-Verfall in der Bevölkerung. Wenn die Menschen anfangen, sich selbst in ihren Ansprüchen an dieses Leben zu beschränken, dann hören sie faktisch auf, sich selbst wertzuschätzen. Dann laufen sie eben in Wattejacken herum, ernähren sich von Kartoffeln und Wodka, ist doch schnurz. Das ist eine Form der Zerrüttung, die in Russland sehr weit verbreitet ist, besonders in der Provinz. Diese Menschen werden von sich aus bestimmt nichts in Gang setzen. Da muss erstmal jemand anders anfangen und alles rundum demolieren, dann rennen sie vielleicht in die Läden und schleppen Lebensmittel raus, aber es muss eben erstmal jemand anfangen. Dieser Selbstwert-Verfall, die Verschlechterung der Lebensqualität – das bedeutet für und in unserem Land die Konfiszierung der Zukunft.

    Welche Handlungsmöglichkeiten hat die Regierung? Vor progressiven Reformen hat sie pathologische Angst. Andererseits heißt es, ein reaktionäres Szenario, eine Glasjewschtschina mit staatlicher Regulierung der Preise und totaler Isolation würde vorerst „nicht der offiziellen Position des Kreml entsprechen“ [Zitat Dimitri Peskow – dek] …

    Die Regierung fürchtet alle Reformen – sowohl glasjewsche als auch ansatzweise liberale. Reformen sind Risiken. Wenn man sie anstößt, begibt man sich stets in ein Meer von Ungewissheit. Und zum Umschiffen der Riffs in diesem Meer braucht es ein relativ hohes Maß an Professionalität, die unserer Regierung fehlt. Zur Zerrüttung der Menschen, von der ich sprach, kommt es ja nicht nur im Volk, sondern auch in Regierungskreisen. Die Qualität der Staatsführung ist heute sogar auf föderaler Ebene unter aller Kanone. Von Diebstahl und Korruption spreche ich erst gar nicht.

    Nehmen Sie zum Beispiel die Einführung des einjährigen Haushaltsplans. Damit haben sie doch ihre eigene Hilflosigkeit unterzeichnet: Sie sind nicht in der Lage, wirtschaftliche Prozesse zu steuern, haben keinen Einfluss auf sie. Das einzige, was sie können, ist dazwischenfunken, sich drei Kopeken krallen und wieder abhauen. Die Regierung wird die Situation bis zum Letzten bewahren, wie sie ist, und sich dabei auf das große Geduldspotential der Menschen stützen. Ändern kann sich die Situation nur durch höhere Gewalt.

    Wenn die höhere Gewalt ausbleibt, werden wir dann einen schleichenden Übergang Russlands in die Reihen der Außenseiterstaaten beobachten?

    Im Moment gibt es in der Welt drei Supermächte: USA, China und die EU. Sie haben globale Interessen und können auf Vorgänge an jedem beliebigen Ort der Welt Einfluss nehmen. Dann gibt es Regionalmächte: Indien, Brasilien, Nigeria, Indonesien, Japan und nach wie vor Russland. Es gibt auch Länder mit einem niedrigeren, dritten Status: zum Beispiel Argentinien, Venezuela, Ägypten. Trotz ihrer Größe und ihres Potentials befinden sie sich in einer permanenten sozio-ökonomischen Krise und haben selbst in ihrer Region keinerlei ernsthaften Einfluss auf das Geschehen. Und dann gibt es failed-states wie Somalia oder Syrien, wo es überhaupt keinen Staat gibt. Wir laufen Gefahr auf die dritte Ebene zu rutschen und dann, wenn es so weitergeht, auch noch tiefer. Das Einzige, was uns noch im jetzigen Status hält, sind die nuklearen Waffen und das Veto-Recht beim UNO-Sicherheitsrat. Aber der Abstieg in der Welthierarchie läuft dennoch und die Prognosen sind bisher negativ. Nicht einmal, was die Zahlen betrifft, sondern in Bezug auf die Lebensqualität, die Qualität des menschlichen Kapitals.

    Eine derartige Situation braucht systemische, tiefgreifende Veränderungen. Ich bin nicht sicher, ob das Land im Moment die Ressourcen dafür hat. Das Volk bleibt stumm, alles liegt bei den Eliten. Aber auch da sind die Menschen in erster Linie daran interessiert, Kontrolle über die Finanzströme zu behalten. Das ist eine sehr schwierige historische Falle, aus der ich momentan keinen Ausweg sehe.

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  • Das Woronesh-Syndrom

    Das Woronesh-Syndrom

    Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die russische Führungselite wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigene Bevölkerung zu leiden hat, sagt der Journalist Juri Saprykin. Und sie treffen gerade die schwächsten Glieder der Bevölkerung und die schutzwürdigsten Initiativen. Dieser scheinbar paradoxe Mechanismus ist an mehreren Stellen zu beobachten, und das Internet hat sogar einen Namen für ihn.

    Der Ausdruck Bomben auf Woronesh tauchte im Netz unmittelbar nach der Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes auf. Ein Facebook-Spaßvogel schrieb damals: Wenn die Amerikaner mit ihren Sanktionen gegen russische Staatsbeamte fortfahren, lasst uns doch einfach einen draufsetzen und selber anfangen, unsere Städte zu bombardieren.

    Begreift man das Antiwaisengesetz als Reaktion auf die amerikanischen Sanktionen gegen die russischen Bürger, die auf der Magnitski-Liste stehen, so ist es ein wahres Grauen: Die Duma reagiert auf die Beschneidung von Handlungsfreiheiten der Führungselite mit einem Gesetz, das die Zukunft, die Gesundheit, ja sogar das Leben der am meisten benachteiligten russischen Staatsbürger gefährdet, nämlich das der Waisenkinder, darunter kranker und behinderter. Und all das wurde noch mit einer dicken Schicht Lügen bedeckt: dass man in den USA vorsätzlich russische Kinder quäle und wir sie nun selbst adoptieren und aufpäppeln würden. Genau das nennt man Bomben auf Woronesh: Als Antwort auf einen Schaden, den die Führungsklasse erlitten hat, schlägt man auf die eigenen Leute ein, noch dazu auf die schwächsten. Bei der Geschichte mit den Lebensmittel-Sanktionen gab es weniger offensichtlichen Schaden, dafür aber mehr Lügen: Bald schon ein Jahr lang will man uns weismachen, dass unter den Sanktionen nur die polnischen Bauern leiden würden sowie russophobe Kreativlinge, die vom Leben nur Serrano-Schinken und Parmesan wollen. In Wirklichkeit waren das wieder Bomben auf Woronesh: Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die Datschen-Kooperative Osero und die staatlichen Banken wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigenen Leute zu leiden haben, und wieder die schutzlosen – die, die jetzt gezwungen sind, qualitativ minderwertige Waren zu überhöhten Preisen zu kaufen.

    Auch gibt sich niemand große Mühe zu verbergen, dass die momentanen Probleme der gemeinnützigen Stiftung Dinastija gar nichts mit ihrer eigentlichen Stiftungsarbeit, sondern mit darüber hinausgehenden gesellschaftlich-politischen Aktivitäten ihres Gründers Dimitri Simin zu tun haben. Simin setzt den Verkaufserlös seines Anteils am Telekommunikationsunternehmen VimpelCom nicht so ein, wie es ihm höherstehende Kuratoren aufgetragen bzw. erlaubt hatten: Er bezuschusst die Arbeit unabhängiger Medien, sponsert Vorträge und Bildungsprogramme nicht ganz linientreuer Färbung, und vor allem verheimlicht er seine liberalen Überzeugungen nicht und auch nicht die Absicht, seine privaten Mittel weiterhin für die Stärkung dieser Überzeugungen einzusetzen. Solche Absichten im rechtlichen Rahmen zu bekämpfen, ist unmöglich. Folglich nehmen die Bombenflieger Kurs auf Woronesh. Die Aufnahme der Stiftung Dinastija in die Liste der „ausländischen Agenten“, was für sie das Aus bedeuten könnte, wird Simin sicher nicht davon abhalten, sein Geld in politiknahe Projekte zu stecken, doch die Förderung von exakten und Naturwissenschaften, von aufklärerischen Publikationen sowie die Finanzierung von Preisen und Vorträgen ihrer Autoren wird er aufgeben müssen. Als Reaktion auf Gefahren, die der Führungsklasse drohen – in unserem Fall sind sie sehr vage und vielleicht gar nicht existent –, werden somit wieder einmal Maßnahmen ergriffen, unter denen die Schwachen und Schutzlosen leiden werden.

    Die Vorkommnisse um Dinastija sind zweifelsohne ein Signal – in erster Linie für den Teil der Elite, der seine Entscheidungen immer noch relativ selbstbestimmt trifft (zumindest wenn es darum geht, in welche gesellschaftlich relevanten Projekte es sich lohnt, Geld zu investieren). Deuten kann man das unterschiedlich, und jede Lesart wird teilweise richtig sein. Dass die Finanzierung von oben missbilligter gemeinnütziger und politischer Projekte den direkten Weg in die Verbannung und Emigration bedeutet, weiß man seit dem ersten Yukos-Prozess nur allzu gut. Aber es kommen neue Bedeutungsnuancen hinzu: Die finanzielle Förderung von Wissenschaft und Bildung, die Publikation von Büchern darüber, was die Welt zusammenhält – das heißt doch der Freigeisterei Tür und Tor zu öffnen! Nach dem Motto: Ihr veröffentlicht hier Bücher von Richard Dawkins, da steht drin, dass es keinen Gott gibt, dass Natur und Evolution auch ganz gut ohne auskommen – wollt ihr etwa auch behaupten, wir bräuchten keinen Putin? Spendet euer Geld lieber für die Errichtung eines Fürst-Wladimir-Denkmals – und das Glück wird über euch kommen. Doch auch diese Interpretation ist am Ende vielleicht zu oberflächlich: Es geht gar nicht darum, dass das Justizministerium (oder die, die dem Justizministerium den entsprechenden Befehl gaben) der Wissenschaft schaden wollte, sie war einfach nur im Weg. Es ist vielmehr so: Wenn du einer von oben nicht sanktionierten gesellschaftlichen Tätigkeit nachgehst, dann ist nicht so sehr diese Tätigkeit in Gefahr, sondern das Selbstlose, Gute und Ungeschützte in deinem Leben. Diejenigen, die von dir abhängen, die dich brauchen. Nicht Kapital, Vermögen und Geldanlagen, sondern Verwandte, gegen die ein Strafverfahren in Gang gesetzt wird, Kinder, die man für eine Krankenhausbehandlung nicht ausreisen lässt, Wissenschaftler, die nicht mehr forschen dürfen, Bücher, die nicht gedruckt werden. Jeder – er muss nicht einmal gegen das Regime kämpfen, sondern sich einfach nur gesellschaftlich für etwas vom Staat nicht Sanktioniertes einsetzen wollen – muss darauf gefasst sein: Woronesh ist ins Visier geraten, seine Einwohner in Geiselhaft. Der Pilot zu allem bereit.

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